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Gefesselte Gespenster - Jungschar.biz

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Die gefesselten <strong>Gespenster</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Dies ist ein Scan des o.g. Jugendbuchs von Werner Hörnemann, erschienen<br />

im Herder-Verlag Freiburg. Nur zum Erzählen und Vorlesen in der <strong>Jungschar</strong><br />

gedacht – und zu sonst nichts!<br />

Bitte noch mal selbst Korrektur lesen – ihr findet bestimmt noch was....<br />

Damit ihr Bescheid wisst .....................................................................................................................1<br />

Die Anzeige..........................................................................................................................................3<br />

Sparen und Spinne .............................................................................................................................12<br />

Eine Art Hindernisrennen..................................................................................................................25<br />

Spuk und guter Ton............................................................................................................................50<br />

Überraschungen .................................................................................................................................70<br />

Die Falle.............................................................................................................................................91<br />

Damit ihr Bescheid wisst<br />

Diese Geschichte spielt am Mittelmeer, im sonnigen Süden. Karlchen Müller von nebenan, dem ich sie<br />

zuerst erzählte, weil er Fachmann für Geschichten ist — er macht nämlich oft genug welche —‚<br />

schüttelte den Kopf, grinste wie ein Schaukelpferd und sagte: „So was Verrücktes passiert nicht alle<br />

Tage!“ Genau deswegen habe ich sie aufgeschrieben.<br />

Von der großen Hafenstadt Marseille hat sicher jeder schon mal gehört. Dort fängt die Geschichte an.<br />

Dicht am Hafen liegt die Altstadt, und in der Altstadt, gleich wenn man reinkommt links, die<br />

Zwiebelstraße.<br />

Manche Leute behaupten, in der Zwiebelstraße wohnten nur finstere Gestalten. Ich bin anderer<br />

Meinung; erstens habe ich selbst eine Zeitlang da gewohnt, und zweitens wohnen dort die Jungens. Hier<br />

sind sie übrigens:<br />

ANDRÉ BOURIAN, sechzehn Jahre alt, Schuhputzer vor dem Börsengebäude. Lang<br />

und dünn wie eine Bohnenstange. Behauptet mindestens zehnmal am Tag: „Ich kenne<br />

das Leben!“ Stammt aus einer Armenierfamilie, die im Vorort St. Antoine wohnt. Bis<br />

vor einem Jahr arbeitete er in einer Seifenfabrik, dann machte er sich selbständig.<br />

Lieh sich von seinem Vater Geld und kaufte sich den Schuhputzstand. Weil er sehr<br />

fleißig war, verdiente er ganz gut; zahlte stets das geliehene Geld zurück und erwarb<br />

danach beim Althändler einen stinkvornehmen schwarzen Anzug, der ihm allerdings<br />

viel zu weit ist, und mietete schließlich bei Madame Achmed ein Zimmer. Bis dahin<br />

hatte er in einem leeren Bootsschuppen geschlafen. André ist sehr ehrgeizig und<br />

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strebsam, will nicht Schuhputzer bleiben, spart eifrig und bemüht sich ebenso eifrig um Bildung. Er hat<br />

verschiedene Talente, unter anderen auch das, einem auf die Nerven zu fallen.<br />

RENÉ FORGERON, achtzehn Jahre alt, Automechaniker. Sohn eines kleinen<br />

Bauern in Burgund. Mittelgroß, breitschultrig und stark wie ein Bulle; rundes,<br />

fleischiges Gesicht mit dunkelroten Borsten darüber. Wenn er in Wut gerät, und das<br />

geschieht oft - denn er hat ein Temperament wie Brausepulver —‚läuft er rot an<br />

und rollt die Augen wie ein Gorilla. Behauptet jedoch ständig: „Ich bin der<br />

friedlichste Mensch, den ich kenne!“ Sein robustes Herz schlägt für die Technik.<br />

Drei Jahre lang lernte er in Dijon, fuhr dann nach Süden und fand in Marseille, in<br />

Monsieur Camilles Werkstatt, eine Stelle. Wohnt bei Wassilies, einer Russenfamilie.<br />

FILOU WACAMBO, fünfzehn Jahre alt, Neger, Tellerwäscher im Hotel „Ambassadeur“.<br />

Heißt natürlich nicht Filou, sondern irgendwie anders. Bloß wie, das<br />

weiß niemand. Sieht aus, als würde er im nächsten Moment mit lautem Knall<br />

platzen; seine schwarze Haut scheint nur mit Mühe den anderthalb Meter hohen<br />

und fast ebenso breiten Fettkloß zusammenzuhalten. Hersteller der berühmten<br />

Ambassadeur-Stullen, Besitzer eines Hundes namens Stinker und sehr<br />

musikalisch. Wohnt zusammen mit seiner Großmutter bei der Familie Quinquaille.<br />

PIPIN HIERONYMUS WANG, fünfzehn Jahre alt, Chinese. Hat nur dann einen<br />

Beruf, wenn er unbedingt Geld braucht. Über seine Herkunft weiß man nichts, weil<br />

er wenig redet. Er trabt im Rikschastil und bei Quinquaille.<br />

SEPPE PALOTTI, fünfzehn Jahre alt, Italiener. Arbeitet<br />

überhaupt nicht, spielt aber gut Gitarre und stiehlt noch viel<br />

besser. Wird deswegen „König der Diebe“ genannt, sieht jedoch<br />

aus wie ein Engel. Er hat wallende Schmalzlocken und<br />

rabenschwarze Augen, die genauso munter in die Welt blicken wie seine schmutzigen<br />

Zehen; seine Sandalen sind nämlich ein Bild des Jammers.<br />

TISTA, Seppes fünfjähriger Bruder, ist eigentlich zweimal vorhanden, doch die zweite<br />

Ausgabe heißt Tonio, ist sein Zwillingsbruder und spielt nicht mit. Tista gehörte genau<br />

genommen auch nicht dazu, aber — na, lassen wir das mal. Hat krause Locken, so<br />

dicht wie Putzwolle, und ist meistens unvorstellbar schmutzig, obgleich er zu Hause<br />

mit Inbrunst und Seife geschrubbt wird. Isst gern gebratenen Fisch und kann kein „R“<br />

aussprechen.<br />

Seppe und Tista wohnen mit ihren Eltern und den fünf anderen Geschwistern bei<br />

Madame Achmed, wo auch André sein Zimmer hat.<br />

Als letzter, weil erst seit kurzem in der Zwiebelstraße:<br />

MAURICE DUPONT, neunzehn Jahre alt, Maler von Beruf. Sein Vater ist sehr<br />

reich, fabriziert in Lille, Nordfrankreich, die berühmten Dupont-Sicherheitsnadeln,<br />

„nur echt mit dem großen D“. Als einziger Sohn — Maurice hat noch zwei<br />

Schwestern — sollte er natürlich Kaufmann werden, wollte aber nicht. Lernte statt<br />

dessen in Paris Malen und Zeichnen. Vater Dupont versucht ihn dadurch zu bekehren,<br />

dass er ihm kein Geld schickt. Er rechnet damit, dass sein verwöhnter Sohn bald von<br />

dem harten Dasein eines jungen Künstlers genug hat. Bisher erwies Maurice sich als<br />

erstaunlich zäh — und hatte außerdem das Glück, André in die Hände zu fallen, der<br />

ihn mit Ambassadeur-Stullen fütterte und in seinem Zimmer schlafen ließ.<br />

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Maßgeblich beteiligt sind ferner:<br />

SASU Von den vierzehn Katzen, die Madame Achmed besitzt, die schönste und<br />

kostbarste. Bereits fünfmal preisgekrönt, eng mit Tista befreundet.<br />

STINKER — wie schon gesagt: ein Hund. Hängt sehr an<br />

seinem Herrn, dem Tellerwäscher Filou. Gehört zur Rasse<br />

der Schäferhunddackelterrier und hat ein trauriges Schicksal.<br />

So, und nun geht‘s los!<br />

Die Anzeige<br />

Die Cannebière, die Hauptstraße von Marseille, brodelte und kochte in der heißen Sonne Südfrankreichs.<br />

Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen, redeten und lachten laut und ungezwungen. Grelle<br />

Plakate an den Hauswänden priesen Dubonnets Aperitif. Straßenbahnen bimmelten schrill, Autos<br />

flitzten beängstigend schnell durch das Gewühl, Straßenhändler boten kreischend ihre Waren an und<br />

ruderten dabei mit den Armen, als ob sie soeben den Verstand verloren hätten. Ein richtiger<br />

Hexenkessel!<br />

Im Schatten einer Palme stand Maurice. Er achtete nicht auf das bunte Bild vor seinen Augen, er hörte<br />

auch nicht auf das wogende Gebrodel der Hauptstraße, er hörte seinem Magen zu, denn der knurrte wie<br />

ein gereizter Kettenhund.<br />

„Verflixt!“ murmelte er. „Alles geht schief. Sogar diese wunderbare Sache mit den Reklamesprüchen.<br />

Mist! Also doch wieder Ambassadeur-Stullen! Es ist zum . . . Na ja!“<br />

„Los, rüber!“ befahl er sich selbst, nahm die Hände aus den Taschen seiner Manchesterhose, trabte über<br />

die Straße und steuerte die Grünanlagen vor der Börse an. Unterwegs dachte er: „Irgendwas muss<br />

geschehen. So geht es nicht weiter.“<br />

„Morgen, André!“ begrüßte er den Schuhputzer.<br />

„Ah, Maurice!“ sagte André lächelnd und machte eine großartige Handbewegung. „Bitte, nimm Platz.<br />

Einen Augenblick musst du dich noch gedulden. Mein Geschäft — nicht wahr, du verstehst?“ säuselte<br />

er. „Ich habe nämlich jetzt Hochbetrieb!“<br />

Maurice grinste und nahm Platz, das heißt, er setzte sich schlicht auf die Steinplatten des Bürgersteigs<br />

neben Andrés „Geschäftseinrichtung“, bestehend aus einem vorsintflutlichen Armsessel mit einer<br />

abgeschrägten Kiste davor.<br />

„Typisch André“, dachte er, immer dieses gespreizte Gerede!“Bitte, nimm Platz!“ Haha! Eine<br />

Handbewegung wie ein Oberkellner! Aber der bringt‘s noch zu was, das ist sicher.<br />

André stand mitten auf dem Bürgersteig, seine schlaksige, dünne Figur zu ganzer Höhe aufgerichtet,<br />

beide Arme in den Hüften. Er fischte nach Kunden, und dafür hatte er seine eigenen Rezepte. Ein junger<br />

Mann mit einem riesigen Fliederstrauß in der Hand näherte sich. André schoss auf ihn los.<br />

„Aber Monsieur! Haben Sie sich mal Ihre Schuhe angesehen?“ fragte er ihn, geradezu väterlich<br />

mahnend. „So wollen Sie Ihrer Braut einen Besuch machen? Aber kommen Sie, ich bringe das sofort in<br />

Ordnung!“<br />

Ehe der völlig Verdutzte sich äußern konnte, saß er bereits auf dem Holzsessel. Sogleich fiel André über<br />

seine Fußbekleidung her. Staubbürste, einkremen, harte Bürste, weiche Bürste, blauer Lappen, grüner<br />

Lappen. Und zum Schluss ein dunkelweißer. Zwischendurch ratterte Andrés Mundwerk:<br />

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„Blitzblanke Schuhe, ich sage Ihnen, das hebt die Figur! So was von Glanz bringt nur der Fachmann<br />

fertig — bitte etwas die Ferse drehen — so —‚ und nun sehen Sie mal: glänzen wie ein Spiegel, Ihre<br />

Schuhe, nicht wahr? Jaja, gelernt ist nun mal gelernt! Macht zwanzig Centimes!“<br />

Der Kunde bezahlte und stand auf.<br />

„Vielen Dank, mein Herr! Bitte beehren Sie mich bald wieder!“ André verbeugte sich ruckartig und<br />

machte eine Art Kratzfuß. Dann ging er zu Maurice hinüber.<br />

„Nun, was gibt es denn?“ fragte er, wie immer jede Silbe deutlich betonend. „Wieder nicht geklappt?“<br />

Maurice seufzte nur, aber abgrundtief. André war zartfühlend genug, sich nicht über das allerneueste<br />

Missgeschick des Malers lustig zu machen. Er sagte nur: „Ja, Geldverdienen ist gar nicht so leicht, wenn<br />

man es nicht gewöhnt ist!“ Und schon nach erstaunlich kurzem Nachdenken setzte er hinzu: „Ich gehe<br />

doch nicht fehl in der Annahme, dass du Hunger hast, oder?“<br />

„Erraten!“ sagte Maurice und lächelte trotz all seines Elends, denn Andrés Redeweise war nun mal zu<br />

komisch. Sie passte genauso wenig zu ihm wie sein viel zu weiter schwarzer Anzug.<br />

„Ja, ich kenne das Leben“, bemerkte der Schuhputzer weise, bückte sich und nahm aus der Holzkiste ein<br />

dickes Stullenpaket, das er Maurice reichte.<br />

„Da! Es ist noch genügend vorhanden. Möge es dir munden! Ich begebe mich derweil wieder ans<br />

Werk!“<br />

André machte eine kleine Verbeugung und ging zurück auf die Straße zum Kundenfang.<br />

„Alter Affe!“ murmelte Maurice grinsend hinter ihm her. „Wenn du nicht so ‘n netter Kerl wärst, na!“<br />

Dann widmete er sich den Ambassadeur-Stullen, die natürlich deshalb so hießen, weil sie aus dem Hotel<br />

„Ambassadeur“ stammten. Filou, der schwarze Fettkloß, war ihr Hersteller.<br />

Als Tellerwäscher war Filou zweifellos tüchtig. Am tüchtigsten aber war er beim Abräumen der Teller<br />

und Platten, die aus dem Restaurant zurückkamen. Dann arbeitete der Schwarze mit einer Fixigkeit, die<br />

ihm niemand zugetraut hätte. Wie ein Hai stürzte er sich auf die Reste — und es blieb immer allerlei<br />

übrig —‚ nahm eine Scheibe Brot oder Toast und packte wahllos, wie es gerade kam, Braten, Fisch,<br />

Käse oder Wurst darauf, legte eine Scheibe darüber, rollte unheimlich schnell und geschickt eine<br />

Serviette um das Ganze und ließ die fertige Stulle in der Hosentasche verschwinden. Waren beide<br />

Taschen voll, dann flitschte er wie ein Aal in den Nebenraum, wo sein grauer Segeltuchsack hing, und<br />

packte aus. Man soll nichts umkommen lassen, was andere Leute gut brauchen können, meinte er, und<br />

schob jeden Morgen seinem Freund André, der im ‚Ambassadeur“ die Schuhe putzte, einen Armvoll<br />

Brote in die Kiste.<br />

Maurice kaute mit vollen Backen. Heute gab es Toast, hart wie eine Panzerplatte, mit Ochsenzunge,<br />

Ölsardinen und Schweizer Käse. Eine seltsame Mischung, aber Maurice schmeckte es. Schließlich war<br />

gleich Mittag, und er hatte nicht gefrühstückt. Das Frühstück hatte er sich mit der neuen Idee verdienen<br />

wollen, und daraus war dann wie üblich nichts geworden.<br />

Anfangs hatte er natürlich versucht, Bilder zu verkaufen. André hatte ihm Geld geliehen für<br />

Wasserfarben, Zeichenpapier und ein paar Pinsel. Aber seine Aquarelle wurde er nicht los. Nirgendwo.<br />

Nicht etwa, weil sie schlecht gewesen wären, nein, Maurice hatte kein Talent, sie in der richtigen Weise<br />

anzubieten. Er betrat die Kunsthandlung mit Zittern und Zagen, genierte sich unsäglich, und wenn er<br />

dann auf sein Gemurmel eine unwirsche Antwort bekam, verschwand er fluchtartig. Nach ein paar<br />

Misserfolgen gab er die Sache auf und versuchte, auf andere Art Geld zu verdienen. Eines Abends hörte<br />

er Seppe auf seiner Gitarre klimpern und beschloss, eine Tanzkapelle zu gründen.<br />

„Das ist doch ‘ne Sache, Jungens!“ hatte er geschwärmt. „Seppe spielt Gitarre, Filou Akkordeon, ich<br />

übernehme das Schlagzeug. Krachmachen war immer schon meine Spezialität. Und Pipin — Pipin kann<br />

gar nichts. Schade. Na, der muss dann dirigieren!“<br />

Filou, der sehr musikalisch war, quetschte bloß hervor: „Hassen Akkordijon? Nee! Hassen<br />

Schlachzeuch? Nee! Kanns aber aum Kamm blasen, is auch ganz schön!“<br />

Aber schon bald war er wieder mit einer neuen Idee gekommen:<br />

„Was ganz Großartiges, Jungens!“ hatte er strahlend verkündet. Doch die neue Idee war genauso<br />

unmöglich wie alle anderen. Das heißt: an sich war sie ganz gut, bloß nicht für Maurice, der zum Dichter<br />

ebenso wenig Talent hatte wie eine Kuh zum Radfahren. Es handelte sich nämlich um Werbung.<br />

Siegesgewiss lächelnd, einen Topf weißer Farbe und einen Pinsel in der Hand, war Maurice heute<br />

morgen losmarschiert. Als er das Geschäftsviertel erreicht hatte, war er schon weniger siegesgewiss.<br />

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Zögernd schaute er die Straße entlang. Dann fasste er sich ein Herz und betrat den Laden des<br />

Möbelgeschäftes Cavaillon & Co.<br />

„Ich möchte Ihnen einen Reklamespruch an die Schaufensterscheibe malen“, sagte er zu Monsieur<br />

Cavaillon.<br />

„Meinetwegen. Was kostet das?“<br />

Maurice machte es billig: „Nur einen Franken!“<br />

Dafür konnte er gerade das versäumte Frühstück nachholen. Als er jedoch vor der großen Scheibe stand,<br />

da wollte ihm nichts einfallen. Es sollte ein kurzer, wirkungsvoller Zweizeiler sein. Der Vers sollte sich<br />

leicht einprägen und auf die geradezu einmalige Qualität der ausgestellten Betten, Sessel und Couchen<br />

hinweisen.<br />

Nach langem Überlegen malte er fein säuberlich folgenden Spruch:<br />

Cavaillons Sessel sind apart,<br />

äußerst billig und nicht hart!<br />

Maurice war sehr stolz, nicht aber Monsieur Cavaillon.<br />

„Das ist ja ein haarsträubender Unsinn, Verehrtester! Nicht hart? Butterweich sind meine Sessel! Nein,<br />

schreiben Sie was anderes!“<br />

Auf butterweich fand er trotz langen Nachdenkens keinen Reim, darum schrieb er:<br />

Die Möbel nur von Cavaillon,<br />

das weiß der kleinste Säugling schon!<br />

Wieder rief er den Besitzer heraus. Der las den Spruch und sagte wütend: „Wischen Sie den Unsinn ab<br />

und verschwinden Sie!“<br />

Tief enttäuscht schlich Maurice davon. Es war doch sehr schwierig, brauchbare Werbetexte zu dichten!<br />

Bei einem Süßwarengeschäft versuchte er sein Glück noch einmal. Er schrieb:<br />

Und Kinder stehen hier mit großen Augen,<br />

die wollen gerne Bonbons saugen!<br />

„Völlig unbrauchbar!“ sagte die Ladeninhaberin. „Nein, machen Sie den Stuss wieder ab.“<br />

Aber als sie Maurices Gesicht sah, das vor Kummer und Hunger ganz faltig geworden war, schenkte sie<br />

ihm eine Tüte saure Drops.<br />

Ja, so war das gewesen. Und jetzt saß er schon wieder bei André und aß Ambassadeur-Stullen.<br />

Eigentlich hatte er ja nie wieder welche essen wollen. Er war sie gründlich leid. Ganz gründlich sogar.<br />

Wenn das mit den Werbesprüchen geklappt hätte, dann wäre ein saftiges Steak fällig gewesen. Ich darf<br />

nicht daran denken, dachte er, dann läuft mir ‘n Kubikmeter Wasser im Mund zusammen. Ewig diese<br />

Stullen! Was will man machen, wenn man nichts verdient! Es ist zum. . . Aber so geht das nicht weiter.<br />

Ich kann mich doch nicht von den Jungens durchfüttern lassen!<br />

Ich kann auch nicht dauernd bei André wohnen, ganz umsonst! André teilte nämlich sein Zimmer mit<br />

ihm. Er teilte es sogar im wörtlichen Sinne. André war nun einmal eine gute Seele. Bloß Unordnung<br />

konnte er nicht leiden. Schon am zweiten Tag sagte er zu Maurice: „Ich muss zu meiner Betrübnis<br />

feststellen, dass du ein Schlamper bist! Da wollen wir eine reinliche Trennung vollziehen, nicht wahr?“<br />

André vollzog, das heißt: er nahm ein dickes Stück Kreide und zog einen Strich mitten durchs Zimmer.<br />

„So“, sagte er dann zufrieden, „die eine Hälfte gehört dir, da kannst du machen, was du willst!“<br />

Und wenn nun Maurice mal einen Pinsel fallen ließ, der über den Strich in Andrés peinlich geordnete<br />

Zimmerhälfte rollte, dann nahm André ihn wortlos auf und legte ihn jenseits des Striches nieder.<br />

Anfangs hatte Madame Achmed, Andrés Wirtin, heftigen Krach gemacht und wollte nicht dulden, dass<br />

Maurice sich bei André einquartierte. Als Maurice jedoch der alten Frau ein Bild ihrer Lieblingskatze<br />

Sasu schenkte, da strahlte sie und ließ ihn seitdem in Frieden.<br />

Maurice seufzte und stand auf. Sicher, ich bin mal wieder satt, dachte er und wischte sich die Krümel<br />

von der Hose. Aber wie!<br />

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André, der inzwischen drei Kunden bedient hatte, kam zu ihm heran, langte in die rechte Hosentasche,<br />

holte eine Zigarette hervor, brach sie durch und gab dem Maler die eine Hälfte.<br />

„Du bist ein feiner Kerl, André!“<br />

Der feine Kerl tippte sich an die Stirn und begab sich wieder in den Strom der Passanten, um neue<br />

Kunden zu fangen. Maurice zündete den Stummel an, nickte André zu und schob ab.<br />

So geht es tatsächlich nicht weiter, dachte er. Nette Kerle, besonders André. Wenn auch ‘n bisschen<br />

verrückt. Aber ich kann mich doch schließlich nicht von einem Tellerwäscher verpflegen und von einem<br />

Schuhputzer beherbergen lassen! Nein, so geht das nicht weiter! Irgendwie muss man doch Geld verdienen<br />

können!<br />

Nachdenklich schlenderte er über die Cannebière. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er Neid. Er<br />

beneidete die Leute in den Cafés und Restaurants, die essen und trinken konnten, was sie wollten. Er<br />

beneidete alle, die ihm gut gekleidet oder fröhlich lachend entgegenkamen.<br />

Die haben‘s alle besser als ich, dachte er. Die essen Schlagsahne, ich muss Ambassadeur-Stullen kauen!<br />

Aber ich könnte es ja genauso gut haben! Ganz genauso! Ich brauchte nur dem alten Herrn einen Brief<br />

zu schreiben. Ich brauchte bloß die Malerei an den Nagel hängen. Dann könnte ich im Auto durch die<br />

Gegend fahren. Und essen, was ich gern möchte. Jetzt zum Beispiel ein prima Steak. Hm, machte er<br />

genießerisch. Plötzlich blieb er stehen und betrachtete gedankenverloren einen der zahlreichen<br />

Blumenkarren. In Blecheimern standen nebeneinander dicke Büsche von Rosen, Chrysanthemen,<br />

Nelken, Tulpen und Veilchen. Minutenlang glitt sein Blick über die morgenfrisch leuchtenden Sträuße<br />

und blieb endlich auf einem Veilchenbund haften.<br />

Toll, wie das Licht den Farbton veränderte! Dieses Blau müsste man malen können!<br />

Malen! Ach ja, malen!<br />

Das Malen aufgeben? In stickigen Büros sitzen? Mit Kunden feilschen? Nein! Nichts für mich. Ich muss<br />

malen! Aber zunächst muss ich Geld verdienen, um leben zu können. Um malen zu können. Vorläufig<br />

bringt die Malerei noch nichts ein. Also es muss irgendwas geschehen. Bisher hab‘ ich Pech gehabt.<br />

Braucht ja nicht immer so zu bleiben. Irgendwas wird ja schließlich klappen.<br />

Langsam ließ er sich von der Menschenmenge weiterschieben. An der übernächsten Straßenecke traf er<br />

einen kleinen, ziemlich abgerissen aussehenden Chinesenjungen.<br />

Aha, dachte er, Nummer zwei.<br />

Der Gelbe trug einen Packen Zeitungen unter dem<br />

Arm und brüllte wie am Spieß: „Courrier du Midi!<br />

Courrier du Midi!“<br />

„Morgen, Pipin!“ begrüßte ihn Maurice. „Ich traue<br />

meinen Augen nicht: du arbeitest?“<br />

„Leider! Du weißt, Zeitungen verkaufen find‘ ich<br />

widerlich, aber — Courrier du Midi! — aber<br />

Monsieur Wassilie, der Besitzer meiner fürstlichen<br />

Gemächer, drängt so unverschämt auf — Courrier du<br />

Midi! — Bezahlung der Miete. So sind die<br />

Kapitalisten — Courrier du Midi!“<br />

Ein Mann, der es offensichtlich eilig hatte, kaufte<br />

eine Zeitung und wartete nervös auf das Wechselgeld,<br />

das er noch zu bekommen hatte. Unendlich langsam<br />

und umständlich veranstaltete Pipin eine Ausgrabung<br />

in seiner rechten Hosentasche. Alles mögliche<br />

förderte er zutage, nur kein Kleingeld. Bis es dem<br />

Käufer zu bunt wurde.<br />

„Ach, lass schon!“ brummte er ärgerlich und<br />

verschwand in der Menge.<br />

„Warum nicht gleich so?“ meinte Pipin grinsend.<br />

„Als ob unsereins nicht auch mal gern ein Trinkgeld<br />

bekäme!“<br />

„Den Bogen hast du prima raus!“ Lachend klopfte<br />

Maurice ihm auf die Schulter und sagte: „Gib mal ‘n Blatt!“<br />

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Unter dem Stapel auf seinem linken Arm zog Pipin eine nur wenig zerlesene Morgenzeitung hervor und<br />

reichte sie Maurice. Für solche Blätter aus zweiter Hand hatte der Chinese eine ganze Reihe fester<br />

Abnehmer. Er verkaufte sie billiger, weil er sie umsonst bekam. Es waren nämlich liegengebliebene<br />

Zeitungen, die er am Platz d‘Aix in den wartenden Autobussen und Straßenbahnen aufgesammelt hatte.<br />

Maurice setzte sich dicht an der Hauswand auf das Pflaster. Hier im Schatten, und dazu noch mit<br />

angenehm gekühlter Sitzfläche, war die Hitze auszuhalten. Er las. Erste Seite Politik. Die üblichen<br />

Schlagzeilen, aber nichts Aufregendes. Zweite Seite. Eisenbahnunglück in Malincourt. Hm. Ein Wasserrohrbruch.<br />

Reklame für irgendeine Zigarettenmarke. Schafsdämlich gemacht. Kein Blickfang. Man<br />

müsste hier ... Ach, geht mich nichts an. Dritte Seite. Eine kurze Erzählung. Nicht schlecht. Das übliche<br />

Gedicht. Aber hier: Nachrichten von Kunstauktionen und Ausstellungen. Was? Der Jambon hat den<br />

ersten Preis gekriegt? Toll! Der ist nur zwei Jahre älter als ich. Wird Zeit für mich. Ich muss mich<br />

ranhalten. Ich muss ausstellen. Vierte Seite: Anzeigen. Maurices Augen überflogen die Spalten.<br />

Interessiert mich nicht. Na — was ist das denn? Seine Augen blieben an einer groß aufgemachten<br />

Annonce hängen. Er las:<br />

Wer vertreibt einen Spuk? Schloss, aus dem Mittelalter stammend, wird seit langem von lästigen<br />

Spukerscheinungen heimgesucht. Internationale Fachleute bisher erfolglos. Für endgültige Beseitigung<br />

ist eine Belohnung von 3000 Franken ausgesetzt. Angebote an Chiffre 1237 dieses Blattes.<br />

Donnerwetter! Allerhand Geld, bloß um einen Spuk loszuwerden! Pipin! Pipin! Komm doch mal her!<br />

Lies mal! Hier, die Anzeige!“<br />

Der Gelbe las mit ungerührtem Gesicht.<br />

„Was ist das: Spuk?“ fragte er dann. „Ungeziefer? Flöhe, Wanzen?“ „.Nein! Ein Geist, ein Gespenst, das<br />

im Haus herumrennt und Getöse macht.“<br />

„Geist? Gespenst?“ Pipin schüttelte den Kopf. „Das gibt‘s ja gar nicht!“ Entrüstet ging er auf den<br />

Bürgersteig zurück. Maurice steckte die Zeitung sorgfältig ein und ging weiter. Dreitausend Franken ist<br />

eine Masse Geld, dachte er. Damit wäre allerlei anzufangen. Man könnte Farben kaufen und Leinwand.<br />

Und eine ganze Weile ordentlich essen. Und auch was für die Jungens tun. Man müsste sich die Sache<br />

tatsächlich mal überlegen. Man müsste sich wenigstens nach den genauen Einzelheiten erkundigen. Das<br />

kostet nur das Briefporto. Aber allein würde ich das nicht machen. Irgendeiner von den Jungen müsste<br />

mitgehen. Ich habe mich doch regelrecht an diese Kerle gewöhnt. Merkwürdigkeit! Spuk! Natürlich<br />

Unsinn, Pipin hat ganz recht. Muss sich doch feststellen lassen, was dahinter steckt. In Frankreich gibt‘s<br />

keine <strong>Gespenster</strong>, und schon gar nicht hier am Mittelmeer, in dieser klaren, hellen Luft. In England<br />

vielleicht. Da ist es so neblig und düster.<br />

Nun ja, so einige alte Geschichten und Sagen gibt es auch hier. Aber wer glaubt schließlich an solche<br />

Ammenmärchen? Kein Mensch! Chateau d‘If zum Beispiel! Da soll das Gespenst eines Gefangenen<br />

herumlaufen, den die Marseiller vor ein paar hundert Jahren schmählich verhungern ließen. Die<br />

Fremdenführer erzählen so was, das hebt das Geschäft. Machen sie sogar richtig spannend. Mit<br />

Flüsterstimme und scheuen Seitenblicken. Hat ausgesprochen schlechte Manieren, das Gespenst. Kriecht<br />

angeblich nachts auf dem winzig kleinen Felsinselchen If herum und flucht schauerlich. Tät‘ ich auch,<br />

wenn ich das letzte Boot verpasst hätte. Dazu braucht man kein Gespenst zu sein. Alles Unsinn! Neulich<br />

war ein amerikanischer Reporter eine ganze Nacht auf der Insel und hat nichts gesehen und nichts<br />

gehört. Da hatte das Gespenst wohl zufällig Landurlaub. Nichts als Aberglaube. Deswegen meine ich,<br />

man könnte es ruhig mal versuchen. Wäre doch schön, wenn ich rauskriegte, was mit dem sogenannten<br />

Gespenst los ist. Wird eine ganz natürliche Ursache haben. Mäuse oder Ratten, die Krach machen. Oder<br />

irgendwo ist ein Sparren locker. Beim Haus oder beim Besitzer.<br />

Dreitausend Franken! Da brauche ich den Jungens nicht mehr auf der Tasche zu liegen! Davon könnte<br />

man eine ganze Weile leben, vielleicht so lange, bis es mit der Malerei klappt. Ich versuch‘s mal. Ich<br />

schreibe jetzt sofort . .<br />

‚Wer vertreibt einen Spuk?’ Das war der Köder an der Angel. Der hungrige Fisch Maurice biss<br />

an.<br />

„Wozu hasse uns einglich hergelotst, Mensch?“ stöhnte Filou und blickte Maurice mit seinen braunen<br />

Knopfaugen fragend an. Der Maler musste unwillkürlich lächeln, denn der schwarze Fettkloß hatte eine<br />

7/117


unmögliche Aussprache. Er verschluckte die Hälfte aller Worte, und was dann übrig blieb, quetschte er<br />

so fett und schmatzend raus, dass man ihn kaum verstand.<br />

„Wartet noch einen Augenblick, bis Pipin und die andern da sind. Ich muss euch was fragen. Was ganz<br />

Verrücktes!“<br />

„Letzteres hinzuzusetzen war unnötig. Von dir kennen wir nur Verrücktes, Maurice!“ sagte André<br />

lächelnd, aber ein leichter Tadel war doch in seinen Worten zu spüren.<br />

Da erschien auch schon Pipin mit den andern Jungens. Der Gelbe hatte eine merkwürdige Art zu gehen:<br />

er winkelte die Arme an, beugte den Oberkörper weit vor und bewegte die Beine in einem leichten,<br />

lautlosen Trab, als ob seine sämtlichen Ahnen Rikschakulis gewesen wären. Seppe Palotti neben ihm<br />

schwang die langen, braunen Beine elegant und anmutig durch die Landschaft, was gar nicht zu seinen<br />

völlig ausgefransten Hosen passte. René Forgeron dagegen rollte heran, anders kann man es nicht<br />

ausdrücken. Er drehte sich in den Hüften wie ein Preisboxer; unter seinem blauen Hemd sah man die<br />

Muskelpakete an- und abschwellen. Sein gedrungener Rumpf steckte in einem total verdreckten Overall,<br />

seine Sommersprossen hatte er unter einer Lage Schmieröl geschickt getarnt.<br />

„Salut!“ brummte René und nahm wohlig grunzend auf Andrés Schuhkiste Platz. Sofort verbreitete sich<br />

ein durchdringender Benzingeruch. Pipin ließ sich wortlos neben Maurice auf die Erde nieder und saß so<br />

herrlich asiatisch da wie Buddha persönlich. Nur Seppe tänzelte unentschlossen herum.<br />

„Setz dich, du Scheich““ forderte ihn René kurz und herzlich auf.<br />

Seppe grinste fröhlich und ließ sich in Andrés Armsessel fallen. Den Platz hatte André nämlich für sich<br />

reserviert.<br />

„Majestät geruhen freundlichst, von meinem schäbigen Mobiliar Gebrauch zu machen?“ raunzte er den<br />

Italiener an und war drauf und dran, böse zu werden.<br />

„Aber André“, sagte Maurice verweisend, „du verlangst doch nicht im Ernst, dass der König der Diebe<br />

sich zu uns in den Staub setzt!“ Die Ironie war mehr als deutlich.<br />

„Du traust mir also nicht zu, dass ich prima klauen kann?“ fragte Seppe gekränkt, stand auf und blickte<br />

sich suchend um. „Dann pass mal auf!“ sagte er. Dem Neuen wollte er es zeigen. Hinten kam ein<br />

Polizist heran. Er schwitzte jämmerlich in seiner blauen Uniform. Sein Gesicht loderte rotviolett, weil es<br />

so heiß war und weil er dreiviertel Liter Rotwein getrunken hatte. Seppes Augen wurden auf einmal<br />

ganz schmal und dunkel. Man sah richtig, dass er sein Lockenköpfchen anstrengte. Dann ging er los. Er<br />

hielt den Kopf gesenkt, torkelte wie benommen und döste so fest, dass er den Polizisten heftig<br />

anrempelte.<br />

Der Blaue wurde böse. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass ihm dieser Flegel den Bauch einrannte!<br />

Seppe entschuldigte sich wortreich und höflich. Schimpf end ging der Beamte weiter. Seppe machte<br />

kehrt und kam grinsend hinter ihm her. Kaum war der Polizist an der Gruppe vorbeigegangen, da hielt<br />

Seppe dem Maler schmunzelnd die Trillerpfeife des Schutzmanns unter die Nase.<br />

„Na?“ sagte er. Maurice lachte. „Tatsächlich, du bist ein ganz gerissener Halunke! Von jetzt an werde<br />

ich auf meine Uhr aufpassen müssen!“<br />

„Um Gottes willen, Maurice! Den Kerl darfst du nicht loben! Sonst geht dieser verruchte Mensch<br />

morgen hin und stiehlt dem Herrn Polizeipräsidenten den Sessel unterm Po fort!“ jammerte André. —<br />

„Gib dem Beamten die Pfeife zurück!“ schnauzte er Seppe an.<br />

„Klar“, sagte Seppe pikiert, „dachtest du, ich wollte das dumme Ding behalten?“<br />

„Bei dir weiß man nie genau, wo der Spaß aufhört! — Seit Jahr und Tag bemühe ich mich schon, aus<br />

diesem Früchtchen einen anständigen Menschen zu machen, aber ich sehe schwarz. Sehr schwarz!“<br />

meinte er, zu Maurice gewandt.<br />

„Du hättest Pastor werden sollen!“ sagte Seppe und trabte hinter dem Hüter des Gesetzes her.<br />

Von all dem hatte Filou nichts gehört und gesehen. Er wartete sehnsüchtig auf Stinker. Stinker war sein<br />

ein und alles, sein Spielzeug, sein Freund, Ersatz für die ganze Familie und außerdem noch ein Hund. Er<br />

war Filou zugelaufen; das heißt: er hatte mehrmals von Filou Fressbares aus dem Segeltuchbeutel<br />

ergattert. Seine Dankbarkeit war grenzenlos, so dass er dem dicken Schwarzen nicht mehr von der Seite<br />

wich.<br />

Nur ins Hotel durfte er natürlich nicht. Anfangs heulte er stundenlang vor dem Hintereingang, durch den<br />

Filou nach herzzerreißendem Abschied verschwunden war. Aber das unterließ er bald, denn die erboste<br />

Nachbarschaft warf mit harten Gegenständen nach ihm. Später gewöhnte er sich an die Arbeitszeit<br />

seines Herrn. Jeden Morgen um Viertel vor acht verließ er mit Filou das Haus und begleitete ihn zum<br />

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Hotel. Bis gegen zwölf streunte er dann in der Stadt umher. Punkt zwölf aber stand er am Hintereingang<br />

des „Ambassadeur“. Filou ließ ihn ein und fütterte ihn. Dann legten sich Herr und Hund in die Sonne<br />

und schliefen einträchtig nebeneinander. Bei Schlechtwetter verzogen sie sich in den Heizungskeller.<br />

Um zwei Uhr zockelte Stinker wieder ab. Punkt sechs war er an der Hintertür und geleitete den<br />

Schwarzen nach Hause.<br />

Dem Namen Stinker hatte er anfangs alle Ehre gemacht. Kein Wunder, wenn man als alleinstehender<br />

armer Hund seinen Lebensunterhalt mühsam aus Mülleimern und Abfallhaufen zusammenscharren<br />

muss! Er stank jedoch schon längst nicht mehr, Filou badete ihn regelmäßig. Doch trotz guten Futters<br />

und trotz aller Pflege war Stinker geblieben, was er war: eine ruppige, struppige Promenadenmischung.<br />

Er war keine Schönheit, aber Filou liebte ihn.<br />

Einmal hatte André gesagt, der Hund müsste eigentlich UNO heißen, weil an ihm alle Rassen beteiligt<br />

seien. Da war Filou fuchsteufelswild geworden.<br />

Ganz hinten auf der Cannebière tauchte Stinker auf. Der Schwarze entdeckte ihn sofort, sein Gesicht<br />

erstrahlte in fettigem Glanz.<br />

Die schwarzgefleckte Schnauze weit vorgestreckt, schnürte Stinker in seinem tapsigen Trab heran.<br />

Plötzlich bekam er den Geruch des Schwarzen in die Nase. Er hob den Kopf, schleuderte die Schnauze<br />

wie verrückt hin und her, jaulte jubelnd und fegte ab, so schnell seine Kälberpfoten nur konnten. Ohne<br />

zu bremsen, sprang er Filou derartig wuchtig in den Schoß, dass der Junge fast umkippte. Bei der nun<br />

folgenden Begrüßung spielte Stinkers lange, lachsrote Zunge die Hauptrolle. Immer wieder versuchte er,<br />

Filous Gesicht abzuschlecken. Endlich beruhigte er sich und machte es sich gemütlich, legte seine<br />

Quadratschnauze auf Filous Knie und blinzelte glücklich und zufrieden in die Gegend.<br />

Die Uhr vom Börsengebäude schlug zwölfmal.<br />

„Können wir jetzt endlich anfangen?“ schimpfte Maurice, der unbedingt seine neue Idee loswerden<br />

wollte.<br />

„Lass gehen, Maurice!“ sagte René, der immer gern den Stier bei den Hörnern packte. Merkwürdig,<br />

dachte er, während Maurice eine zerlesene Zeitung aus der Tasche zog. Merkwürdig! Bis jetzt hat dieser<br />

lange blonde Maler nur Mist fabriziert. Und trotzdem sind alle da, wenn er sie zusammenruft. Sogar bei<br />

dieser Hitze. Ist eben ein netter Kerl. Auf irgendeine Art imponiert er einem auch. Nicht, weil er ‘n<br />

feiner Pinkel ist. Das imponiert nur André. Na, warten wir mal ab, was er jetzt wieder auf der Pfanne<br />

hat.<br />

„Erst will ich euch mal was vorlesen!“ sagte Maurice.<br />

Es war die Anzeige „Wer vertreibt einen Spuk?“<br />

Die Jungens ließen die Worte über sich ergehen wie einen Platzregen. Genauso gleichmütig und<br />

uninteressiert. René, Pipin und Seppe guckten ziemlich dumm drein. Filou noch mehr als dumm.<br />

„So“, sagte Maurice strahlend, „das war die Anzeige! Ich habe den Leuten geschrieben und Antwort<br />

erhalten!“<br />

Triumphierend zog er einen länglichen, vornehmen Briefumschlag aus der Tasche.<br />

„Na und?“ sagte Seppe zerstreut. „Willste vielleicht Spuke fangen, die es doch gar nicht gibt?“<br />

„Warte doch mal ab, du Nachtwächter! Hier, das ist die Antwort!<br />

„Sehr geehrter Herr Dupont!“ - „Das bin ich! Grins nicht so dämlich, Filou!“<br />

„Bezüglich meiner Anzeige teile ich Ihnen die näheren Umstände mit. Mein Besitztum Sankt Augustin<br />

bei Villeneuve, in dem sich die merkwürdigen Spukerscheinungen zeigen, ist eine alte Burg, die ich vor<br />

fünf Jahren gekauft habe. Es soll dort immer schon gespukt haben, aber seit zwei Jahren geschehen<br />

Nacht für Nacht unerklärliche Dinge. Geräusche aller Art vertreiben Gäste und Personal, ja selbst<br />

körperliche Angriffe fanden statt, was nicht zu verschweigen ich für meine Pflicht halte.“<br />

„Na, tolle Sache, was?“<br />

Die Jungen schauten weniger interessiert als belustigt drein.<br />

„Körperliche Angriffe?“ feixte René. „Boxen vielleicht? Über wieviel Runden geht denn so ‘n Geist? —<br />

Das ist ‘n Quatsch, was?“ wandte er sich an André.<br />

„Rede doch nicht so ungebildet daher“, wies ihn der zurecht. „Ich kenne das Leben und weiß, dass es<br />

viele Dinge gibt, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. — Fahre fort, Maurice!“<br />

„Eine Reihe von beherzten Männern hat bereits vergeblich versucht, das Geheimnis zu lüften. So ließ<br />

ich unter anderen aus England, wo man mit <strong>Gespenster</strong>n größere Erfahrung hat, den berühmten Mister<br />

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Samuel Pumphoose kommen, der Fachmann für die Beseitigung von Geistern ist. Er richtete nicht das<br />

geringste aus und reiste kopfschüttelnd wieder ab. Ein derartig schwieriger Fall war ihm in seiner<br />

bisherigen Praxis noch nicht begegnet. Auch der amerikanische Gelehrte Wilson Washington Tuthorn<br />

war völlig ratlos.“<br />

Maurice blickte auf. „Scheint ein hartnäckiges Leiden zu sein, was?“<br />

„Und jetzt willst du . . . ?“ fragte André der wie immer am schnellsten begriff.<br />

„Abwarten, abwarten!“ unterbrach ihn Maurice und las weiter:<br />

„Falls Sie der Meinung sind, zusammen mit ihren sicherlich ausgezeichneten Hilfskräften“ — Maurice<br />

blickte wieder auf und lächelte in die Runde — „ausgezeichneten Hilfskräften Sankt Augustin von<br />

diesem Alpdruck befreien zu können, würde ich mich freuen, Ihre schriftliche Zusage zu erhalten.<br />

Selbstverständlich sind Sie und Ihre Mitarbeiter für die Zeit Ihres hoffentlich erfolgreichen Wirkens<br />

meine Gäste.<br />

In Erwartung Ihrer Antwort grüßt Sie mit vorzüglicher Hochachtung<br />

Ihr Alphonse Baharoff.“<br />

„Nun, was sagt ihr jetzt?“<br />

„Wen meint denn der mit den Hilfskräften?“ fragte René, der mal wieder den sachlichen Kern erwischte.<br />

„Euch natürlich. Ich hab‘ ihm geschrieben, ich hätte hier ein paar tüchtige Freunde, die mir helfen<br />

würden. Ich möchte nämlich gern, dass jemand von euch mitgeht, allein habe ich keine Lust!“<br />

„Dir hat‘s wohl ins Gehirn geregnet, wie? Nee, ich hab‘ was Besseres zu tun, als hinter ‘nem Spuk<br />

herzulaufen, den es überhaupt nicht gibt!“ Bei René kam der nüchterne Bauer zutage, dem alles<br />

Ungewohnte und Neue verdächtig ist.<br />

André drückte das auf seine Weise aus: „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht! Und du bist ein<br />

Bauer, wenn du auch entsetzlich nach Benzin stinkst. Ich finde es hochinteressant, diesem Ba-Ba-Bahnhof,<br />

oder wie der heißt, den Spuk wegzufangen! Maurice, das ist bis jetzt deine beste Idee! Meine<br />

Anerkennung!“<br />

Und sogleich geriet er ins Schwärmen: „Jungens! Meiner Meinung nach ist diese Sache goldrichtig! Da<br />

lässt sich eine Menge Geld verdienen — zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt, nicht wahr? Stellt<br />

euch mal vor, was man damit anfangen könnte! Ich bin schlechthin entzückt! Und seine Gäste sind wir,<br />

hat er geschrieben, dieser Albatros!“<br />

„Baharoff!“<br />

„Meinetwegen, ist ja egal. Seine Gäste! Habt ihr gehört?“<br />

„Wir sind schließlich nicht taub!“ warf Seppe ein, der sich bei all dem noch nichts denken konnte.<br />

„Ich möchte schon allein deswegen mitmachen“, fuhr André fort, ohne sich im mindesten stören zu<br />

lassen, „weil ich für mein Leben gern mal auf einem Schloss wohnen möchte! Das muss hinreißend<br />

vornehm sein! Mit Dienern und Schildknappen und. . .“<br />

„. . . und Zugbrücke, die rasselnd runtergelassen wird, wenn Ritter André klabaster-klabaster auf seinem<br />

edlen Ross angesprengt kommt. Und alles von Silber und Gold, sogar das Klopapier hat ein Goldrändchen,<br />

nicht wahr, André?“ fuhr Maurice fort und lachte.<br />

Die Jungens gönnten dem für Vornehmheit schwärmenden André ein bisschen Spott.<br />

René brummte: „Ewig redet der einem so ‘n Blech vor! Ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne,<br />

aber das kann einen fast auf die Palme bringen.“<br />

Pipin sagte mit unbewegtem Gesicht: „Armer Irrer!“<br />

Seppe grinste infam und drehte die Daumen rasend schnell umeinander. Das tat er immer, wenn er sich<br />

besonders freute. Diesmal war‘s ausgesprochene Schadenfreude, weil André, der ihn ständig<br />

schulmeisterte, auch mal eins drüberbekam.<br />

Filou grinste, weil die andern grinsten, und wusste im übrigen nicht, um was es sich handelte.<br />

Nicht einen Moment lang verlor André seine Würde. Er lächelte ein wenig gezwungen und setzte seine<br />

Rede fort; ja er hob sogar den rechten Zeigefinger und unterstrich damit noch, was er in seiner üblichen<br />

langsamen, mehr als deutlichen Sprechweise zum besten gab:<br />

„Nun, ich habe mich wohl etwas übertrieben ausgedrückt. Wie es auch immer auf einem solchen Schloss<br />

aussehen möge . . .“<br />

Hier prustete Maurice los, und René knurrte: „Kamel!“<br />

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André schenkte ihm einen Blick voll Tadel und Verachtung und begann noch einmal: „Wie es auch<br />

immer auf einem solchen Schloss aussehen möge, ich möchte gern ein solches kennenlernen.“<br />

„Langer Rede kurzer Sinn: du machst also mit, André. Schön! Sonst noch wer?“ fragte Maurice in die<br />

Runde.<br />

Doch so leicht ließ sich André den Faden nicht abschneiden. Wie ein Festredner legte er los: „Mein<br />

Vorschlag geht dahin, dass sich alle beteiligen sollten. Man könnte das quasi gewissermaßen als bezahlte<br />

Ferien betrachten. Indem dass nämlich für unser leibliches Wohl durchaus gesorgt wäre, da dieser Herr<br />

Basedow. . .“<br />

„Ba-ha-roff!“<br />

„Wenn ich mich nicht irre, sagte ich das auch, nicht wahr, Maurice? Da also dieser Herr Badehof ...“<br />

Maurice stöhnte und griff sich an den Kopf. „Ba-ha-roff!“ schrie er gequält.<br />

„Schon gut! Warum so heftig, Maurice? Ich sage doch dauernd Baseloff!“<br />

„Halt mich fest, René! Halt mich fest, sonst gibt‘s ein Unglück!“ knirschte Maurice wütend. „Der Kerl<br />

ist ja eine Nervensäge ersten Ranges!“<br />

„Maurice!“ sagte André ehrlich gekränkt, „ein gebildeter Mensch wie du...“<br />

„Mach weiter!“ Maurice seufzte. „Mach um Gottes willen weiter! Was war mit Herrn Baseloff?“<br />

„Baharoff heißt der Mann, Maurice!“ verbesserte jetzt André.<br />

„Das haut einen Eskimo vom Schlitten!“ brummte René und rollte die Augen wie ein Gorilla. „Ich bin<br />

der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber was diese dünne, magere Spitalsuppe sich da leistet . . .“<br />

In den folgenden Minuten hatte Maurice alle Hände voll zu tun, den drohenden Krach zu verhindern.<br />

Endlich sagte er: „Los, André! Aber fass dich bitte kurz, ja!“<br />

„Das tu ich immer, wie du bemerkt haben dürftest! Ich drücke mich immer äußerst knapp und präzise<br />

aus. Nun also: ich meine, wir sollten alle hinfahren, weil wir dort gewissermaßen bezahlte Ferien<br />

genössen, da doch dieser Herr . . .“<br />

„Baharoff!“ fiel Maurice vorsichtshalber ein.<br />

„Ganz richtig! Eben dieser! Weil wir seine Gäste sind. Das kostet uns also keinen Pfennig. Ich werde<br />

mir für mein Geschäft einen Vertreter besorgen und mit dir fahren, Maurice. Vorausgesetzt, dass es dir<br />

recht ist, natürlich.“<br />

„Na, so eine Frage, Mensch! Wer sonst noch? Ich finde übrigens Andrés Vorschlag, dass alle mitfahren<br />

sollten, prächtig!“ Und da sich die anderen Jungens nicht rührten, setzte er hinzu: „Oder habt ihr etwa<br />

Angst?“<br />

„Angst?“ knurrte René. „Das meinst du doch nicht im Ernst, wie? Kann man vor ‘nem Spuk, den‘s nicht<br />

gibt, Angst haben? Das Ganze ist natürlich Blödsinn, aber ich hab‘ ohnehin Urlaub zu bekommen, und<br />

warum sollte ich nicht mit euch fahren? Ist doch mal was anderes als ewig Marseille, nicht?“<br />

„Fein, René! Und du, Pipin?“<br />

„Ich mach‘ mit“, sagte der Gelbe trocken, „der ‚Courrier du Midi’ wird mich entbehren können.“ Und<br />

im stillen dachte er: wenn die Jungens wegfahren, bin ich wieder allein. Und ich möchte nicht mehr<br />

allein sein. Davon hab‘ ich genug.<br />

„Seppe?“<br />

„Ich bin zu allen Schandtaten bereit“, sagte der Schmalzgelockte und lächelte süß wie ein Bonbon.<br />

„Und du, Filou?“<br />

„Wo ihr hingeht, geh‘ auch ich hin“, quetschte der Schwarze hervor.<br />

„Krieg auch Urlaub. Hap noch nie Angs gehapp!“<br />

„Großartig, Jungens! Ich werde dem Schlossfritzen sofort schreiben, dass wir zu sechs Mann hoch<br />

angerückt kommen. Ich sage euch, das werden bestimmt ein paar nette Tage, ob wir den Spuk nun<br />

kriegen oder nicht!“ Maurice freute sich offensichtlich, das endlich mal eine seiner zahlreichen Ideen<br />

allgemein Anklang gefunden hatte.<br />

„Nicht kriegen?“ meinte André. „Wir müssen ihn kriegen, das ist doch wohl der Sinn der Sache, nicht<br />

wahr? Es handelt sich hier um sehr viel Geld. Wenn wir die Ursachen dieses <strong>Gespenster</strong>treibens ermittelt<br />

haben, dann teilen wir uns die Belohnung. Ich gedenke von<br />

dem Erlös einen Karren zu kaufen und mich im Blumenhandel zu betätigen. Ich nehme daher die Sache<br />

äußerst ernst und erwarte dasselbe auch von euch!“<br />

Der Kerl quatscht so hölzern wie ‘n Gesetzbuch, dachte Maurice. Wo hat er das bloß her?<br />

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Die Erklärung war ganz einfach: André hatte seinen Schuhputzladen in unmittelbarer Nähe der Börse.<br />

Seine Stammkunden waren daher in erster Linie Börsenkaufleute; aber auch viele Rechtsanwälte und<br />

Ärzte kamen morgens zu ihm, um sich vor Dienstbeginn schnell noch die Schuhe auf Hochglanz<br />

wienern zu lassen. Nach diesen „studierten“ und daher ganz gewiss gebildeten Menschen richtete er<br />

sich. Jede Floskel, die er einmal gehört hatte, behielt er und benutzte sie bei den unmöglichsten<br />

Gelegenheiten.<br />

Die anderen Jungens lachten. Einesteils über Andrés geschwollene Ausdrucksweise, die eine ständige<br />

Quelle des Vergnügens war, was André selbst nicht zu merken schien, anderseits über die Idee, eine<br />

Spukjagd ernst nehmen zu wollen.<br />

„Ernst nehmen? Den Blödsinn? Du bist wohl nicht bei Trost, wie? Du bist imstande und machst ‘ne<br />

Beerdigung aus der Geschichte!“ erwiderte René aufgebracht. „Ich nehm‘ das als ‘ne ulkige Abwechslung,<br />

weiter nichts. Gerade das richtige für ‘n Urlaub! — Übrigens“, fuhr er fort, mit klarem Blick den<br />

wurmstichigen Punkt der Sache entdeckend, „wie kommen wir denn dahin? Wo liegt das Schloss? Für<br />

weite Reisen hab‘ ich kein Geld!“<br />

René hat recht, dachte Maurice, sagte aber vorsichtshalber zunächst mal nichts. Wie kommen wir nach<br />

Villeneuve? Wir können uns doch unmöglich das Fahrgeld schicken lassen, das sähe zu dumm aus.<br />

„Das vernünftigste wäre zweifelsohne“, begann André in seinem Schulmeisterton, „wenn wir uns<br />

zunächst mal erkundigen, wieviel die Bahnfahrt kostet. Das werde ich übernehmen. Und dann müssen<br />

wir eben sparen! Wir machen eine gemeinsame Kasse auf, und jeder bemüht sich, herbeizuschaffen, was<br />

er kann.“<br />

Ebenso feierlich wie befriedigt blickte er sich um. Renés Erwiderung hatte ihn nicht im mindesten<br />

beeindruckt. Er würde die Spukjagd ernst nehmen, da konnte der ungebildete Bauer sagen, was er<br />

wollte.<br />

„Ich glaube, Andrés Vorschlag ist der einzig richtige“, meinte Maurice, „oder ist jemand anderer<br />

Ansicht?“<br />

Es erhob sich kein Widerspruch. Maurice blickte Pipin in die Augen<br />

und hatte den Eindruck, dass diese Augen lächelten. Seltsam, dachte er. Seltsamer Kerl, dieser Gelbe.<br />

Dann blickte er Seppe an. Der lächelte bestimmt, und zwar honigsüß. Er sagte nichts, weil er wusste,<br />

dass seine Meinung nicht viel galt.<br />

Filou schlief. Stinker auf seinem Schoß ebenfalls.<br />

Also schrieb Maurice Herrn Alphonse Baharoff, er käme mit seinen fünf Freunden und der Absicht, dem<br />

Spuk den Garaus zu machen.<br />

Sparen und Spinne<br />

Sparen ist eine Beschäftigung für Leute, die wenig Geld haben. Wer viel Geld hat, braucht nicht zu<br />

sparen, wer überhaupt keines hat, kann nicht.<br />

Von den Jungens aus der Zwiebelstraße sparten zunächst nur zwei: André und René. Treu und redlich<br />

legten die jeden Franken, den sie erübrigen konnten, in die gemeinsame Reisekasse, zu deren Verwalter<br />

der gewissenhafte André ernannt worden war.<br />

„Dieser Beweis eures Vertrauens ehrt mich unmäßig!“ gackerte André stolz und verbeugte sich<br />

gemessen. „Ich werde sofort ein Heftchen kaufen und genau Buch führen!“ salbaderte er, von seiner<br />

Wichtigkeit überzeugt. Das tat er dann auch. Ständig trug er das Kontobuch bei sich, und wenn einer der<br />

Jungens auftauchte, zog er es hervor, rechnete mit sorgenzerfurchter Stirn darin herum, murmelte Zahlen<br />

vor sich hin und griff ab und zu nach dem langen Bleistift hinter dem rechten Ohr. Dabei waren erst vier<br />

ganz kleine Summen eingetragen, zwei von ihm selbst und zwei von René.<br />

„Dem schwebt ein unsichtbarer Kneifer auf der Nase“, meinte Maurice.<br />

Gar zu gern hätte sich auch Filou am Sparen beteiligt. Eines Abends quetschte er ebenso undeutlich wie<br />

unglücklich hervor: „Möcht micha wall beteiljen, geht nich weng Oma!“ Todtraurig blickte er mit seinen<br />

großen Glupschaugen von einem zum andern.<br />

Die Jungens lächelten verständnisvoll, sie kannten seine Oma.<br />

„Macht nichts, Dickerchen“, tröstete ihn Maurice, „du stiftest den Reiseproviant, das ist dein Anteil, ja?“<br />

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Filou nickte ein wenig erleichtert, aber es wurmte ihn, dass sein Name nicht in Andrés Buch stand. Ja,<br />

wäre Vater noch hier, dann sähe alles anders aus! Doch der war vor zwei Jahren nach Paris versetzt<br />

worden und hatte seine ganze Familie mit Ausnahme seines Ältesten, Filou, nachgeholt. Filou musste<br />

bei der Großmutter bleiben, damit die alte Frau nicht allein war.<br />

Wenn Filou von seinem Vater sprach, glänzten seine Augen. Keiner hatte einen solchen Vater wie er.<br />

Zwei Meter und dreizehn Zentimeter groß, mit Schultern, so breit wie ein Kleiderschrank, und einer<br />

herrlichen, dunkelblauen Uniform mit silbernen Tressen. Und erst der lange Tambourstock — der<br />

Sergeant Wacambo war nämlich Tambourmajor! Der Tambourmajor! Da gab‘s keinen, der sich mit ihm<br />

hätte messen können. Das war beileibe nicht nur Filous Ansicht, sondern die Meinung von ganz<br />

Marseille. Filous Vater war der Liebling der Stadt und das Prunkstück der Polizeikapelle gewesen.<br />

Sooft die Kapelle ausmarschierte, kletterte Filou schon eine halbe Stunde vorher auf einen Laternenpfahl<br />

an der Cannebière, um ja nichts zu verpassen. Kaum war von Ferne das erste Rasseln der Trommel oder<br />

das Schmettern der Clairons zu hören, da strömten die Leute von allen Seiten herbei, stauten sich Kopf<br />

an Kopf; Autos blieben stehen, und der Verkehr stockte. Näher und näher kam die Musik, kalte Schauer<br />

liefen über Filous Rücken, er war außer sich vor Stolz und Begeisterung, denn alle Leute starrten auf den<br />

langen Tambourmajor, seinen Vater, der mit kraftvoll federnden Schritten vor der Kapelle marschierte,<br />

den fast zwei Meter langen Tambourstock in der rechten Faust und damit lässig-elegant den Takt<br />

angebend.<br />

Jedes Mal lächelte der Vater, wenn er seinen Sprössling auf dem Laternenpfahl entdeckte, und zeigte<br />

dabei zweiunddreißig prachtvolle Zähne. Und nun kam der spannendste Moment: Filou schaute<br />

aufgeregt nach der linken Hand seines Vaters. Gleich würde er verstohlen ein Zeichen machen!<br />

Dreimal! Drei Finger hatte der Vater ausgestreckt, drei Saltos würde der Tambourstock schlagen!<br />

Jetzt! Eine kleine, ausholende Bewegung, und schon flog der Stab hoch in die Luft, drehte sich einmal,<br />

drehte sich noch einmal genau über dem Fahrdraht der Straßenbahn, drehte sich beim Absteigen ein<br />

drittes Mal — und landete, wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, genau in Vaters Hand!<br />

Die Leute jubelten vor Begeisterung, sie klatschten in die Hände und riefen: „Bravo, Wacambo! Bravo,<br />

Wacambo!“<br />

Ja, mein Vater, das ist ein Kerl, dachte Filou, und wenn er noch da wäre, dann bräuchte ich nicht alles<br />

abzuliefern, was ich verdiene. Jeden Monat nahm Oma auf Heller und Pfennig seinen gesamten Lohn in<br />

Empfang und ließ ihm nicht einen Sou Taschengeld. Und das nicht etwa, weil sie Filous Geld nötig<br />

gehabt hätte, um Lebensmittel zu kaufen oder Miete zu zahlen, keineswegs. Als Witwe eines<br />

Kolonialsoldaten bezog sie eine kleine Rente, die ihren bescheidenen Ansprüchen durchaus genügte.<br />

Sie rührte Filous Geld nicht an. Sie nahm es ihm ab, schloss es in den Schrank und sagte dabei: „Der<br />

schnöde Mammon verdirbt den Charakter!“ oder: „Alles Irdische ist eitel!“<br />

Dieselben Sprüche hatte Oma mehr als tausendmal von Josuah Pershing, einem englischen Kaufmann,<br />

gehört, in dessen Haus sie acht Jahre lang als Mädchen für alles tätig gewesen war. Aus dieser Zeit<br />

stammten ihre Ansichten und Lebensgewohnheiten, ihre Vorliebe für Bibelsprüche, angelsächsische<br />

Sprichwörter und schottischen Whisky.<br />

Oma war in einer schäbigen Negerhütte am Senegal<br />

geboren worden. Mit zwölf Jahren kam sie in den<br />

Bungalow von Mister Pershing, der den schwarzen<br />

Bauern und Jägern billigen, bedruckten Kattun zu<br />

enormen Preisen andrehte. Oma platzte fast vor Stolz,<br />

dass sie für den weißen Mann arbeiten durfte, und<br />

lernte begierig Zivilisation, indem sie einfach alles<br />

nachahmte, was der weiße Mann machte. Auf diese<br />

Weise lernte sie, mit Messer und Gabel umzugehen,<br />

Porridge zu kochen und schließlich sogar zu essen.<br />

Und sparsam zu sein. Mister Pershing war nämlich<br />

maßlos geizig. Noch heute aß sie jeden Morgen Porridge. Die ganze Zwiebelstraße lachte darüber und<br />

begriff nicht, wie man Haferbrei essen kann, wenn man völlig gesund ist. Filou wurde allgemein<br />

bedauert, weil er jeden Morgen einen Teller „englischen Leim“ oder „Tapetenkleister“, wie die Leute<br />

sagten, herunterwürgen musste.<br />

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Filou hatte bei ihr kein Zuckerlecken. Um sechs Uhr morgens warf sie ihn erbarmungslos aus dem Bett,<br />

obgleich er ruhig bis sieben hätte lie8enbleiben können, da sein Dienst erst um acht begann. Aber Oma<br />

war nun mal gewöhnt, den Tag um sechs Uhr morgens anzufangen. Einmal hatte Filou sich zu<br />

beschweren gewagt, da hatte sie entgegnet:<br />

„Der Vogel, der am frühesten aufsteht, fängt den ersten Wurm!“ Das leuchtete Filou zwar ein, aber er<br />

fragte sehr richtig: „Und der arme Wurm! Der ist doch noch früher aufgestanden?“ Sofort hatte er eine<br />

Maulschelle bezogen, die ausgesprochen nach Senegal schmeckte.<br />

Dennoch liebte Filou seine Oma. Sie sorgte rührend für ihn, und die beiden Zimmerchen, die sie<br />

bewohnten, waren die saubersten der Zwiebelstraße. Aber über Geld konnte man mit ihr nicht reden,<br />

genauso wenig wie einst mit Mister Pershing. Keiner der Jungens hätte gewagt, für Filou ein gutes Wort<br />

einzulegen. Oma hieß in der Zwiebelstraße „das Pulverfass“, und das war nicht nur als Anspielung auf<br />

ihre Figur zu verstehen.<br />

Eine einzige Möglichkeit hatte Filou allerdings, Geld nebenbei zu verdienen: er konnte Stullen<br />

verkaufen. Gelegentlich hatte er das schon getan, der Drehorgelspieler auf der Rue de Rome zum<br />

Beispiel nahm immer welche. Zur Zeit ging auch das nicht, denn Maurice musste ja durchgefüttert<br />

werden. Von Maurice erwartete übrigens niemand, dass er etwas beisteuerte. Wo sollte er es wohl<br />

hernehmen? Doch Maurice war zu stolz, um sich auch die Reisekosten von den Jungens schenken zu<br />

lassen. Er trabte los und versuchte nochmals, seine Bilder an den Mann zu bringen. Natürlich ohne<br />

Erfolg.<br />

Da griff André ein, ließ sich von Maurice eine Mappe mit Aquarellen geben und heftete acht davon an<br />

die Hauswand hinter seinem „Geschäft“. Wenn er jetzt seine Kundschaft bediente, sprach er nicht vom<br />

Wetter oder von seiner eigenen Tüchtigkeit, sondern pries die Bilder seines Freundes an, prahlte und<br />

lobhudelte wie ein Rosstäuscher, so dass Maurice, der neben seiner Freiluftausstellung stand,<br />

abwechselnd rot und blass wurde.<br />

„Sehen Sie doch mal, Herr Doktor“, sagte er zu Dr. Roland, einem jungen Nervenarzt, „welch<br />

entzückende Marinade Meister Dupont hier gemalt hat! ‚Springende Delphine’ heißt dieses<br />

aufsehenerregende Werk! Wäre das nichts für Ihr Wartezimmer?“ Der Arzt kaufte das Bild; es war das<br />

erste, das Maurice gegen Geld abgab. Strahlend wie eine Wunderkerze schob André seinem Freund fünf<br />

Franken hin:<br />

„Hier, Maurice! Fünf Franken, sicherlich nicht viel, aber es war ja auch nur ein kleines Bild!“<br />

„Behalt das Geld, André“, sagte Maurice, tu‘s in die Kasse. — Übrigens: mein Bild war ein Seestück<br />

oder, vornehm ausgedrückt: eine Marine. Marinaden sind Fischkonserven! Tschüs!“ Weg war er und<br />

besuchte seine Ausstellung nie wieder. Der bietet meine Aquarelle an wie saures Bier, dachte er und<br />

schüttelte sich vor Entsetzen. Dennoch war er zufrieden, dass auch er — auf dem Umweg über den<br />

tüchtigen Geschäftmann André — einen Beitrag für die Kasse leisten konnte.<br />

Pipin tat zwei Tage lang gar nichts, bis André massiv wurde:<br />

„Höre mal, mein Lieber! Wenn du wirklich mitfahren willst, musst du dich eines Gelderwerbs<br />

befleißigen! Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass du bisher schändlich gefaulenzt hast, oder?“<br />

Pipin brummte, zuckte missmutig die Achseln und sagte: „Ich habe nichts Passendes gefunden!“<br />

„So! Nichts Passendes! Dann verkaufst du eben Zeitungen, nicht wahr? Glaubst du, ich halte das<br />

Schuhputzergewerbe für sehr passend? Mitnichten! Aber ich kenne das Leben, und deshalb weiß ich,<br />

dass man, wenn man was erreichen will, auch schon mal Dinge tun muss, die einem keine Freude<br />

machen. Du widmest dich hinfort dem ‚Courtier du Midi’, verstanden?“<br />

Pipin nickte und schnitt eine Grimasse, die seinen Widerwillen deutlich zeigte. Er war nicht eigentlich<br />

faul, aber auch nicht ehrgeizig wie André. Darum verdiente er sich immer nur gerade so viel, wie er zum<br />

Leben brauchte. Alle seine gelegentlichen Berufe machten ihm keinen Spaß, am wenigsten der des<br />

Zeitungsverkäufers. Nur eine einzige Arbeit tat er gern: kochen. Jeden Sonntag nahm er seiner Wirtin,<br />

Madame Quinquaille, den Kochlöffel aus der Hand und bereitete das Mittagessen. Viel besser, als<br />

Madame es je gekonnt hätte. Er brauchte drei Stunden dazu, und die Küche sah hinterher aus, als sei ein<br />

Wirbelsturm hindurchgebraust, das Essen jedoch war köstlich.<br />

Liebend gern hätte er Filous Stelle gehabt. Der würde in einem halben Jahr zum Kochlehrling befördert<br />

werden, wozu er weder Lust noch Begabung hatte. Um aber einen solchen Posten zu bekommen, musste<br />

man eine Menge weißer Jacken, Schürzen und Mützen haben, und außerdem Empfehlungen. Die<br />

Arbeitskleidung hätte Pipin sich noch zusammensparen können, aber wer sollte ihn empfehlen? Er hatte<br />

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keinen berühmten Tambourmajor zum Vater, der ihm helfen konnte; seine einzigen Bekannten waren<br />

die Jungen. Prächtige Kerle zwar, aber ebenso arm und unbedeutend wie er. Weshalb also noch ein Wort<br />

über die Sache verlieren? Er brummte — und verkaufte Zeitungen.<br />

Seppe brummte nicht, aber er arbeitete auch nicht. Krampfhaft überlegte er, wie er auf andere Weise an<br />

Geld kommen könnte. Stehlen kam nicht in Frage, für so was hatte André eine untrügliche Witterung.<br />

Endlich, nach ein paar Tagen, hatte er eine geradezu geniale Idee!<br />

In Marseille gibt es einen ständigen Rummelplatz mit allem, was dazu gehört, mit Karussells,<br />

Schießbuden, Zuckerbäckern, Glücksspielen und so weiter. Dorthin pilgerte Seppe am nächsten Abend<br />

mit seinem kleinen Brüderchen Tista. Die beiden schoben sich durch die Menschenmenge bis zu einer<br />

Bude, wo Pferderennen gespielt wurde. Auf einem großen Tisch liefen dort zwölf buntlackierte, eiserne<br />

Pferdchen nebeneinander im Kreis herum. Sie trugen Nummern von eins bis zwölf; dieselben Nummern<br />

waren auf einem Pappschild in der Mitte des Tisches aufgemalt. Jeder der zwölf Mitspieler setzte ein<br />

Geldstück auf eine Nummer des Pappschildes, und dann konnte das Spiel beginnen.<br />

Der Besitzer läutete eine Glocke und drehte an einer Kurbel. Die Pferdchen begannen zu laufen, von<br />

einer Maschinerie unter dem Tisch in Bewegung gesetzt. Völlig willkürlich und unberechenbar stoppte<br />

das Getriebe die Pferde einzeln wieder ab. Der eiserne Renner, der dem Ziel am nächsten gekommen<br />

war, hatte gewonnen. Wer auf diese Nummer gesetzt hatte, konnte sich einen Preis aussuchen.<br />

„Tista“, sagte Seppe, „sieh dir die Geschichte noch mal an. Wo läuft Nummer eins?“<br />

„Ganz innen!“ krähte der Kleine. Es hatte einige Mühe gekostet, ihm das Notwendige beizubringen.<br />

„Wo läuft Nummer zwei?“<br />

„Daneben, weita nach außen!“<br />

„Und Nummer drei?“ „Wieda daneben!“<br />

„Und wo ist das Ziel?“<br />

„Wo das eisane — das eisana — Stück Eisen ist.“<br />

„Richtig! Fein, Tista! Komm mit!“<br />

Seppe schlängelte sich an die Bude heran, Tista versteckte sich hinter seinem Rücken, der Besitzer sollte<br />

ihn nämlich nicht sehen. Sobald Seppe dicht am Tisch stand, hob er vorsichtig den Segeltuchbehang an<br />

und spreizte die Beine. Wie ein Wiesel schlüpfte Tista hindurch und verschwand unter dem Tisch. Seppe<br />

ließ den Behang fallen, wartete einen Augenblick und setzte auf Nummer zwei. Zweimal trat er den<br />

kleinen Tista dorthin, wo der Rücken keinen anständigen Namen mehr hat.<br />

Das Spiel begann. Nummer zwei lag schlecht im Rennen. Aber da! Der Gaul machte sich. Sieh mal an!<br />

Alle anderen stoppten, Nummer zwei lief langsam weiter und hielt erst kurz vor dem Ziel.<br />

Aus! Seppe hatte gewonnen. Er wählte ein Päckchen Zigaretten. Neues Spiel. Seppe setzte auf eins —<br />

und gewann. Setzte auf drei —und gewann wieder. Noch ein Sieg auf Nummer drei. Doch dann war<br />

Seppe in seinem Freudentaumel nicht ganz bei der Sache. Als er endlich sein Geldstück zückte, war auf<br />

den niedrigen Nummern bereits gesetzt. Nummer sieben war allein noch frei.<br />

Der Budenbesitzer und alle anderen Spieler schauten den erfolgreichen Seppe herausfordernd an. Er<br />

musste setzen und setzte auch, aber mit saurem Gesicht. Siebenmal trat er dem kleinen Tista in die<br />

Rückseite.<br />

Das war zuviel! Bis vier konnte Tista schlimmstenfalls zählen, aber nicht bis sieben. Der Kleine geriet<br />

aus dem Häuschen. Er wusste nur: das ist eine hohe Nummer. Und je höher die Nummer, je weiter nach<br />

außen lief das Pferd, das hatte Seppe ihm mühselig genug beigebracht. Also griff er ins Gestänge und<br />

führte eins der äußeren Pferde glatt und sicher ins Ziel. Leider trug es die Nummer neun.<br />

Seppe ärgerte sich. So ‘n Mist, dachte er. Das letzte Geldstück futsch! Er hob den Behang und<br />

signalisierte seinem Brüderchen: Rückzug! Tista kroch zwischen seinen Beinen hindurch ins Freie.<br />

„Komm, Tista, wir gehen nach Hause. Die Zigaretten verkaufen wir, und morgen machen wir weiter.<br />

Morgen musst du genauso schön aufpassen wie heute, ja?“<br />

„Ijaha!“ machte Tista und schüttelte ernsthaft seinen schwarzen Lockenkopf. „Ich will aba gebatenen<br />

Fisch!“<br />

„Kriegst du auch, Tista. Morgen!“<br />

Die Jungen warteten schon auf Seppe. Sie saßen auf dem Platz von Gregoriades. Es gibt bestimmt<br />

größere Plätze als diesen, denn er ist nicht größer als ein mittleres Wohnzimmer. Doch für die<br />

Zwiebelstraße ist das schon allerhand. Sie ist nämlich so eng, dass ihre Bewohner sich bequem über die<br />

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Straße hinweg in die Fenster spucken können, wenn sie wollen. Meistens wollen sie aber nicht und sind<br />

friedlich, obgleich hier Menschen verschiedenster Rassen leben. Aber niemand achtet auf die Herkunft<br />

des anderen, wohl aber darauf, ob dieser andere ein guter Nachbar ist, mit dem man ein vernünftiges<br />

Wort reden kann.<br />

Außerdem ist die Zwiebelstraße krumm, so krumm wie die Beine vom alten Achmed, in dessen Haus<br />

Seppe, Tista, André und Maurice wohnen. Alle Häuser sind zweistöckig und baufällig. Dennoch ist die<br />

Straße nicht langweilig. Wohl deswegen, weil über die Straße hinweg Leinen gespannt sind, an denen<br />

Wäsche trocknet. Natürlich sind die Leinen sehr hoch angebracht. Leute wie Seppe soll man nicht in<br />

Versuchung führen.<br />

Gepflastert ist die Zwiebelstraße eigentlich nicht. Hier und da sieht man zwar Steine, aber die sind von<br />

selbst dahingekommen. Außerdem sind diese Steine so groß und uneben, dass man besser um sie<br />

herumgeht, wie um andere Dinge auch. Zum Beispiel um die Teile eines alten Kinderwagens, mit denen<br />

im vorigen Jahr die Kleinsten der Straße gespielt haben. Die rostigen Fetzen sind schon fast ganz im<br />

Staub verschwunden, bald wird man an dieser Stelle wieder geradeaus gehen können.<br />

Am Haus von Gregoriades hat die Zwiebelstraße eine Beule, und das ist der Platz. Vielleicht ist es auch<br />

keine Beule, sondern eine Verbeugung der Zwiebelstraße vor Herrn Pylades Gregoriades, dem<br />

wichtigsten Mann weit und breit. Wichtig, weil er das einzige Geschäft der Straße besitzt. Bei ihm<br />

kaufen alle, oder doch fast alle, denn er verkauft auf Kredit. Und alle, oder doch fast alle, stehen bei ihm<br />

mehr oder weniger hoch in der Kreide. Uneingeweihte würden sein Geschäft verächtlich einen<br />

Kramladen nennen. Die Leute aus der Zwiebelstraße wissen es besser: Gregoriades hat ein Warenhaus.<br />

Was es bei ihm nicht gibt, das gibt es überhaupt nicht. Todsicher könnte man zu ihm gehen und sagen:<br />

„Bonjour, Monsieur Pill!“— so reden sie ihn nämlich an, sie sagen nicht einfach Pill, wie sie es zu<br />

jedem anderen sagen würden, der kein Geschäft hat — „Monsieur Pill, ich möchte gern ein<br />

Reiterdenkmal kaufen!“<br />

Sicherlich würde der schwere, fette Mann keine Miene verziehen, die Spitzen seines großen<br />

Schnurrbarts würden nicht zittern vor Wut, wie sie das tun, wenn man versucht, ihn übers Ohr zu hauen,<br />

sondern er würde ganz bestimmt sagen:<br />

„Bon. Aber du musst die Hälfte anzahlen. Reiterdenkmäler sind dieses Jahr furchtbar teuer, und von dir<br />

habe ich ohnehin schon soundsoviel Franken zu kriegen!“<br />

Die Leute aus der Zwiebelstraße mögen Pylades Gregoriades nicht leiden. Nicht etwa deswegen, weil er<br />

Grieche ist, nein, weil sie Schulden bei ihm haben. Doch wenn der Alte mal auf den Platz<br />

hinauswatschelt und in die Sonne blinzelt, dann reißen sie schon von weitem die Mützen ab und rufen:<br />

„Bonjour, Monsieur Pill! Wie geht‘s, Monsieur Pill?“ Und kaum ist Monsieur Pill wieder<br />

verschwunden, da sagen sie: „Dieser alte Gregoriades! Dieser elende Halsabschneider!“<br />

Die Jungen vertrugen sich recht gut mit dem Herrscher ihrer Straße. Gregoriades duldete es sogar, dass<br />

sie sich abends auf seine Ladentreppe setzten.<br />

Auch an diesem Abend, als sie auf Seppe warteten, saßen sie dort. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis<br />

der Italiener erschien, denn er musste zuerst Tista und Tonio waschen, füttern und zu Bett bringen. Seine<br />

Eltern hatten ein paar Straßen weiter eine kleine Kneipe gepachtet, und weil abends dort immer<br />

Hochbetrieb herrschte, musste Seppe die Rolle des Kindermädchens übernehmen, bis seine Mutter<br />

abkömmlich war. Seppe machte das großartig, er hing überhaupt sehr an seinen sechs jüngeren<br />

Geschwistern. Er sorgte für sie wie eine Glucke für ihre Küken, während es ihm selbst durchaus nicht<br />

bekam, dass seine Eltern ihn nicht beaufsichtigen konnten.<br />

Endlich erschien er, fröhlich pfeifend und anmutig die Beine schlenkernd.<br />

„Wo warst du so lange, Seppe?“ fragte Maurice etwas ungnädig.<br />

„Geld verdient!“ sagte der Schwarzgelockte und lächelte süß.<br />

„Is ja doll!“ bubbelte Filou. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder!“ Diesen Spruch hatte er natürlich<br />

von seiner Oma.<br />

„Solltest du tatsächlich gearbeitet haben?“ André zog erstaunt seine dicken schwarzen Augenbrauen in<br />

die Höhe.<br />

„Ach wo“, wehrte Seppe bescheiden ab, „wer spricht denn von arbeiten?“<br />

„Du hast dich doch nicht etwa eines Diebstahls schuldig gemacht?“ forschte der Schuhputzer<br />

argwöhnisch.<br />

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„Was du immer hast! Ich kann zwar wunderbar klauen, aber ich hab‘ dir doch gesagt, ich tu‘s nicht<br />

mehr!“<br />

„Kein langes Hin und Her!“ fuhr René barsch dazwischen. „Wie viel hast du?“<br />

„Eigentlich noch nichts, nur vier Schachteln Zigaretten. Pill wird mir Geld dafür geben, dann habe ich<br />

neues Betriebskapital. Und morgen, sollt ihr mal sehen, bring‘ ich ‘nen ganzen Sack!“<br />

„Geld?“<br />

„Nein, Zigaretten! Die verkaufen wir dann.“<br />

„Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, dass an dieser Sache etwas faul ist!“ unkte André.<br />

„Ga-ga-ganz bestimmt nicht, André!“ Seppe stotterte vor Eifer. Er machte ein Gesicht wie ein<br />

Bählämmchen, und seine schwarzen Augen glänzten wie reife Sauerkirschen.<br />

„Wir werden ja sehen!“ schloss Maurice die Auseinandersetzung und fragte André: „Was kostet die<br />

Bahnfahrt, hast du dich erkundigt ?“<br />

„Ja!“André legte sein Gesicht in bekümmerte Falten und wackelte mit dem Wasserkopf. „Es ist wohl<br />

nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, dass diese Eisenbahnleute völlig verrückt sind!“<br />

Die anderen horchten auf, so herbe Worte hörte man selten aus seinem Munde.<br />

„Man fordert dort unsinnige Preise, die wir nie bezahlen können. Ich habe versucht, etwas<br />

herunterzuhandeln, aber da hättet ihr den Beamten mal sehen sollen! Dieser Mensch wurde unmäßig<br />

zornig! Er hätte keinen Saftladen, brüllte er, er wäre Beamter! Und bums! Haute er die Scheibe<br />

herunter!“<br />

André holte sein Kontobuch aus der Tasche, rechnete eine Weile darin herum, seufzte und stöhnte und<br />

machte ein Gesicht, als hätte er Essig getrunken. Schließlich sagte er, jede Silbe einzeln aussprechend:<br />

„Wir benötigen etwa das Zehnfache dessen, was wir bereits haben! Das schaffen wir nicht.“<br />

Maurice seufzte. „Schade“, meinte er, „ich hatte mich sehr darauf gefreut. Schade, war so ‘ne schöne<br />

Idee!“<br />

Wenn es sich nicht um Malerei drehte, war er leicht zu entmutigen. Auch André war im Augenblick<br />

völlig ratlos, und das wollte schon etwas heißen bei einem Jungen, der das Leben kannte.<br />

Pipin schwieg und machte sich Vorwürfe, weil er nicht eher angefangen hatte, Zeitungen zu verkaufen.<br />

Vielleicht wäre dann so viel in der Kasse, dass man doch fahren könnte.<br />

Filou ärgerte sich abermals über Oma. Von mir ist noch kein Franken drin, dachte er. „Und dabei legt se<br />

alles inne Potzelanschüssel in Schrank!“ fuhr er plötzlich laut fort.<br />

André blickte ihn fragend an und sagte: „Wie meintest du?“<br />

Filou schrak auf. Er hatte nicht gemerkt, dass er laut gedacht hatte. „Hö?“ machte er.<br />

„Du sagtest doch etwas?“ fragte André noch einmal, kribbelig geworden über so viel Begriffsstutzigkeit.<br />

„Nee, einglich nich.“<br />

Damit brach auch diese anregende Unterhaltung ab, und es wurde ganz still. Deutlich hörte man das<br />

röhrende Tuten eines ausfahrenden Dampfers. In der Ferne spielte jemand Akkordeon. Fast alle Häuser<br />

der Zwiebelstraße waren schon erleuchtet. Es roch nach Abendessen.<br />

„Nu‘ lasst mal nicht den Bart hängen! Sitzt da nicht rum wie erfrorene Nebelkrähen, Mann!“René suchte<br />

seine Freunde zu ermuntern. „Morgen ist auch noch ‘n Tag“, fuhr er fort und stand auf.<br />

„Richtig!“ meinte Filou und stemmte seine formlosen Massen ebenfalls in die Höhe. „Is genuch, dass<br />

jeglicher Tach seine eigene Plage habe“, bubbelte er.<br />

Schweigend und bedrückt standen sie noch eine Weile beieinander, doch keiner wusste ein erlösendes<br />

oder tröstendes Wort. Jeder von ihnen hatte sich auf den Ausflug gefreut, und nun schien es nichts zu<br />

werden. Schade, jammerschade.<br />

Sie nickten sich zu, wünschten sich gute Nacht und gingen auseinander.<br />

Seppe und Filou schlichen auf Zehenspitzen nach Hause. Der Schwarze wollte Oma nicht wecken, die<br />

immer sehr früh zu Bett ging.<br />

Seppe wollte seine kleinen Geschwister nicht im Schlaf stören, darum machte er auch kein Licht. Er<br />

kleidete sich aus, wusch sich und tastete dann nach Tonio und Tista, den Zwillingsbrüdern. Natürlich,<br />

sie hatten mal wieder das ganze Bett beschlagnahmt! Vorsichtig rollte er sie ein wenig zur Seite, um<br />

Platz für sich zu bekommen. Die Kleinen murrten und knurrten im Schlaf, doch das half ihnen nichts.<br />

Zwei Handbreiten mussten sie weichen, gerade so viel, dass Seppe auf der Seite liegen konnte.<br />

Umdrehen durfte er sich nicht, dann fiel er raus. Aber Seppe drehte sich nicht mehr um, allzu oft war er<br />

schon auf dem Fußboden wach geworden.<br />

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Einen Moment lang horchte er. Von dem anderen Bett gegenüber tönten drei verschiedene<br />

Atemgeräusche. Die drei schlafen, dachte Seppe. Die neben mir auch. Und das Jüngste drüben im<br />

Waschkorb ist ruhig. Schläft also auch. Gut. Alles in Ordnung. Dann machte er die Augen zu.<br />

Am nächsten Abend zog Seppe wieder mit Tista auf den Rummelplatz. Tista war schlecht gelaunt.<br />

Missmutig ließ er sich schleppen. Gestern schon hatte er Geld bekommen sollen für gebratenen Fisch.<br />

Und was war daraus geworden? Gaanix! Warum, hatte er nicht verstanden, obgleich es ihm Seppe<br />

mehrmals erklärt hatte. Und heute musste er den ganzen Tag über bis fünf zählen lernen. Er war es leid.<br />

Und müde war er auch.<br />

Seppe begann wieder zu spielen. Der Besitzer musterte ihn unfreundlich, aber das machte Seppe nicht<br />

das geringste. Es klappte wunderbar, seine Taschen füllten sich mit Zigarettenschachteln. Ab und an<br />

setzte er mal nicht, einmal verspielte er sogar absichtlich, um erstens die Sache nicht auffällig zu machen<br />

und zweitens die Mitspieler nicht zu verjagen. Trotzdem verzogen sich die Leute nach und nach. Es war<br />

einfach sinnlos, sein Geld zu riskieren, der schwarzgelockte Bengel hatte unheimliches Glück.<br />

„Hau ab!“ murrte der Besitzer. „Du hast genug gewonnen! Du verdirbst mir mein Geschäft!“<br />

Seppe spielte eine Zeitlang nicht mit. Der Betrieb blühte zusehends auf. Endlich setzte er wieder. Der<br />

Besitzer schimpfte leise vor sich hin. Zweimal trat er Tista in die rückwärtige Verlängerung. Der Kleine<br />

war inzwischen selig entschlummert und erwachte, als Seppes Zehen ihn schubsten. Bevor er begriffen<br />

hatte, wo er war und um was es sich handelte, waren die Pferdchen ausgelaufen. Nummer zwei stand<br />

ziemlich weit vom Ziel, während Nummer acht dicht daran war. Auf einmal aber bewegte sich Nummer<br />

zwei wieder und machte am Ziel halt.<br />

Elf Spieler und der Budenbesitzer starrten entgeistert auf das Pferdchen mit der Nummer zwei. Es hatte<br />

doch schon gestanden! Und nun war es plötzlich weitergelaufen! Wie war das möglich?<br />

Seppe war blass geworden, er fröstelte vor Schreck. Wenn nur nicht . . .‚ dachte er, da kam Leben in den<br />

Budenbesitzer. Er ahnte Böses, bückte sich und schaute unter den Tisch.<br />

Er sah gerade noch den durch Seppes Alarmtritte völlig erwachten Tista davonkrabbeln.<br />

„Polizei! Festhalten! Festhalten! Diebe! Betrüger!“ brüllte er und gebärdete sich wie rasend. Noch<br />

schlimmer waren die Mitspieler. Sie fühlten sich gemein betrogen und rannten hinter dem Brüderpaar<br />

her, um Rache zu nehmen.<br />

Seppe hielt Tista fest an der Hand und lief, so schnell Tista konnte. Und das war nicht sehr schnell. Aber<br />

um keinen Preis hätte er seinen kleinen Bruder im Stich gelassen. Die Verfolger kamen immer näher.<br />

Was tun? Seppe zerrte den Jungen um eine Hausecke herum. Da standen ein paar große Mülleimer. Kurz<br />

entschlossen hob er Tista mit einem Ruck hoch, öffnete den Mülleimer, steckte den Kleinen hinein und<br />

flüsterte ihm dabei zu: „Ich hol dich gleich wieder ab!“ ließ den Deckel fallen und raste weiter.<br />

Nun sollten sie kommen! Jetzt fühlte er sich seinen Verfolgern gewachsen. Er hüpfte vor Freude, Tista<br />

in Sicherheit gebracht zu haben. Jetzt machte ihm die Jagd sogar Spaß! Innerhalb weniger Minuten hatte<br />

er die Männer abgeschüttelt. Er führte sie in die Irre und hängte sie ab wie ein Rudel dummer Dorfköter.<br />

Als er kurz darauf den Deckel des Mülleimers aufhob, sagte Tista:<br />

„Sind se wech?“<br />

„Ja. Komm raus.“<br />

„Stinkt seha da in! Hasse auch die Zihahetten noch?“<br />

„Natürlich! Morgen kannst du dir gebratenen Fisch kaufen.“<br />

„Na, Seppe, wie war denn heute das Geschäft?“ begrüßten ihn die Jungens auf dem Platz.<br />

„Och ja, es ging. Vierundzwanzig Schachteln hab‘ ich.“<br />

„Donnerwetter! Wunderbar!“ staunte René. „Wenn du jeden Tag so viel bringst, kriegen wir das Geld<br />

doch noch zusammen, was meinst du, André?“<br />

André musterte Seppe misstrauisch wie ein Polizeihund. Doch bevor er etwas sagen konnte, gestand<br />

Seppe. „Nein, das geht leider nicht mehr. Wir sind aufgefallen!“<br />

„Also war mein Verdacht doch gerechtfertigt: es handelte sich um eine faule Sache!“ meckerte André.<br />

„Wer ist übrigens ‚wir’?“<br />

„Tista und ich. Aber faul war die Sache eigentlich nicht!“ beteuerte Seppe eifrig, denn er hatte eine<br />

Heidenangst, weil André und René ihn verprügeln wollten, falls er noch einmal beim Stehlen erwischt<br />

würde.<br />

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„Ich hab bestimmt nicht geklaut! Ganz bestimmt nicht!“ „Was denn?“<br />

„Glücksspiel!“<br />

„Und was hat Tista damit zu tun?“ „Tista? Ich — ich hab gespielt!“<br />

„Und Tista?“<br />

„Tista“, Seppe wedelte verlegen mit der Hand, „Tista war dem Glück ein bisschen behilflich!“<br />

„Du hast also betrügerische Machenschaften begangen!“ pustete sich André auf und wollte eine Rede<br />

vom Stapel lassen. Doch René schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab, packte den<br />

schmächtigen Seppe beim Schlafittchen, schob das Kinn drohend vor und sagte: „Noch so ‘n Fall und du<br />

bist reif, klar?“<br />

Der König der Diebe wich den rotunterlaufenen Augen des Gorillas aus und murmelte: „Jaja!“<br />

„Stehln tun wer nich!“ sagte Filou, missbilligend seine schwarze Wolle schüttelnd. „Lieber gehn wer zu<br />

Fuß!“<br />

„Zu Fuß?“ wiederholte André entrüstet und richtete sich bolzengerade auf. „Achtzig Kilometer?“<br />

„Bloß hin, Mensch!“ Maurice griff begeistert Filous Vorschlag auf. Das war eine Möglichkeit, die Idee<br />

doch noch zu verwirklichen!“Vierzig Kilometer am Tag, das können sogar deine Plattfüße schaffen.<br />

Zurück fahren wir dann im Schlafwagen.“<br />

André schnaubte. In punkto Plattfüßen war er sehr empfindlich, er hatte nämlich tatsächlich welche. Und<br />

die Aussicht, damit achtzig Kilometer tippeln zu müssen, brachte ihn aus der Fassung.<br />

„So?“ fauchte er. „Und falls sich dieses Gespenst von uns nicht fangen lassen will, dann auch achtzig<br />

Kilometer per pensum zurück, was?“<br />

„Per pedes! Lateinisch, bedeutet soviel wie zu Fuß!“ verbesserte Maurice grinsend.<br />

„Ach, du blöder Spinner!“ Wenn André richtig wütend wurde, sprang seine Vornehmheit ab wie Lack.<br />

„Hätten wir doch deinen idiotischen Quatsch gar nicht erst angefangen!“<br />

„Stopp mal, André! Nimm das Gas weg, wenn du dich in die Kurve legst!“ René, der zu Anfang am<br />

wenigsten von der Spukjagd gehalten hatte, schlichtete den Streit. Ihm begann die Sache Spaß zu<br />

machen, gerade weil sie schwierig wurde. „Lasst den alten René mal nachdenken!“ trompetete er<br />

fröhlich und nahm die ganze Schlauheit seiner achtzehn Jahre zusammen.<br />

„Moment mal! Moment mal! Ich hab‘s! Na klar, das ist die Idee!“<br />

„Raus damit!“<br />

„Wenn die Eisenbahn zu teuer ist, dann fahren wir eben mit dem Auto! Was sagt ihr nun?“<br />

„Wir sind natürlich hingerissen, du Hecht!“ André war tüchtig in Fahrt. „Nun fängt diese Benzinlerche<br />

auch noch an zu spinnen!“ schimpfte er. „Hast du etwa ein Auto?“<br />

„Noch nicht! Noch nicht!“ René fuhr sich mit seiner öligen Pfote über die roten Borsten. Man hörte<br />

förmlich seine Gedanken kollern wie Erdklumpen.<br />

„Aber wir kriegen eins!“verkündete er dann siegesgewiss. „Ist nicht mehr ganz neu, versteht ihr? Wie<br />

soll‘n wir schließlich an ‘ne neue Mühle kommen? Aber ‘ne alte tut‘s auch. Auto ist Auto!“<br />

„Meinst du, mit einem Auto kämen wir billiger hin als mit der Eisenbahn?“ fragte Maurice gespannt.<br />

„O ja! Wir brauchen doch bloß Benzin zu kaufen! Pass mal auf, cher ami!“ legte er fachmännisch los.<br />

„Die Mühle schluckt, meiner Schätzung nach, fünfzehn Liter auf hundert Kilometer. Achtzig Kilometer<br />

sollen es sein, wie André sagte. Rechnen wir hundert auf der Landstraße. Macht also fünfzehn Liter hin,<br />

fünfzehn Liter zurück. Das müssen wir zusammenkriegen!“<br />

„Das müsste gehen, Jungens! Das ließe sich schaffen!“ rief Maurice begeistert. Er war wie<br />

umgewandelt. „Öl kriege ich in der Werkstatt umsonst. Die Karre natürlich auch!“<br />

René grinste von einem Ohr zum anderen. „Ich habe da ein ganz bestimmtes Fahrzeug im Auge. Das<br />

muss Camille mir schenken!“<br />

„Camille? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Camille dir was schenkt!“ André war noch nicht<br />

überzeugt. Er kannte nämlich Camille. Renés Chef war oft recht kleinlich und vor allem jähzornig und<br />

unberechenbar.<br />

Auch Pipin bezweifelte, dass Monsieur Camille ein Auto verschenken würde, und sagte: „Wenn du ihn<br />

darum fragst, geht er hoch wie ‘n Knallfrosch! Nee, das ist ganz aussichtslos.“<br />

Klauen! Das Wort schoss Seppe durch den Kopf, er formte es sogar mit den Lippen, aber er wagte nicht,<br />

es auszusprechen.<br />

„Lasst mich nur machen!“ meinte René. „Camille muss man richtig behandeln, dann spurt er schon. —<br />

Wer kann morgen früh um halb elf an der Ecke von ‚Le Corsaire’ sein?“<br />

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Das war eine Kneipe in der Nähe von Camilles Werkstatt.<br />

Maurice und Seppe hatten nichts zu versäumen, sie wollten hinkommen. Auch Pipin wollte erscheinen,<br />

sobald er seine Zeitungen verkauft hatte.<br />

„Aber lasst euch nicht blicken!“ befahl René. „Erst wenn ich pfeife, klar?“<br />

Sehr früh erschien René am nächsten Morgen in der Werkstatt. Er krrempelte die Ärmel hoch und<br />

begann, dabei ebenso fröhlich wie falsch ein Lied brummend. Er wühlte und schuftete, als gelte es, einen<br />

Rekord zu brechen. Seine Kollegen kannten ihn zwar als emsiges Arbeitstier, aber so wie heute hatten<br />

sie ihn noch nicht arbeiten sehen. Sie standen um ihn herum und lachten ihn aus. René ließ sich nicht<br />

beirren. Zunächst musste er Platz schaffen, denn der Wagen stand ganz hinten im Schuppen, von<br />

tausenderlei Gerümpel verdeckt.<br />

„Sur le pont...“‚ summte er schaurig unmelodisch und hob eine alte Kühlerhaube auf. „D‘Avignon . . .“<br />

Krachend schmetterte er die Kühlerhaube in eine andere Ecke. „On y danse...“ Ein zentnerschweres<br />

Differential wurde hochgewuchtet und beiseite geschleppt. „On y danse...“<br />

Zehn Minuten später war der Weg frei. René rollte den Wagen in den Hof und bockte ihn auf. Unter den<br />

haufenweise herumliegenden alten Reifen suchte er vier passende heraus, die noch brauchbar waren,<br />

machte vier Schläuche fertig und zog die Reifen auf. Sogleich wirkte das Fahrzeug manierlicher als<br />

vorher auf seinen Plattfüßen. Es war aber noch grausig genug.<br />

„Dass man so ‘n Modell mal schön gefunden hat, ist einfach nicht zu verstehen!“ meinte er<br />

kopfschüttelnd.<br />

Und jetzt begann der zweite Akt. Er schob den<br />

Karren auf die Hebebühne und schaltete die Pressluft<br />

ein. Langsam und majestätisch hob sich die Bühne<br />

mitsamt dem Ungetüm darauf. Da stand der Wagen<br />

nun, zwei Meter hoch über dem Boden. Wie auf<br />

einem Präsentierteller breitete er seine Schönheit aus.<br />

„Kerl, René!“ riefen die Kollegen Albert und<br />

Bernard. „Die Mühle ist ja zum Wimmern schön!<br />

Nein, was ‘n Ding! Was willst du mit diesem<br />

Museumsstück?“<br />

René verzog keine Miene. Nun ja, schön war der<br />

Wagen nicht, das war ihm schon aufgefallen. Und<br />

außerdem noch alt. Eben ein Renault aus der<br />

glorreichen Zeit vor 1930. Ein großer offener Viersitzer,<br />

mit zerfranstem Klappverdeck, zersprungenen<br />

Windschutzscheiben und verbeulten Lampen. Farbe<br />

und hintere Kotflügel fehlten so gut wie ganz.<br />

„Lasst mich nur“, sagte René und wühlte pausenlos<br />

weiter. Mit dem Hammer klopfte er den<br />

zementharten Dreck der letzten zwanzig Jahre von<br />

den Achsen. Er musste sich beeilen. Camille kam<br />

zwar selten vor halb elf, aber bis dahin war noch viel<br />

zu tun. Mit dem Schlauch spülte er gründlich das<br />

ganze Chassis ab. Nun nahm er die Pressluftpistole zur Hand und setzte die Staubbrille auf. Der starke<br />

Luftstrahl der Pistole fegte die letzten Dreckstäubchen fort und überzog gleichzeitig alle Teile mit einem<br />

dünnen, glänzenden Ölfilm.<br />

Eine Stunde arbeitete René wie besessen, dann machte der alte Renault schon einen besseren Eindruck.<br />

Einen Teil seines früheren Glanzes hatte er wiedergewonnen. Wenigstens äußerlich, im Innern sah es<br />

noch schlimm aus.<br />

Da erschien endlich Camille. Er hatte wie üblich etwas zuviel „vin ordinaire“, billigen Rotwein,<br />

getrunken. Wie üblich, machte er sich Vorwürfe wegen der Gesundheit und wegen des Geschäftes. Die<br />

drei Strolche, seine Mechaniker, hatten bestimmt während seiner Abwesenheit keinen Finger gerührt. In<br />

dieser Stimmung bog er in den Hof ein.<br />

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Er stutzte so heftig, dass sein schwerer Körper zu schwanken begann, blinzelte ein paar Mal und wischte<br />

sich mit seiner haarigen Pfote die rotgeränderten, vorquellenden Augen. Was war denn das für ein<br />

Monstrum?<br />

„René!“ belferte er. „Was soll das heißen?“<br />

René tat, als sähe er seinen Chef erst jetzt. Die Kollegen waren vor Angst in die Werkstatt geflüchtet,<br />

denn gleich würde der Vulkan ausbrechen.<br />

„Oh, bonjour, Patron!“sagte René freundlich.<br />

„Was — was ist hier los? Hä? Was soll das? Was ist das für eine Karre, hä?“<br />

René stellte die Spritzpistole ab und schob die Brille in die Stirn. Aufreizend ruhig und gelassen sagte er:<br />

„Ja, Chef, ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie der Wagen da im Schuppen so langsam verkommt.<br />

Ich hab‘ ihn mal ‘n bisschen frisch gemacht!“<br />

„Dich werd‘ ich auch frisch machen, hä!“Mit einem Satz war Camille bei der Hebebühne, blaurot im<br />

Gesicht, seine Arme sausten durch die Luft wie Propeller. „Runter mit der Karre“, brüllte er, „runter,<br />

sag‘ ich! Bist du denn ganz und gar verrückt, hä? Bezahle ich dich dafür, mit meinem guten Geld, hä,<br />

dass du Wracks auf Hochglanz polierst? Gibt es denn keine andere Arbeit für dich, du Strolch, du<br />

Tagedieb? Runter, sag‘ ich! Runter!“<br />

„Aber Chef! Man kann doch den Wagen nicht einfach verkommen lassen!“ wandte René ein und legte<br />

gleichzeitig den Schalter um. Die Bühne sank langsam zur Erde. „Aus dem Wagen kann man noch<br />

allerhand machen?“<br />

Das war zuviel. Camille explodierte:<br />

„Hab‘ ich hier einen Autofriedhof, oder was hab‘ ich, hä? Steck‘ ich mein Geld in solche<br />

Trümmerhaufen, hä ?“ Wütend trat er dem Renault in die Flanke.<br />

„Weg damit, sag‘ ich! Weg! Auf den Müll damit, aber dalli! Ich will das Ding nicht mehr sehen!<br />

Morgen lackiert ihr Strolche mir den Schrotthaufen und wollt dafür noch bezahlt werden! — Albert!<br />

Bernard! Hierher!“<br />

Die beiden kamen mit bleichen Gesichtern aus der Werkstatt.<br />

„Los, schiebt das Ding in die Müllgrube. Ich will mich nicht noch mal über die alte Dreschmaschine<br />

ärgern! Ab, sage ich! Auf den Müll damit!“<br />

Schimpfend und fluchend stemmte er sich gegen die hässliche Rückseite des Wagens und half mit bis<br />

ans Tor. Die drei Mechaniker schoben den Renault über die Straße.<br />

„Du bist ein Hammel, ein karierter!“ meinte Albert unterwegs.<br />

René grinste vielsagend. „Weißt du das bestimmt?“ Als sie an ‚Le Corsaire’ vorbeikamen, pfiff René auf<br />

zwei Fingern. Maurice, Pipin und Seppe drückten sich um die Ecke.<br />

„Da! Schiebt ihn nach Hause!“ sagte René stolz.<br />

„Au Backe!“murmelte Maurice. „Jeijei! Ist das ‘n Rolls-Royce ?“<br />

„Meckert nicht lange, was Besseres hatten wir leider nicht auf Lager. Los, weg damit! Schiebt ihn auf<br />

den Platz!“<br />

„Das sage ich dir, Filou: der Teufel holt dich, wenn du auch nur ein Schräubchen verschlampst! Hier,<br />

das ist der Vergaser!“<br />

René gab ihm, in einen Lappen eingewickelt, einen Haufen Eisenteile in die Hand. Filous Gesicht war<br />

vor Beflissenheit, Aufregung und Schweiß pelzig wie ein nasser Fußball.<br />

„Jaja, ich pass schon auf!“ quetschte er hervor.<br />

Vorsichtig, als trüge er Dynamit, ging er ein paar Schritte zur Seite. Auf Zeitungen ausgebreitet lag dort<br />

das ganze Innenleben eines Renaultmotors. André und Pipin saßen auf der Erde, der eine wienerte emsig<br />

die Kolben, als wären es Lackschuhe, der andere putzte gewissenhaft die Pleuelstange. Sogar Seppe<br />

arbeitete. Freiwillig hatte er die schmutzigste Arbeit übernommen: den Motorblock mit Rohöl zu<br />

reinigen. Natürlich hatte dieser Eifer seinen Grund. Seit seinem „Glücksspiel“ war er von den Jungens<br />

recht kühl behandelt worden, und nun wollte er einen guten Eindruck machen. Aber während er mit dem<br />

Pinsel und ab und zu auch mit der Drahtbürste die Schmutzkrusten vom Gehäuse entfernte, stellte er zu<br />

seinem eigenen Erstaunen plötzlich fest, dass ihm die Sache ein wenig Freude machte. Er wollte sogar<br />

seine Arbeit so gut wie möglich erledigen. Teils, weil er einen mächtigen Bammel hatte vor René, teils<br />

aber auch, weil er sich für sein Stück verantwortlich fühlte. Fast so wie für seine Geschwister. Der<br />

Gedanke beruhigte ihn geradezu, dass es vielleicht an ihm liegen könnte, wenn der Wagen später nicht<br />

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lief und die Fahrt ausfallen müsste. Darum wandten seine schwarzen Augen keinen Blick von dem<br />

Gehäuse auf dem Holzblock, darum kratzten und scheuerten seine flinken braunen Finger so<br />

hingebungsvoll. André beobachtete ihn verstohlen — und wunderte sich.<br />

Filou hockte sich ebenfalls nieder und breitete noch eine Zeitung aus. Schnaufend vor Begeisterung, eine<br />

so wichtige Aufgabe bekommen zu haben, tunkte er sein Bürstchen in eine mit Benzin gefüllte Dose und<br />

begann die Vergaserteile zu säubern.<br />

Nur Maurice tat nichts. Es hatte sich schnell herausgestellt, dass er in technischer Hinsicht völlig<br />

unbegabt war. Er machte alles falsch oder arbeitete aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, so<br />

langsam, dass René ihn kurzerhand ausrangiert hatte. Seit einer Stunde saß er auf einem umgestülpten<br />

Eimer und summte vor sich hin.<br />

René kroch im Wagen herum. Er musste ungefähr dort sein, wo eigentlich das Getriebe hingehörte;<br />

seine Füße waren das einzige, was man von ihm sah.<br />

„Bring doch mal den Neunerschlüssel, Maurice!“tönte es jetzt aus dem Bauch des Renaults.<br />

„Ja, gern“, sagte Maurice und erhob sich, „bloß, welcher ist der Neuner ?“<br />

„Der, auf dem eine Neun eingestanzt ist!“<br />

„Aha! Das ist praktisch“, sagte Maurice und pulte mit spitzen Fingern im Werkzeugkasten herum.<br />

„Hier!“ sagte er, strahlend vor Freude, doch nicht ganz unnütz zu sein. „Da hast du ihn!“ und reichte den<br />

Schlüssel durch den Führersitz zu René hinunter. Leider ließ er etwas zu früh los, der Schlüssel fiel René<br />

auf den Kopf.<br />

„Au! Dämlack! Pass doch auf!“<br />

Maurice strahlte nicht mehr, sondern zuckte verlegen die Schulter. Kurz darauf schimpfte René schon<br />

wieder los.<br />

„Maurice! Du dreifach prämiertes Zuchtkalb! Das ist ja ein Sechserschlüssel!“<br />

„Es steht aber doch eine Neun drauf!“ verteidigte sich der Maler.<br />

„Aber nur, wenn du verkehrt rum liest, du farbenklecksender Affe!“<br />

Beleidigt suchte Maurice den richtigen Schlüssel.<br />

Übrigens: Farben klecksen! Anstreichen müsste man die Karre, schoss es Maurice durch den Kopf.<br />

Jawohl, das müsste man. Das würde ihr gut tun. Und dann hätte er auch eine vernünftige Beschäftigung.<br />

Hm — ein drolliger Kasten! So hochbeinig. Streckt alle viere weit von sich. Wie ‘ne Spinne sieht das<br />

Möbel aus.<br />

„Hört mal, Jungens! Wisst ihr, wie wir ihn nennen?“<br />

„Nee. — Wen?“<br />

„Den Wagen natürlich! Der muss Spinne heißen! Weil er so schön hochbeinig ist!“<br />

„Spinne is nich schlech!“ meinte Filou, „ganschönen Namen!“<br />

„Von mir aus!“ brummte René.<br />

„Der Kasus einer Taufe wäre in der Tat des Überlegens wert!“ gackerte André. „Wenn ich mir eine<br />

Bemerkung erlauben darf, so möchte ich sagen, dass Maurice sozusagen in flagranti den richtigen<br />

Namen erwischt hat!“<br />

„Buh!“ stöhnte René, „du solltest zum Zirkus gehen! Du bist das einzige Kamel, das lateinisch spricht!“<br />

André schnappte hörbar ein und wandte sich mit wütendem Eifer seiner Arbeit zu. So ungebildete<br />

Menschen wie René straft man am besten mit kalter Verachtung, dachte er. Seppe grinste schamlos und<br />

drehte die Daumen. Pipin lächelte und fragte dann sanft und harmlos:<br />

„Was heißt eigentlich ‚in flagranti’, André?“<br />

Prüfend blickte ihm der Schuhputzer ins Gesicht. Anscheinend meinte Pipin die Frage ernst, sein<br />

Gesicht jedenfalls war ernst. Dass Pipins Augen lachten, bemerkte nur Maurice. Doch er hielt sich<br />

heraus und schmunzelte.<br />

„In flagranti“, begann André und räusperte sich, „in flagranti —in flagranti . . .“<br />

„Nun?“ ermunterte Pipin sanft.<br />

André würgte und stotterte. „In flagranti heißt soviel wie zufällig!“<br />

„Stimmt das, Maurice?“ fragte Pipin liebenswürdig.<br />

„Nein. Jemand in flagranti erwischen heißt soviel wie: ihn auf frischer Tat ertappen.“<br />

Pipin nickte und putzte weiter.<br />

„Fremdwörter sind eben Glückssache!“ wagte Seppe zu bemerken und widmete sich der Ölwanne.<br />

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André bekam einen roten Kopf und schwieg. Er schämte sich unsäglich. Das hat er nun davon, dachte<br />

Maurice. Da horchte er nun eifrig auf das, was die Juristen, Ärzte und Kaufleute sagen. Da liest er nun<br />

kunterbunt durcheinander, was er erwischen kann: Schauerromane, Broschüren, billige<br />

Reisebeschreibungen. Überhaupt jeden bedruckten Fetzen. Und lernt sogar sein Lexikon auswendig, von<br />

A bis Z. Alles für die sogenannte Bildung. Und dann wirft er mit halbverstandenen Brocken um sich und<br />

blamiert sich natürlich. Eigentlich könnte er einem leid tun. Wenn man ihm helfen würde, käme er<br />

schnell auf den richtigen Weg. Dumm ist er ja nicht. Ich müsste ihm eigentlich helfen. Aber ich habe<br />

wirklich genug mit mir selbst zu tun. Ich möchte schließlich nicht ewig in der Zwiebelstraße hocken.<br />

Ich. . . . Ich . . . Ich muss ihm jetzt erst mal aus der Patsche helfen und das Thema wechseln. Er hat sich<br />

lange genug geschämt, der arme Kerl.<br />

Maurice stieß André an, deutete mit dem Kopf auf Gregoriades‘ Haus und sagte: „Der hat doch sicher<br />

Farbe, nicht wahr? Für den Wagen, meine ich.“<br />

„Ich nehme es an!“ erwiderte André und stand sofort auf, froh, auf diese Weise den Ort seiner<br />

Niederlage verlassen zu können. „Ich werde mal zu ihm gehen.“<br />

Bei Gregoriades war André hoch angesehen, weil er als einziger bar bezahlte. Die Farbe aber wollte er<br />

nicht bezahlen, um die Kasse nicht zu schwächen. Der Grieche sollte sie stiften.<br />

Vor dem Laden überlegte der Schuhputzer einen Augenblick, dann stieg er die Stufen empor.<br />

„Monsieur Pill“, sagte er, „haben Sie Farbe?“<br />

Gregoriades blies Luft ab.<br />

„Ba-bu-ba-ba“, äußerte er sich recht unbestimmt. Was wollte der Junge schon wieder? War es nicht<br />

genug, dass er den Burschen erlaubt hatte, ihren Wagen auf seinem Grundstück unterzustellen? Dreißig<br />

Jahre schon wohnte er in der Zwiebelstraße, und nie hatte jemand seinen Hof betreten, den einzigen Hof<br />

in der ganzen Zwiebelstraße.<br />

„Monsieur Pill“, sagte André leise, seine Stimme klang fast ein wenig mitleidig. „Wir haben doch einen<br />

Maler dabei! Der wird Ihnen ein Bild malen, ja? Sie wissen schon, nicht wahr?“<br />

Der dicke Mann atmete geräuschvoll und schluckte schmatzend. Seine buschigen, stacheligen Brauen<br />

zogen sich zusammen, seine trüben Augen begannen zu flackern.<br />

„Bon!“ sagte er. „Alors, komm mit!“<br />

Sie stiegen die enge, feuchte Treppe hinunter in den Keller. Ganz hinten in einem finsteren Gewölbe<br />

griff Pill in ein Fach und zog eine rostige Büchse hervor.<br />

„Da“, flüsterte er, „nimm!“<br />

„Danke, Monsieur Pill. Aber die Farbe wird hart sein. Haben Sie nicht ein bisschen Leinöl?“<br />

André bekam eine halbe Flasche Leinöl und stürzte ins Freie. Er war froh, als die Hitze ihn wieder<br />

umgab wie weiche Watte. Froh, dass er den fetten, traurigen Mann nicht mehr anschauen musste.<br />

Bei der Kühlerhaube fing Maurice an. Zuerst schmirgelte er die Blasen ab, dann begann er zu pinseln. Es<br />

war eine prächtige Farbe. Giftgrün! Nicht gerade das Übliche für Autos. Mit so was strich man in der<br />

Zwiebelstraße sonst nur Fensterläden an. Manchmal kam tatsächlich jemand auf die verrückte Idee, sein<br />

Haus derartig zu verschönern.<br />

„Kerl, André!“ meinte René anerkennend, „wie hast du das geschafft, dem Alten die Farbe<br />

abzuluchsen?“<br />

„Ich habe ihm gesagt, Maurice mache ihm eine Zeichnung.“ „Ach so!“ brummte René halblaut.<br />

„Ich soll ihm ‘ne Zeichnung machen? Wovon?“<br />

„Ja — öh — das haben wir dir noch nicht erzählt“, begann René. „Pill hat mal ‘n Sohn gehabt. Ist schon<br />

lange her, so zwanzig Jahre.“<br />

„Na, und?“<br />

„Tja, ich weiß nicht, ob‘s stimmt, aber hier in der Zwiebelstraße wird es so erzählt. Und die Leute haben<br />

ein gutes Gedächtnis für so was. Also eines Tages — der Gustave muss ein tolles Früchtchen gewesen<br />

sein —‚ eines Tages ist er ausgerückt. Ja. Und hat den ganzen Sparstrumpf vom Alten mitgenommen.<br />

Muss entsetzlich viel Geld gewesen sein, Pill war damals noch reicher als heute.“<br />

„Das war doch sicher ein schwerer Schlag für Gregoriades, was?“<br />

„Und ob! Der Alte muss mit einer wahren Affenliebe an seinem Sohn gehangen haben, hat ihn verwöhnt<br />

nach Strich und Faden. Und das war der Dank dafür. Aber Pill hätte ihm auch diesen Streich verziehen,<br />

wenn er bloß wiedergekommen wäre.“<br />

„Hat man denn nie was von ihm gehört?“<br />

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„Doch, ja.“ René räusperte sich laut und spuckte in hohem Bogen aus. Die anderen Jungens schauten<br />

auf. Sie kannten die Geschichte längst, weil sie sozusagen zum festen Bestand der Zwiebelstraße<br />

gehörte. Dennoch wurde immer wieder ihr Mitleid angerührt.<br />

„Tja, also eines Tages kriegte Pill was Amtliches vom Gericht. Sein Sohn sei bei dem Versuch, die<br />

Sparkasse von Nimes auszurauben, erschossen worden.“<br />

„Au, verflixt!“<br />

„Tja, allerdings.“<br />

„Was hat denn das mit der Zeichnung zu tun?“<br />

„Das ist so, Maurice“, fiel André ein. „Wir mussten doch den Wagen irgendwo unterbringen. Und<br />

welche Möglichkeiten haben wir außer Pills Hof? Deshalb habe ich ihm erzählt, wir trügen uns mit der<br />

Absicht, nach Nimes zu fahren. Da hättest du sein Gesicht mal sehen müssen!“Ihr dürft den Wagen auf<br />

den Hof stellen, Jungens, die ganze Zeit, solange ihr wollt! Aber ihr müsst mal auf den Friedhof gehen,<br />

in Nimes, ja?“ — Ich wusste, dass er das sagen würde. Seit Jahren will er schon hin, er kann aber nicht,<br />

weil er schwer krank ist. Deshalb möchte er, dass wenigstens jemand aus der Nachbarschaft das Grab<br />

besucht. Das kann man verstehen, nicht wahr?“<br />

„Und die Zeichnung?“<br />

„Vom Grab natürlich!“<br />

„Gut, das will ich gern machen.“<br />

„Brauchst du nicht mal, Maurice. Wir fahren nämlich gar nicht hin! Meinst du etwa, man könnte nach<br />

fast zwanzig Jahren das Grab eines Räubers ausfindig machen? Nein! Ich habe mich bei Staatsanwalt<br />

Molignac, einem alten Stammkunden von mir, genau erkundigt. Räuber und dergleichen Leute<br />

bekommen nur eine Nummer aufs Grab. Und nach zehn Jahren wird es eingeebnet. Kein Mensch in<br />

Nimes könnte dir die Stelle zeigen, wo dieser Gustave seinerzeit bestattet wurde. Aber das kann man<br />

dem alten Mann doch nicht sagen!“<br />

„Sehr anständig finde ich das nicht.“<br />

„Doch, Maurice! Für Gregoriades ist es ein Trost, wenn er ein Bild vom Grab dieses Nichtsnutzes hat.<br />

Seit langem will er mich schon hinschicken, eine Fotografie davon machen zu lassen. Ich habe mich<br />

immer gedrückt, denn wie sollte ich das machen. Woher sollte ich eine Grabplatte mit dem Namen<br />

nehmen? Wir hatten schon mal vor, eine zu kaufen, um sie dann auf irgendeinem andern Grab zu<br />

fotografieren, aber das war viel zu teuer. Wenn du ihm ein Bild malst, dann ist er mehr als froh, verlass<br />

dich drauf!“<br />

„Die Faabe klebt aba fies!“<br />

Dieser Stoßseufzer kam aus Tistas grünverschmiertem Mund. Er hatte nur mal eben die halbfertig<br />

gestrichene Kühlerhaube besichtigt.<br />

„Ach, du liebes Bisschen!“stöhnte Seppe, „heute Abend kann ich ihn mit Terpentin waschen!<br />

Verschwinde, du Dreckspatz!“ Tista steckte die klebrigen Hände in den Staub und machte ein<br />

angewidertes Gesicht. Alles lachte und sah ihm zu. Nur einer nicht: Stinker. Er stand hinter dem Wagen<br />

auf drei Beinen, das vierte schwebte in der Luft. Wenig später zockelte er zurück in den Schatten, um<br />

den Rest des Sonntags ebenfalls zu verschlafen.<br />

Am Mittwochabend hatte Spinne ihre Eingeweide wieder vollzählig im Bauch. Nun kam ihre äußere<br />

Erscheinung an die Reihe. Das Verdeck ließ sich nicht mehr reparieren, also wurde es abgeschraubt und<br />

weggeworfen. Die Polstersitze bestanden nur noch aus Fetzen, Heu und Spiralfedern — raus damit!<br />

Einfache Bretter taten‘s auch. Infolge dieser Verbesserungen wirkte Spinne maßlos schnittig. Schade,<br />

dass sie so altertümlich hochbeinig war, das störte. Über die fehlenden hinteren Kotflügel konnte man<br />

ohne weiteres hinwegsehen.<br />

„Ich weiß nicht“, sagte Maurice — er stand vor dem Kühler, die Hände in den Taschen, und wackelte<br />

mit dem Kopf —‚ „ich kann mir nicht helfen: das Biest hat einen ziemlich heimtückischen<br />

Gesichtsausdruck!“<br />

Das kam von den Lampen. René hatte sie zwar gerichtet, aber sie schielten trotzdem noch. Die giftgrüne<br />

Farbe tat ein übriges.<br />

„Jetzt kommt der spannende Moment! — Herr Kapellmeister, bitte, einen Trommelwirbel!“<br />

Stolzgeschwellt kletterte René hinter das Lenkrad, prüfte die Gangschaltung, jawohl, Leerlauf ist drin,<br />

Zündung einschalten, so!<br />

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„Leiert mal an!“<br />

André packte die Kurbel mit dem Messinggriff. Die anderen waren neidisch, dass er als erster Spinne<br />

anwerfen durfte. Doch ihr Neid war voreilig. André orgelte sich die Seele aus dem Leib, und Spinne tat<br />

nicht den leisesten Pups.<br />

„Was ist denn los, verflixt? Der Kasten muss doch anspringen! Die Batterie ist frisch geladen, Benzin ist<br />

drin, die Zündung tut‘s auch! Also los, kurbeln!“<br />

André kurbelte mit letzter Kraft. Spinne wippte auf und nieder, aber sonst geschah nichts.<br />

Seppe nahm die Kurbel. Schweißnass trat er sie an Pipin ab. Dann bekam sie Filou.<br />

„Geht nich!“ blubberte der Dicke schließlich.<br />

Maurice versuchte es auch. Als ihm die Puste ausging, hörte er auf.<br />

„Mann!“ sagte er und hatte den Eindruck, dass Spinne ihn hämisch angrinse. Die scheelen Lampenaugen<br />

blinzelten vor Bosheit.<br />

„Schieben!“ befahl René.<br />

Spinne wurde bis an die Mauer zurückgerollt. Der Hof war nur etwa zwanzig Meter lang. Keinesfalls<br />

würde sie auf diesem kurzen Stück richtig in Schwung kommen, aber auf die Straße hinaus wollten sie<br />

nicht. Der Anblick von rund fünfzig höhnischen Gesichtern ist nicht gerade erfreulich. Sie hörten<br />

ohnehin schon genug liebenswürdige Gemeinheiten über Autowracks und deren Verwendung.<br />

Die Jungens schoben eine halbe Stunde lang. Jedes Mal, wenn René den Gang einschaltete, bockte<br />

Spinne und machte fft—fft—buff. Aus.<br />

„Pause!“ keuchte Maurice.<br />

Erschöpft hockten sie im Schatten nieder. René saß mit verzerrtem Gesicht hinter dem Steuer und heulte<br />

beinahe vor Wut. Grimmig knurrend, baute er zum siebenundzwanzigstenmal die Zündkerzen aus,<br />

wischte sie ab, prüfte den Abstand der Stifte, drehte den Motor mehrmals durch und schraubte die<br />

Kerzen wieder ein. Dann leierte er selbst noch einmal, bis er vor Erschöpfung taumelte. Die Lampen<br />

schielten tückischer denn je.<br />

Verzweifelt setzte er sich in den Wagen und ruhte eine Weile aus. Anschleppen müsste man die Karre,<br />

dachte er. Dann würde es gehen. Aber wer sollte sie anschleppen?<br />

„Als ob das Luder verhext wäre!“ brüllte er plötzlich und trommelte voller Wut, Scham und Empörung<br />

auf dem Steuerrad herum. Krachend schaltete er den ersten Gang ein, sprang aus dem Wagen, lief nach<br />

vorn, stellte die Kurbel quer, heulte wie ein zorniger Gorilla und sprang mit beiden Füßen zugleich auf<br />

den Schwengel.<br />

Ein Wunder geschah! Spinne sprang an! Setzte sich sofort rasselnd in Bewegung und machte Miene,<br />

René zu überfahren. Es sah aus, als sei sie bloß deswegen munter geworden, um ihren Peiniger zu<br />

vernichten.<br />

René war so überrascht, dass er nur mit knapper Not zur Seite springen konnte. Spinne rollte an ihm<br />

vorüber, knatternd wie ein schweres Gewitter, eine dicke blaue Ölwolke ausstoßend. Wie ein Affe turnte<br />

René hinter das Steuer und brachte sie zum Stehen. Kräftig trat er auf das Gaspedal, gequält schrie<br />

Spinne auf, die Karosserie bibberte und schepperte wie toll. Längst standen die Jungens um den Wagen<br />

herum. Sie freuten sich, das sah man ihren Gesichtern an, aber von dem, was sie sagten, verstand man<br />

kein Wort.<br />

„Geht ein bisschen laut, nicht?“ schrie Maurice René ins Ohr. „Kein Wunder! Schalldämpfer fehlt!“<br />

brüllte der zurück. „Probefahrt!“<br />

Das Tor wurde aufgerissen, strahlend kletterten die Jungen auf die Holzsitze, und ab ging‘s mit einem<br />

Höllenlärm, dass die Zwiebelstraße wackelte.<br />

Eine Art Hindernisrennen<br />

„Alles klar?“<br />

Ausgerechnet René stellte diese überflüssige Frage. Er allein verzögerte nämlich die Abfahrt, weil er<br />

immer noch etwas nachzusehen und zu überprüfen fand. Und ehe jemand antworten konnte, fuhr er fort;<br />

„Tja, ich muss doch mal eben...“ und öffnete den Deckel des Kofferraumes, wobei die rostigen<br />

Scharniere einen quietschenden Laut von sich gaben, als ärgerten sie sich über die dauernde Belästigung.<br />

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Zum fünftenmal, dachte Pipin, und lächelte über Renés lampenfiebrige Geschäftigkeit. Muss wirklich<br />

aufregend sein für ihn! Er allein trägt die Verantwortung für den Wagen. Geht was schief, dann ist er<br />

mächtig blamiert. Passiert was, dann ist er schuld. Kein Wunder, dass er so aufgeregt ist.<br />

Hastig hob René die Werkzeugkiste heraus, wickelte die Schraubenschlüssel aus ihren Putzlappenhüllen,<br />

zählte sie, wickelte sie wieder ein. Kramte das Flickzeug hervor, überzeugte sich zum endgültig<br />

allerletztenmal, dass Schere, Gummi und Gummilösung vorhanden waren, tastete nach dem Wagenheber<br />

und nach der Luftpumpe und packte wieder ein.<br />

Die Jungen rutschten seit einer halben Stunde auf den Holzsitzen herum und versuchten, durch eifriges<br />

Reiben Arme und Knie zu erwärmen. So heiß es am Mittelmeer tagsüber gewöhnlich ist, so kühl ist es<br />

nachts und frühmorgens. Sehnsüchtig warteten sie auf die Sonne, die gerade über die Berge kletterte.<br />

„Können wir nicht mal was anderes tun als frieren?“ maulte André und warf dem Expeditionsleiter<br />

Maurice einen bösen Blick zu.<br />

„Was denn?“<br />

„Na, zum Beispiel abfahren! Wäre quasi gewissermaßen eine Abwechslung.“<br />

„Gleich, sofort!“ brummte René. „Ich muss nur mal eben . . .“<br />

„Wenn du jetzt sagst; nur mal eben nachsehen, ob die Kolben wirklich drin sind, dann geh‘ ich nach<br />

Hause und leg‘ mich wieder ins Bett!“ schimpfte jetzt auch Maurice und gähnte. Früh aufstehen schätzte<br />

er nicht, und heute war er sogar um fünf Uhr — „mitten in der Nacht“, wie er sich ausdrückte — von<br />

André geweckt worden.<br />

René fasste schnell noch mal in die Tasche seines Sporthemdes, um festzustellen, ob die beiden<br />

Ersatzventile noch da seien. Als das tatsächlich der Fall war und er gerade das Zeichen zur Abfahrt<br />

geben wollte, öffnete sich bei Gregoriades das Küchenfenster.<br />

Stumm und traurig schaute der große alte Mann zu den Jungen hinüber, stopfte langsam und<br />

umständlich das Nachthemd in die Hose, knöpfte das rote Bördchen zu und winkte sie mit einer<br />

schwerfälligen Armbewegung zu sich heran. Alle sechs gehorchten wortlos und augenblicklich; und als<br />

sie unter dem Fenster standen, stieß Gregoriades zwischen zwei heiseren Schnaufern flüsternd hervor:<br />

„Kommt rein! Aber leise!“<br />

Sie gingen um das Haus herum, der Alte öffnete die Ladentür, mit der einen Hand die Klingel<br />

festhaltend, und führte sie in die kleine, schäbige Küche. Auf dem Tisch lagen sechs Tafeln Schokolade<br />

und zwölf Apfelsinen. Gregoriades atmete rasselnd und drückte schmatzend die Lippen aufeinander. Er<br />

wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Statt dessen machte er eine heftige Kopfbewegung zum Tisch<br />

hin und kramte aus der Hosentasche einige Geldstücke hervor, die er André in die Hand drückte.<br />

„Für die Fahrt. Für unterwegs!“ keuchte er. Sein Schnurrbart zitterte ein wenig, und seine Augen gingen<br />

unruhig hin und her. Die Jungen bedankten sich und nahmen jeder ihr Teil. Der alte Pill pustete, keuchte<br />

röhrend und machte verlegene Handbewegungen.<br />

Als die Jungen sich zum Gehen wandten, ertönte draußen ein quietschendes Geräusch. Automatisch<br />

dachte Pipin: zum sechstenmal! Es erinnerte ihn unwillkürlich an die Scharniere des Kofferraumes. Die<br />

übrigen Jungen hörten das Quietschen nicht; Gregoriades‘ schnaufende Erregtheit, die ungewöhnliche<br />

Geste des sonst so geizigen Mannes nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen. Alle dachten dasselbe: Er will<br />

uns ermahnen, wir sollen an die Zeichnung denken.<br />

Als sie draußen waren, runzelte René die Stirn und machte: „Te—te—te.“<br />

Seppe flüsterte grinsend: „Der könnte mit seinem Brustkasten ein ganzes Symphonieorchester ersetzen!“<br />

Und dann begann er so täuschend ähnlich Gregoriades‘ Keuchen, Kollern, Fauchen nachzumachen, dass<br />

die anderen glucksten und leise prusteten; seinem Gesicht jedoch merkte man an, dass er es nicht aus<br />

Bosheit tat, sondern um den trüben Eindruck zu verscheuchen.<br />

„Sei froh, dass du kein Asthma hast“, sagte André zwischen Lachen und Zorn schwankend, zählte das<br />

Geld — es waren zehn Franken —und steckte es in den Brustbeutel.<br />

„Viel schlimmer, dass er keine Kinder hat und keine Enkel“, erwiderte Seppe, nun wieder ernst. „Armer<br />

Hund, der Alte!“<br />

„Können wir jetzt endlich losfahren, René?“ Maurice wurde ungeduldig.<br />

„Klar! Ich bin schon längst soweit! — Filou, anwerfen!“<br />

Der Schwarze stellte die Kurbel quer und sprang mit der ganzen Wucht seiner hundertvierzig Pfund auf<br />

den Messinggriff. Das war und blieb die einzige Methode, Spinne in Gang zu setzen. Wie immer ließ<br />

sich das schielende Monstrum auf diese Weise überlisten, rächte sich jedoch durch geradezu sträflichen<br />

26/117


Lärm. Füllte die bis dahin totenstille Zwiebelstraße mit Schallwellen gröbsten Kalibers, so dass selbst<br />

der schwerhörige Achmed erwachte und sagte: „Tiens! Die Jungens fahren ab. Tiens!“<br />

Achmed trat ans Fenster und nickte der Familie Wassilie von gegenüber freundlich zu, die wie er und<br />

alle anderen Bewohner der Zwiebelstraße aus den Betten gesprungen war, um die Jungen zu<br />

verabschieden.<br />

Langsam setzte sich Spinne in Bewegung, der Lärm wurde ohrenbetäubend.<br />

„Viel Glück!“ rief Achmed. „Macht‘s gut!“ Und seine Frau neben ihm streichelte eine ihrer vierzehn<br />

Katzen und sagte: „Die lieben netten Jungens! Hoffentlich haben sie viel Spaß!“ Dabei war sie den<br />

Jungen sonst gar nicht grün, weil sie mal zu behaupten gewagt hatten, ihre Katzen verursachten den<br />

schlechten Geruch in der Zwiebelstraße.<br />

„Jaja!“ trompetete Wassilie. „So is rrecht! Muß Jug-gend rraus! Muss sehen die Wält! Als ich noch jung<br />

gewesen“, setzte er an und blies stolz die Backen auf, sprach jedoch nicht weiter, denn plötzlich fiel ihm<br />

sein Rheuma ein, seufzte und legte sich wieder zu Bett.<br />

Signor Palotti winkte den Jungen so vornehm erhaben zu, als sei er König und die Jungen seine<br />

jauchzenden Untertanen.<br />

Monsieur Quinquaille, der am Abend vorher mal wieder über den Durst getrunken hatte, war<br />

anscheinend noch nicht ganz nüchtern, denn er warf die Arme in die Luft und brüllte: „Bravo! Hurra! Es<br />

lebe die Republik! Bravo!“<br />

Nur Oma fehlte. Es war erst viertel vor sechs, und wegen eines Autos stand Oma nicht eine Minute<br />

früher auf.<br />

Schade, dass die Jungen von den stolzen und gerührten Worten nicht das mindeste hören konnten. Sie<br />

sahen nur Mundbewegungen, freundliches Nicken und Winken. René machte vor Aufregung ein ganz<br />

verbissenes Gesicht; André verbeugte sich gravitätisch nach allen Seiten; Maurice lächelte etwas<br />

dämlich in die Runde; Pipin grinste wie ein Schakal; Filou bleckte sein leistungsfähiges Gebiss und<br />

kämpfte mit Tränen. Seppe reckte die braune Nase hoch in die Luft, eichhörnchenflink glitt sein Blick<br />

von Fenster zu Fenster und kassierte begierig die dargebrachte Bewunderung ein. Nur Stinker fühlte sich<br />

nicht wohl. Spinnes Knallerei ging ihm nahe. Trostsuchend schob er seine Schnauze Filou ins Gesicht,<br />

und seine Augen fragten: ist das nicht furchtbar gefährlich? Der Dicke streichelte ihn, drückte ihn an<br />

sich und wiegte ihn wie ein Kind hin und her.<br />

„Arm Stinker so Angs!“<br />

Die Cannebière schlief noch. Ihre Leere und Stille wirkte seltsam und fast ein wenig feierlich. Ganz<br />

unfeierlich rief René plötzlich: „Maurice! Maurice, wo liegt eigentlich Villeneuve?“ Darüber hatte sich<br />

noch niemand Gedanken gemacht!<br />

Hm, ganz schöne, mittelschwere Blamage, dachte der Maler. Wäre meine Sache gewesen, daran zu<br />

denken. Etwas betreten antwortete er: „Keine Ahnung. Ich dachte, so ‘n Zündkerzenakrobat wie du<br />

wüsste darüber Bescheid. Aber wir können ja mal fragen.“<br />

Renés Blick entsprach einem ganzen Sack handfester Beleidigungen. Er fuhr einige hundert Meter<br />

weiter bis zu einer großen Tankstelle, stoppte den Wagen und stellte den Motor ab.<br />

„Kommt mal mit, da drüben hängt ‘ne Karte.“<br />

Bis auf Pipin stiegen alle aus. Der Gelbe lächelte freundlich und machte es sich gemütlich. Ihm war es<br />

gleichgültig, wo das Nest lag, wenn man nur gemeinsam hinfuhr.<br />

In diesem Augenblick näherte sich langsam ein großer, viersitziger Sportwagen und hielt ein paar Meter<br />

seitwärts an einer der Benzinpumpen. Der Wagen war sicher nicht viel jünger als Spinne, sah jedoch<br />

entschieden besser aus. Der schwarze Lack glänzte in der Sonne, die Nickelteile funkelten nur so.<br />

René erkannte sofort, wen er da vor sich hatte:<br />

„Alter Sechszylinder-Buick, prima in Schuss. Der macht glatt noch hundertzwanzig Sachen. — Na, hier<br />

ist die Karte!“<br />

Auf vier Quadratmetern Blech war ganz Südfrankreich mit den angrenzenden Gebieten von Italien und<br />

Spanien aufgemalt. Zehn Augen suchten Villeneuve. Innerhalb weniger Minuten fanden sie ein halbes<br />

Dutzend Orte dieses Namens, denn Villeneuve gibt es in Frankreich ebenso viele wie die<br />

entsprechenden Neustadts in Deutschland.<br />

In dem schwarzen Buick hatten drei Männer gesessen: ein junger, blonder am Steuer, neben ihm ein<br />

zierlicher, weißhaariger Alter. Obgleich die beiden zurückhaltend gekleidet waren — der junge Mann<br />

trug einen hellen Sportanzug, der alte einen schwarzen Tuchanzug und einen runden schwarzen Hut —‚<br />

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fielen sie doch irgendwie aus dem Rahmen des Alltäglichen. Der dritte dagegen machte durchaus den<br />

Eindruck, als sei er nicht weit vom Alten Hafen auf die Welt gekommen.<br />

Während der Tankwart den schwarzen Buick versorgte, stiegen die Männer aus und gingen ein paar<br />

Schritte beiseite. Der junge Mann zog die Brieftasche, entnahm ihr einige Scheine und reichte sie dem<br />

dritten.<br />

„Es stimmt wohl, nicht wahr? Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, vielen Dank!“<br />

„Ich habe zu danken“, sagte der und führte grüßend zwei Finger an die Baskenmütze. „Bitte, empfehlen<br />

Sie mein Institut weiter“, machte eine Verbeugung und ging davon.<br />

Pipin hatte die Unterhaltung nicht verstehen können und sich auch nicht gerade viel um die Fremden<br />

gekümmert. Doch dem Davongehenden schaute er nach und dachte: den habe ich in den letzten Tagen<br />

schon öfter gesehen! Wer ist das? Ein Kriminaler? Die sehen auch immer so auffallend unauffällig aus.<br />

Na, egal.<br />

Der weißhaarige Alte betrachtete kopfschüttelnd das giftgrüne Fahrzeug der Jungens und murmelte:<br />

„Die motorisierte Unterwelt von Marseille!“<br />

„Rröh—hm!“räusperte sich der Blonde. „Es sitzt noch einer drin!“<br />

„Sehr wohl, Franz, ich sehe es. Und sogar ein Chinese! Ich bin entrüstet!“ hauchte der Alte und rückte<br />

nervös an seiner Sonnenbrille.<br />

„Das ist nett von dir!“<br />

Der Alte setzte ein bekümmertes, verweisendes Gesicht auf, worin er offensichtlich beachtenswerte<br />

Übung hatte.<br />

„Setz dich bitte in den Wagen“, fuhr der Blonde fort, „ich fange jetzt an.“<br />

Die Jungen standen immer noch ratlos vor der Karte und unterhielten sich darüber, welches Villeneuve<br />

nun eigentlich das richtige sei.<br />

„Suchen die Herren etwas?“ sagte eine freundliche Stimme. „Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?“<br />

Fünf Gesichter wandten sich um, fünf Augenpaare starrten dem blonden Franz in die Sonnenbrille.<br />

„Kolossal liebenswürdig von Ihnen, Monsieur! Sehr verbunden! Wir hegen quasi gewissermaßen die<br />

Absicht, einen Ort namens Villeneuve aufzusuchen. Zu unserer Betrübnis mussten wir jedoch<br />

feststellen, dass es sieben Kaffs — hm, ich meine: Ortschaften — gibt, die so heißen.“<br />

Die Schultern von Monsieur Franz zuckten ein wenig vor verhaltenem Lachen, aber er verzog keine<br />

Miene, und das war eine Leistung, denn er war Andrés Redeweise schließlich nicht gewöhnt.<br />

„Da ist es natürlich nicht leicht, das Richtige zu finden“, erwiderte er. „In welchem Departement soll es<br />

denn liegen?“<br />

„Maurice, das musst du wissen, du hast die Briefe geschrieben.“<br />

„Wart mal, Augenblick.“ Maurice überlegte. „Var! Departement Var!“<br />

„Es soll achtzig Kilometer von Marseille entfernt sein, hat man mir bei der Eisenbahn gesagt, und besitzt<br />

ein Schloss, welches auf den Namen Sankt Augustin hört“, fuhr André fort.<br />

„Nun, das genügt, um das Nest zu finden.“<br />

Der Zeigefinger des Herrn Franz fuhr über die Blechkarte. „Hier, das ist es: Villeneuve bei Nimes. Die<br />

Entfernung stimmt so ziemlich. Sie müssen über Salon nach Arles und von da nach Nimes fahren. Dort<br />

fragen Sie dann am besten noch mal!“<br />

Die Jungen bedankten sich freudestrahlend und kletterten auf ihren giftgrünen Renner. Noch einmal<br />

sprang Filou auf die Kurbel, und schon ratterten sie davon.<br />

Der blonde Franz lächelte fröhlich hinter ihnen her.<br />

„In Geographie hatten sie alle ‚mangelhaft’“, sagte er zu seinem weißhaarigen Begleiter.<br />

Bereits in den Außenbezirken der Stadt stieg die Straße ziemlich steil an. Spinne offenbarte ihre<br />

Schwäche: sie zog nicht recht durch. Im ersten Gang kroch sie bergauf. Sobald es wieder abwärts ging,<br />

drosselte René den Motor, denn Spinne kochte und sprudelte wie ein Teekessel.<br />

Weit ausgebreitet lag nun das Rhônetal vor ihnen, eine unendliche Fläche, die sich im Dunst der Ferne<br />

verlor: mausgrau schimmernd unter der glühenden, dörrenden Sonne, eingesprenkelt gelbgrünliche<br />

Melonen- und Weinfelder; einzelne schwarze Lebensbäume wie riesige Ausrufezeichen; steile, grüne<br />

Pinien; breite Schirme von Zypressen und Kiefern; buschige Tamarisken mit roten Blüten;<br />

silberglänzende, zierliche Olivenbäume in langen Reihen. Hier und da ein weißgrau gebleichtes Dorf auf<br />

einem Hügel. Links voraus funkelte und blitzte ein See.<br />

„Was ist das für ‘n Teich?“ fragte Seppe, sich weit vornüberbeugend.<br />

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André warf sich in die Brust wie ein Spatz ins Staubbad. Endlich konnte auch er einmal sein Wissen an<br />

den Mann bringen. Und dass ausgerechnet Seppe, das schwarze Schaf, die Gelegenheit dazu gab,<br />

stimmte ihn milde gegen den König der Diebe. „Das ist der „Étang de Berre“, verkündete er so feierlich,<br />

als sei „Étang de Berre“ein Zauberwort. „Hat übrigens einen Ausgang zum Mittelmeer, wie du an den<br />

Hochseeschiffen dort sehen kannst.“<br />

„Soso. Ganz schön riesig, was? Und diese merkwürdigen weißen Felder, was ist das?“<br />

„Da wird Salz gewonnen.“<br />

„Ich dachte immer, Salz wird in Fabriken hergestellt?“<br />

„Stimmt nicht ganz. Die Felder dort sind quasi gewissermaßen eine Fabrik. Die Sonne ist die<br />

Dampfmaschine. Man lässt das salzige Meerwasser in diese Felder laufen und sperrt dann den Zufluss.<br />

Die Sonne bringt das Wasser zur Verdunstung, und das weiße Salz bleibt übrig, wie du siehst.“<br />

„Mächtig einfache Sache! Und so wie das Zeug da liegt, streuen wir‘s auf die Tomaten?“<br />

„Nein, das schmeckt nicht, weil es noch nicht gereinigt ist. Da ist noch allerlei anderes drin, Kalium und<br />

Jod, wenn ich darin nicht fehl gehe, und dieserhalben schmeckt es so bitter. Jetzt bringt man es in eine<br />

richtige Fabrik, wo man die anderen Bestandteile daraus entfernt. Dann erst kann man damit die Suppe<br />

schmackhaft versalzen.“<br />

Sieh mal einer an, dachte Maurice. Das wusste ich nicht einmal!“Woher weißt du das alles?“<br />

„Mein Vater hat früher dort gearbeitet.“<br />

Auf der ebenen, breiten Asphaltstraße hielt sich Spinne ganz famos. Surrend und klappernd machte sie<br />

vierzig Stundenkilometer. Voller Stolz und längst frei von Lampenfieber blinzelte René durch die<br />

Sonnenbrille, breit und besitzergreifend lagen seine ausnahmsweise sauberen Pfoten auf dem Steuer.<br />

Übrigens glänzten alle Jungens vor Sauberkeit, nicht nur René in seinem nagelneuen, braunen Overall<br />

mit dem schicken Sporthemd darunter. André hatte seinen schwarzen Anzug gereinigt und gebügelt und<br />

sich zur Feier des Tages sogar Kragen und Schlips umgezwängt. Die Jungens titulierten ihn deshalb<br />

„Herr Oberschuhreiniger“. Seppe und Pipin waren mit vereinten Kräften feingemacht worden.<br />

Ursprünglich hatten sie in ihrer Alltagskluft losfahren wollen; Seppe, weil er zu bequem war, auf seinen<br />

einzigen besseren Anzug achtzugeben; Pipin, weil er ungern eingestand, dass er nichts anderes besaß als<br />

das, was er am Leibe trug. Da war André energisch geworden. Seufzend hatte Seppe den Sonntagsanzug<br />

angezogen. Der Anzug war an sich recht gut, nur war Seppe seit mindestens drei Jahren für dieses<br />

prächtige und im wahrsten Sinne glänzende Kleidungsstück zu groß: die Ärmel endigten dicht unterhalb<br />

der Ellbogen, die Hosenbeine dicht unterhalb der Knie. Daraufhin befahl André ihm, den Rock<br />

auszuziehen, und lieh ihm einen ärmellosen Pullover. René musste Pipin ein Hemd leihen, und Filou<br />

musste ihm die Hosen flicken. Filou, dieser eitle Bursche, hatte nicht eher geruht, bis Oma ihm auf dem<br />

Flohmarkt zwar etwas abgetragene, aber dafür auch hellblaue Knickerbocker kaufte. Außerdem trug er<br />

ein vorläufig noch schneeweißes Hemd und eine Armbanduhr, die jedoch nicht ging. Sogar gegen den<br />

Wind duftete er nach Kernseife und Pomade. Maurice sah aus wie immer, bis auf die Baskenmütze, die<br />

er aufgesetzt hatte.<br />

Spinnes gleichmäßiges Scheppern machte müde. Pipin schlief<br />

bereits tief und fest, Seppe döste; allein Filou, der zwischen<br />

beiden saß, war noch wach, aber auch nur deswegen, weil er<br />

ununterbrochen futterte. Vor ihm stand eine halbmeterhohe<br />

Keksbüchse, darauf lag der berühmte Segeltuchsack aus dem<br />

Ambassadeur. Beide waren voller Stullen.<br />

André las mit gerunzelter Stirn in einem Buch, das er sich<br />

eigens für diese Fahrt gekauft hatte. Es hieß: „Der gute Ton<br />

in allen Lebenslagen oder Wie benehme ich mich?“<br />

Man kann doch nicht so mir nichts dir nichts in so ‘n Schloss<br />

reinstolpern, hatte er überlegt, man muss sich vorbereiten.<br />

Immer wieder liest und hört man, wie schrecklich vornehm es<br />

auf Schlössern zugeht. Und da will man sich doch nicht<br />

blamieren! Die feinen Leute sollen an meinem Benehmen<br />

jedenfalls nicht merken, dass ich in Marseille dem Schuhputzergewerbe nachgehe. Ich werde denen<br />

einen — einen Gent — le — man hinlegen, dass sie staunen. Ich schäme mich richtig für die anderen,<br />

vor allem für René, der ist so schrecklich gewöhnlich. Filou natürlich auch. Und das schlimmste ist, dass<br />

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sie sich nicht mal bemühen, was zu lernen. Ich wollte ihnen aus dem „Guten Ton“ vorlesen, da haben sie<br />

mich ausgelacht. Nun, dann sollen sie reinfallen, sollen sie sich gründlich blamieren!<br />

Hinter Salon wurde gehalten, weil verschiedene mal mussten.<br />

„Ist es nicht so, dass diese Gegend einen sehr merkwürdigen Eindruck macht?“ salbaderte André. „Und<br />

wie still es hier ist!“<br />

„Stimmt. Hier fährt nicht mal ‘ne Straßenbahn. Das ist nämlich die Crau, eine Steppe! Ein paar hundert<br />

Quadratkilometer groß. Schwemmland, wie du siehst. Nichts als Kieselsteine, bis zu Faustgröße,<br />

dazwischen ein bisschen dürres, hartes Gras. Kein Baum bis zum Horizont, bloß dahinten ein wenig<br />

Gebüsch.“<br />

„Warst du schon mal hier?“<br />

„Nein. Damit hat man uns in der Schule gepiesackt. Damals fand ich es blöd, so was lernen zu müssen,<br />

aber jetzt finde ich die Gegend ziemlich wundervoll. Man kommt sich richtig verloren vor in dieser<br />

unendlichen, trostlosen Weite.“<br />

„Ein bisschen verrückt sieht es hier aus, da haste recht“, meinte Seppe. „Aber schön ist es, sehr schön<br />

sogar.“<br />

René war anderer Meinung. Er spuckte auf die Steine und sagte: „Mist! Hier wächst weder Weizen noch<br />

Wein. Das soll schön sein? Nee!“<br />

Maurice zuckte die Achseln. „So darf man das wohl nicht betrachten. Schönheit ist nicht immer nützlich<br />

im alltäglichen Sinn. Immerhin, auch die Crau ist nicht ganz unnütz. Von diesem dürren, schäbigen Gras<br />

leben tausende von Schafen und Kühen. Und an den Rändern, wo es Wasser gibt, wachsen Oliven,<br />

Melonen und Wein.“<br />

Während Maurice noch sprach, horchten die Jungen plötzlich auf. Spinne gab Geräusche von sich!<br />

„Uh, ah, uh!“ machte der alte Karren und bewegte sich leise dabei. Was war denn das? Spukte es jetzt<br />

schon? War das Auto verhext? Jetzt hörte man auf einmal ganz deutlich:<br />

„Ich muss auch mal aus! Ich muss, ich muss ganz nötig!“<br />

Die Jungen standen wie erstarrt, Seppe machte einen Riesensatz und riss den Kofferraum auf.<br />

Ein Schrei, der von kläglichem Gewimmer abgelöst wurde: Tista erschien in der Öffnung des Koffers<br />

wie Venus in der Muschel. Nur wesentlich schmutziger.<br />

Seppe schimpfte maßlos, aber seine Wut war nicht echt. Er tat nur so, um die anderen zu besänftigen.<br />

Liebevoll hob er den Kleinen aus seinem finsteren, öligen Gefängnis heraus und führte ihn abseits.<br />

Die anderen standen betreten herum. Du liebe Güte, ein blinder Passagier! Und ausgerechnet Tista!<br />

Deswegen quietschten also die Scharniere zum sechstenmal, dachte Pipin. Hätte ich doch nur darauf<br />

geachtet!<br />

Der einzige, der den Dreikäsehoch freudig begrüßte, war Stinker. Er schlenkerte fröhlich die struppige<br />

Rute.<br />

„Was machen wir mit dieser schmutzigen Sardine?“<br />

Was konnte man schon tun? Am liebsten hätten sie ihn als Einschreiben nach Hause geschickt oder ihn<br />

in den nächsten Zug gesetzt, wie René vorschlug. Aber das ging wirklich nicht, man konnte den kleinen<br />

Kerl unmöglich allein reisen lassen. Und ihn durch Seppe nach Hause zu schaffen, kostete Geld, ganz<br />

abgesehen davon, dass Seppe ein Anrecht auf die Fahrt hatte. Schweren Herzens entschieden sie sich<br />

also, ihn mitzunehmen.<br />

Seppe hielt es für angebracht, seine Freude darüber nicht zu zeigen. Ich werde gleich eine Karte nach<br />

Hause schreiben, überlegte er, damit Mutter sich nicht ängstigt. Mutter wird heilfroh sein, dass sie den<br />

Kleinen für ein paar Tage vom Hals hat. Wo ich doch weg bin! Er überließ Tista seinen Platz neben<br />

Filou und setzte sich dahin, wo früher mal das Klappverdeck gewesen war. Nun hockte er zwischen den<br />

vier mit Stricken festgebundenen Ersatzreifen und dem Benzinkanister und ließ die Beine über die<br />

Straße baumeln. Vergnügt und stolz hopste Tista auf seinem Sitz herum.<br />

„Eua Spinne fähat aba fein“, krähte er. „Soll ich mal auf ‘n Motoa pingen, dass ea angeht?“<br />

Von diesem hochherzigen Angebot wurde kein Gebrauch gemacht. Maurice begab sich nach vorn, denn<br />

jetzt war er dran, auf die Kurbel zu „spingen“.<br />

Dicht hinter der Rhônebrücke in Arles zeigte André aufgeregt auf ein Schild und rief: „Da! Da! Nach<br />

Villeneuve 17 Kilometer! Links abbiegen, René!“<br />

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„Das kann nicht stimmen!“ warf Maurice ein. „Wenn wir links abbiegen, fahren wir ja nach Süden!<br />

Unser Villeneuve soll aber bei Nimes, also nördlich von hier, liegen. Lasst uns mal fragen!“<br />

„Ach Quatsch! So viel Villeneuves wird es hier auch nicht geben, dass man in jeder Richtung eins<br />

findet. Nee, das wird schon richtig sein“, meinte René und fuhr südwärts.<br />

Ich hätte mich wirklich um den Reiseweg kümmern müssen, dachte Maurice noch einmal. Wir verfahren<br />

uns todsicher und vergeuden kostbares Benzin. Wäre meine Sache gewesen, das Kaff ausfindig zu<br />

machen. Insgeheim haben sie es auch von mir erwartet, glaub‘ ich. Statt dessen habe ich ziemlich untätig<br />

der Reparatur des Wagens zugeschaut. Wenn man Ansehen genießt als Intelligenzbestie, dann muss man<br />

dieses Ansehen rechtfertigen, sonst ist es bald aus damit. Na, das passiert nicht noch mal!<br />

Die sandige Straße schlängelte sich durch eine Landschaft, die ebenso erhaben einsam und öde war wie<br />

die Crau, ebenso kahl und flach, und doch ganz anders. Auch hier graubleiches Kieselgeröll und<br />

dürftiges Gras, kaum ein Baum, hier und da zähes Gebüsch. Zwischendurch jedoch immer wieder<br />

blausilbern blitzende Seen mit hohem, gelbem Schilf, fettgrün leuchtende Moraste, Tümpel und Sümpfe.<br />

Spinnes Geknatter scheuchte Scharen von Wildenten aus ihren Verstecken; Wasserhühner und rosarote<br />

Flamingos flüchteten nach allen Seiten; Haubentaucher flatterten auf; Fischreiher hoben sich gravitätisch<br />

in die Luft und zogen langsam große Kreise; Fasanen und Rebhühner flogen in dichten Schwärmen nach<br />

rechts und links davon. Die Jungen staunten und machten sich gegenseitig auf die fliehenden Tiere<br />

aufmerksam, von denen sie nicht einmal die Namen kannten. Sie freuten sich über die im Zickzack<br />

davonrasenden Kaninchen, jubelten über ein Rudel leichtfüßig abspringender Rehe, gerieten aus dem<br />

Häuschen über einen Fuchs, der ungerührt von allem Lärm am Rande eines Schilfbestandes gemächlich<br />

dahinschnürte.<br />

„Der reinste Tierpark, was?“ rief Maurice lachend.<br />

„In der Tat, so ist es. Wenn ich das gewusst hätte, würde ich mir noch ein Buch, und zwar eins über<br />

Tiere, gekauft haben. Dergleichen ist so belehrend! Dergleichen gibt es in der Stadt nicht.“<br />

„Toll, was?“ Seppe drehte sich um und machte eine weite Armbewegung. „Tolle Gegend, wie?“ brüllte<br />

er. „Das reinste Paradies für Jäger und Angler!“<br />

„Für Nichtstuer! Für Sonntagsjäger und Ausflügler“, knurrte René. „Nicht für Bauern!“<br />

„Jaja“, stöhnte Maurice ironisch bedauernd, „ich weiß: kein Weizen und kein Wein. Du elender<br />

Banause!“<br />

„Banause, meinetwegen. Aber was nützt die schönste Gegend, wenn sie nichts einbringt? — Im übrigen<br />

hab‘ ich Hunger, ich möchte mal was essen. Falls Filou, den ich seit drei Stunden schmatzen höre, was<br />

übriggelassen hat.“<br />

„Ou-ja“, beeilte sich der Schwarze zu sagen. Seine Aussprache war noch undeutlicher als sonst, weil er<br />

den Mund voll hatte. Und als wenig später dort, wo sich die Straße mit einem Feldweg kreuzte, eine<br />

Gruppe von drei Schirmkiefern auftauchte, steuerte René den Wagen in den Schatten der Bäume und<br />

stellte den Motor ab.<br />

Die Jungen sprangen von den Holzsitzen und dehnten und streckten erleichtert die durchgeschüttelten<br />

Glieder. Der bereits ziemlich geleerte Segeltuchsack wurde abgeladen, man machte es sich auf dem<br />

warmen Boden bequem und aß mit bestem Appetit Ambassadeur-Stullen, Schokolade und Apfelsinen.<br />

André zeigte während des Essens mit dem Taschenmesser die Fahrtrichtung und meinte: „Ich gehe doch<br />

wohl kaum fehl in der Annahme, dass diese Stadt dort vor uns Villeneuve ist, wie?“<br />

„Sieht ‘n bisschen merkwürdig aus, findet ihr nicht?“ meinte Seppe.<br />

„Ja. Scheint auf ‘nem Berg zu liegen. Jedenfalls größer als ich dachte. Das alte Gemäuer links davon ist<br />

wohl Sankt Augustin?“<br />

Maurice zuckte die Achseln, die andern nickten, froh, dem Ziel in nah zu sein. Wenn sie die „Stadt“<br />

jedoch genauer und vor allem länger betrachtet hätten, würden sie gemerkt haben, dass sie sich<br />

allmählich und stetig veränderte. Aus der schlichten, kleinen Kirche wurde nach und nach eine riesige<br />

Kathedrale, aus Sankt Augustin in der gleichen Zeit ein amerikanisches Hochhaus. Die ganze „Stadt“<br />

wuchs und wuchs, wurde immer gewaltiger — und war mit einem Mal verschwunden. Was sie für<br />

Villeneuve gehalten hatten, war nichts weiter gewesen als eine Luftspiegelung, eine Art optischer<br />

Täuschung aus Lichtreflexen, wie sie in dieser Gegend häufig sind.<br />

„Is ja wech!“ stellte Tista als erster fest.<br />

„Nanu?“ sagte René. „Was is‘n das für ‘n Quatsch?“<br />

Maurice lachte: „Fata Morgana! Da sind wir aber schön reingefallen!“<br />

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Er versuchte, die seltsame Erscheinung seinen Freunden zu erklären, kam jedoch nicht zu Rande damit,<br />

weil mit einem Mal der Boden zu zittern begann und ein dumpfes, grollendes Trommeln sich näherte.<br />

Die Jungens sprangen auf und schauten gespannt nach rechts.<br />

Eine wogende, donnernde Wolke von gelbem Staub und schwarzen und weißen Leibern toste heran,<br />

Tausende von Hufen stampften in rasendem Galopp den Boden: eine Riesenherde schwarzer Stiere mit<br />

breiten, ausladenden Hörnern. Seitlich voraus sieben, acht, neun Reiter, lange Stangen in der Hand, auf<br />

kleinen, langmähnigen, wieselflinken Schimmeln. Ein wirbelnd kochender Gießbach, ein polterndes,<br />

grollendes Unwetter, immer näher, immer lauter.<br />

„Da! Da!“ schrie Maurice, zeigte mit der rechten Hand und drückte mit der linken heftig Andrés Arm.<br />

Der spürte nicht einmal den Schmerz, sprang von einem Bein aufs andere und brüllte: „Mensch!<br />

Mensch, so was! Mensch!“ und das Herz schlug ihm bis zum Hals.<br />

Ganz nah war die Herde jetzt, einen Moment sah es aus, als wollte sie die Jungen überrennen und<br />

zertrampeln. Filou quiekte wie eine Maus, machte einen Hechtsprung und nahm unter Spinne Deckung,<br />

zitternd verbarg er sein Gesicht in den Händen. Seppe riss Tista auf den Arm und war mit einem Satz<br />

hinter dem dicksten Baum. Der Kleine klammerte sich mit beiden Armen fest, drückte das Köpfchen an<br />

die Schulter des großen Bruders, schaute aber gebannt zu, mit weitoffenen Augen.<br />

So dicht prasselte und polterte die wilde Jagd an ihrem Rastplatz vorbei, dass sie den Stieren in die<br />

irrlichternden Augen, den Reitern in die dunkelbraunen, schweißigen Gesichter schauen konnten.<br />

Dichter Staubnebel überrollte sie, machte die Stiere zu grauen Schatten, dämpfte den ohrenbetäubenden<br />

Trommelwirbel, kratzte in der Kehle und biss in die Augen. Und dann war die Herde vorbei, das Poltern<br />

verebbte, grummelte in der Ferne wie ein abziehendes Gewitter. Der Staub zog langsam davon, folgte<br />

den Tieren wie ein Schleppe.<br />

„Boh!“ sagte Tista aufatmend; die anderen schwiegen noch immer.<br />

„Mordssache, was?“ meinte Maurice leuchtenden Auges. „Das werd‘ ich malen, irgendwann. Das war<br />

ein Bild, na!“<br />

Pipin nickte und atmete tief, Seppe stellte Tista auf den Boden und drehte rasend schnell die Daumen.<br />

André hatte sich so weit gefasst, dass er sagen konnte: „Ich stelle fest, dass diese Sache mich noch mehr<br />

beeindruckt hat als jene merkwürdige Fata Morgana!“<br />

„Unsinn!“ knurrte René. „Totaler Quatsch! Die Tiere werden ja nie fett, wenn man sie so durch die<br />

Landschaft jagt!“<br />

„Wer jagt die Tiere denn!“ fragte da eine fremde Stimme. „Glauben Sie nur, den Gardians wäre es viel<br />

lieber, die Toros blieben friedlich auf der Weide! — Nichts für ungut, Jungens, dass ich mich einmische!<br />

Und guten Tag allerseits!“<br />

„Tag!“ begrüßten sie den jungen Mann, der unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war, nun sein Fahrrad<br />

an den Baum lehnte und dienstseifrig den Deckel seines kleinen Anhängers öffnete. „Möchtet ihr nicht<br />

etwas trinken?“ sagte er und zeigte auf zwei in Eis gepackte Fässchen. „Prima Wein, erstklassig und<br />

schön kalt. Tut gut bei dem Staub hier!“<br />

Maurice räusperte sich anzüglich und blickte André ganz unmissverständlich an, sagte aber keinen Ton.<br />

Die anderen leckten sich die Lippen und schauten ihn ebenfalls schweigend an.<br />

„Wein macht müde“, wehrte André ab, „und wir haben noch viel vor!“<br />

„Ich habe auch Traubensaft und Mineralwasser!“ sagte der Händler und öffnete die rückwärtige Klappe<br />

des Anhängers. „Hier, ebenfalls eisgekühlt und prima!“<br />

Sieben Flaschen Traubensaft, dachte André. Wo kommen wir denn da hin? Aber etwas muss ich ihnen<br />

geben. Mensch, wie die mich angucken! Wie hungrige Kinder ihre böse Stiefmutter ansehen. Geht<br />

einem ja auf die Nerven! Schade für das Geld; wir haben ohnehin viel zuwenig.<br />

„Geben Sie mal drei Flaschen!“ sagte er, und zu den Jungen gewandt: „Je zwei Mann eine Flasche.<br />

Seppe muss Tista was abgeben.“<br />

Das kühle, ein wenig herbe Getränk tat wohl. Wer getrunken hatte, stöhnte vor Begeisterung oder<br />

schnalzte mit der Zunge. Nur André trank nicht, das heißt, er nahm zwei ganz kleine Schlückchen und<br />

reichte die Flasche verschämt lächelnd an Seppe weiter.<br />

Manchmal ist André wirklich ein netter Kerl, dachte Seppe, nahm nur einen Schluck und gab die Flasche<br />

seinem Brüderchen.<br />

„Macht ihr ‘n Ausflug, Jungens? Wo soll‘s denn hingehen?“ Der Händler fühlte sich verpflichtet, seine<br />

Kunden zu unterhalten.<br />

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„Nach Villeneuve. Aber sagen Sie mal, wo rannten denn die Ochsen eben hin?“ wollte André wissen.<br />

„Wohin?“ Der Mann lachte. „Wissen die selber nicht. Die rennen einfach los. Außerdem waren das<br />

keine Ochsen, sondern Stiere, Toros auf provenzalisch.“<br />

„Und warum rennen die überhaupt so?“<br />

„Schwer zu sagen. Vielleicht ist der Leitbulle von einer Bremse gestochen worden, vielleicht hat er ‚nen<br />

kleinen Hitzschlag gekriegt. Und dann rast er eben los, und die ganze Herde hinterdrein. Sie dürfen nicht<br />

vergessen, dass diese Tiere halb wild sind, keine zahmen Bauernkälbchen, Kampfstiere zum Teil.“<br />

„Ich hab’ mal davon gehört“., fiel Maurice ein, „hier gibt es also tatsächlich Stierkämpfe?“<br />

„Ja, das hat sich eingebürgert. Allerdings sind bei uns die Kämpfe nicht so wild und blutrünstig wie in<br />

Spanien, aber deswegen nicht weniger spannend oder weniger gefährlich.“<br />

„Hm. Sagen Sie, warum hielten die Reiter die Herde nicht einfach auf?“<br />

„Geht leider nicht. Wie sollen sie das machen? Man könnte höchstens versuchen, den Leitbullen mit<br />

dem Dreizack abzudrängen. Das ist sehr gefährlich, weil man vor der Herde reitet. Stolpert nämlich<br />

eines dieser kleinen Pferdchen, etwa durch ein Karnickelloch, und der Gardian – so nennt man die<br />

Gauchos hier in der Camargue – wird abgeworfen, dann ist er unweigerlich geliefert und wird<br />

zertrampelt. Kommt zum Glück selten vor, weil die Camargue-Schimmel – es gibt nur Schimmel hier –<br />

wirklich prima sind. Nicht nur flink und zäh, sondern auch klug. Kein Wunder. Dass die Gardians<br />

mächtig stolz auf ihre Gäule sind und ihnen manchmal sogar richtige Grabsteine setzen.“<br />

„Gardians nennt man die Leute? Trugen so große Hüte und knallbunte Hemden. Und was machen sie<br />

mit den Lanzen?“<br />

„Damit dirigieren sie die Toros – wenn diese ruhig sind und es sich gefallen lassen. Die langen Stäbe<br />

sind aus prima Kastanienholz und tragen am Ende einen eisernen Dreizack. Aber was so ein Gardian<br />

alles können muss, das sieht man am besten auf einer Ferrado. Nun, ich rede wie ein Wasserfall und<br />

euch interessiert es vielleicht gar nicht.“<br />

„Doch, doch!“ beteuerte Maurice eifrig. „Ich finde das toll! Hab’ ich noch nie was von gehört. Was<br />

sagen Sie? Ferrado? Was ist das denn?“<br />

„Die Kennzeichnung der Jungtiere mit dem Zeichen des Besitzers. Zugleich so 'ne Art Volksfest für die<br />

ganze Umgegend. Ich fahre übrigens mit meinem Laden zu einer Ferrado bei Mas Silvareal; habt ihr<br />

nicht Lust, mitzukommen? Das ist wirklich eine ganz prächtige und richtig aufregende Sache.“<br />

„Wie geht denn das vor sich? Erzählen Sie mal.“<br />

„Man treibt die Tiere einzeln von ziemlich weit her – die Toros sollen nämlich etwas müde werden – in<br />

eine Art Arena, die aus Leiterwagen aufgebaut wird. Darauf – in Sicherheit also – sitzen die Zuschauer.<br />

Sobald der Stier in der Arena ist, sitzt ein Gardian ab, packt ihn bei den Hörnern und versucht ihn<br />

umzuwerfen. Das muss natürlich blitzschnell gehen, denn der Toro hat das nicht gern und wird leicht<br />

böse, zumal die schreiende Menschenmenge ihn aufregt. Gelingt die Geschichte, dann springen ein paar<br />

andere hinzu und halten den Stier fest, einer drückt ihm den glühenden Stempel auf den Po und dann ist<br />

er in Gnaden entlassen. Und der Gardian erhält von einem jungen hübschen Mädchen in provenzalischer<br />

Tracht ein buntes Tuch als Siegeszeichen.“<br />

„Und wenn es nicht gelingt?“<br />

„Dann wird es mitunter sehr komisch oder sehr gefährlich, je nachdem, wie der Toro die Sache auffasst.<br />

Die Zuschauer lachen auf jeden Fall. – Wie ist es, wollt ihr nicht mit? Villeneuve ist ohnehin wie<br />

ausgestorben, heute ist überall Ferrado. Aber vielleicht wollt ihr Verwandte besuchen, und ich halte euch<br />

auf?“<br />

„Nee, dieses wiederum nicht. Wir hegen die Absicht, das Schloss Sankt Augustin aufzusuchen, wo wir<br />

geschäftliche Dinge zu erledigen haben.“<br />

„Schloss Sankt Augustin? Wo soll denn das sein? Hier gibt es weit und breit nur ein einziges Schloss,<br />

nämlich Schloss Avignon.“<br />

„Muss aber doch! Sankt Augustin bei Nimes, Departement Var!“<br />

„Bei Nimes? Sagten Sie Nimes? Menschenskind, Nimes liegt rund 40 Kilometer nördlich von hier und<br />

außerdem nicht im Departement Var, sondern Gard! Var ist weit östlich von hier, die Gegend von<br />

Hyères, St. Raphael, St. Tropez.“<br />

„Was sagen Sie da? Gard? Sie irren sich, wir haben doch auf der Karte nachgesehen!“<br />

„Nein, ich irre mich auf keinen Fall, ich bin nämlich in Nimes zur Schule gegangen. Habt ihr noch nie<br />

von dem berühmten Pont du Gard, von dem großen Aquädukt, den die Römer gebaut haben?“<br />

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„Nein, da woll’n wir auch gar nicht hin!“<br />

„Bitte, wenn ihr mir nicht glauben wollt“, sagte der Händler beleidigt, „fahrt nur ruhig weiter nach<br />

Villeneuve und erkundigt euch dort. Eins steht jedenfalls fest: ein Schloss Sankt Augustin gibt es hier<br />

nicht, und Nimes liegt im Departement Gard! – So, Wiedersehen! Ich muss zur Ferrado!“<br />

Maurice ahnte, dass der Mann recht hatte, sagte aber nichts, weil René sein bockigstes Gesicht<br />

aufgesetzt hatte. Schweigend stiegen sie ein und fuhren weiter. Zwanzig Minuten später waren sie in<br />

Villeneuve, und sehr bald bestätigte sich alles, was der Weinverkäufer behauptet hatte. Sie hatten sich<br />

also doppelt verfahren: ihr Villeneuve lag nicht bei Nimes, im Departement Gard, sondern am Meer, im<br />

Departement Var, fast zweihundert Kilometer von hier. Monsieur Franz hatte sie in die genau<br />

entgegengesetzte Richtung geschickt. Dank Maurices Trägheit! Aber nicht einmal dieses falsche<br />

Villeneuve hatten sie erreicht. Dank Andrés Voreiligkeit und Renés Eigensinn! Rund neunzig Kilometer<br />

hatten sie zurückgelegt, völlig vergebens. Und nun mussten sie dieselbe Strecke zurückfahren, um an<br />

ihren Ausgangspunkt zu gelangen; dann erst waren sie auf dem richtigen Wege. Zwanzig Liter kostbaren<br />

Benzins sinnlos verschwendet, es wurde elf Uhr, und sie waren weiter vom Ziel entfernt denn je!<br />

Kein Wunder, dass die Gesichter der sechs Helden ziemlich düster aussahen. Maurice, André und René<br />

machten sich innerlich heftige Vorwürfe. Bloß Tista war vergnügt und erzählte unaufhörlich eine<br />

Geschichte, in der viele Kühe mit tausend Beinen vorkamen.<br />

„So, jetzt besorgen wir uns zunächst mal eine Karte, und dann wird haargenau der Reiseweg festgelegt.<br />

Solch eine Panne passiert nicht noch mal!“ versprach Maurice.<br />

Einer der von René so verachteten Sonntagsjäger lieh ihnen eine recht gute, genaue Karte, auf der sie<br />

unweit von St. Tropez Villeneuve und sogar Sankt Augustin eingezeichnet fanden. Mit viel Mühe und<br />

Eifer begab sich Maurice daran, den kürzesten Weg zu ermitteln, schrieb sich die Straßen, die<br />

Abzweigungen und Entfernungen auf.<br />

René schüttelte den Kopf: „Falsch! – Tja, Maurice, wenn man größere Entfernungen zurückzulegen hat,<br />

ist der bessere Weg immer der kürzere und billigere! Bloß keine Nebenstraßen oder gar Feldwege, wie<br />

du da aufschreibst, selbst wenn’s auf der Autostraße zehn oder zwanzig Kilometer weiter ist. Alte<br />

Erfahrungstatsache! Auf schlechten Straßen muss man langsamer fahren, muss mehr schalten und<br />

bremsen. Das kostet Benzin und Zeit. Nee, such 'ne anständige Chaussee, auf der man durchrollen kann.<br />

Und wenn es geht...“ – hier wurde er ein wenig verlegen – „eine mit möglichst wenig Steigungen, ja?“<br />

„Woran sieht man denn, dass eine Straße gut ist? Die Steigung kann man ja an den Höhenzahlen<br />

ablesen.“<br />

„Nimm die, die am dicksten gemalt sind, die sind richtig.“<br />

„Gut, dann fahren wir jetzt zurück über Arles nach Salon, von da nach Aix, dann über Brignoles bis Le<br />

Luc. Dort biegen wir nach Süden ab, Richtung St. Tropez, klar?“<br />

„Klar! – Los, steigt ein!“<br />

Kurz bevor Pipin auf die Kurbel sprang, knurrte André bissig: „Dieser blonde Quatschkopf, welcher uns<br />

in Marseille Auskunft gab, hat bestimmt in Geographie ‚mangelhaft’ gehabt!“<br />

Das kann ja noch feierlich werden, dachte René. Nix wie Berge! Wenn das so weitergeht – na! Noch<br />

so’n Montblanc wie eben, und Spinne ist sauer. Kaum dreiviertel Stunden hinter Aix. Schöne<br />

Bescherung. Und die alte Droschke säuft den Sprit nur so weg! – Kein Wunder, wenn man immer im<br />

ersten Gang fahren muss.<br />

Die anderen ahnten nichts von Renés Sorgen. Sie schliefen entweder wie Tista, der sich vertrauensvoll<br />

an den schläfrig dösenden Neger gekuschelt hatte, oder betrachteten die schöne Aussicht. Maurice hatte<br />

seine langen Beine auf den Kühler gelegt und es sich recht bequem gemacht. Dass es bergauf sehr<br />

langsam ging, trübte seine Stimmung keineswegs. Gelegentlich verlangte jemand von Filou eine Stulle;<br />

der Segeltuchsack war bereits leer. Eine Weile ging es mal wieder auf ebener Straße gut vorwärts. Ganz<br />

unerwartet setzte plötzlich der Motor aus.<br />

„Is was kaputt?“<br />

“Ich glaub kaum”, erwiderte René finster. Er stieg aus, suchte sich eine dünne Gerte und stocherte damit<br />

im Benzintank herum.<br />

„Na, was ist denn?“<br />

„Leer!“<br />

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„Was?“<br />

„Der Tank ist leer! Wir haben in diesen blödsinnigen Bergen mehr Benzin gebraucht als vorgesehen.<br />

Zehn Liter haben wir ja noch in Reserve, aber ob das langt?“<br />

„Nun, dann setzen wir eben das Geld, welches uns Gregoriades geschenkt hat, in Benzin um. Ich glaube,<br />

damit ist der Verlust, den der Umweg verursacht hat, wieder ausgeglichen, nicht wahr?“<br />

„Du warst schon immer ‘n kluges Kind, André! Daher steht dir auch der Wasserkopf so vorzüglich. Jetzt<br />

brauchst du uns bloß noch ‘ne Tankstelle zu besorgen, dann machen wir dich zum Präsidenten von<br />

Frankreich!“<br />

André schwieg beleidigt und starrte Löcher in die Luft. René band den Kanister los und versuchte, den<br />

Verschluss abzuschrauben. Mit der bloßen Hand schaffte er es nicht, eine Zange musste her. Er öffnete<br />

den Kofferraum — „Chchiih“, fauchte da etwas, und zwei glühende Augen starrten ihn an — sofort ließ<br />

er den Deckel fallen und sprang erschrocken zurück.<br />

Auf diesen Augenblick hatte Tista schon lange gewartet.<br />

„Zum Donnerwetter, was ist denn das schon wieder?“ schimpfte René und hob — ein wenig vorsichtig<br />

allerdings — den Deckel zum zweitenmal. „Ach so, bloß ‘ne Katze!“ sagte er erleichtert.<br />

Es war aber nicht „bloß ‘ne Katze“, sondern eine ganz bestimmte, sehr wertvolle, bereits fünfmal<br />

preisgekrönte Angorakatze: Sasu, Madame Achmeds Liebling und Tistas Freundin.<br />

Wenn es jetzt keine Prügel gibt, dann weiß ich‘s nicht, dachte Tista. Es gab aber keine Prügel, und das<br />

kam so: Stinker witterte die Katze und sprang mit einem Wupps von Filous Schoß auf den Koffer und<br />

griff mit einem wütenden Bau-bau-bau seine Erzfeindin an. Susa riss aus, fegte querfeldein in ein<br />

Gebüsch, Stinker hinterdrein. Sein ungehobeltes „Bau-bau-bau“ entfernte sich weiter und weiter.<br />

„Das hat uns ja wohl noch gefehlt! Sind wir eigentlich ‘n fahrbarer Tierpark, oder was sind wir, he?“<br />

Die andern schwiegen betroffen. Tista allein hätte ihnen schon vollauf genügt, aber Tista und Sasu? O<br />

weh!<br />

„Wir fahren weiter! Dann sind wir das Viehzeug wenigstens los!“ „Waas? Stinker hier lassen? Du biss<br />

wohl verrückt!“ Wie ein Geldschrank wälzte sich Filou vom Wagen und schnaufte hinter seinem Köter<br />

her. Tista folgte ihm.<br />

„René, das können wir nicht machen! Wenn die Achmed erfährt, dass Sasu durch uns verlorengegangen<br />

ist, dann haben André und ich keine ruhige Minute mehr in ihrem Haus. Nein, das geht nicht, wir<br />

müssen diesen preisgekrönten Bohnerbesen wieder mitbringen, oder wir erleben unser blaues Wunder.“<br />

„Kommt nicht in Frage!“ meinte auch André. „Das können wir der guten Frau nicht antun, das wäre<br />

unmenschlich. Für Maurice und mich nämlich, denn die Dame verfügt über ein Mundwerk wie ein<br />

Reißwolf. Eilen wir also, das Tierchen zu suchen!“<br />

„Für Sasu war das Gelände sehr ungünstig, es gab keinen Baum, auf den sie sich hätte retten können.<br />

Stinker hetzte sie von einem Gebüsch zum anderen. Die Jungen liefen seinem Gebell nach, etwa<br />

zweihundert Meter weit. Als sie ihn schließlich erreichten, kläffte und knurrte er wütend in ein<br />

Kaninchenloch hinein. Filou nahm ihn gleich beim Wickel und redete verweisend auf ihn ein.<br />

„Sasu is da im Loch!“ verkündete Tista strahlend.<br />

„Soll‘n wir sie vielleicht mit ‘nem Frettchen rausjagen?“<br />

„Gaanich“, beruhigte Tista, „geht mal alle wech!“<br />

Der Kleine legte sich auf den Bauch und lockte das liebe Miezekätzchen in den süßesten Flötentönen,<br />

doch Sasu kam nicht. Gern wäre sie in Tistas Arme geeilt, wenn sie nur gekonnt hätte. Sie war besser<br />

genährt als so ein armseliges Wildkaninchen, für ihre Taillenweite war der Bau nicht berechnet. In ihrer<br />

Angst hatte sie sich reingezwängt, und nun konnte sie weder vorwärts noch rückwärts. Tista hörte ihr<br />

weinerliches Mau-maau und wusste Bescheid.<br />

„Sasu kann nicht!“ rief er voller Angst und begann mit den Händen den Sand wegzuscharren. Die<br />

Jungen kamen heran und halfen ihm buddeln. Sie taten es ungern und schimpften, aber sie buddelten.<br />

Nach langer, mühseliger Wühlarbeit endlich ein Freudenschrei Tistas: Sasu war gefunden. Aber wie sah<br />

sie aus! In diesem Zustand wäre sie niemals preisgekrönt worden.<br />

Als sie zur Straße zurückkamen, sahen sie gerade noch einen schweren Wagen davonbrausen. Und dann<br />

stellten sie fest, dass Spinne auf vier Plattfüßen stand.<br />

„Ich werd‘ wahnsinnig!“ behauptete René. „Was ist denn das?“ Jeder Reifen hatte ein tüchtiges Loch,<br />

anscheinend von einem Messerstich herrührend. Fassungslos tastete er an den Pneus herum.<br />

„Ist das nicht zum Heulen? Ist das nicht zum Verzweifeln? Was soll das heißen? Wer hat das getan?“<br />

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„So eine Gemeinheit! Ich stelle mit tiefster Entrüstung fest, dass an unserem Gefährt inkognito eine<br />

Büberei verübt worden ist!“<br />

„Wer hat das wohl getan?“ fragte auch Maurice. „Und warum?“ Aber was nützte alles Jammern und<br />

Zetern: sie mussten weiter. Unter fürchterlichen Drohungen auf die unbekannten Attentäter flickte René<br />

einen Reifen nach dem anderen. Die Jungen pumpten sich die Seele aus dem Leib. Als sie weiterfahren<br />

konnten, war es bereits später Nachmittag. Spinne hatte sich inzwischen abgekühlt und schnurrte dahin,<br />

dass es eine Freude war. Doch nicht lange, und es kamen wieder Berge. Und was für Berge!<br />

Da drehte Seppe sich um, sein Gesicht war vom zurückwirbelnden Staub fast so schwarz wie das von<br />

Filou.<br />

„René!“ schrie er, „ René, wir ziehen eine Spur hinter uns her!“<br />

„Was will der?“ fragte der Fahrer, der außer seinem Namen nichts verstanden hatte. Filou übermittelte<br />

ihm die traurige Botschaft. Sofort hielt René und stieg aus.<br />

Tatsächlich, ein dünnes, feuchtes Rinnsal. Voll böser Ahnungen bückte er sich und schnupperte.<br />

„Benzin!“ kreischte er. „Der Karren bringt mich noch um!“ Voller Wut trat er Spinne in die Flanke,<br />

genau wie damals sein Chef Camille.<br />

Der Benzintank war ebenfalls von einem Messerstich angebohrt! Das Loch war nicht groß, der<br />

Brennstoff sollte nicht mit einem Male, sondern nach und nach ausfließen. Und das hatte er auch prompt<br />

getan, einige Liter kostbaren Sprits mussten schon verloren sein.<br />

Wie sollte man das Loch abdichten? Es war nicht rund, mit Holzpflöcken würde man den schmalen<br />

Schlitz nicht schließen können. Vorläufig hielt René mal den Finger drauf.<br />

Die unmöglichsten Vorschläge wurden gemacht. Seppe erbot sich sogar, während der Fahrt das Loch<br />

zuhalten zu wollen.<br />

„Da hab‘ ich was für!“ verkündete Tista und packte seinen Tascheninhalt auf den Kotflügel. Zuerst<br />

förderte er einen Tuchfetzen zutage, den man in sauberem Zustand Taschentuch zu nennen pflegte.<br />

Ferner: einen Bleistiftstummel, ein leeres Garnröllchen, vier Nägel unterschiedlicher Größe, einige<br />

zerknautschte Reklamebildchen und als letztes — einen ganz ansehnlichen Klumpen Fensterkitt. Den<br />

präsentierte er auf seiner schmutzigen kleinen Pfote: „Da!“<br />

René brummte Unverständliches, aber er nahm den Kitt und drückte ihn fest auf den Schlitz. André holte<br />

eine große, längliche Schachtel aus dem Wagen, auf der ein rotes Kreuz gemalt war. Darunter stand:<br />

„Erste Hilfe bei Unglücksfällen!“<br />

„Selbst daran hat dieser Pedant gedacht“, murmelte Maurice spöttisch, aber insgeheim doch<br />

bewundernd. André klebte umständlich einen Kreuzverband aus Heftpflaster über den Kitt. „So!“ sagte<br />

er stolz. „Das wird halten.“<br />

Pipin hatte Renés und Andrés Hantierungen nachdenklich beobachtet. Nun nahm er regelrecht Anlauf —<br />

das tat er übrigens immer, wenn er vorhatte, einen ganzen Satz zu reden — und fragte: „ Sag mal, René,<br />

wie kommt es, dass wir das Loch im Tank nicht sofort bemerkt haben? Als wir die Reifen flickten, lief<br />

der Sprit jedenfalls noch nicht. Wie ist das möglich?“<br />

„Tja, darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach. Klar, der Sprit hätte fließen müssen. Dort, wo<br />

wir standen, musste ‘ne tüchtige Lache sein, die man nicht nur gesehen, sondern auch gerochen hätte.<br />

Hat aber nicht! Ist direkt ‘n Wunder! — Warum lachst du so dumm, Maurice? Weißt du es etwa?“<br />

„Nein, ich weiß es auch nicht. Ich lache über was ganz anderes. Mir fiel eben auf, wie schrecklich<br />

nüchtern Pipin redet, wenn er sich tatsächlich mal herablässt, das Maul aufzumachen. Und da hab‘ ich<br />

mir vorgestellt, wie er eigentlich reden müsste. Schließlich ist er ein Sohn des Reiches der Mitte! Und<br />

das verpflichtet ihn, finde ich, sich etwa so auszudrücken: O sage mir, René, kühner Herrscher dieses<br />

feuerspeienden, Geld und Benzin verschlingenden Drachens, der du uns Unwürdige mit deiner<br />

erhabenen Kunst und staunenswerten Geschicklichkeit, die dir die Götter erhalten mögen, sicher durch<br />

Wüsteneien und Einöden führst, sage mir ...“ Hier konnte er selbst nicht mehr weiter und stimmte ein in<br />

das Gelächter der andern.<br />

„Glänzend machst du das“, sagte Pipin breit grinsend, so breit, dass die hintersten Backenzähne zum<br />

Vorschein kamen. Seine Augen funkelten vor Freude, dass er dazugehörte, dass man sich mit ihm<br />

befasste, denn das war er nicht gewöhnt. „Aber du weißt mehr vom Reich der Mitte als ich. Ich war nie<br />

in China, ich kann kein Wort chinesisch. Aber falls es euch Spaß macht, will ich mich gern solch<br />

blumiger Redensarten bedienen. Ich kann‘s ja mal versuchen!“<br />

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„Tue solchermaßen, o Sohn des Himmels!“ fiel André ein, der unbedingt seinen Senf dazugeben wollte.<br />

„Aber nun lasst uns dieses Gefährt besteigen, denn die Sonne neigt sich gen Abend.“<br />

„Ihr seid Motten“, brummte René, feixte und schüttelte seine roten Borsten. „Ihr habt alle ‘n Vogel und<br />

wisst es nicht!“ Insgeheim freute er sich sehr über „kühner Beherrscher“ und „Kunst“ und<br />

„Geschicklichkeit“, denn er wusste genau, dass in diesen Worten wirklich die echte Anerkennung der<br />

Freunde enthalten war, und dass sie aus Maurices Mund kam, freute ihn doppelt. Nicht etwa, weil er sich<br />

gern die Gunst des reichen Fabrikantensohnes erworben hätte, sondern weil Maurice mit Autos und<br />

Fahrern einige Erfahrung hatte, seine Leistung also beurteilen konnte.<br />

Das hat fein geklappt. dachte Maurice, als der Wagen anrollte. Die Stimmung ist gerettet. Ich muss mal<br />

mit René reden. Der soll nicht immer so aufbrausen. Steckt die andern an und vermiest ihnen die Laune.<br />

Muss lernen, sich ein bisschen zusammenzureißen. Es passiert immer was, irgendwie kommt einem<br />

immer was dazwischen. Nach dem alten Motto: erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.<br />

Knatternd fuhren sie durch ein kleines Städtchen. Die Bewohner saßen auf Stühlen vor ihren Haustüren,<br />

in Hemdsärmeln, eine Flasche Rotwein neben sich, rauchten und plauderten. In einer Ecke des<br />

Marktplatzes wurde von jungen Männern „Boule“ gespielt, ein in ganz Südfrankreich sehr beliebtes<br />

Kugelspiel. Die Männer wogen ihre faustgroßen Eisenkugeln prüfend in der Hand, zielten bedächtig und<br />

ließen sich durch Spinnes Getöse durchaus nicht ablenken.<br />

Hinter dem Städtchen senkte sich die breite Asphaltstraße ein wenig ab und stieg dann wieder an.<br />

Aber wie! Sie schien geradewegs in den Himmel zu führen.<br />

Spinne keuchte, ächzte, zitterte, spuckte. Dass man ihr so<br />

was auf ihre alten Tage zumutete! Sie winselte, heulte,<br />

wimmerte in den höchsten Tönen und kroch wie eine<br />

Schnecke dahin. Auf halber Höhe hielt René an.<br />

„Aussteigen! Der ausgemergelte Rappelkasten schafft es<br />

sonst nicht.“<br />

„Aber ich muss sitzen bleiben“, sagte André.<br />

„Warum denn das?“<br />

„Ich ziehe schon die ganze Zeit mit aller Kraft die<br />

Handbremse, damit wir nicht rückwärts runtersausen, wenn<br />

der Drachen plötzlich stehenbleibt.“<br />

„Du Trampeltier! Deswegen würgte der Wagen so!“<br />

René war fassungslos über so viel Unverstand. „Wenn<br />

Dummheit weh täte, dann würdest du den ganzen Tag vor<br />

Schmerzen jammern! Dich sollte man ausstopfen, Mensch,<br />

und ins Museum stellen. Du Schafsnase!“<br />

Wütend fuhr er ab. Ohne Belastung und ohne Bremse<br />

schaffte Spinne den Berg spielend. Im ersten Gang<br />

natürlich. Oben auf der Kuppe stiegen die Jungens wieder<br />

ein.<br />

So steil wie der Anstieg war, so steil war auch die Abfahrt. René brachte Spinne tüchtig in Schwung,<br />

denn da drüben war schon wieder ein Berg, flacher als der vorige, aber dafür war der Anstieg<br />

mindestens drei Kilometer lang. Einen Kilometer vor der Spitze streikte Spinne.<br />

„Ich war nicht an der Bremse!“ beteuerte André.<br />

„Schafsnase“, bellte René und öffnete die Kühlerhaube. Der Kitt auf dem Tank hatte gehalten, aber wie<br />

war‘s mit dem Benzin? René schob das Stöckchen durch den Füllstutzen und zog es wieder heraus.<br />

Ganz unten an der Spitze war es ein wenig nass. „Da haben wir‘s!“ sagte er. „Sprit alle!“<br />

„Bestimmt?“<br />

„Ganz bestimmt! Jetzt kleben wir hier am Berg wie ‘n Schwalbennest am Giebel. Ausgerechnet karierte<br />

Maiglöckchen!“<br />

„Wieso Maiglöckchen?“ Maurice hatte nur halb zugehört; hingerissen betrachtete er die Landschaft.<br />

„Das muss ich doch eben . . .“ murmelte er. „Tista, hol mal Wasser!“<br />

„Wo denn? Hia is doch kein!“<br />

„Mensch, wir brauchen Benzin und kein Wasser!“<br />

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„Nein, nein, mit Benzin geht‘s nicht, vielen Dank. Ich brauche tatsächlich Wasser, weißt du. Aquarelle<br />

malt man komischerweise immer mit Wasser.“<br />

René rüttelte ihn an der Schulter. „Mann, begreifst du denn nicht: wir haben kein Benzin mehr, wir<br />

kommen nicht weiter!“<br />

„Na, das ist ja großartig, René! Dann kann ich ja malen. Hier ist es nämlich sehr hübsch, du hast eine<br />

herrliche Stelle ausgesucht, sehr nett von dir! Sieh doch mal die wunderbaren Farben auf dem Felsen,<br />

was? Das sind zehn verschiedene Arten Rot! Das kann einen umhauen! Ich muss das malen. Ich brauch‘<br />

Wasser, für die Farbe, René! — Sag mal, du hast doch heute morgen einen ganzen Eimer hier vorne ins<br />

Auto reingeschüttet, ist das schon alles verbraucht?“<br />

„Vorne ins Auto rein?“ schnaubte René. „Das ist Kühlwasser, Mensch! Das ist jetzt heiß und dreckig!“<br />

„Du kannst ja nichts dafür“, beruhigte Maurice ihn liebevoll. „Die Straße war so staubig. Gib mir ein<br />

bisschen davon, ja?“<br />

Renés Gesicht zeigte zuerst blanken Zorn, dann wechselte der Ausdruck über grenzenlose Verblüffung<br />

zu milder Duldung. Armer Irrer, dachte er, solche Menschen darf man nicht reizen. „Hier, da haste<br />

Wasser. Nun mal dein Aquamarell!“ Er reichte Maurice eine Konservendose, gefüllt mit einer<br />

dampfenden, trüben Brühe.<br />

„Sag mal, André“, fragte er leise. „Sind die Künstler eigentlich alle so verrückt wie der?“<br />

„Verrückt? Ich kenne das Leben, René, und deshalb kann ich dir sagen, dass Maurice keineswegs<br />

verrückt ist. Er ist nichts weiter als ein leidenschaftlicher Maler. Darüber vergisst er alles andere. Sieh<br />

ihn dir an, wie er da auf dem Kühler sitzt und in die Landschaft stiert! Der ist richtig aus dem Häuschen,<br />

der muss jetzt malen. Und wenn du ihn nachher fragst, warum er diesen Felsen gemalt hat und nicht den<br />

daneben, dann guckt er ganz dumm aus der Wäsche und erzählt von Sachen, die unsereins nicht sieht.<br />

Von Motiv und Kontrast und Farbwerten — aber das verstehe ich nicht mal und du erst recht nicht.“<br />

„Gib nicht so an, du Napfkuchen! — Übrigens: wieviel Geld haben wir eigentlich noch?“<br />

André knöpfte sein Hemd auf, zog den ledernen Brustbeutel hervor und zählte.<br />

„Für zehn Liter Benzin würde es noch reichen. Aber was dann?“ fragte René finster. „Kommt, wir gehen<br />

mal los. Wir müssen Benzin haben, hier können wir nicht länger hängenbleiben.“<br />

Sie gingen langsam bergan. Maurice und Sasu ließen sie beim Wagen, den Maler auf dem Kühler, die<br />

Katze im Kofferraum.<br />

„Bah, ist das heiß!“ stöhnte André unterwegs.<br />

„Warum hast du dich in den schwarzen Frack gezwängt, anstatt dich luftig anzuziehen, du Angeber?“<br />

„Weil ich der Ansicht war, wir machten mit einem Auto eine Ferienreise! Statt dessen veranstalten wir<br />

mit deiner kümmerlichen Chausseewanze eine Art Hindernisrennen! Das konnte ich ja wohl nicht<br />

ahnen.“<br />

Ein solider Krach entwickelte sich zwischen den beiden, und kein Maurice war da, der es verhinderte.<br />

Hübsche Titel wie ‚blöder Schuhwichser’ und ‚größenwahnsinniger Autoflicker’ wurden ausgetauscht.<br />

Filou rang beschwörend die Hände und wollte schlichten. Er kam aber über das erste Wort nicht hinaus,<br />

denn sofort fielen die Kampfhähne gemeinsam über ihn her und beschuldigten ihn, zwei Drittel der<br />

Verpflegung selbst gegessen zu haben.<br />

„Ich ess‘ gar nix mehr, gar-gar nix mehr!“ stammelte der Schwarze mit Tränen der Empörung in den<br />

Augen.<br />

Das edle Brüderpaar verfolgte den Streit mit inniger Anteilnahme. Seppe feixte wie ein Heupferd, Tista<br />

bohrte selbstvergessen in der Nase. Nur Pipin verzog keine Miene. Er hatte die Arme angewinkelt und<br />

trabte im Rikschastil.<br />

„Da drüben ist übrigens ‘n Haus“, sagte er, als sie die Kuppe erreicht hatten. Ungefähr zweihundert<br />

Meter von der Straße entfernt lag eine kleine, weißgekalkte Ferme, ein Bauernhaus. Schimpfend,<br />

grinsend, nasebohrend bogen sie in den Feldweg ein, der dorthin führte.<br />

Als sie näher kamen, rottete sich vor dem Tor des Bauernhofes eine Horde Kinder zusammen, die vorher<br />

in der Umgebung gespielt hatten. Neugierig, mit weitaufgerissenen Augen, mindestens ein schmutziges<br />

Fingerchen im Mund, starrten sie den Ankömmlingen entgegen. Sie bekamen wohl selten Besuch. Zwei<br />

von ihnen flitzten in den Hof, um laut schreiend die Eltern zu benachrichtigen.<br />

„Das sind Italiener! Die sprachen italienisch, Jungens!“ flüsterte Seppe aufgeregt.<br />

„Ja und?“ meinte André. Malaien hätten ihm vielleicht imponiert.<br />

„Ich rede mit denen! Als Landsmann erreiche ich sicher was!“<br />

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In der Haustür erschien der „Patron“, der Oberbefehlshaber des Anwesens und der Kinderscharen, ein<br />

älterer, mittelgroßer Mann mit einem unwahrscheinlich dicken Bauch. So kugelig prall wölbte sich sein<br />

Leib, dass es schien, als hätte der Mann einen Globus verschluckt. Misstrauisch, wie die Bauern in der<br />

ganzen Welt nun einmal sind, blickte er unter seinem kreisrunden Strohhut hervor und musterte die<br />

Fremden. Seine untere Halbkugel steckte in einer verblichenen, geflickten Leinenhose, über die obere<br />

spannte sich ein weißes Netzhemd. Vier Jungens sagten: „Bon soir, Monsieur!“ Seppe schmetterte,<br />

Tista zwitscherte: „Buena sera, Signore!“<br />

Sofort hellte sich das Gesicht des Dicken auf.<br />

Und dann sprudelte Seppe los, eine ganze Arie in wohlklingendem Italienisch. Der Bauer lächelte, strich<br />

Tista über den Kopf und gab schließlich allen die Hand.<br />

„Hat er Benzin?“ fragte René ungeduldig.<br />

„Signore Tomasini hatte kein Benzin. Bloß Tomaten. Die züchtete er nämlich auf großen, künstlich<br />

bewässerten Feldern und verkaufte sie nach Marseille.“<br />

„Mein Freund Moretta und ich, wir besitzen zusammen einen kleinen Camion 1 ‚ kleinen Camion, nicht<br />

wahr? Mit dem fahren wir jeden Morgen die Tomaten in die Stadt. Ja, in die Stadt. Jeden Morgen. Aber<br />

der Camion steht nicht hier, sondern bei Moretta“, sagte Tomasini in holprigem Französisch. „Außerdem<br />

ist mein Sohn Giacomo zusammen mit den Lümmeln von Moretta damit unterwegs.“<br />

„Wo wohnt denn der Moretta? Der kann uns doch sicher Sprit verkaufen, nicht wahr?“<br />

Herr Moretta wohnt acht Kilometer entfernt.<br />

„Nee, Herrschaften, da latschen wir nicht hin. Dann ist eben Schluss für heute. Morgen ist auch noch ‘n<br />

Tag.“ René ging nicht gern zu Fuß, nicht einmal, um Benzin zu holen.<br />

„Kommt rein, Jungens, ihr werdet Hunger haben. Seid meine Gäste.“ Monsieur Tomasini vollführte mit<br />

den speckigen Armen eine weltumfassende Bewegung. Als er „Gäste“ sagte, brach seine Stimme schier<br />

vor Herzlichkeit und Rührung, und sein dicker Bauch zappelte und schwabbte unter dem Hemd. Über<br />

die ausgetretene, steinerne Schwelle führte er die Jungen wie ein Herold in die Küche. Am offenen<br />

Kaminfeuer saß die blinde Großmutter, neben ihr Herrn Tomasinis Gemahlin, nur wenig schlanker als er<br />

selbst, den jüngsten Spross auf den Knien. Ein junges Mädchen arbeitete am Spülstein. Hinter den<br />

Jungen schob sich die ganze Meute der Tomasini-Nachkommen durch die Tür.<br />

Interessiert blickte sich André in dem dämmerigen Raum um. Das wäre was für Maurice, dachte er, der<br />

schwärmt für alte Häuser. Drolliger Fußboden: Fischgrätmuster aus flachen Kieselsteinen, die mit der<br />

Schmalseite in den gestampften Lehm getrieben sind. Und eine Pumpe, nein, wie rückständig! Und der<br />

Spülstein sieht aus, als hätten sie ihn selbst gebastelt. Gekalkte Wände. Ein Mordstrumm von<br />

Eichentisch, auch schon uralt, mit tiefen Rillen drin.<br />

Tomasini schleppte einen großen Krug mit Landwein herbei und stellte ihn auf den Tisch.<br />

„Eigenes Erzeugnis!“ verkündete er. „Prost, Jungens!“<br />

Das Mädchen brachte auf einem großen Holzteller einen Klumpen Butter, Weißbrot, ein Fässchen mit<br />

Salz und — Tomaten. Pralle, frische, blutrote Tomaten in Mengen.<br />

Endlich mal was anderes als die ewigen Ambassadeur-Stullen! Es schmeckte ihnen, sie aßen alle tüchtig.<br />

Filou fraß, nein, fressen ist fast noch zu milde ausgedrückt. Vor allem vertilgte er Tomaten. Der dicke<br />

Bauer freute sich, dass sein Produkt solchen Anklang fand, und ließ ihm immer wieder auftischen.<br />

Später musste René mal raus. Als er wiederkam, sagte er: „Monsieur Tomatini — o Verzeihung —<br />

Tomasini, Sie haben ja einen Lastwagen. Hinter dem Schuppen steht doch einer!“<br />

„Ach, der“, sagte der Bauer. „Das ist ‘n ganz altes Ding, hab‘ ich von meinem Vorgänger geerbt. Ganz<br />

alt! Wir brauchen ihn nur einmal im Jahr, bei der Olivenernte. Wisst ihr, der hat nämlich gerade so die<br />

richtige Höhe für Olivenbäume. Das ist sehr praktisch. Sehr praktisch! Wir fahren einmal links und<br />

einmal rechts an den Bäumen vorbei, die Mädchen stehen auf dem Wagen und können ganz bequem<br />

pflücken. Und dann braucht man keinen Korb zu schleppen. Keinen Korb!“<br />

„Bitte leihen Sie uns den Wagen doch, Monsieur! Zum Abschleppen! Wir müssen unseren Karren von<br />

der Straße holen!“<br />

„Aber gern, aber gern, aber gern, Jungens!“ sprudelte der Dicke. „Nur: Giacomo ist nicht da, der kann<br />

ihn in Gang bringen. Das ist nämlich nicht leicht! Gar nicht leicht nämlich!“<br />

1 Camion = Lastwagen<br />

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„Ich kann das auch, Vater!“ sagte ein spindeldürrer, etwa sechzehnjähriger Knabe aus der Menge der<br />

zuhörenden Bambinos heraus.<br />

„Ah, Luigi, du Nichtsnutz, du Nichtsnutz. Eh — gut — bon, versuch‘s einmal, mein Sohn, versuch‘s!<br />

Aber sei vorsichtig, hörst du, hörst du?“<br />

„Si, si“, stieß Luigi hervor und verließ sofort die Küche. Die Jungens folgten ihm.<br />

Allerdings, das war ein toller Karren! Spinne war direkt modern dagegen. Ein riesengroßer,<br />

vollgummibereifter Lastwagen, Baujahr 1915, eigentlich nur noch ein Chassis mit Rädern, Motor und<br />

Steuerrad. Die wichtigsten Teile waren also noch da. Nur unwesentliche Dinge, wie Führerhaus, Türen,<br />

die Seitenwände der Ladefläche, waren im Laufe eines langen Autolebens verlorengegangen.<br />

„Na“, sagte René„das ist vielleicht ‘n alter Schnapskocher!“<br />

Kopfschüttelnd und grinsend standen die Jungen vor dem Veteranen, auf dem Luigi behende wie ein<br />

Äffchen herumkletterte.<br />

„Kein Öl im Tank!“ stellte er betrübt fest. „Auch im Schuppen ist keins mehr!“ Traurig wiegte er seinen<br />

viel zu großen Kopf.<br />

„Ich hab‘s!“ rief er dann, rannte davon und kehrte Sekunden später mit einer Kanne voll Petroleum<br />

wieder.<br />

„Wenn das die Mami merkt, gibt‘s Krach“, sagte er, füllte aber seelenruhig das Petroleum in den Tank.<br />

„Kann man denn mit so ‘nem Zeug fahren, René?“<br />

„Tja, zur Not kann man schon“, brummte er, „es gibt nur leicht Ärger. Ich frag‘ mich bloß, wie der den<br />

Karren in Gang kriegen will. Das ist nämlich ein Glühkopfdiesel. Da bin ich aber mal gespannt!“<br />

„So“, sagte Luigi, „jetzt müssen alle mitschieben“, und ging in die Küche, um die Familie zu holen.<br />

Luigi rief, und alle, alle kamen. Zwölf von den vierzehn Tomasini-Kindern, der Älteste war nicht da, der<br />

Jüngste konnte noch nicht laufen. Ferner Herr und Frau Tomasini. Sogar die Oma wollte helfen, man<br />

konnte sie nur mit Mühe davon abhalten. Luigi nahm aufgeregt hinter dem Steuer Platz.<br />

„Wohin?“ fragten die Jungen.<br />

„Auf die Straße, den Abhang runter.“<br />

Der dicke Bauer kommandierte „Hau-ruck“, und quietschend, knirschend setzte sich der Wagen in<br />

Bewegung. Aufgeregt gackernd stoben Hühner, Enten und Gänse darunter hervor, die sich plötzlich<br />

ihres Sonnenschutzes beraubt sahen. Filou trat versehentlich dem Schwein Marco auf den Bauch, das<br />

ebenfalls unter dem Wagen seinen Stammplatz hatte und ruhig liegengeblieben war.<br />

Auf der Chaussee wurde zunächst einmal haltgemacht. Luigi setzte eine Lötlampe in Betrieb, deren<br />

Flammen er auf den Glühkopf richtete. Als dieser endlich hellrot glühte, nahm er die Lampe weg,<br />

löschte sie und rief: „Jetzt geht‘s los!“ und setzte sich ans Steuer. Die Jungen sprangen auf, René und<br />

Filou quetschten sich neben Luigi auf die Bank, die andern stellten sich auf die offene Ladefläche. Die<br />

vereinigten Tomasinis gaben der Karre einen Schubs, und schon rollte sie bergab. Nicht sehr schnell.<br />

„Ich glaub‘, die Bremse ist noch fest“, meinte Luigi, ergriff einen von den mächtigen Hebeln, die<br />

draußen angebracht waren, und bewegte ihn hin und her. Der Wagen lief deshalb weder schneller noch<br />

langsamer.<br />

„Keine gute Bremse“, sagte er.<br />

Doch nach und nach steigerte sich das Tempo, der Wagen kam in Schwung.<br />

„Achtung, jetzt wird es spannend!“ verkündete der Fahrer. „Mit der Schaltung ist das nämlich so“,<br />

erklärte er, „man weiß nie, welchen Gang man erwischt. Bei den Vorwärtsgängen ist das nicht weiter<br />

schlimm, aber wenn man Pech hat und den Rückwärtsgang reinhaut, na, dann kann man was erleben!<br />

Jungens, haltet euch gut fest!“<br />

Die Jungen waren sehr gespannt. Sie schauten Luigi zu, der mit beiden Händen den Schalthebel packte<br />

und nach vorn schob. Es gab ein Geräusch, wie wenn eine Kreissäge auf Metall stößt. Der Wagen bockte<br />

fürchterlich und wurde langsamer. Dann knallte es mit einem Male schrecklich — und der<br />

Schnapskocher lief.<br />

Wuwuwuwu machte der Zweizylindermotor. In rasantem Tempo ging es jetzt bergab.<br />

„Hurra, hurra“, brüllte Luigi, „wir haben sogar den zweiten Gang erwischt!“<br />

René lächelte verstört, die eigenartige Fahrmethode hatte ihn ziemlich angegriffen. Sie waren schon<br />

nahe an Spinne herangekommen. Luigi arbeitete wie ein Wilder an der Schaltung.<br />

„Abstoppen!“ rief René.<br />

„Geht nicht! Krieg‘ den Gang nicht raus!“<br />

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„Tritt die Kupplung, Mensch, und hau sämtliche Bremsen rein!“ Luigi versuchte es.<br />

„Die Kupplung tut‘s nicht, und die Bremsen schon gar nicht!“<br />

Im Schnellzugtempo brausten sie an Spinne vorüber. Maurice, der längst aufgehört hatte zu malen,<br />

schaute ihnen entgeistert nach. Wie besessen arbeitete Luigi, schaltete, kuppelte, bremste — völlig<br />

vergebens. Der Wagen war nicht zu stoppen.<br />

„Wo wollt ihr denn hin?“ riefen die andern von hinten herüber, und René schimpfte wie ein Heide.<br />

„Soll‘n wir vielleicht so lange fahren, bis das Petroleum alle ist?“<br />

Das Städtchen, das sie vor einiger Zeit durchfahren hatten, kam bereits in Sicht. Immer noch saßen die<br />

Leute vor den Häusern, immer noch wurde Boule gespielt. Aber was Spinne nicht fertiggebracht hatte,<br />

das brachte der Lastwagen fertig: die Boulespieler schauten auf und horchten auf das herannahende<br />

Getöse. Wie ein Wirbelsturm sauste der Karren durch die engen Straßen, ein furchterregendes,<br />

knallendes, qualmendes Ungeheuer. Voller Entsetzen flüchteten die Leute in die Häuser. Im<br />

Handumdrehen sah man nur noch leere Stühle, umgestürzte Weinflaschen, verlassene Eisenkugeln. Ein<br />

Huhn zickzackte verrückt vor Angst, bis es sich in eine Toreinfahrt retten konnte.<br />

Der Marktplatz bot eine Chance. Jetzt oder nie, dachte Luigi, kurvte trotz großer Geschwindigkeit ein,<br />

steuerte geschickt zwischen den Bäumen durch und fuhr denselben Weg zurück, den sie gekommen<br />

waren.<br />

An der Steigung wurde der Wagen bedeutend langsamer.<br />

„Du“, sagte Luigi, „unter deinem Sitz liegt ‘n großer Schraubenschlüssel. Wenn du damit mal gegen den<br />

Kupplungsschenkel schlägst, dann tut sie‘s wieder. Aber das ist natürlich im Fahren nicht ganz einfach.“<br />

„Her damit“, sagte René, nahm den Schlüssel und kletterte nach draußen.<br />

Es war ein halsbrecherisches Unternehmen, auf dem schmalen Trittbrett zu liegen und von dort aus die<br />

Kupplung zu bearbeiten. Aber René schaffte es.<br />

Zehn Minuten später stand Spinne vor Tomasinis Ferme, und das Schwein Marco bezog wieder seinen<br />

Stammplatz unter dem Lastauto. René baute Spinnes Benzintank aus und legte ihn zum Austrocknen in<br />

die Sonne.<br />

„Keine schöne Arbeit“, maulte Filou und ließ die Hacke los, mit der er seit einer Stunde die harten,<br />

verfilzten Wurzeln eines Korkeichengestrüpps aus dem Boden zu lösen versuchte. Missmutig zog er<br />

einen Flunsch, was ihm bei seinen dicken Wulstlippen außerordentlich gut gelang, und betrachtete seine<br />

vom warmen Wasser verwöhnten Hände. „Mensch, ich hab‘ velleicht Blasen!“ fuhr er weinerlich fort.<br />

„Das tut velleicht weh!“<br />

„Arbeit ist überhaupt nicht schön“, meinte Pipin und dachte gleich daran: Kochen ist schön. Kochen ist<br />

so schön, dass es gar keine Arbeit ist. Könnt‘ ich wohl ewig tun. Aber das hier ... Auch er rodete<br />

Gestrüpp.<br />

„Schlechte Laune?“ fragte Maurice.<br />

„Ach, ich hab‘ schlecht geschlafen. Mann, ich bin was gewöhnt, ich kann auf ‘nem Nagelbrett schlafen<br />

wie in Abrahams Schoß, aber ich hasse es, wenn andere Leute mich ständig mit ihren ungewaschenen<br />

Füßen in die Magengrube treten.“<br />

„Wer war denn das?“ Maurice lachte. „Ich etwa?“<br />

„Nee, du nicht. Der da!“ Er zeigte auf Filou.<br />

„Ich?“ Der Schwarze wurde verlegen. „Muss nich bös sein, nä, Pipin? Muss nich bös sein! Ich hab‘ bloß<br />

geträumt. Dollen Quatsch! Ich hab‘ geträumt, ich wär‘ Mittelstürmer vonne Natzjohnalmannschaft.“<br />

„Mensch, du hast mindestens acht Tore geschossen, das weiß ich bestimmt!“<br />

René hackte und wühlte so fleißig, als gelte es Siedlungsland für ganze Bauernvölker zu schaffen.<br />

Plötzlich unterbrach er seine Arbeit, stützte sich auf die Hacke und griff sich mit der linken Hand ins<br />

Kreuz.<br />

„Gestrüpp ausreißen, das sollte mir in Marseille einer zumuten! Wozu machen wir das eigentlich?“<br />

„Hier war mal ‘ne Kirche, sagt der Professor. Vor rund tausend Jahren. Und die Kirche will er ausgraben<br />

— das heißt natürlich: die Fundamente“, antwortete Maurice.<br />

„Warum denn? Weshalb tut er das?“<br />

„Weil er Spaß daran hat. Es gibt Leute, die haben an alten Kirchen genauso viel Spaß wie du an<br />

Motoren.“ Und wie ich am Kochen, ergänzte Pipin in Gedanken.<br />

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„Kann ich mir nicht vorstellen, der ist sicher ‘n bisschen verrückt. Na, mir soll‘s recht sein, wenn er bloß<br />

bezahlt.“<br />

André lachte herzlich und warf Maurice einen Blick zu, der sein überhebliches Mitleid für den dummen<br />

René ausdrücken sollte. „Allah ist groß“, sagte er schmunzelnd, „und reichhaltig ist sein Tiergarten.<br />

Nein, was gibt es doch für Pannauser!“<br />

„Banausen“, verbesserte Maurice und biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Seppe und Pipin aber<br />

lachten ganz ungeniert. André wurde mal wieder rot und ärgerte sich.<br />

René kümmerte sich weder um Pannauser noch um Banausen, beobachtete Maurice eine Weile bei der<br />

Arbeit und sagte dann: „Du fasst die Hacke ganz verkehrt, Maurice. Sieh mal, so musst du das machen!<br />

Wirste längst nicht so müde!“<br />

„Nett von dir, René! Ich hab‘ noch nie ‘ne Hacke in der Hand gehabt.“<br />

„So?“ orgelte ein tiefer, männlicher Bass, Maurice drehte sich um, der Professor stand vor ihm. „Was<br />

sind Sie denn von Beruf?“<br />

„ Maler.“<br />

„Was? Maler sind Sie? Kommen Sie doch mal mit. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“<br />

Als Talentprobe sollte Maurice eine Skizze der umgebenden Landschaft anfertigen. Er setzte sich auf<br />

einen gefällten Baum, legte den Zeichenblock auf die Knie und betrachtete fast fünf Minuten lang sehr<br />

genau das kleine, fruchtbare Tal und den gestrüppüberwucherten Hügel, auf dem die Jungen arbeiteten.<br />

Mit wenigen, aber treffsicheren Strichen brachte er die Zeichnung zu Papier und reichte sie dem<br />

Professor.<br />

„Sehr gut! Vorzüglich gelungen! Sie können sogar was, Herr, wir war doch Ihr Name?“<br />

„Dupont.“<br />

„Richtig, Herr Dupont!“<br />

Maurice bekam Arbeit, die ihm weit mehr zusagte als Hacken: er musste Fundskizzen und<br />

Lagezeichnungen von bereits freigelegten Gräbern, Urnen und Steinsärgen anlegen. Eifrig machte er<br />

sich darüber her.<br />

War ein guter Gedanke von André, dachte er, während er Striche zog. Einen Tag Arbeit kann man selbst<br />

in den Ferien vertragen. Außerdem der einzige Weg, Geld zu verdienen für Benzin. Nett von Tomasini,<br />

dass er uns in seiner Scheune schlafen lässt und dass er uns zu diesem Professor geschickt hat. Der<br />

möchte uns gerne behalten, glaub‘ ich. Kriegt nicht genug Arbeitskräfte in dieser abseitigen Gegend.<br />

Kommt aber nicht in Frage, schließlich haben wir ja Urlaub. Morgen fahren wir weiter. Und heute<br />

Abend essen wir mal was anderes als Tomaten. Wir kaufen uns was. Nichts gegen Tomasini, der ist<br />

prächtig, gab eben, was er hatte: Tomaten und Butter und Brot. Darf man aber nicht ausnützen.<br />

Abgesehen davon: ich bin die Tomaten schrecklich leid.<br />

Sie arbeiteten von acht bis zwölf, machten die übliche Hitzepause bis vier, und arbeiteten dann weiter<br />

bis acht Uhr abends. Rechtschaffen müde gingen sie nach Hause zu Tomasinis Ferme. Unterwegs<br />

kassierte André von jedem den Lohn. Als Maurice ihm sein Geld gab, rief er staunend: „Tiens! Du hast<br />

ja genauso viel verdient wie wir fünf zusammen!“<br />

„Hm“, machte Maurice, „gelegentlich verdient sogar ein Maler was.“<br />

„Prima, Mensch!“ René rieb sich strahlend die Hände und klopfte Maurice auf die Schulter. „Jetzt<br />

können wir wenigstens genug Benzin kaufen.“<br />

„Und was Anständiges zu essen!“ meinte Seppe hoch erfreut. Maurice und seine Kunst stiegen<br />

erheblich im Ansehen. Alle nickten ihm glücklich lächelnd zu und dachten: sieh mal an, unser Maurice!<br />

Dem Maler wurde ganz seltsam warm, er räusperte sich verlegen und blickte zur Seite.<br />

Da blieb Stinker plötzlich stehen. Er knurrte, sein Nackenfell sträubte sich. Einen halben Meter vor ihm<br />

hob eine graugrüne Schlange ihren Oberkörper aus dem Gras, züngelnd und zischend pendelte ihr<br />

schmaler Kopf hin und her.<br />

Erschrocken verhielten die Jungen den Schritt. Einen Augenblick stutzte auch Filou, starr vor Schreck.<br />

Dann begriff er, dass sein Liebling in Gefahr war, machte einen Satz zu ihm hin, um ihm beizustehen.<br />

Das war verkehrt! Alles weitere war in weniger als einer Sekunde geschehen: Die Schlange fühlte sich<br />

bedroht, schnellte nach vorn, Stinker heulte auf, es raschelte ein wenig im Laub, weg war sie.<br />

„Der ist erledigt!“ sagte Seppe.<br />

„Wer?“<br />

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„Stinker. Das war ‘ne Sandviper. Sie hat ihn in die Nase gebissen. Du brauchst mich gar nicht so<br />

anzugucken, ich hab‘s genau gesehen. Ich kenn‘ die Viecher, bei meinem Onkel auf der Ferme gibt es<br />

sie massenhaft. Sie sind nicht groß, so um einen Meter herum, manche Sorten sind noch kleiner, aber<br />

sehr gefährlich. Auch für Menschen.“<br />

„Stinker geht doch nich — geht doch nich tot?“<br />

Der Hund leckte sich mit seiner lachsroten Zunge zwei kleine Blutströpfchen von der Quadratnase.<br />

Dann schickte er sein rauhes Bau-bau-bau hinter der Schlange her. Alle Jungen standen um Stinker<br />

herum, ihre Blicke gingen zwischen ihm und Filou hin und her.<br />

Wie sag‘ ich ihm das, verflixt, dachte Seppe. Das wird ihn umhauen, wo er so an dem Tier hängt.<br />

Verdammt ja, und jetzt guckt er mich dauernd an, und die Augen fallen ihm beinahe vor Angst aus dem<br />

Kopf. Mensch, guck woanders hin, ich halt‘ das nicht aus, das ist ja.....<br />

Seppe schaute Maurice an: Hilf mir doch! flehte sein Blick. Sag du‘s ihm, ich kann‘s nicht! Doch<br />

Maurice schüttelte fast unmerklich den Kopf: Nein, ich bring‘s nicht fertig.<br />

„Sag doch mal, Seppe? Stinker geht doch nicht...“<br />

„Ja, verflixt und zugenäht noch mal!“ Seppe lief blaurot an, so würgte es ihn. „Ich hab‘s dir doch<br />

gesagt!“ schrie er. „Ich kann‘s nicht ändern: der Köter geht ein, verdammt! Hör dir sein Bellen noch mal<br />

an, das ist seine letzte Amtshandlung. In zehn Minuten ist Beerdigung.“ Sein Aufatmen war mehr ein<br />

Stöhnen; er knöpfte sein Hemd weiter auf, ihm war sehr warm geworden.<br />

Jammernd stürzte sich Filou auf seinen vierbeinigen Freund, nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an<br />

sich. Es wurde kein Wort mehr gesprochen. Ehe sie Tomasinis Ferme erreichten, war Stinker schon im<br />

Hundehimmel. Sie begruben ihn unter dem Feigenbaum. Filou heulte die ganze Nacht.<br />

Am anderen Morgen gab es einen rührenden Abschied und Tomaten von Tomasini. Der Tank war<br />

geflickt, vierzig Liter Benzin hatte Moretta gebracht. Die Keksbüchse und der Segeltuchbeutel waren<br />

vollgestopft mit Weißbrot, Landbutter, dunkelblauen Muskatellertrauben, duftenden Melonen — und<br />

Tomaten, in rauhen Mengen.<br />

Knallend und puffend kam Spinne auf Touren. Die vereinigten Tomasinis schwenkten die<br />

Taschentücher und riefen: „Arivederci! Arivederci!“ Mit nassen Augen blickte Filou nach dem<br />

Feigenbaum, bis der hinter einer Wegbiegung verschwand. Dann drehte er sich um, schluchzte und aß<br />

Tomaten.<br />

Die Straße stieg und fiel in sanften Wellen. Spinne kroch und raste abwechselnd, wie es die Wellen<br />

gerade zuließen. Meistens kroch sie. Als sie gerade wieder einmal raste, weil es bergab ging, wurden sie<br />

von einem schweren, offenen Wagen überholt, der weit schneller war als Spinne.<br />

Den kenn‘ ich doch, dachte René. Wo hab‘ ich den bloß schon gesehen? Na, vielleicht einer von<br />

Camilles Kunden.<br />

Eine Viertelstunde später näherten sie sich einem größeren Dorf. Bei den ersten Häusern stand ein<br />

Polizist mitten auf der Straße. Er beäugte den giftgrünen Renner wie ein bösartiges Insekt, hob die rechte<br />

Hand und rief:<br />

„Halt!“<br />

René hielt.<br />

„Los, zur Wache! Fahren Sie sofort zur Wache!“ schnauzte er grob und stellte sich neben René auf das<br />

Trittbrett. „Fahren Sie, ich zeige Ihnen den Weg.“<br />

„Was haben wir denn verbrochen, Herr Sicherheitsrat?“ fragte Maurice belustigt.<br />

„Das werden Sie besser wissen als ich!“<br />

Es gab Aufsehen im Dorf, die Leute strömten hinter Spinne her zum Marktplatz, wo die Polizeiwache<br />

war. Der Wagen wurde neben dem Eingang abgestellt, die Jungen ins Haus geführt. Der Polizist nahm<br />

hinter dem Schreibtisch Platz und befahl:<br />

„Stellt euch nebeneinander! Los! — Ihren Führerschein?“<br />

René reichte ihn hinüber; der Beamte legte ihn neben sein zerfleddertes, in Wachstuch gebundenes<br />

Notizbuch. Dann kurbelte er an einem vorsintflutlichen Telefon und schnatterte:<br />

„Wachtmeister Moustache! Herr Inspektor, kommen Sie doch bitte mal. Dicke Sache!“ und hängte ein.<br />

Nun lehnte er sich weit in den Sessel zurück und musterte die Jungen der Reihe nach mit einem Blick,<br />

der durchbohrend sein sollte, jedoch keine andere Wirkung hatte als die, dass Tista den Finger aus der<br />

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Nase nahm. Die andern — außer Filou, der völlig geistesabwesend war — prusteten und gackerten vor<br />

unterdrücktem Lachen.<br />

„Sie werden bald ausgelacht haben!“ schimpfte der Blaue. „Es ist Anzeige gegen Sie erstattet worden<br />

wegen Autodiebstahls.“<br />

„Waas ?“ sagte René und beugte sich vor. „Wie meinen?“<br />

„Das Auto, das Sie fahren, ist gestohlen! Gestohlen aus der Reparaturwerkstatt eines gewissen“ — er<br />

blätterte in seinem Notizbuch — „aha, eines gewissen Vincent Camille, Marseille, 157, Rue du I‘vlaroc.<br />

Geben Sie das zu?“<br />

René wollte sich ausschütten vor Lachen.<br />

„Gestohlen? Der Schlitten? Wer den bei Nacht aus Versehen stiehlt, der bringt ihn bei Tage reumütig<br />

zurück. Machen Sie doch keine Witze! Ich bin Mechaniker bei Camille, der Wagen stammt aus seiner<br />

Werkstatt, das stimmt. Aber Camille hat ihn weggeworfen, wir haben ihn uns geholt und für eine<br />

Ferienfahrt in Schuss gemacht. So liegt die Sache!“<br />

„Sie geben also zu, dass Sie den Wagen gestohlen haben?“<br />

„Sie haben ja ‘n Knall!“<br />

„Sie! Wenn Sie frech werden, können Sie was erleben! Antworten Sie auf meine Frage: Haben Sie den<br />

Wagen gestohlen oder nicht?“<br />

„Hören Sie mal, ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber Sie bringen mich auf die Palme!“<br />

schnaubte René. „Fragen Sie doch Camille! Rufen Sie ihn doch an, dann werden Sie‘s ja erfahren.“<br />

Draußen knatterte ein Motorrad. Der Beamte stand auf, zog den Rock stramm und wartete. Kurz darauf<br />

betrat ein langer, schlanker Polizist die Wachstube, sagte freundlich „guten Tag“ und blickte lächelnd<br />

die Reihe der sechseinhalb Schwerverbrecher entlang. Ah, der Herr Inspektor, dachte Maurice. Sieht<br />

ganz sympathisch aus, mit dem kann man sicher reden.<br />

Der Beamte erstattete seinem Vorgesetzten Bericht.<br />

„ Soso! Und woher wussten Sie, dass der Wagen gestohlen ist? Soweit mir bekannt ist, liegt keinerlei<br />

Meldung darüber vor, oder doch?“<br />

„Nein, Herr Inspektor, kein Signalement. Ich machte Streife, da kam ein gewisser Leblanc mit seinem<br />

Wagen durch und bat mich, dieses grüne Fahrzeug sicherzustellen. Es sei vor einigen Tagen seinem<br />

Freund, dem Garagenbesitzer Vincent Camille in Marseille, gestohlen worden.“<br />

„Soso! Hm, hm! Haben Sie schon den Bestohlenen angerufen?“<br />

„Nein, noch nicht.“<br />

„Das hätten Sie als erstes tun sollen!“ Der Polizeiinspektor meldete ein Ferngespräch an, ging dann<br />

langsam im Raum auf und ab und betrachtete die Jungen einen nach dem andern. Es klingelte, er nahm<br />

den Hörer und sprach mit Camille, nannte Renés Namen und legte ihm den Fall genau dar. Das<br />

Gespräch war nur kurz, und als er den Hörer auflegte, flüsterte er seinem Beamten zu: „Sie patentierter<br />

Trottel!“ Alle Jungen hatten es gehört, selbst Filou grinste.<br />

„Sie können gehen“, sagte er lächelnd zu den Jungen, „oder vielmehr fahren. Das Telefongespräch hat<br />

ergeben, dass Sie den Wagen nicht gestohlen haben.“ Er nahm Renés Führerschein zur Hand, wandte<br />

sich wieder an den Polizeibeamten und fragte: „Haben Sie den Namen notiert?“<br />

„Jawohl, Herr Inspektor!“<br />

„Sie kriegen nämlich eine kleine Polizeistrafe“, sagte er zu René„weil Sie ein ungültiges<br />

Nummernschild am Wagen haben.“<br />

„Oh“, hauchte René und tat sehr bestürzt, „das habe ich sicher in der Eile verwechselt. Pech!“<br />

„Kaum!“ Der Inspektor grinste noch mehr. „Sie haben im Kofferraum noch ein halbes Dutzend<br />

ungültigen Nummern. Aber keine Sorge, dafür reißen wir Ihnen den Kopf nicht ab.“<br />

Einige Kilometer hinter dieser Ortschaft kamen sie an eine Steinbrücke, die über einen reißenden<br />

Wildbach führte.<br />

„Halt mal an, René!“ rief Seppe. „Mitten auf der Brücke!“ Der Wagen hielt, René drosselte den Motor<br />

und fragte: „Was ist denn?“<br />

Seppe gab keine Antwort, holte aus der Hosentasche ein zerfleddertes, in schwarzes Wachstuch<br />

gebundenes Notizbuch und warf es mit Schwung in den Bach.<br />

„Von wegen Polizeistrafe! Da sei Gott vor.“<br />

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„Und der König der Diebe ist ihm dabei ein bisschen behilflich, was?“ sagte André lachend und ahmte<br />

Seppes typisches Handwedeln nach. Gegen diesen Diebstahl hatte er ausnahmsweise einmal nichts<br />

einzuwenden.<br />

„Da steht schon wieder ‘n Blauer!“<br />

„Wo?“<br />

„Da, an der Kreuzung! Ja, ja, wir stoppen schon; nur keine Bange. Es ist doch zum Auswachsen!“<br />

Der Beamte salutierte: „Meine Herren, die Straße ist leider gesperrt! Armeemanöver! Sie müssen einen<br />

kleinen Umweg machen.“<br />

„Kreuzbombenelement und Bimbamvallera! So ein Mist! Können die denn nicht woanders manövern?<br />

Wir haben ein Pech, das ist sagenhaft!“<br />

„Tut mir sehr leid, aber nichts zu machen. Stehe natürlich gern für alle Auskünfte zur Verfügung. Wo<br />

wollen Sie denn hin?“<br />

„Nach Villeneuve, Departement Var. Wie fahren wir da am besten?“<br />

„Ganz einfach! Ist sogar noch günstiger für Sie, wenn Sie hier rechts abbie. . .“<br />

„ Kennen Sie dieses Villeneuve? Ist da auch eine Burg namens Sankt Augustin?“ erkundigte sich André<br />

argwöhnisch.<br />

„Natürlich, kenne ich sogar sehr gut! Prächtiges altes Gebäude, diese Burg! Also, Sie müssen hier rechts<br />

den Weg reinfahren. Der schlängelt sich so ‘n bisschen. Und dann kommt ein Dorf, das heißt . .“<br />

Der Beamte beschrieb es ihnen haargenau und wünschte ihnen freundlich gute Reise.<br />

„Ich kann mir nicht helfen“, sagte André und ließ seinen Wasserkopf pendeln, „der Polizist kam mir<br />

bekannt vor. Euch auch?“<br />

„Nee. Nie gesehen, den Kerl!“ brummte René.<br />

„Mir kam er auch so bekannt vor! Außerdem fiel mir auf, dass er Marseiller Dialekt sprach“, meinte<br />

Maurice. „Das könnt ihr natürlich nicht merken, ihr sprecht ja genauso.“<br />

„Wir sprechen doch keinen Dialekt!“ entrüstete sich André. „Zumindest ich nicht. Du sprichst Dialekt,<br />

Maurice. Wenn du den Schnabel aufmachst, weiß man sofort, dass du aus dem Norden bist.“<br />

„Verflixt und zugenäht!“ schimpfte René. „Der Blaue war ja ‘n netter Kerl, aber der Weg, den er uns<br />

angegeben hat, ist weit weniger nett. Merkwürdig, sollten wir uns mal wieder verfahren haben?“<br />

Seit einigen Minuten war der Weg kein Weg mehr, sondern eine Quälerei für Fahrzeug und Insassen.<br />

Eigentlich war es nur eine ausgefahrene Spur, verschönt durch Schlaglöcher und dicke Steinbrocken,<br />

und führte durch die reinste Wildnis. Rechts und links mehr als mannshohes, undurchdringliches<br />

Gestrüpp von Korkeichen oder Ilex, darin verstreut einzelne, <strong>biz</strong>arr gewachsene Eichbäume, ab und zu<br />

Gruppen von Kiefern. Kein Dorf weit und breit, nicht einmal ein einzelnes Haus.<br />

Auf der Anhöhe kreuzte eine andere, ebensolche „Straße“ ihren Weg. René stoppte den Wagen.<br />

„Jungens, wir haben uns verirrt, das steht fest. Ehe wir uns noch weiter in diese Einöde verrennen,<br />

fahren wir lieber zurück.“<br />

André hatte einen andern Vorschlag: „Villeneuve muss hier in der Nähe sein, das hat der Polizist doch<br />

gesagt! Wir haben uns bloß verfahren. Ich erlaube mir daher folgenden Vorschlag: drei Wege liegen<br />

jetzt vor uns, die wir einschlagen können. Drei Mann gehen los, einer geradeaus, einer links und einer<br />

rechts. Jeder läuft fünf Minuten und sieht zu, ob er ein Dorf, ein Haus, einen Menschen oder ‘n<br />

Wegweiser findet. Irgendwas müssen wir ja finden.“<br />

„Na schön. Wer geht freiwillig?“<br />

Keiner. Also wurde geknobelt.<br />

André, Pipin und Filou traf das harte Los, zehn Minuten zu Fuß laufen müssen. André ging geradeaus.<br />

Er vertraute immer noch auf den Blauen und versprach sich von dieser Richtung am meisten. Pipin ging<br />

nach rechts, Filou nach links. Der Schwarze war am schnellsten verschwunden, denn sein Weg führte<br />

steil bergab.<br />

Pipin war der erste, der zurückkam.<br />

„Nix gesehen“, sagte er lakonisch. Maurice hatte ihn in Verdacht, die zehn Minuten hinter dem nächsten<br />

Busch abgewartet zu haben. Dann kam André. Er hatte auch nichts gesehen und war darüber ziemlich<br />

verzweifelt.<br />

„Wo bleibt denn Filou?“<br />

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„Vielleicht sitzt er unter einem Baum und heult sich eins. In unserer Gegenwart schämt er sich. Aber<br />

allein, da wird er sich richtig loslassen und jammern. Der arme Kerl! Schwerer Schlag für ihn!“ meinte<br />

André mitleidig.<br />

„Quatsch, der hat höchstens Durchfall von den vielen Tomaten.“<br />

„Jetzt könnte er aber bald kommen.“<br />

Endlich hörten sie jemanden keuchen.<br />

„Da kommt er ja! Was schleppt er denn auf dem Rücken?“<br />

Es schien eine Art Galgen zu sein: ein dicker, vierkantiger Holzpfahl mit noch allerlei Drum und Dran.<br />

Stöhnend setzte der schwarze Fettkloß seine schwere Last ab. Es war ein Wegweiser.<br />

Zehn Sekunden völlige Stille. Aber dann platzte René:<br />

„Bist du wahnsinnig, Dicker? Hast du noch alle Tassen im Schrank? Was willste mit dem Ding?“<br />

Seppe krümmte sich vor Lachen und patschte sich auf die Knie. „Nee, so was! Nee, so was!“ keuchte er.<br />

„Wolltest du ‘n Andenken mitnehmen? Nee, so was Blödes!“ Auch Maurice und André lachten herzlich,<br />

Pipin grinste von einem Ohr zum anderen, selbst Tista schüttelte die krausen Locken und kicherte.<br />

Aufgelöst, nach Luft japsend, umklammerte Filou mit dem rechten Arm den Stamm des Wegweisers,<br />

der dreimal so lang war wie er.<br />

Mit der linken Hand wischte er den immer wieder in dicken Perlen ausbrechenden Schweiß fort. Er war<br />

so erledigt, so ausgepumpt, dass er mit dem langen Balken hin und her schwankte. Seine Glupschaugen<br />

kugelten herum, zeigten das Weiße und wussten nicht, wohin sie blicken sollten. Vor Scham.<br />

René sprang vom Wagen und nahm ihm das schwere Holzgestell ab.<br />

„Gib her, Mensch!“ sagte er, so weich, wie es ihm niemand zugetraut hätte, hob den Wegweiser hoch,<br />

als sei er eine Feder und legte ihn der Länge nach über den Wagen. „Festhalten!“ sagte er zu den<br />

andern, und zu Filou: „Setz dich, Dicker! Ruh dich aus!“<br />

Spinnes Federn knirschten, als Filou auf seinen Platz plumpste. Er öffnete sein ehemals schneeweißes<br />

Hemd und schnaufte wie eine Dampfmaschine. Die andern grinsten noch immer, das Bild war zu<br />

komisch gewesen. René strich sich über die roten Borsten und machte:<br />

„Te-te-te“ und „Tja, tja“, drehte sich plötzlich um und fragte den Schwarzen: „Warum haste das<br />

eigentlich gemacht, Mensch? Warum haste das Ding herausgerissen und hier ‘raufgewuchtet? Na?“<br />

„Ich-ich-ich“, stotterte Filou vor lauter Verlegenheit, „ich kann doch nich — kann doch nich lesen!“<br />

„Au Backe!“ knurrte René. Maurice lachte plötzlich nicht mehr. André wieherte von neuem los und<br />

betrachtete herablassend das dunkle Häufchen Elend. Gottseidank, dachte er, ich kann lesen. Sogar so<br />

schwierige Bücher wie den „Guten Ton“. Nein, was für ein Banause, dieser Filou! Und so was fährt auf<br />

ein Schloss!<br />

Maurice boxte ihn in die Seite, um seine widerliche Lache zu stoppen. Gleichzeitig hob René seine<br />

behaarte Faust gegen den Schuhputzer und grunzte, so böse, wie man es von ihm noch nie gehört hatte:<br />

„Halt‘s Maul oder ich hau‘ dir eine rein! Ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber ich kann<br />

nicht vertragen, wenn du den armen Kerl so eklig auslachst! Schließlich hat er für uns alle den schweren<br />

Apparat hier raufgewürgt. Weil er helfen wollte! Er hat es gut gemeint.“<br />

„Lass gut sein, René. Komm, reg dich nicht auf!“ unterbrach ihn Maurice.<br />

„Du wärst gar nicht auf den Gedanken gekommen, dich für uns so anzustrengen, du eingebildete<br />

Spinatwachtel!“ schimpfte René weiter.<br />

„Aus! Schluss!“ Maurice wurde energisch. René dreht sich mit einem Ruck nach vorn und hatte irgend<br />

etwas am Armaturenbrett zu tun. Starr wie ein Denkmal saß André neben ihm, sein verstörtes Gesicht<br />

war bleich, seine dichten, schwarzen Augenbrauen hatte er bis unter den Haaransatz hochgezogen.<br />

Weshalb ist dieser grobe Bauernklotz auf einmal so empfindlich, dachte er. Und Maurice ergreift seine<br />

Partei? Was hab‘ ich denn Schlimmes getan? Nichts! Ich hab‘ gelacht wie alle anderen auch. Wo ist der<br />

Unterschied? Er spürte recht gut, dass da ein Unterschied war, wollte es aber nicht einmal vor sich selber<br />

zugeben.<br />

„Bist du nie zur Schule gegangen, Filou?“<br />

Der Schwarze blickte Maurice verlegen an und schüttelte den Kopf. „Oma wollte nich. Sagte, wär‘<br />

Quatsch. Sie könnt‘ ja auch nich lesen. Und wenn Oma nich wollte, konnte auch Vater nix machen.“<br />

„Der hat‘s gut gehabt!“ meinte Seppe voller Neid. „Mann, was hab‘ ich Schläge gekriegt!“<br />

„Das kann ich mir denken. Und ich glaube, nicht mal zu Unrecht, was?“<br />

Seppe grinste stolz: „Nee, immer ehrlich verdient!“<br />

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„Filou, möchtest du wohl lesen und schreiben lernen?“<br />

„O ja! Ssehr gärn!“ Das klang fast andächtig. Maurice schaute weg und räusperte sich.<br />

„Wollen mal sehen. Das kriegen wir schon hin.“<br />

Sie bogen links ab und fuhren den Berg hinunter, den Filou vorhin mit seiner Last auf dem Rücken<br />

bewältigt hatte. Unten im Tal trafen sie abermals auf eine Kreuzung, dort hatte der Wegweiser<br />

gestanden, dort pflanzten sie ihn auch wieder ein. Ob er richtig wegwies, konnten sie nicht beurteilen,<br />

daher blieben sie auf dem Weg, auf dem sie waren, weil er anscheinend häufiger benutzt wurde als der<br />

andere.<br />

Alle drei Jungen in der ersten Reihe machten nachdenkliche Gesichter, doch auf jedem der drei<br />

Gesichter sah die Nachdenklichkeit anders aus. René dachte an seine Schulzeit. Er war ungern zur<br />

Schule gegangen und hatte nur widerwillig gelernt. Bisher hatte er nicht gern daran zurückgedacht. Das<br />

Erlebnis mit Filou zeigte ihm die Schule in einem andern Licht. War doch ganz gut, musste er zugeben.<br />

Kerl, nicht mal ‘n Wegweiser lesen können! Oder ‘n Straßenschild! Keine Rechnung und keinen Brief<br />

schreiben können? Kerl, da ist man aber aufgeschmissen. Für ‘n Mechaniker ganz unmöglich. Erst recht,<br />

wenn man mal ‘ne Werkstatt aufmachen will. „Au Backe!“ flüsterte er vor sich hin und dachte mit<br />

freundlichen Gefühlen an seinen Lehrer, der es mit unermüdlicher Zähigkeit doch fertiggebracht hatte,<br />

ihm ein recht brauchbares Wissen in den harten, rothaarigen Schädel zu pflanzen. Kerl, nee, was hab‘<br />

ich Glück gehabt! Ich werd‘ Vater ‘ne Karte schreiben. Ich werd‘ schreiben, er soll dem alten Knaben<br />

einen schönen Gruß von mir bestellen. ‚Von seinem ehemaligen Schüler René!’ Mann, der kippt aus den<br />

Latschen!<br />

René lächelte wieder.<br />

André ging in sich. Der Anpfiff von René hatte nicht allzu viel Wirkung gehabt, weil René seiner<br />

Meinung nach ungebildet war, und solche Leute nahm er nicht für voll. Als aber Maurice — der<br />

gebildete Maurice — lange Zeit schwieg und auf Andrés Versuch, ein Gespräch mit ihm anzufangen,<br />

nicht reagierte, da wurde er betroffen und begann nachzudenken. Sein ständiges Bemühen, zu lernen und<br />

vorwärtszukommen, verführte ihn leicht dazu, alle die zu verachten, die weniger wussten als er, und alle<br />

die zu überschätzen, die er für gebildet hielt. Maurice nahm er sehr für voll. Von ihm mit Verachtung<br />

gestraft zu werden, schmerzte ihn tief. Dabei strafte ihn der Maler nicht einmal, sondern war so in<br />

Gedanken versunken, dass er Andrés Annäherungsversuche nicht bemerkte.<br />

Wie seltsam, dachte André. Über diesen lächerlichen Vorfall sind sie einer Meinung. Nein, wie<br />

zartfühlend! Was hab‘ ich denn schließlich verbrochen? Ich hab‘ ein bisschen deutlich gezeigt, dass ich<br />

Filous Dämlichkeit verächtlich finde. Dass es lächerlich ist, nicht mal lesen und schreiben zu können.<br />

Oder ist es das etwa nicht? Ich bin überzeugt: Maurice denkt im Grunde genauso. Der war bloß<br />

gerissenen und hat sich nichts anmerken lassen. Werd‘ ich in Zukunft auch so machen. Ich glaube,<br />

dummen Leuten darf man nicht zeigen, dass man klüger und gebildeter ist, das ärgert sie. Kluger<br />

Bursche, dieser Maurice! Schön, ich werde nie wieder einen Dummen auslachen, das gibt bloß Ärger. Er<br />

hielt also Maurices Anteilnahme für Gerissenheit. Ein einziger Blick in das Gesicht seines Nebenmanns<br />

hätte ihm zeigen können, wie sehr er irrte.<br />

Du liebe Güte, ein Analphabet mitten unter uns, dachte Maurice. Nicht im entferntesten habe ich geahnt,<br />

dass es so was noch gibt! Das ist ja so ähnlich wie Blindsein. Von wieviel schönen Dingen ist so ein<br />

Mensch einfach ausgeschlossen! Ein ganzer Bereich des Lebens existiert für ihn nicht: Bücher sind nur<br />

für ihn ein Haufen Papier. Wie klein und eng muss Filous Welt sein. Und er spürt, dass es noch vieles<br />

gibt, woran er keinen Anteil hat, er möchte so gern lesen und schreiben lernen. Bestimmt würde sein<br />

Leben dadurch schöner. Dazu muss man ihm verhelfen. Nicht gesagt, dass er ausgerechnet ein geistiger<br />

Schwerathlet wird. Ist auch gar nicht nötig. Jedenfalls würde sein Dasein reicher werden, und er würde<br />

sich sicherer fühlen. Als Analphabet ist er ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Schon allein, um das zu<br />

vermeiden, aus diesem rein praktischen, handgreiflichen Grund also würde sich die Mühe lohnen.<br />

Ich muss ihm helfen, denn das ist meine Sache.<br />

André wurde das lange Schweigen seiner Freunde ungemütlich. Er druckste herum und räusperte sich<br />

mehrmals. Angestrengt überlegte er, wie er die Sache wieder geradebiegen könnte. Endlich hatte er‘s!<br />

Griff in die Tasche, holte ein Päckchen Zigaretten hervor, das er vor langer Zeit mal geschenkt<br />

bekommen hatte, und bot sie René an. Der brummte und nahm eine. Ebenso Maurice. Nun drehte André<br />

sich um und bot Seppe eine Zigarette an. Der grinste erfreut und griff zu. Pipin und Filou dankten. Und<br />

da er sich einmal Mühe gemacht hatte, sich umzudrehen, und weil Filou gerade dasaß, sagte er etwas<br />

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unsicher: „Sei mir nicht böse, Filou. Glaube mir, es war nicht so gemeint. Schließlich bist du doch ein<br />

netter Mensch!“<br />

„War nich schlimm, André! Lass nur!“ stotterte der Schwarze.<br />

René kniff Maurice ein Auge zu, der Bann war gebrochen. Seppe öffnete im Fahren den Kofferraum,<br />

holte seine Gitarre hervor und spielte einen Schlager.<br />

„Darf ich dich darauf aufmerksam machen, René, dass wir uns einer Ortschaft nähern?“ säuselte André.<br />

„Stimmt! Na, endlich!“<br />

Bei dem erstbesten Bauern erkundigten sie sich — und mussten feststellen, dass der nette Polizist an der<br />

Kreuzung sie in die Irre geschickt hatte.<br />

Bei dem Städtchen Brignoles erreichten sie die Hauptstraße wieder. In der Nähe des Marktplatzes hielt<br />

René den Wagen an. „Ich muss mal was trinken.“<br />

„Ich auch! Ich auch!“ meldeten sich die andern.<br />

André machte ein sorgenvolles Gesicht und berechnete im Überschlag, was die Getränke wohl kosten<br />

würden. Ewig dieses Knausern um ein paar Groschen, ärgerte er sich. Na, wenn wir den Spuk gefangen<br />

haben, dann geht es uns ja wohl besser. Nicht, dass ich das Geld verjubeln möchte, beileibe! Aber jeden<br />

Franken zehnmal umdrehen zu müssen, das verdirbt einem die Freude.<br />

Es wurde gelost, wer auf Spinne aufpassen müsste. Pipin musste dableiben. Ergeben nickte er und bat:<br />

„Bringt mir ‘n Schluck mit, ja?“<br />

Maurice schlug vor, in ein Straßencafé zu gehen. Er liebte diese Art Lokale, wo man an kleinen Tischen<br />

mitten auf dem Bürgersteig saß und die vorüberschlendernde Menge beobachtet.<br />

„Kommt, wir gehen zur Hauptstraße, da ist sicher so was.“<br />

Es gab eine ganze Reihe solcher Cafés, auf das nächstgelegene steuerten sie los. Als sie bis auf zehn<br />

Meter herangekommen waren, blieb René plötzlich stehen und hielt die andern mit ausgebreiteten<br />

Armen zurück. Das Kinn vorgereckt, blickte er starr geradeaus, seine roten Borsten sträubten sich, seine<br />

Augen sprühten Feuer.<br />

„Schon wieder ‘ne Schlange?“ fragte Tista seinen großen Bruder. „Pscht!“<br />

„Was ist denn?“ fragte Maurice leise.<br />

„Da sitzt der Trottel!“ knurrte René.<br />

„Wer?“<br />

„Der nette Polizist von der Kreuzung!“<br />

„Wo? Ich seh‘ keinen Polizisten!“<br />

„ Jetzt ohne Uniform, jetzt trägt er Zivil. Vielmehr so ‘ne Art Livree. Seht ihr ‘n nicht? Da vorn, am<br />

zweiten Tisch!“<br />

„Tatsächlich! Der Blaue mit dem Marseiller Dialekt!“<br />

„Mensch, Jungens“, rief André aufgeregt, „der blonde Quatschkopf aus Marseille, der uns den falschen<br />

Weg gezeigt hat, sitzt ja neben ihm!“<br />

„Tatsächlich!“ sagte Maurice noch einmal. „Wirklich merkwürdig!“<br />

„Merkwürdig? Bloß merkwürdig? Kerl, mir geht ein Licht nach dem andern auf! — Los, zurück! Bevor<br />

sie uns entdecken! Ach, nee! Da drüben steht ja auch der schwarze Buick! Der Sechszylinder-Buick.<br />

Jetzt ist mir alles klar!“<br />

Gleich hinter der Straßenecke gingen sie in ein kleines Estaminet. Während sie ihren Durst löschten,<br />

polterte René: „Ganz üble Absicht war das alles! Abgekartetes Spiel! Erst hat uns der Blonde in<br />

Marseille den falschen Weg gezeigt. Das war morgens. Nachmittags, während wir Sasu ausbuddelten,<br />

haben sie uns die Reifen und den Tank kaputtgemacht. Entsinnt ihr euch noch an den schwarzen Wagen,<br />

der wegbrauste, als wir zurückkamen? Das war der Buick, der zusammen mit uns in Marseille an der<br />

Tankstelle stand. Dann haben sie uns einmal überholt, das weiß ich noch ganz genau. Und dann passierte<br />

die Geschichte mit der Polizei. Erst mit der richtigen. Als die uns nicht einlochte, spielte der Livrierte<br />

selber Polizei, sprach von Manöver und schickte uns in ‘ne ganz wüste Gegend. Und jetzt sitzen sie da<br />

an der Hauptstraße und passen auf, ob wir vorbeikommen, um uns was Neues anzutun. So ist das ganz<br />

bestimmt!“<br />

„Ich glaube, du hast recht, René. Aber warum haben die beiden Männer das alles ausgeheckt? Was<br />

haben wir denen getan?“<br />

„Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, dass ich die Nase voll habe von solchen Späßen!“<br />

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„Ob die uns mit irgend jemand verwechseln?“<br />

„Mir egal. Verwechseln oder nicht: ich werde dafür sorgen, dass sie uns von jetzt an in Ruhe lassen!“<br />

„Was willst du machen? Zur Polizei gehen?“<br />

„Nee, von denen hab‘ ich heute schon zuviel gesehen. Nein, das machen wir anders. Die sollen mich<br />

kennenlernen! Kommt, trinkt aus, wir gehen zum Wagen.“<br />

René nahm aus Spinnes Werkzeugkasten einen Schraubenzieher, der wie ein Drillbohrer arbeitete, und<br />

vier, etwa drei Zentimeter lange Nägel mit flachen Köpfen.<br />

„Seppe, los, geh mit!“ sagte er. „Du stehst Schmiere!“<br />

Harmlos, und unauffällig machten sich die beiden an den schwarzen Buick heran. Als die Luft rein war,<br />

begann René zu bohren.<br />

„Du haust die Nägel nicht weit genug ‘rein“, meinte Seppe. „Die Reifen halten ja noch Luft!“<br />

„Abwarten, abwarten! Einfach mit dem Schraubenzieher so lange bohren, bis es pfeift, wäre nicht<br />

richtige. Dann würden sie zur nächsten Reparaturwerkstatt gehen und sich die Dinger schnell flicken<br />

lassen — und wir hätten sie immer noch auf dem Hals. Nein! Die sollen mehr davon haben. Auf der<br />

Landstraße soll denen die Puste ausgehen, wenn die Nägel sich richtig reingedrückt haben. Dann müssen<br />

sie selber ran und sind ‘ne Zeitlang nützlich beschäftigt.“<br />

Der Ersatzreifen jedoch wurde so lange angebohrt, bis die Luft mit leisem Pfeifen daraus entwich.<br />

René trat zurück und betrachtete sein Sabotagewerk mit gerunzelter Stirn. „So was hab‘ ich noch nie<br />

gemacht“, brummte er, „geht mir gegen den Strich. Muss aber sein.“ Vier Reifen mit kleinen Löchern,<br />

überlegte er, wie lange dauert es, bis die geflickt sind? Vielleicht zwei Stunden; wenn sie Übung haben,<br />

weniger. Falls zufällig ein Dorf in der Nähe ist, und sie bekommen Hilfe, dann noch weniger. Nein, das<br />

genügt immer noch nicht. Ich muss noch was tun. Aber was? Angestrengt überlegte er und blickte dabei<br />

den Wagen entlang. Der Tankverschluss fiel ihm in die Augen.<br />

„Ich hab‘s!“ Geradezu teuflisch grinsend ging er ein paar Schritte auf und ab, die Augen suchend an den<br />

Boden geheftet. Bald hatte er 8efunden, was er suchte: ein Stückchen trockenes Holz. Immer noch<br />

grinsend zog er sein Taschenmesser und begann ein Pflöckchen zu schnitzen, nur wenig dicker als eine<br />

Stricknadel, sorgsam darauf achtend, dass die Rundung schön glatt wurde. Seppe schaute fragend zu,<br />

wagte aber nicht zu stören. Als das Hölzchen Renés Absichten entsprach, schnitt er vorsichtig der Länge<br />

nach eine Kerbe hinein und schlenderte dann zum Heck des Buick. Prüfend schaute er sich um. Niemand<br />

beachtete ihn. Der vernickelte Tankverschluss hatte in der Mitte ein kleines, rundes Loch: da hinein<br />

steckte René das Pflöckchen, schlug es mit dem Handgriff des Schraubenziehers tüchtig fest und schnitt<br />

den überstehenden Rest sauber ab.<br />

„Komm!“<br />

Die andern standen um Spinne herum und warteten.<br />

„Was hast du denn so lange gemacht?“<br />

„Biesterei!“ sagte René und setzte sich hinter das Steuer. „Das mit den Reifen genügte nicht, war nicht<br />

sicher genug. Ich hab‘ auch noch den Tankverschluss verstopft.“<br />

„Warum das denn?“<br />

„Damit die Herren noch ‘n bisschen Spaß haben unterwegs und uns in Ruhe lassen, Mensch!“<br />

„Wie wirkt denn das, Tankverschluss verstopfen?“<br />

„Ausgesprochen schön, kann ich dir sagen! Der Motor kriegt kein Benzin mehr. Wenn der Sprit nämlich<br />

aus dem Tank heraus in den Vergaser fließen soll, muss Luft dafür rein können. Deshalb ist kein<br />

Benzintank luftdicht verschlossen, sondern irgendwo ist ‘n Loch, entweder auf dem Deckel oder am<br />

Füllstutzen. Und wenn du das zumachst, dann — prrt—prrt, aus!“<br />

„Hör mal, dann muss der Wagen doch ziemlich bald stehenbleiben? Womöglich noch hier, in der Stadt?<br />

Ich denke, gerade das wolltest du vermeiden, oder?“ Wenn es sich um Schandtaten handelte, dachte<br />

Seppe erstaunlich schnell und folgerichtig.<br />

„Hab‘ ich auch wohl vermieden!“ René lächelte hinterhältig und tippte an seinen borstigen Schädel.<br />

„Mein Kopf ist ja nicht nur dazu da, den Friseur am Leben zu halten, Mensch! Ich hab‘ nämlich ‘ne<br />

Kerbe in den Stopfen geschnitten, etwas Luft, ein ganz klein wenig, kommt noch ‘rein. Zunächst also<br />

wird‘s gehen, vor allem beim Langsamfahren. Möglich, dass der Motor ‘n bisschen bockt, aber das<br />

werden sie nicht tragisch nehmen. Sobald sie aber Vollgas geben, ist‘s aus: der Karren fängt an zu<br />

niesen, bockt und steht schließlich. Dann werden sie den Vergaser ausbauen und reinigen — nützt<br />

natürlich nichts, haha! Kurz und klein: wir sind sie los!“<br />

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Die Jungen lachten mit der eine zufrieden, der andere schadenfroh.<br />

„Falls sie überhaupt abfahren. Vielleicht bleiben sie auch im Café sitzen und warten, bis wir<br />

vorbeikommen, denn wir müssen ja über die Hauptstraße.“<br />

„Ziemlich unwahrscheinlich“, meinte René. „Nee, Maurice, ich nehme an, die haben schon mächtig<br />

Langeweile, müssen ja schon Stunden dasitzen! Pass mal auf: gleich werden die Schufte losfahren, uns<br />

zu suchen. Es kommen ja höchstens zwei Straßen in Frage, und die haben sie mit ihrem schnellen<br />

Wagen bald abgegrast. Wir warten mal ‘ne halbe Stunde, das können wir uns leisten.“<br />

Es war nicht einmal eine halbe Stunde vergangen, als Pipin zischte: „Da sind sie!“<br />

Ohne die Jungen und ihren Wagen zu bemerken, stiegen die Männer ein und fuhren davon.<br />

„Gute Reise!“ knurrte René.<br />

„Und schönen Gruß von der Zwiebelstraße!“ feixte Seppe.<br />

Bei einem richtigen Polizisten — der misstrauisch gewordene Maurice ließ sich sogar den Ausweis<br />

zeigen — erkundigten sie sich noch einmal nach dem Weg. Die Auskunft des Beamten deckte sich<br />

genau mit dem, was Maurice aufgeschrieben hatte: weiter auf der großen Hauptstraße bis Le Luc, von<br />

dort aus nach Süden über Cogolin bis in die Nähe von St. Tropez.<br />

Schon zehn Minuten später entdeckten sie den schwarzen Buick. Die beiden Männer hatten die Röcke<br />

ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und arbeiteten im Schweiße ihres Angesichtes. Der eine pumpte<br />

einen Reifen auf, der andere schraubte unter der hochgeklappten Motorhaube.<br />

„Seht ihr! Hab‘ ich‘s nicht gesagt! Der nimmt den Vergaser raus! Viel Erfolg, Kollege!“<br />

Lächelnd rasselten sie vorbei. Keiner der Schufte schaute auf.<br />

Spuk und guter Ton<br />

„Ich möchte mir die Bemerkung erlauben, dass dieses Schloss recht klein und bescheiden aussieht. Es<br />

macht auf mich quasi gewissermaßen einen mickrigen Eindruck!“<br />

„Na, hör mal! Liegt doch richtig hübsch da oben auf dem Buckel! Rund herum Weinberge, auf dem<br />

ganzen Abhang. Was willst du denn mehr?“<br />

„Nun, meine Bemerkung war ja mehr in betreff des Gebäudes gedacht. Dieses ist doch recht klein und<br />

altmodisch, aber dennoch ganz nett“, meckerte André und nickte herablassend. Villeneuve schien ihm<br />

schon gar nicht zu gefallen. Naserümpfend betrachtete er die Fischerhäuschen und winzigen Geschäfte;<br />

selbst die von leuchtenden Blumenbeeten umsäumten oder unter Palmen und Kiefern versteckten Villen<br />

fanden keine Gnade vor seinen Augen. Seine lebhafte Phantasie hatte ihm alles märchenhaft und<br />

großartig ausgemalt, und nun erschien ihm die schöne Wirklichkeit nicht schön genug.<br />

Der schmale Asphaltweg stieg stärker an, machte eine Haarnadelkurve, noch hundert Meter, dann waren<br />

sie auf dem Berg, und vor ihnen lag Schloss Augustin. Eingehend musterte Maurice den von zwei<br />

Ecktürmen flankierten Bau. Der linke Turm war viereckig, der rechte rund. Zwischen beiden ein<br />

zweistöckiger Verbindungsbau, mitten davor eine große Freitreppe.<br />

„Ich kann mir nicht helfen, ich finde das alte Gemäuer sehr schön“, sagte er und nickte wohlgefällig.<br />

Am Fuß der Treppe stoppte René den Wagen; der Motor verröchelte fauchend, es klang, als ob er erlöst<br />

aufatme.<br />

„Mensch, Jungens! Endlich wieder am Meer! Ich war schon ganz krank vor lauter Bergen“, rief Seppe,<br />

sprang elegant von seinem Notsitz und blickte am Schloss vorbei, über das malerisch an den Hügel<br />

geschmiegte Villeneuve hinweg auf die blaue, unbewegte Wasserfläche. Die andern stellten sich neben<br />

ihn, blinzelten und zogen schnuppernd den lang entbehrten Salzgeruch ein.<br />

„Wunderbar! Prächtig!“ Der Anblick begeisterte selbst André. „Fast so schön wie in Marseille!“<br />

„Anders“, sagte Maurice. „Das Meer hat eine andere Farbe. In Marseille ist es grünlicher, hier tiefblau<br />

wie Füllhaltertinte. Beides ist schön.“<br />

„Quatsch!“ sagte René. „Ist ja bloß Wasser.“<br />

„Das kennen wir schon, Mensch!“ hänselte Seppe. „Kein Weizen und kein Wein, taugt also nicht. Du<br />

kannst einem leid tun.“<br />

„Wuhaha!“ wieherte Filou auf einmal. „Wuhaha! Jungens, seht euch den an! Was ‘n komischer Kerl!<br />

Wuhaha!“<br />

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Auf der Freitreppe stand ein schmaler, alter Mann, der tatsächlich seltsam gekleidet war. Er trug einen<br />

kurzen, silberbestickten Rock, Kniehosen aus Samt, weiße Wadenstrümpfe und Schnallenschuhe. Und<br />

ein Gesicht machte der Mann! Das war schon kein Gesicht mehr, das war eine Beleidigung. Äußerst<br />

hochnäsig und geringschätzig musterte er die Jungen und quetschte im eisigsten Ton aus dem linken<br />

Mundwinkel hervor:<br />

„Sie wünschen?“<br />

„Ihnen einen recht guten Tag!“ sagte Maurice ebenso freundlich wie ironisch und winkte lässig mit der<br />

rechten Hand. André boxte ihn dafür heftig in die kurzen Rippen, er war hingerissen von so viel<br />

Vornehmheit.<br />

„Wir mö — möchten zu Monsieur Baharoff! Haben wir vielleicht die Ehre . . . ?“ stotterte er mühsam<br />

und machte ruckartig eine Verbeugung, als wolle er sein dünnes Gestell zusammenklappen.<br />

„Kamel!“ sagte Maurice vernehmlich. „Geht doch nichts über den ‚Guten Ton’! Melden Sie bitte Ihrem<br />

Herrn: Maurice Dupont aus Marseille und seine tüchtigen Freunde!“<br />

„Tüchtige Freunde!“ murmelte der Betresste, schnitt ein<br />

Gesicht, als hätte er Essig getrunken, und verschwand.<br />

Nicht ohne die Flügeltür gründlich hinter sich zu<br />

verschließen.<br />

„Der Alte kommt mir bekannt vor!“ sagte Pipin, die<br />

Schlitzaugen nachdenklich zusammenkneifend.<br />

„Mir auch! Den hab‘ ich irgendwo schon mal gesehen.<br />

Ich sehe in den letzten Tagen häufig Leute, die mir<br />

bekannt vorkommen“, sagte Maurice und runzelte die<br />

Stirn. „Geht es schon los mit den <strong>Gespenster</strong>n?“<br />

Da öffnete sich die Flügeltür wieder, und der „komische<br />

Kerl“ trat heraus. Würdevoll stolzierte er bis an die<br />

oberste Stufe, blickte mit unsäglich hoheitsvoller Miene<br />

von einem zum andern und sagte näselnd:<br />

„Ich habe den Auftrag, Sie im Namen von Monsieur Baharoff —hm — willkommen zu heißen.<br />

Monsieur hat im Augenblick eine Besprechung und kann Sie deswegen erst in einer halben Stunde<br />

empfangen. Monsieur bittet die — hm — Herren“ — an „Herren“ kaute er herum wie an zähem<br />

Rindfleisch — „bis dahin in der Halle zu warten.“<br />

Statt der leichten Verbeugung, mit der er bei jedem andern Gast diesen Sermon beschlossen hätte,<br />

lieferte er jetzt nur die Andeutung eines Kopfnickens.<br />

„Na, denn rinn in die Halle!“ brüllte René. „Zeig uns mal den Schuppen, Opa!“<br />

Der Haushofmeister zuckte zusammen, als bekäme er unversehens einen Eimer Wasser in den Nacken.<br />

Als er die Augen wieder öffnete, pulte Filou interessiert an den silbernen Fangschnüren, die vierfach um<br />

seine rechte Schulter gewunden waren. „Opa“ warf einen Blick zum Himmel und stöhnte: „Ich darf<br />

wohl vorausgehen?“<br />

Grunzend vor Begeisterung ließen sich die Jungen in die tiefen Sessel plumpsen, räkelten sich betont<br />

behaglich und benahmen sich absichtlich besonders forsch, um ja nicht zu zeigen, dass das Schloss<br />

Eindruck auf sie machte. Nur André saß nervös auf der Kante und blätterte im „Guten Ton“, Abschnitt<br />

„Wie begrüße ich Fremde?“<br />

„Monsieur hat mich angewiesen, den — hm — Herren Erfrischungen zu reichen. Was darf ich bringen?“<br />

„Was haben Sie denn Gutes da?“ erkundigte sich Seppe.<br />

„Alles, was Sie wünschen!“<br />

„Ist ja prima! Also, ich will einen Cap Corse!“ schmetterte er.<br />

„Dergleichen ordinären Aperitifs natürlich nicht. Darf es statt dessen ein Rossi sein?“<br />

„Meinetwegen, ich bin nicht kleinlich. Aber mit Eis und Zitrone, ja?“<br />

„Opa“ staunte und dachte: der Kerl weiß tatsächlich, wie man Rossi trinkt! Er konnte nicht ahnen, dass<br />

Seppes Vater eine berühmte Kneipe besaß.<br />

„Und du, Tista? Was soll der Onkel dir bringen?“ „Gebatenen Fisch.“<br />

Der vornehme Haushofmeister kriegte einen Hustenanfall.<br />

„Das haben sie hier nicht, nimm was anderes.“<br />

„Dann Eis.“<br />

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„Müsste eigens für den Jungen gemacht werden“, erlaubte sich „Opa“ zu bemerken.<br />

„Tun Sie das“, fiel Maurice ein, den das Benehmen des Dieners zu ärgern begann. „Für Tista ist nichts<br />

zu schade. Außerdem haben wir Zeit.“<br />

„Ich möchte Tee!“ ballerte René. „Aber anständigen! So schwarz wie meine Füße, klar? Und ‘n<br />

bisschen dalli, ich hab‘ Durst.“<br />

André las fieberhaft in seinem Buch, Abschnitt „Welche Getränke, wann und wo?“ Die Jungen sollten<br />

ruhig ordinäre Sachen bestellen und sich blamieren, so gut sie konnten, er wollte es richtig machen.<br />

Leider las er etwas zu flüchtig. Jetzt ließ er das Buch sinken, spreizte sich wie ein Pfau, machte eine<br />

elegant sein sollende Handbewegung und sagte mit spitzem Mund: „Mich gelüstet es nach einem Grog!“<br />

„Grog?“ stieß der Haushofmeister hervor. „Grog? Jetzt, in dieser Jahreszeit? Bei dieser Hitze? Bi—bitte,<br />

wenn Sie durchaus wollen!“<br />

„Grog kann nie schaden“, sekundierte Maurice lachend. „Und was nimmst du, Pipin? Wie wär‘s mit<br />

rotem Bordeaux?“<br />

„Einverstanden! Ich glaub‘, das kann man trinken, wie?“<br />

„Na, und ob! Ich nehme auch ein Glas Bordeaux. Aber zunächst möchte ich mich gern waschen, rasieren<br />

und so weiter. Zeigen Sie mir bitte das nächste Badezimmer!“<br />

Mit einem Male hatten alle das Bedürfnis, sich erst zu säubern. „Opa“ führte die „Herren“ in einen<br />

großen Waschraum. Auf der Tür stand: „Bad für Domestiken“.<br />

„Domestiken nennt man wohl die feineren Gäste, nicht wahr?“ flüsterte André.<br />

„Nee!“ Maurice schüttelte grinsend den Kopf. „Domestiken heißt soviel wie Hausangestellte.“<br />

Mit einer Miene, als litte er entsetzliche Zahnschmerzen, brachte der Diener sieben Handtücher, sieben<br />

Stück Seife und sieben Waschlappen.<br />

„Ich darf wohl die Katze in Verwahr nehmen?“ fragte er sehr von oben herab.<br />

„Wo denken Sie hin!“ entgegnete Seppe mit gut gespielter Entrüstung. „Das ist ein Dachhase edelster<br />

Zucht, so was vertraut man nicht jedem x-beliebigen Menschen an! — Tista, setz das Biest aufs<br />

Fensterbrett und zieh das Hemd aus!“<br />

Geradezu tierischer Lärm lockte den Haushofmeister wieder herbei. Vorsichtig schob er den Kopf durch<br />

den Türspalt. Ein grausiges Bild bot sich ihm! Seppe und Tista versuchten mit vereinten Kräften, Sasu<br />

das seidenweiche, aber dreckige Fell zu waschen. Sasu wollte von lauwarmer Brause nichts wissen, sie<br />

wehrte sich so gut sie konnte und kreischte wütend. Tista redete tröstend auf sie ein, Seppe sang<br />

schallend ein Lied, in dem vom traurigen Schicksal eines neapolitanischen Fischers die Rede war. Pipin,<br />

André und René trugen Badehosen und waren in eine heftige Wasserschlacht verwickelt. Mit nassen<br />

Waschlappen und mehr oder weniger gefüllten Eimern kämpften sie erbittert um den Besitz eines<br />

Schlauches, brüllten und juchhuten dabei wie angreifende Sioux. Wasserstand im Badezimmer:<br />

dreieinhalb Zentimeter, ständig steigend. Die beiden andern betätigten sich an den Waschbecken:<br />

Maurice rasierte sich in aller Gemütsruhe, Filou putzte sich langsam und hingebungsvoll die Zähne.<br />

Mit verstörten Augen blickte „Opa“ auf das Getümmel. Und ich muss ruhig bleiben, dachte er, muss mir<br />

so was ansehen, muss mir so was bieten lassen! Weil Baharoff es will! ‚Die Leute werden mit aller<br />

erdenklichen Zuvorkommenheit behandelt’, hat er gesagt. O du meine Güte!<br />

Plötzlich aber schoss er vorwärts, watete auf Filou los und schrie:<br />

„Was erlauben Sie sich! Sie putzen sich mit meiner Zahnbürste die Zähne! Was fällt Ihnen ein!“<br />

Filou grinste verlegen und sprudelte weiße Blasen: „Oh, oh, verzeihen Sie bitte! Ich hap gedacht, die<br />

wär‘ für alle da!“ Sorgfältig spülte er die Bürste aus und reichte sie dem Diener, doch der sprang zurück<br />

wie vor einem bissigen Hund.<br />

Maurice prustete sein Spiegelbild an.<br />

„Wenn Filou gewusst hätte, dass die Zahnbürste Ihnen gehört, hätte er sie sicher nicht genommen“, sagte<br />

er doppelsinnig.<br />

Bis zur Unkenntlichkeit verschönt, saßen sie später in der Halle. Maurice betrachtete genießerisch den<br />

herrlichen, großen Raum. Schönes Haus, stellte er fest. Gebeizte Holzdecke, graue Seidentapete,<br />

riesengroßer, dunkelgrüner Teppich auf den Steinfliesen. Hm, macht sich sehr gut. Die geschnitzte<br />

Truhe dort drüben müsste man sich mal näher ansehen, scheint ein ganz altes Stück zu sein. Seine<br />

Augen glitten über den Wandteppich, der die gesamte Rückwand einnahm, betrachtete den Kamin, den<br />

großen Leuchter und die übrige Einrichtung. Angefeuert durch Maurices schweigende Bewunderung,<br />

stand André auf und beschaute mit hochgezogenen Augenbrauen die Waffen aus der Landsknechtszeit,<br />

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die an den Wänden verteilt waren: Harnische, Piken, Morgensterne, Hellebarden, Schwerter und Degen,<br />

gekreuzt mit Krummsäbeln. Neben der Tür waren sogar zwei vollständige Ritterrüstungen aufgebaut.<br />

Davor blieb er stehen, fuhr mit dem Finger über den Brustpanzer, wackelte mit dem Wasserkopf und<br />

sagte:<br />

„Ich stelle fest, dass hier allerhand Blech zu putzen ist, nicht wahr?“ Gemessenen Schrittes ging er zu<br />

einem Sessel zurück und las weiter.<br />

Sein Grog dampfte und er auch, jede Bewegung verursachte Bäche von Schweiß. Das Taschentuch, mit<br />

dem er sich ständig über das Gesicht fuhr, hätte er auswringen können.<br />

Endlich stolzierte der Diener herbei. Stocksteif verkündete er:<br />

„Monsieur erwartet Sie in der Bibliothek!“<br />

Das klang wie ein Befehl. André wurde sofort eifrig.<br />

„Kommt, wir dürfen Monsieur nicht warten lassen!“<br />

„Immer langsam voran, ich hab‘ meinen Rossi noch nicht auf“, sagte Seppe pomadig.<br />

Tista wickelte Sasu aus dem Badetuch und brabbelte: „Das liebe Kätzchen is tocken! Und was hat das<br />

liebe Kätzchen wieda ‘n schön weich Fellchen!“<br />

Sasu schnurrte vor Behagen. Tista nahm sie auf den Arm und streichelte sie zärtlich.<br />

Wie ein Pfahl stand der Diener da und blickte unbewegt geradeaus, André neben ihm trat von einem<br />

Bein auf das andere. Pipin trank sein Glas aus und erhob sich geschmeidig. Mit einem unbestimmbaren<br />

Lächeln auf dem Gesicht näherte der sich dem Betressten, nahm einen innerlichen Anlauf und sagte:<br />

„Der große Mann möge mir sein Ohr leihen!“<br />

„Bitte?“ Das klang ein wenig verwundert.<br />

„Nicht, dass ich meckern wollte“, fuhr Pipin in seinen gewohnten Redeweise fort, „aber Sie sollen uns<br />

nicht für dämlich halten: der sogenannte Bordeaux war in Nordafrika gewachsen! Genauer gesagt:<br />

in Algerien!“<br />

Den Haushofmeister beherrschte sich wunderbar.<br />

„Oh! Ein Versehen! Entsetzlich peinlich. Wird nicht wieder vorkommen, ich werde gleich . . .“‚<br />

stammelte er und dachte bestürzt: Der hat‘s tatsächlich gemerkt! Dieser Chinese! Doppelt schlimm, vor<br />

diesen Leuten aufzufallen.<br />

„Na, Jungens, dann wollen wir mal!“ Maurice stand auf. Der Diener ging voran. Unterwegs hielt<br />

Maurice Pipin ein wenig zurück.<br />

„Mensch, ich hab‘ nicht gemerkt, dass der uns angeschmiert hatte. Du scheinst ja von Wein ‘ne ganze<br />

Menge zu verstehen, was?“<br />

„Füll du mal zwei Jahre lang Fässer ab! Da muss man schon sehr unbegabt sein, wenn man die<br />

Unterschiede nicht rauskriegt.“<br />

„Aha — ö — da sind Sie ja! Bitte — ö — treten Sie näher!“ Hinter einem riesigen Schreibtisch erhob<br />

sich ein etwa zwei Meter großer, schwerer Mann. Eine eindrucksvolle Figur mit ebenso eindrucksvoller<br />

Totalglatze. Maurice bemerkte in Sekundenschnelle: dunkle, unruhige Augen; gelbliche Gesichtsfarbe,<br />

mächtiger Eierkopf; große Pratzen mit Goldringen. Alles in allem: nicht sehr sympathisch. —<br />

„Baharoff!“<br />

„Dupont, Maurice!“ Eine weite, ausholende Handbewegung: „Meine Freunde!“<br />

„Ö — hm, sehr erfreut, meine Herren!“ Maurice drückte eine merkwürdig weiche Hand.<br />

„Das ist André Bourian, Fachmann für alle Dinge auf oder dicht über dem Erdboden, zum Beispiel<br />

Fußbekleidung.“<br />

„Hm — ö —‚ Armenier?“<br />

„Sehr wohl, Exzellenz, sehr wohl!“ André verbeugte sich so ruckartig, dass er beinahe vornüberfiel. Er<br />

schwitzte vor Aufregung und Grog. Maurice machte eine Pause, um die „Exzellenz“ ohne Lachkrampf<br />

zu verdauen.<br />

„Das ist René Forgeron. Bearbeitet alle technischen Fragen mit bewundernswürdiger Präzision.“<br />

„Tach!“ knurrte René und schüttelte Baharoff markig die Hand. „Giuseppe Palotti. Spezialität:<br />

Entfernung von Gegenständen aller Art.“<br />

Seppe verbeugte sich grazil, lächelte wie ein Malzbonbon und säuselte: „Bonjour, Monsieur!“<br />

„Filou Wacambo, der mutigste Mann Marseilles.“<br />

„Monsieur!“ stammelte der Schwarze.<br />

„Pipin Hieronymus Wang. Ein Mann, dem man nichts vormachen kann.“<br />

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Pipin grinste breit und reichte Monsieur seine magere, gelbe Kralle.<br />

„Tista, unser Kleinster“, sagte Maurice und strich dem Dreikäsehoch über den Kopf, „trotz seiner<br />

Jugend geradezu unentbehrlich, nicht wahr, Jungens?“<br />

Baharoff konnte sein Staunen nicht verbergen. Tista gab ihm das linke Händchen — mit der rechten<br />

hielt er nämlich Sasu fest —‚ verbeugte sich artig und krähte: „Ta—a—ach!“ Beim Verbeugen aber<br />

passierte ihm ein Malheur: er gab ein unfeines Tönchen von sich.<br />

André wurde bleich wie die Wand und stöhnte. Maurice beherrschte sich mühsam, seine Nasenflügel<br />

zitterten. Wenn ich jetzt André angucke, ist es aus, dachte er und wandte keinen Blick von Baharoff. Der<br />

ließ sich nichts anmerken, sagte:<br />

„Bitte — ö — meine Herren, nehmen Sie doch Platz!“ und drückte den Klingelknopf. Sofort erschien<br />

der Betresste.<br />

„Jean-Baptiste!“<br />

Ein kurzer Wink mit der fleischigen Hand. Der Diener eilte zum Schrank und bot auf einem Tablett<br />

Zigarren und Zigaretten aller Sorten an. Maurice wählte mit Bedacht die beste Brasil. Wieder einmal<br />

wunderte sich Jean-Baptiste über den guten Geschmack der pöbelhaften Gäste. Die andern nahmen<br />

Zigaretten, nur Filou wackelte abwehrend mit seinem wolligen Schädel. Tista bekam von Seppe eins<br />

über die Finger, als er in die Silberdose grapschen wollte. Dafür aber konnte Seppe unbemerkt eine<br />

Handvoll Zigaretten verschwinden lassen. Doch nicht ganz unbemerkt: André schaute ihn ebenso<br />

strafend wie gequält an.<br />

„Jean-Baptiste!“ Wieder ein Wink. „Sherry.“<br />

Und dann erzählte Monsieur Baharoff.<br />

„In großen Zügen wissen Sie Bescheid. Ich besitze das Haus seit fünf Jahren. Ö — vor zwei Jahren<br />

setzte der Spuk zum erstenmal ein. Ö — und wie! Und wie! Jean-Baptiste, den ich vom vorigen Besitzer<br />

übernahm, behauptet, es hätte früher auch schon gespukt, doch nur gelegentlich und längst nicht so<br />

heftig.“<br />

„Sehr wohl, Monsieur!“ mischte sich der Lakai ein. „Ich bin fast fünfzig Jahre in diesem Hause tätig,<br />

aber etwas Derartiges, wie in den letzten zwei Jahren, habe ich noch nicht erlebt! Ich versichere,<br />

Monsieur, dass nur meine Anhänglichkeit mir die Kraft zum Aushalten gibt. Was ich jedoch erleide,<br />

geht über Menschenmaß!“ Wie zufällig streifte sein Blick die Jungen.<br />

„ Ö — hm, es ist gut, Jean-Baptiste. Ich danke Ihnen, Sie können gehen.“<br />

Mit undurchdringlicher Miene schritt der Diener davon.<br />

„Ö — er hat recht. Nur er und der Chauffeur haben ausgehalten. Gaston wurde übrigens in der vorigen<br />

Woche vom Spuk verletzt, ich habe ihn zur Wiederherstellung seiner Gesundheit beurlauben müssen.<br />

Das andere Personal ist nicht zu bewegen, hier im Haus zu schlafen, und verschwindet abends um sieben<br />

nach Villeneuve.“<br />

„Was macht der Spuk eigentlich?“ fragte Maurice.<br />

„Monsieur Dupont — ö, ich bin ein realistischer, nüchterner Geschäftsmann. Ich habe früher nie an<br />

dergleichen Unsinn geglaubt, doch ich bin längst soweit! Meine Nerven haben entsetzlich gelitten.“ —<br />

Er strich sich mit seiner Pratze über das Gesicht.<br />

„Es ist abscheulich! Man kann es kaum beschreiben, man muss es mitgemacht haben. Ö — fürchterlich!<br />

Geräusche rauben einem die Nachtruhe. Das wimmert, stöhnt, ächzt, ö — schaurig, kann ich Ihnen<br />

sagen! Schläft man schließlich doch ein — man hat tagsüber sein gerüttelt Maß aufreibender Arbeit und<br />

braucht den Schlaf —‚ dann poltert es plötzlich, als ginge die Welt unter, das Bettzeug fliegt weg, von<br />

unsichtbaren Händen gezogen, man erschrickt zu Tode — Schritte tappen durch das Haus, es quietscht,<br />

als würden Schränke gerückt, ein Totenschädel grinst durchs Fenster — ö — hm — entsetzlich!<br />

Entsetzlich! Oder es erscheint eine Schrift an der Wand, irgend etwas Orientalisches, was man nicht<br />

lesen kann. Bilder fallen herunter, ja — ö, was das Schlimmste ist: meine Sammlung wird auf das<br />

grässlichste in Unordnung gebracht. Sie müssen wissen, ich bin begeisterter Sammler, ich besitze die<br />

größte und vollständigste Sammlung von Kragenknöpfen aller Völker und Zeiten!“<br />

„Kragenknöpfe?“ Maurices Mundwinkel kräuselten sich spöttisch. „Das ist sicher sehr interessant, nicht<br />

wahr?“<br />

„Ö — ja, ja. Interessant und ausgefallen. So etwas brauche ich. Hat mich ein mächtiges Stück Geld<br />

gekostet, deswegen hänge ich daran, wie Sie sich denken können. Und wenn man dann sehen muss, dass<br />

das beste Stück der Sammlung, ein Knopf aus Walfischschwanzknochen, englisch, sechzehntes<br />

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Jahrhundert, wundervoll ziseliert, wenn man so ein Stück statt im seidenen Etui in einer schmählichen<br />

Situation, nämlich in einem vollen Aschenbecher findet, dann — ö —‚dann...“<br />

Seine Stimme versagte.<br />

„Dann geht einem der Hut hoch!“ ergänzte Seppe voller Mitgefühl. André bekam Zustände.<br />

„Richtig, der — ö — Hut! Richtig!“<br />

„Und welche Scherze treibt der Spuk sonst noch?“ fragte Maurice, jeder Zoll ein kühner<br />

<strong>Gespenster</strong>jägerchef.<br />

„Scherze? Lieber junger Freund, in diesem Wort liegt ein Optimismus, der mich erwartungsvoll stimmt.<br />

Aber verzeihen Sie mir, wenn ich das Unwesen in diesem Haus nicht mehr als scherzhaft empfinden<br />

kann. Schaffen Sie mir diesen Geist vom Halse, ich bitte Sie! Sie sind meine letzte Hoffnung, nachdem<br />

die internationalen Fachleute versagt haben. Ich werde Sie reich belohnen. Nehmen Sie sich Zeit,<br />

bleiben Sie hier, solange es Ihnen gefällt, jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt werden. Aber erlösen Sie<br />

mich von diesem Gespenst, ich kann nicht mehr, meine Nerven machen nicht mehr mit! — Und nun<br />

entschuldigen Sie mich bitte, das Erzählen hat mich sehr angegriffen. Jean-Baptiste wird Ihnen Ihre<br />

Zimmer zeigen.“<br />

„Eine wichtige Frage noch: hält sich der Spuk an eine bestimmte Zeit?“<br />

„Ö — nein, das ist ja das Schlimme! Zwischen zwölf und vier pflegt er zu wirken. Heute vielleicht um<br />

halb eins, morgen vielleicht um drei, kümmert sich also nicht um die sogenannte Geisterstunde.“<br />

„Hm, also von Mitternacht bis zum Beginn der Morgendämmerung! — Vielen Dank, Monsieur!“<br />

„Nein, Jean-Baptiste, keine Einzelzimmer! Wir müssen zusammenbleiben, wenn wir unsere Aufgabe<br />

erfüllen wollen. Ich sage Ihnen zum letzten Mal: wir nehmen diese beiden Zimmer hier! In jedes werden<br />

noch zwei Betten hineingestellt, und die Sache hat sich. Außerdem lassen Sie bitte die Verbindungstür<br />

öffnen.“ Mit diesen energischen Worten beendete Maurice die Auseinandersetzung mit Jean-Baptiste,<br />

der eine Viertelstunde lang mit großer Zähigkeit bemüht war, die Jungen zu Einzelzimmern zu<br />

überreden.<br />

„Sehr wohl, Herr Dupont! Ganz, wie Sie wünschen!“ sagte er jetzt, machte ein verzweifeltes Gesicht<br />

und verschwand zögernd. Die Jungen standen am Fenster und beschauten die Landschaft. Leider konnte<br />

man nur ein Stückchen vom Meer sehen, denn der viereckige Turm, neben dem das Zimmer lag, sprang<br />

ein wenig vor.<br />

Da kam der Diener schon wieder. Zusammen mit dem Hausmädchen Luise begann er, Sessel und Stühle<br />

hinauszutragen, um Platz zu schaffen für die beiden zusätzlichen Betten.<br />

„Müssen Sie das selbst machen?“ fragte Maurice.<br />

„Leider ja. Der Gärtner und der Hausknecht sind bereits fort. Sie schlafen aus begreiflichen Gründen<br />

nicht hier im Haus, sondern in Villeneuve. Und der Chauffeur ist beurlaubt, wie Sie wissen.“<br />

Woher weiß der alte Knabe, dass Baharoff uns das erzählt hat, dachte Maurice. Horcht wohl an der Tür?<br />

Das scheint so eine Art Sport für Diener zu sein. Na, mir egal, jedenfalls soll sich der alte Mann nicht<br />

unsretwegen abrackern.<br />

„Los, Jungens, anfassen! Soll etwa der Opa für uns die Möbel schleppen, und wir schauen zu? Ran!“<br />

„Hände weg, Alterchen!“ brüllte René voller Tatendrang, entriss Jean-Baptiste einen zierlichen,<br />

seidenbezogenen Stuhl und schwang ihn in abenteuerlichem Bogen auf die Schulter. Es klirrte, und die<br />

Lampe lag auf der Erde.<br />

„Benehmen ist Glückssache, und du wirst vom Unglück verfolgt!“ kanzelte André ihn ab.<br />

„Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!“ erwiderte René treffend, und schon war mal<br />

wieder Krach zwischen den beiden. Jedenfalls verging durch die gegenseitigen würzigen Bemerkungen<br />

das Umräumen schneller; in knapp einer halben Stunde war es beendet. Nur im Blauen Zimmer — die<br />

Zimmer waren nach der Farbe ihrer Tapeten benannt — war man noch nicht einig. Die beiden<br />

zusätzlichen Betten waren zwar schon aufgeschlagen, das eine hatte bereits seinen vorgesehenen Platz<br />

links neben der Tür, doch das andere stand noch mitten im Raum, weil Seppe und Jean-Baptiste über<br />

den Aufstellungsort verschiedener Ansicht waren. Der König der Diebe, der zusammen mit Tista darin<br />

schlafen sollte, hätte es gern nach rechts, direkt neben die Tür gestellt. Jean-Baptiste wollte es unbedingt<br />

vorn unter dem Fenster haben.<br />

„Es sieht besser aus, Herr . . . hm . . .“ sagte er schon zum drittenmal.<br />

„Seppe!“<br />

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„Herr Seppe! Wirklich, das ganze Zimmer wirkt doch freundlicher dadurch!“<br />

„Aber da am Fenster zieht es doch, Mann!“<br />

„Ich bitte Sie. In dieser Jahreszeit!“<br />

Seppe gab nach. Im Grunde war es ihm völlig einerlei, wo sein Bett stand. „Also schön. Bloß an den<br />

Schrank können wir nicht mehr ran.“<br />

Die ganze rechte Wand wurde von einem bis an die Decke reichenden dunkelbraunen Bücherschrank<br />

eingenommen.<br />

„Ihre Sachen müssen Sie ohnehin auf dem Flur im Wandschrank unterbringen, denn das ist ein<br />

Bücherschrank. Lesen werden Sie doch wohl kaum, wie?“<br />

„Kommt darauf an“, meinte Maurice und öffnete die Türen.<br />

„Wertvolle Sachen!“ stellte er fest, nahm ein ledergebundenes Buch heraus und blätterte darin.<br />

„Der alte Graf war ein leidenschaftlicher Bibliophile“, äußerte Jean-Baptiste mit betontem Stolz.<br />

„Was hat dem Grafen gefehlt? Woran ist er gestorben?“ fragte André.<br />

„Bibliophile war der, Bücherliebhaber! Von gestorben ist keine Rede.“ Maurice stellte den Band wieder<br />

ein.<br />

„Doch“, sagte der Diener, „der alte Graf ist tot. Leider!“ Er seufzte leise.<br />

„Und dann hat Baharoff das Schloss gekauft?“<br />

„Kurz vorher, Herr Dupont!“<br />

Maurice hatte den Eindruck, als trauere Jean-Baptiste immer noch um seinen früheren Herrn. Oder was<br />

besagte dieses Zucken um die Mundwinkel sonst?<br />

„Es hat Ihnen sicher leid getan, als dieses Haus, in dem Sie so lange tätig waren, in fremde Hände<br />

überging, nicht wahr?“<br />

Der Alte blickte zu Boden, seine Augen zwinkerten nervös. „Natürlich, Herr Dupont, man hängt an<br />

seiner Herrschaft. Doch — Monsieur Baharoff ist sehr gut zu mir. Ich verdiene sogar mehr als früher.“<br />

Sein Gesicht, das eben noch eine Spur von Trauer gezeigt hatte, wurde wieder zur höflichnichtssagenden<br />

Maske.<br />

Maurice bedauerte, seine Frage gestellt zu haben. Wahrscheinlich hatte er, ohne es zu wollen, einen<br />

wunden Punkt berührt. Bevor er jedoch, um das Thema zu wechseln, eine belanglose Frage stellen<br />

konnte, sagte Jean-Baptiste: „Monsieur Dupont, Sie und Ihre Freunde waren so liebenswürdig, mir die<br />

schwere Arbeit des Umräumens abzunehmen. Hm — darf ich Ihnen dafür einen gutgemeinten Rat<br />

geben?“<br />

Maurice nickte. René knurrte: „Schieß los, Opa!“<br />

Jean-Baptistes Gesicht bekam einen ängstlichen Zug. Geheimnisvoll flüsterte er: „Ich möchte Sie<br />

warnen, meine Herren! Vor dem Spuk! Sie versuchen Unmögliches und ahnen nicht, in welche Gefahr<br />

Sie sich begeben. Manch einer hat schon durch den Spuk körperliche Schäden davongetragen. Vorige<br />

Woche erst flog Gaston ein ganzes Kaffeegeschirr an den Kopf. Er hatte es gewagt, sich abfällig über<br />

die Spukerscheinung zu äußern!“<br />

Prüfend blickte er den Jungen in die Augen. Seine Worte hatten nur auf Filou Eindruck gemacht.<br />

„Sie sind ja nicht die ersten, die sich an dieser wahnwitzigen Aufgabe versuchen“, fuhr er eindringlich<br />

fort. „Welch eine Idee, einen Spuk beseitigen zu wollen! Kann man einen Geist abstellen wie eine<br />

schadhafte Wasserleitung? Ich bitte Sie allen Ernstes! Kein Wunder, dass bisher noch jeder Versuch<br />

gescheitert ist. Die meisten Ihrer Vorgänger musste Monsieur Baharoff ins Sanatorium schicken.<br />

Nervenzusammenbruch! Sogar dieser wirklich hartgesottene Amerikaner gab endlich auf, nachdem drei<br />

der größten Blumenvasen des Hauses an seinem Kopf zerschellt waren.“<br />

„Sie meinen es sicher gut mit uns, Herr Jean-Baptiste“, begann André ein wenig herablassend.<br />

„Sagen Sie nur Jean-Baptiste, Herr Bourian, das gehört sich so.“<br />

„Und zu mir können Sie ruhig André sagen, ich bin an den Namen gewöhnt. Also, was wollte ich gleich<br />

sagen! Aha: vielen Dank für Ihren Rat, bester Jean-Baptiste. Solange der Spuk jedoch nur mit Porzellan<br />

um sich schleudert, geht es quasi gewissermaßen noch. Wir haben harte Köpfe.“<br />

„Wasserköpfe zum Teil!“ warf René ein, der sich immer noch nicht ganz beruhigt hatte. André war<br />

vornehm genug, den Einwand zu überhören. Zumindest tat er so. Maurice blickte die Reihe seiner<br />

Freunde entlang und meinte gelassen: „Wir sind auf alles gefasst und allerlei Kummer gewöhnt. Und<br />

Mut haben wir auch, nicht wahr, Jungens?“<br />

„Massenhaft!“ protzte René. „Der Spuk soll sich wundern.“<br />

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Sie lächelten verächtlich im Vertrauen auf ihr dickes Fell. Es müsste schon sehr hart kommen, um sie in<br />

die Flucht zu schlagen.<br />

„Außerdem tut uns Monsieur Baharoff leid“, salbaderte André geschwollen. „So ein netter Mensch, dem<br />

muss man doch helfen!“<br />

Jean-Baptistes Gesicht wurde wieder zur Maske.<br />

„Wenn Sie meinen“, sagte er und entfernte sich.<br />

Die Jungen ließen sich auf die Betten fallen und nahmen die verschiedensten malerischen Stellungen<br />

ein. Seppe langte seine Gitarre vom Tisch und klimperte einen Schlager; die meisten summten mit.<br />

Draußen ging die Sonne unter, die Hitze ließ nach. Alle Farben der Landschaft glühten von innen her<br />

auf: Die blaue Stunde begann. Seppe spielte die ersten Takte eines italienischen Volksliedes, und ohne<br />

sich darüber verständigt zu haben, begannen die Palottis zu singen. Beide glockenrein und klangvoll,<br />

Seppe etwas schmalzig, die Übergänge dehnend, Tista gelegentlich schnaufend, weil es mit dem Atem<br />

noch nicht langte, aber dennoch wunderschön. Die andern schwiegen, sie hörten die beiden gern.<br />

Maurice war der einzige, der den Gesang als störend empfand: er dachte nämlich nach. Seitdem er seine<br />

Verantwortung als Anführer der Jungen erkannt hatte, kam das häufiger vor, als ihm eigentlich lieb war.<br />

Da sitzen sie nun, lassen sich von der Abendstimmung wegtragen und singen. Kein Mensch macht sich<br />

Gedanken über unsere Aufgabe. Das überlassen sie natürlich mir. Geht aber nicht. Das Lied war zu<br />

Ende.<br />

„Tut mir leid, Jungens, dass ich euch stören muss, aber wir müssen uns unbedingt mal über den Spuk<br />

unterhalten. Die Preisfrage lautet: Wer vertreibt einen Spuk? Was denkt ihr darüber?“<br />

„Was soll man darüber denken?“ knarrte René unwillig. „Spuk ist Quatsch!“<br />

„Ja, mit dem Ausdruck bist du schnell bei der Hand. Bei dir ist alles Quatsch, was nicht nach Mist oder<br />

nach Benzin riecht. Sei nicht so engstirnig, René! Versuch mal, dich in so manchen ‚Quatsch’<br />

hineinzuversetzen, vielleicht ist es dann plötzlich kein ‚Quatsch’ mehr.“<br />

René wurde rot und fuhr sich mit der Hand über die Borsten.<br />

„Was meinst du, André?“<br />

„Ich meine, dass wir ihn fangen müssen!“ posaunte der forsch und blickte beifallheischend in die Runde.<br />

„Allein schon wegen dem Geld!“<br />

„Auch nicht gerade sehr klug! Jedenfalls bist du der Meinung, dass man einen Spuk fangen kann. Nun,<br />

sehen wir zunächst mal weiter. — Pipin?“<br />

Der Gelbe nahm einen Anlauf: „Ja, weißt du, es ist ganz komisch: mir ist gar nicht wohl zumute mit<br />

diesem Spuk, irgendwas stimmt da nicht. Ich denke an das, was Baharoff und der Diener erzählt haben.<br />

Ich hab‘ so das Gefühl, da steckt was hinter. Kann mich natürlich auch irren. Das mit den<br />

Kragenknöpfen zum Beispiel, ist das wirklich Spuk?“<br />

„Wirklich Spuk? Was soll‘s denn sonst sein?“ entrüstete sich André. „Ich kenne das Leben und. . .“<br />

„Das wissen wir“, unterbrach ihn Maurice, und zu Pipin gewandt, fuhr er fort: „Du traust einem Spuk so<br />

was nicht zu? Hm, kommt darauf an, was man unter Spuk versteht. Weißt du, es gibt die tollsten Sachen,<br />

die alle unter Umständen Spuk sein können. An richtige <strong>Gespenster</strong> glaube ich natürlich auch nicht, aber<br />

ich glaube auch nicht mehr, dass in diesem Haus bloß ein paar Dachpfannen wackeln. Vielleicht ist einer<br />

von den Bewohnern mondsüchtig und ahnt es nicht. Vielleicht Baharoff selbst, vielleicht Jean-Baptiste.<br />

Außerdem gibt es Orte und Häuser, die sind so stark geladen mit einer seltsamen Stimmung, dass sie in<br />

allen Menschen, die dafür empfänglich sind, bestimmte Vorstellungen erzeugen. Die Leute glauben<br />

dann, sie hätten dies oder jenes wirklich erlebt. Tatsächlich ist nichts Derartiges geschehen. Ihr wisst<br />

doch alle, dass indische Fakire es fertig bringen, einer beliebig großen Menschenmenge weiszumachen,<br />

vor ihren Augen wüchse ein Mangobaum. Das ist so was Ähnliches.“<br />

„Mir kann man nichts weismachen“, knurrte René. „Außerdem meine ich, wir sollten uns erst mal die<br />

ganze Bude zeigen lassen.“<br />

„Endlich ein vernünftiges Wort, René! Gut: morgen werden wir uns das Gebäude zeigen lassen, vom<br />

Keller bis zum Dachboden. Wir machen uns mit jedem Winkel vertraut, das ist die Grundlage.“<br />

„Ja, und ich meine, das Weitere könnten wir dann überlegen, wenn wir den Spuk richtig erlebt haben. So<br />

ins Blaue lässt sich nichts unternehmen.“ Einmal angestoßen, war René nicht mehr zu stoppen.<br />

„Schön, warten wir ab. Punkt zwei wäre also: Erfahrung sammeln. Mehr wollte ich nicht von euch, ihr<br />

faulen Fische! Ihr sollt mitdenken und mitüberlegen! Dabei kommt bekanntermaßen mehr raus, als wenn<br />

nur einer seinen Kopf anstrengt. Übrigens: Filou und Seppe haben noch nichts gesagt!“<br />

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„Ich weiß gar nix!“ murmelte der Schwarze und lächelte schüchtern. Er hatte mal wieder an Stinker<br />

denken müssen.<br />

„Du hättest mich gleich fragen sollen“, protzte der König der Diebe, „ich hab‘ sofort gewusst, was hier<br />

zu tun ist!“ Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber André plusterte sich mal wieder auf.<br />

Baharoff erwies seinen künftigen Befreiern die Ehre, mit ihnen zu Abend zu speisen. Einigen schmeckte<br />

es absolut nicht. Baharoff zum Beispiel, weil er mit Schrecken an die kommende Nacht dachte.<br />

André schmeckte es nicht, weil er zwar den „Guten Ton“ auf den Knien, aber nicht im Kopf hatte. Er<br />

fürchtete ständig, sich zu blamieren, und warf scheue Blicke zu Maurice hinüber, um sich nach ihm zu<br />

richten. Dennoch verpasste er kaum eine Möglichkeit, Unsinn anzustellen. Als er die Suppe aus der<br />

Silbertasse in den Kompottteller gießen wollte, wurde es Jean-Baptiste zu bunt. Mit kurzen, aber<br />

bestimmten Erklärungen wies er den Jungen zurecht:<br />

„Vorspeise isst man von diesem Teller hier! — Nehmen Sie doch nicht so viel, es kommen ja noch fünf<br />

Gänge!“ Oder, beim Weineinschenken: „Das andere Glas, bitte!“<br />

„Du“, flüsterte André seinem Nachbarn Maurice zu, „der Mestize wird frech!“<br />

„Mestize? Mestizen sind Mischlinge. Meintest du Domestike? Freu dich, dass er dir das Vornehmsein<br />

schneller beibringt als dein ‚Guter Ton’. Es ist übrigens keine Schande, wenn man mit den<br />

verschiedenen Tellern, Bestecken und Gläsern nicht zurechtkommt. Das kann nicht jeder, aber jeder<br />

kann den Mut haben zu fragen. Wirkt immer besser, als wenn man sich so lächerlich benimmt wie du.“<br />

André verging der Appetit vollends.<br />

René stemmte beide Ellbogen auf den Tisch. Ihm schmeckte es, das hörte man. Seppe futterte, dass die<br />

Fetzen flogen. Pipin aß genießerisch langsam und hätte sich am liebsten gleich nach dem Rezept für die<br />

köstliche Sahnesoße erkundigt. Tista hatte anfangs einige Schwierigkeiten. Man hatte ihm ein silbernes<br />

Schieberchen gedeckt, ein ihm völlig unbekanntes Gerät. Dreimal versuchte er, den Brei, den Seppe ihm<br />

zurechtgemacht hatte, daraufzuladen, dreimal rutschte der leckere Mischmasch wieder runter, ganz<br />

gleich, wie man das merkwürdige Ding auch hielt. Da gab er es auf und nahm den Dessertlöffel. Aber<br />

mit Befriedigung stellte er fest, dass der Schieber wie geschaffen war, entlegenere Körperstellen damit<br />

zu kratzen.<br />

Filou bedrückte der vornehme Speisesaal, die kunstvoll geschmückte Tafel, das lautlose Hantieren des<br />

Dieners. Auch machte ihm sein verdorbener Magen zu schaffen. Wie im Ambassadeur rollte er zwei<br />

Scheiben Ochsenzunge zusammen, pappte Weißbrot drumherum und schob das Ganze in den Mund.<br />

Geistesabwesend kaute er.<br />

Da brachte Jean-Baptiste eine Platte herein, die mit geschnittenen Tomaten garniert war. Filou bekam<br />

Stielaugen, sein Gesicht wurde grau, er würgte.<br />

„Tom. . .“, keuchte er, hielt sich die Hand vor den Mund und verließ fluchtartig den Raum.<br />

„Mann, bin ich müde!“ René gähnte wohlig satt. „War ‘n prima Futter, wie? Aber jetzt rinn in die<br />

Falle!“ Während er sich auszog, brummte er: „Morgen zeigt er uns die Bude, na schön. Morgen beginnt<br />

also unser Dienst. Heute wär‘ ich auch zu müde, hu-ha!“<br />

Maurice gähnte ebenfalls.<br />

„Und wenn es in dieser Nacht schon spuken sollte? Wäre es nicht besser, wir stellten heute schon Posten<br />

auf?“ Gleichzeitig dachte er: hoffentlich sind sie genauso müde wie ich und sagen nein.<br />

„Ach Quatsch!“ tönte René großspurig. „Lass ‘n spuken soviel er will. Ich muss erst mal ‘ne tüchtige<br />

Strophe schlafen.“ Seufzend rollte er sich in die weichen Kissen.<br />

Zehn Minuten später waren die Bewohner des Gelben und des Blauen Zimmers eingeschlafen.<br />

Was ist los? Wo bin ich? Filou fuhr hoch. Ach so, das Schloss. Was hab‘ ich denn bloß gehört? Oder<br />

war das mein Magen? Der grollt und knurrt immer noch. Kein Wunder. Das bisschen, was ich gegessen<br />

hab‘, musste ich ja wieder ausspucken. Wegen der Tomaten. Brrr, Tomaten!<br />

Er schüttelte sich.<br />

Da! Was war das? Er horchte angespannt.<br />

War da nicht irgendwas? Oder? Man kann sich auch täuschen.<br />

René sägte Brennholz für eine ganze Woche. Es war so tröstlich, ihn schnarchen zu hören. Tista pustete<br />

leise und bildete mit Sasu ein unentwirrbares Knäuel. Obgleich das Bett zweischläfrig war, hatte Seppe<br />

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sich aus alter Gewohnheit ganz auf die Kante gelegt. Seine schwarzen Locken glänzten ölig im<br />

Mondlicht. Im Schlaf umklammerte er das Kopfkissen, als wollte er sich nie wieder davon trennen.<br />

Durch die offene Verbindungstür hörte Filou die andern Jungen schnaufen. Warum konnte er nicht<br />

schlafen?<br />

Langsam wanderte die silbergraue Bahn des Mondlichts, ließ Seppes Bettzeug kalkweiß aufleuchten,<br />

malte lange, gelbe Streifen auf den Fußboden. In grauer Dämmerung lag das übrige Zimmer. Bis auf die<br />

Atemzüge der Schläfer war es ganz still. Ein kühler Lufthauch streifte Filou, er fröstelte.<br />

„Ah!“ Der Schwarze zuckte zusammen, als hätte er sich auf einen<br />

Nagel gesetzt.<br />

Neben der Tür stand eine weiße, phosphoreszierende Gestalt! Filou<br />

drückte die schwarze Faust zwischen die Zähne, einen Moment<br />

setzte sein Herz aus. Er wollte schreien, da breitete die weiße Gestalt<br />

die Hände ein wenig aus, und eine Serie von bläulichen Blitzen<br />

spritzte hin und her. Und jetzt brüllte der Spuk: „Ach Quatsch! Laß<br />

‘n spuken, soviel er will!“<br />

Mit Renés Stimme! Genau das hatte er gesagt! Ein fürchterliches,<br />

schrilles Gelächter folgte diesen Worten. Zähneklappernd<br />

verschwand der mutigste Mann Marseilles unter der Bettdecke und<br />

schrie um Hilfe. Doch keiner hörte ihn. Die andern schliefen, Filou<br />

war allein auf der Welt.<br />

„Maurice!“ schrie er in die Kissen. „Maurice!“<br />

Nicht lange, da wurde ihm die Steppdecke weggerissen, der Geist<br />

wandelte damit durchs Zimmer und warf sie aus dem offenen Fenster. Denn drehte er sich um, wieder<br />

ertönte überlaut Renés Stimme: „Ach Quatsch! Lass ‘n spuken, soviel er will!“<br />

Wieder flogen die elektrischen Funken, jetzt machte der Geist einen Buckel und kroch knurrend und<br />

drohend auf Filou zu. Halb wahnsinnig vor Angst, sprang Filou mit einem Riesensatz hinüber auf das<br />

andere Bett und landete unsanft auf Renés Bauch.<br />

„René!“ kreischte er. „René!“ und rüttelte ihn in wilder Verzweiflung.<br />

Schlaftrunken maulte René: „Mach, dass du wegkommst! Raus aus meiner Garage, los! Wo ist meine<br />

Decke? Gib mir meine Decke wieder, du Schuft!“<br />

„René! Der Spuk, René! René!“<br />

„Was ist? Spuk?“ René rieb sich die Augen. „Wo ist der Spuk?“ Der Spuk war weg.<br />

„Er war da, René! Ganz bestimmt! Ganz weiß, und — und die Knochen — die Knochen ham<br />

geleuchtet.“<br />

„Quatsch! Wo ist er denn?“<br />

„Jetzt is er weg, aber er hat unsere Decken aus‘n Fenster geschmissen, hat Funken geblitzt und mit deine<br />

Stimme gesprochen, furchtbar laut!“<br />

„So ‘n Unsinn, Mensch! Mit meiner Stimme! Ich hab‘ doch geschlafen, meine Stimme kann sich doch<br />

nicht selbständig machen!“<br />

René überzeugte sich davon, dass die Steppdecken tatsächlich auf dem Hof lagen. Und die aus dem<br />

Gelben Zimmer ebenfalls. Er gähnte heftig und taumelte vor Schlaftrunkenheit wie benommen.<br />

Mühselig versuchte er, seine Gedanken zu ordnen, schaltete angestrengt, aber die Gedankenkupplung<br />

versagte. Müde, ach so müde! Sein Atem ging flach wie der eines Schlafenden. Nur eines war ihm völlig<br />

klar: auf keinen Fall hole ich die Decken wieder! Auf keinen Fall!<br />

Im Schlaf tastete Seppe nach seiner verschwundenen Verpackung. Er war es gewöhnt, dass ihm<br />

irgendeiner seiner Brüder das Bettzeug wegriss, suchte es automatisch hinter sich. Doch dieses Mal war<br />

Tista völlig unschuldig. Wärmesuchend schmiegte sich der Kleine noch enger an Sasu. Seppe zog ihm<br />

das Kopfkissen fort, deckte ihn damit zu und wickelte sich selbst in den Bettvorleger. Was Besseres fiel<br />

seinem dämmrigen Gehirn nicht ein.<br />

Filou versuchte Maurice zu wecken. Auch der war so schläfrig, dass er selbst durch starkes Rütteln nicht<br />

völlig wach wurde. „Komisch“, murmelte der Schwarze, „die Kerle schlafen wie die Säcke!“<br />

Was nun passierte, drang sogar in Renés schlafvernebelte Sinne: ein fürchterliches Geschrei, als würde<br />

ein Mensch grausam gequält. Sofort danach brüllte es ganz laut, anscheinend auf dem Korridor:<br />

„Und Mut haben wir auch, was, Jungens?“<br />

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Mit Maurices Stimme!<br />

„Massenhaft! Der Spuk soll sich wundern!“ Das mit Renés Stimme! Ein schreckliches Hohngelächter<br />

folgte. Dann war es still.<br />

René war für einen Moment hellwach. Der Schwarze hatte also doch keinen Blödsinn geredet.<br />

„Affenkram“, fauchte er und taumelte in das Gelbe Zimmer. „Was sagst du dazu, Maurice?“<br />

Der brummte vor sich hin und drehte sich auf die andere Seite. René wickelte sich in das Bettlaken und<br />

schlief wieder ein. Wenig später wurde er unsanft geweckt: durch eine schallende Ohrfeige.<br />

Beim Frühstück am nächsten Morgen erzählte Filou von der schaurigen Begegnung mit dem<br />

blitzsprühenden Spuk. Die bloße Erinnerung genügte, um sein Gesicht grau werden zu lassen. René saß<br />

mit finsterer Miene dabei, auf seiner rechten Backe glühten vier rote Streifen.<br />

Maurice konnte sich an nichts erinnern und machte sich daher über Filou lustig. Er wollte verhindern,<br />

dass der schwarze Angsthase die andern ansteckte.<br />

„Alles Einbildung!“ sagte er. „Lasst euch nicht bange machen. Filou hat schlecht geschlafen und<br />

phantasiert. Das kommt davon, wenn man so unmäßig Tomaten frisst!“<br />

„Red doch keinen Quatsch!“ fiel René böse knurrend ein. „Guck mal meine Backe an! Feuerrot! Der<br />

Geist schreibt vielleicht ‘ne saftige Handschrift, alles dran. Nee, nee, Filou hat recht. Ich hab ‘n zwar<br />

nicht gesehen, aber gespürt und gehört. Das Luder hat tatsächlich mit unseren Stimmen gebrüllt. ‚Und<br />

Mut haben wir auch, was, Jungens?’ Genau das, was du gesagt hast, mit deiner Stimme! Und dann hat er<br />

mit meiner Stimme geblökt: ‚Massenhaft! Der Spuk soll sich wundern!’ Hab‘ ich ja auch gesagt, glaub‘<br />

ich.“<br />

„Kerl, René! Du bist doch sonst ganz vernünftig, wie kannst du nur auf so was reinfallen? Mit unseren<br />

Stimmen! Du hast geträumt, weiter nichts. Das kommt daher, weil Baharoff so viel davon erzählt hat.“<br />

„Und meine Backe? Hat die vielleicht auch geträumt? Mann, der hat mir eine gezündet, dass die<br />

Karosserie wackelte! Wenn ich den kriege, der kann sich vorsehen! Heute nacht hab‘ ich ‘n Knüppel<br />

neben mir, und dann gibt‘s Saures!“<br />

„Haha! Du glaubst doch nicht etwa, dass man einen Geist verhauen kann, du Armleuchter!“ André<br />

beugte sich vor und lachte geringschätzig.<br />

„Geist oder was anderes, mir egal. Wer so feste Knochen hat“, brummte René und zeigte auf seine<br />

Backe, „dass man sie noch am anderen Morgen abgebildet sieht, auf dem kann man auch mit ‘nem<br />

Knüppel Harfe spielen. Ich bin zwar der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber schlagen lasse ich<br />

mich nicht!“<br />

André lachte wieder, doch Maurice fand Renés Überlegung durchaus folgerichtig. Pipin blickte den<br />

nachdenklich gewordenen <strong>Gespenster</strong>jägerchef an und meinte spöttisch:<br />

„Wohl so ‘ne Art Mangobaum, wie? Pure Einbildung?“<br />

„Nein, das nun gerade nicht. Maurice zog die Stirn kraus und stützte das Kinn in die Hand. „Zum<br />

Einbilden würde sich René bestimmt was anderes aussuchen als Ohrfeigen.“<br />

„Maurice, Maurice!“ Filou rutschte seit einigen Minuten unruhig auf dem Stuhl herum, weil ihm etwas<br />

eingefallen war, das er unbedingt loswerden wollte. „Maurice: die Decken! Glaups du, ich hap se<br />

rausgeschmissen? Nä!“<br />

„Richtig, Mensch, die Decken!“ fiel René ein. „Hat dieses Trampeltier von Spuk rausgeschmissen!“<br />

„Sag doch nicht immer so was! Du weißt doch, der hört alles!“ flehte Filou und rollte seine Augen<br />

angstvoll hin und her.<br />

„Lass ‘n ruhig hören! Ich hab‘ noch nie Angst gehabt und hab‘ auch jetzt keine. Meine Handschrift ist<br />

ebenfalls nicht von Pappe, das wird er schon merken.“<br />

André setzte sich in Positur und verschränkte die Arme.<br />

„Ich möchte mir erlauben, euch einen Vorschlag zu unterbreiten“, gackerte er.<br />

„Schieß los! Aber red endlich mal wie ‘n vernünftiger Mensch, dein dämliches Getue geht einem ja auf<br />

die Nerven.“<br />

„Erlaube mal!“ André zog die Augenbrauen empor und maß René von oben bis unten mit entrüsteten<br />

Blicken. „Ich bin der Meinung, dass ich nicht nur vernünftig, sondern auch gebildet rede. Doch von<br />

Bildung hast du ja keinen Schimmer, und deswegen ärgerst du dich darüber.“<br />

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„Ja, der Meinung bist du tatsächlich.“ Maurice verzog ein wenig den Mund und wandte sich an René:<br />

„Lass ihn um Himmels willen weiterreden, sonst sitzen wir beim Abendessen, und er hat seinen<br />

Vorschlag immer noch nicht ausgepackt. Los, André!“<br />

„Also, ich meine, wir sollten von heute an tagsüber schlafen und nachts wach bleiben!“ Triumphierend<br />

blickte er sich um. „Zwar glaube ich nicht, dass man ein Gespenst verprügeln kann, da es ja reellerweise<br />

nicht vorhanden ist. Aber vielleicht könnte man es besänftigen, und falls derartige Maßnahmen versagen<br />

sollten, müsste man es vertreiben.“<br />

„Filou, hast du nicht ‘n Onkel in Afrika, der Medizinmann ist? Schreib ihm ‘ne Postkarte, er soll sofort<br />

kommen! Wird dringend für ‘ne prunkvolle Geisterbeschwörung gebraucht.“<br />

Filous Beteuerung, er habe keinen Onkel in Afrika, ging im Gelichter der Jungen unter. Maurice<br />

schüttelte, halb belustigt, halb bekümmert über Andrés wildwuchernde Phantasie, den Kopf und fuhr<br />

fort: „So ein Unsinn, André! Wir sind doch keine Zauberer! Aber dein Vorschlag, wach zu bleiben, war<br />

schon ganz richtig.“<br />

„Hätte auch ‘n noch Dümmerer sagen können“, knurrte René. Gerade wollten die beiden Streithähne<br />

übereinander herfallen, da erschien Baharoff im Turmzimmer.<br />

„Ö — guten Morgen, ö — meine Herren! Wünsche guten Appetit! Nun, ö — Herr Dupont, was sagen<br />

Sie zu den Scherzen?“<br />

„Guten Morgen, Herr Baharoff!“ Seiner Rolle als <strong>Gespenster</strong>jägerchef getreu, setzte Maurice ein<br />

ernsthaftes Gesicht auf und tönte großspurig: „Ich habe mir die verschiedenen Berichte geben lassen und<br />

war gerade bei der Auswertung. Nun ja, ganz hübsch für den Anfang! Das muss man sagen. Doch wir<br />

lassen uns natürlich nicht aus der Ruhe bringen.“<br />

„Sehr gut! Sehr gut — Ö! Berichte — Ö! Sehr gut! Ich habe wieder eine entsetzliche Nacht hinter mir.<br />

Entsetzlich, entsetzlich — ö! Ich gehe nie vor zwei Uhr zu Bett — bis zwei ist es meistens besonders<br />

schlimm. So lange warte ich immer in meinem Arbeitszimmer, das glücklicherweise ziemlich<br />

schalldicht ist. Und wenn man wach ist, wirkt das Getöse glücklicherweise nicht ganz so<br />

nervenaufreibend. Ja — ö, was wollte ich sagen — ö? Sie sehen, ich bin bereits völlig konfus — ö! Ach<br />

ja! Stellen Sie sich vor, lieber Herr Dupont! Ich steige ins Bett und spüre irgendwas. Etwas Hartes! Ich<br />

steige wieder aus und schalte die Deckenbeleuchtung ein. Was sehe ich? Ö — entsetzlich!“<br />

„Na, ö — was denn?“ fragte Maurice und merkte nicht, dass Baharoffs Redeweise bereits auf ihn<br />

abzufärben begann.<br />

„Es ist entsetzlich und empörend zugleich: ich lag auf Kragenknöpfen! Meine berühmte Sammlung, von<br />

der man in Paris, in New York und Buenos Aires mit höchster Achtung spricht, fand ich in meinem Bett!<br />

Bitte, stellen Sie sich das vor! Ö — entsetzlich!“<br />

„Ö — entsetzlich“, echote Maurice.<br />

„Ich lese die Stücke sorgfältig auf und packe sie in ihre Etuis. Was sehe ich weiter?“<br />

„Nun?“<br />

„Zwei meiner originellsten Stücke, beide amerikanischer Herkunft, 20. Jahrhundert, das eine mit<br />

eingebautem Kreiselkompass, das andere mit elektrischem Blinkfeuer, befinden sich im Mundglas!<br />

Neben meinem Gebiss — ö! Unter Wasser! Entsetzlich!“<br />

„Wie gemein!“ sagte Maurice und konnte sich vor Lachen kaum halten. „Das ist wirklich ein herzloser<br />

Zug von diesem Gespenst! Wo Sie so an den teuren Sachen hängen.“<br />

André schnaubte sich die Nase, um Renés Prusten zu übertönen.<br />

„Es kommt noch schlimmer, Herr Dupont! Wo — ö, glauben Sie, finde ich den Rest?“ Der Dicke<br />

ächzte, seine linke Hand zitterte wie ein Lämmerschwanz, die rechte strich unruhig auf dem Eierkopf<br />

herum.<br />

„Nun?“<br />

„Im Nachttopf!“<br />

„Nein! Das ist ja unerhört!“ entrüstete sich Maurice und lief blau an, doch keineswegs vor Zorn. Andrés<br />

Schnauben klang wie die Trompeten von Jericho. Seppe war anscheinend ein Tier ins Auge geflogen, er<br />

rieb sich die Lider und wischte mit dem Taschentuch einige Tränen fort. Pipin kroch unter dem Tisch<br />

herum und tat, als ob er etwas suche. Filou hustete wie ein grippekranker Wolf. René weinte, seine<br />

Schultern zuckten stoßweise, Tränen liefen über sein Gesicht.<br />

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Nach dem Frühstück, eine Stunde später, zeigte ihnen Baharoff sämtliche Räume des Schlosses. Zuerst<br />

die im Mitteltrakt, dann die Turmräume nacheinander.<br />

Die Jungen sahen sich gehörig um und versuchten, sich die Lage der einzelnen Zimmer zu merken.<br />

Endlich standen sie auf dem vorkragenden Wehrgang des viereckigen Turmes, der fast zwei Meter breit<br />

war und um die ganze Spitze herumführte. Dahinter erst erhob sich das stumpfe, viereckige<br />

Schieferdach. Die Jungen drängten sich an die Brüstung, um einen Blick in die Gegend zu werfen, doch<br />

Maurice rief sie zusammen und sagte zu Baharoff:<br />

„Sie gestatten, Monsieur, dass wir erst ein wenig Hausorientierung treiben? Sonst nützt nämlich die<br />

ganze Führung nichts!“<br />

„Bitte — ö, bitte sehr!“<br />

„Wer kann mir beschreiben, wie die Räume liegen, die wir gesehen haben?“<br />

„Ich nicht, ist zu schwer“, meinte René.<br />

„Es sind quasi gewissermaßen sehr viel Zimmer, und . . .“<br />

„Ist gar nicht schwer“, sagte Maurice. „Die Halle ist der Mittelpunkt des Hauses, davon müsst ihr immer<br />

wieder ausgehen. Was liegt links neben der Halle, also in Richtung auf den viereckigen Turm, auf dem<br />

wir jetzt sind? — Na, André?“<br />

„Monsieurs Bibliothek!“<br />

„Richtig. Was folgt dann?“<br />

„Das kleine Arbeitszimmer mit den Ledertüren und dann das Schlafzimmer.“<br />

„Sehr gut. Seht ihr, das war das Erdgeschoß des Mitteltraktes. Und was liegt genau darüber? — René?“<br />

„In der ersten Etage? Na, unsere Buden doch!“<br />

„Wo genau?“<br />

„Das Blaue Zimmer hier direkt neben dem viereckigen Turm, daneben das Gelbe Zimmer, wo du drin<br />

schläfst. Und dann noch so ‘n paar Zimmer.“<br />

„Wieviel?“<br />

„Ich glaub‘ vier.“<br />

„Drei! Alle unbewohnt. Die fünf Zimmer der zweiten Etage ebenfalls.“<br />

„Richtig, Seppe Und was liegt neben dem letzten Fremdenzimmer?“<br />

„Der runde Turm da drüben!“<br />

„Gut, jetzt die Türme. Zuerst der viereckige. Welcher Raum liegt im Erdgeschoß?“<br />

„Der Speisesaal!“ scholl es im Sprechchor.<br />

„Das wissen alle, wie merkwürdig!“ Maurice lächelte. „Und darüber, im ersten Stock, liegt . . . ?“<br />

„Das Frühstückszimmer!“ Wieder ein Sprechchor. „Sieh mal an! — Und im dritten Stock?“ „So ‘ne Art<br />

Waffenkammer“, sagte Pipin. „Wird nicht benutzt.“ „Gut. Und im Erdgeschoß des runden Turmes?“<br />

„Musikzimmer! Die beiden andern darüber sind leer.“ „Gut, Seppe. Was ist hier im Anbau?“<br />

„Oben Küche, Vorratsraum und Dienerwohnungen, darunter...“<br />

René unterbrach Pipin und fuhr fort: „Garage!“ „Jetzt ist aber Filou mal dran! Wo gibt es Keller und wo<br />

nicht?“ „Nur unten, hier oben gar nich!“ bubbelte der Schwarze lachend. „Seit wann machst du Witze,<br />

Dicker?“ Maurice war sehr erstaunt. „Witze und Gläubiger kommen am besten unangemeldet“,<br />

entgegnete der Schwarze.<br />

„Nicht ungeschickt! Ist das ein Spruch von Oma?“<br />

„Ja! Die schimpft nich immer!“ nahm Filou das „Pulverfass“ in Schutz. „Also Kellers“, fuhr er sachlich<br />

werdend fort. „Unter die Türme sind welche und unter das Haus dazwischen. Unter die Karasche sind<br />

keine!“<br />

„Sehr gut! Vergesst bitte den Kram nicht, möglicherweise brauchen wir ihn. — So, jetzt ist die schöne<br />

Gegend an der Reihe.“<br />

„Ich finde die Aussicht in der Tat imposandig! Welch ein weitschweifiger Blick über das Meer! Und<br />

dann diese enorme Küste!“ André warf beide Arme in die Luft, verdrehte die Augen und flötete<br />

entzückt: „Ach, das ist ja hümmlisch schön!“<br />

René beugte sich zu Maurice vor, grinste und deutete mit dem Daumen auf André: „Soll‘n wir ‘n<br />

runterschmeißen?“<br />

„Bloß nicht! Der hat doch unser ganzes Geld am Busen treu geborgen! — Manchmal ist er wirklich<br />

widerlich, nicht wahr? Jetzt spielt er sich auf, weil Baharoff dabei ist. Man müsste ihm mal gründlich<br />

den Marsch blasen.“<br />

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Seppe hob Tista auf die Mauer und hielt ihn eisern fest. Filou trat in eine der zugemauerten<br />

Schießscharten, hievte schnaufend sein Schwergewicht in die Höhe und ließ die Augen rollen. Pipin<br />

stützte den Kopf in die Hände und blinzelte umher, die Schlitzaugen zu einem schmalen Spalt<br />

zusammengezogen.<br />

„Herr Baharoff, ist das Cannes dort drüben?“<br />

„Nein, das ist Antibes. Cannes ist nicht zu sehen von hier, ö —liegt in einer Bucht. Ganz hinten, das<br />

Weiße, das ist Nizza. Spätnachmittags und abends kann man sogar die Berge von Korsika erkennen.“<br />

René setzte sich auf die Brüstung und ließ die Beine baumeln.<br />

Er schaute überallhin, sein Kopf drehte sich wie eine<br />

Wetterfahne. „Was ist denn nun eigentlich Tolles hier zu<br />

sehen? Ich seh‘ nix!“<br />

Maurice stellte sich neben ihn. „Sehr, sehr viel, man muss nur<br />

richtig hingucken! Zum Beispiel der Himmel. Sieh doch mal:<br />

klar wie eine Glasglocke, völlig reines, wolkenloses Blau.<br />

Dann das Meer, auch blau, aber ganz anders, tiefer, satter im<br />

Ton. Und der Wind, der uns so angenehm um die Nase bläst,<br />

der spielt damit, zieht weiße Rippenmuster darüber, immer<br />

neue, immer andere — siehst du?“<br />

„Sicher seh‘ ich das! Sind ganz kleine Wellen.“<br />

„Hier an der Küste ändert sich die Farbe des Wassers, das<br />

Tintenblau wird immer lichter. Da liegen Felsen unter Wasser,<br />

da leuchtet es flaschengrün. Dort drüben ist eine Sandbank, da<br />

ist es hellgrün. Gefallen dir diese klaren Farben nicht?“<br />

„Doch, doch. Aber das ist wohl mehr was für Maler.“<br />

„Durchaus nicht. Jeder kann sich daran freuen, der offene<br />

Augen hat. Schau mal, dort links die Riff s: steil und strahlend<br />

weiß ragen sie aus dem Wasser. Ganz anders die Felsennase<br />

rechts: rostrot. Oben drauf, wie ein dicker Pelz, immergrünes,<br />

stacheliges Gestrüpp. Überall am Küstensaum entlang verstreut, hier, da und da, kleine Häuschen, weiß<br />

oder ockergelb. Schau mal, die ducken sich regelrecht in den Schatten der Palmen, Zypressen und<br />

Kiefern. Als ob sie Angst hätten vor den fast senkrecht runterschießenden Sonnenstrahlen!“<br />

„Mensch, du hast recht, sieht nett aus! Die Weinreben hier am Berg haben wieder ‘ne andere Farbe, so<br />

mehr nach Gelb. Wirkt toll, da unten, wo sie unter den Bäumen verschwinden. Richtig schön! Seh‘ ich<br />

eigentlich zum erstenmal. — Mensch! Mensch! Da unten fährt ‘n ganz neuer Ford! Das neueste Modell!<br />

Schick, wie?“<br />

Maurice lächelte. Trotz des neuen Ford-Modells. Vielleicht würde René in Zukunft einmal weniger<br />

„Quatsch“ sagen.<br />

André kam heran und fasste René an der Schulter: „Du! Du bist zwar mein Freund nicht, aber — naja!<br />

Hops nicht wegen eines dämlichen Autos so auf deiner Kehrseite rum, sonst liegst du unten! Komm<br />

lieber runter, ich geh‘ furchtbar ungern hinter ‘nem Leichenwagen her.“<br />

„Bist du krank? Du sprichst so vernünftig!“ René riss erstaunt die Augen auf. Was soll man von dem<br />

Kerl bloß halten, dachte er.<br />

„Ö — hm, öh!“ Baharoff brachte sich in Erinnerung. „Ö — ja, Sie werden verstehen, dass ich an Sankt<br />

Augustin hänge. Hier wollte ich in Ruhe arbeiten. Aber“ — er stieß ein gequältes Lachen hervor — „von<br />

Ruhe ist wirklich keine Rede! Sie sollen mir dazu verhelfen, ö — meine Herren!“ Er blickte zu<br />

Maurice hinüber, doch der hatte seine Worte nicht gehört. Der „Chef“ starrte mit trunkenen Augen in die<br />

Landschaft und genoss die glühenden Farben, vor deren Gewalt er die Augen einkniff. „Oha“, seufzte er.<br />

Kein Maler der Welt könnte das jemals einfangen.<br />

Baharoff wurde ungeduldig, seine rechte Pratze klatschte mehrmals auf das graubraune, von der Sonne<br />

durchwärmte Mauerwerk. „Ja — ö, Sankt Augustin ist wunderbar. Verschlingt allerdings eine Menge<br />

Geld, fortwährend ist irgendwas instand zu setzen. Aber es macht Eindruck auf meine Kunden, und das<br />

brauche ich. Ich brauche den Rahmen, weil er das Geschäft hebt. Früher hat Sankt Augustin nicht so<br />

großartig ausgesehen, ich habe erst etwas daraus gemacht. Der alte Graf hatte nicht einmal elektrisches<br />

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Licht, keine Wasserleitung, keinen Aufzug, überhaupt keinerlei Komfort. Rosen hat er gezüchtet, rund<br />

um das Haus herum.“ Lässig wies er mit der Hand über die Brüstung.<br />

„Ich habe das Zeug ausreißen lassen und Kakteen gepflanzt. Die tollsten Sachen, die es auf diesem<br />

Gebiet gibt! Müssen Sie sich mal ansehen. Es sind Sorten dabei, die habe ich aus Mexiko mit dem<br />

Flugzeug kommen lassen. Steht übrigens dran, auf kleinen Täfelchen. Ausgefallene Sachen: das zeugt<br />

von Reichtum, das macht Eindruck.“<br />

Maurice blickte auf das sauber abgezirkelte Prunkstück von Kakteensammlung herunter. Kalte Pracht,<br />

dachte er, lieblose Geldprotzerei. Er versuchte sich vorzustellen, wie zauberhaft die Hügelkuppe in der<br />

gräflichen Rosenzeit ausgesehen haben musste. Schade, der hat kein Gefühl; tauscht Schönheit gegen<br />

Rarität. Nun, hat eben nicht jeder. Sankt Augustin ist für ihn bloß Rahmen? Mehr nicht? Dann verdient<br />

er es nicht. Gewaltsam zwang er sich in seine Rolle zurück.<br />

„Ist das eine Ruine, am Ende des Küchengebäudes?“<br />

„Dieses runde Ding? Ö — ja, das ist der Rest eines Turms. Das Schloss hatte ursprünglich vier Flügel,<br />

die den offenen Innenhof umgaben. Sie verstehen, ö — nicht wahr? Drüben an der Küche ein runder<br />

Turm, dann wieder ein Mitteltrakt, genau wie dieser, der jetzt noch steht, dann wieder ein viereckiger<br />

Turm — der ist bis auf die Fundamente ganz verschwunden — und dann wieder ein Verbindungsbau<br />

dort zu dem Rundturm hinüber.“<br />

„Ja, man sieht noch ganz deutlich, wie das mal war. Es steht eigentlich nur noch die Hälfte der alten<br />

Anlage.“<br />

„Na, mir genügt‘s! Das halbe Schloss kostet mich schon gerade genug. Allein an Dachreparaturen<br />

könnte man arm werden.“<br />

„Wann sind denn die andern Teile zerstört worden?“<br />

„Ö — weiß ich nicht. Irgendwann im Mittelalter. Fragen Sie Jean-Baptiste, der hat die ganze Geschichte<br />

im Kopf. Die alte Burg war jedenfalls eine wichtige Festung, und das ist ja immer mit Ärger<br />

verbunden.“<br />

„Und was ist das, da unten, mitten im Hof?“<br />

„Der Brunnen. Ich habe ihn mit Brettern zudecken lassen. Der Graf hat ihn noch benutzt.“<br />

„Nettes Häuschen, da hinten am Abhang!“<br />

„Ja, ö — sehr nett. Das gehörte früher auch zum Schloss. Habe ich verkauft, sogar sehr günstig!“ Er rieb<br />

sich seine fleischigen Hände. „Da wohnt jetzt ein junger Mann, der eine Art Spielzeug herstellt.“<br />

Geringschätzig den Mund verziehend, fuhr er fort: „Hat ohne zu handeln bezahlt, was ich forderte.“<br />

Er hält alle für dumm, die er übers Ohr hauen kann, dachte Maurice.<br />

Das Häuschen auf dem Abhang, etwa hundertzwanzig Meter entfernt, war aus dem gleichen<br />

graubraunen Bruchstein gebaut wie das Schloss. Es sah sehr gepflegt und sauber aus. Der kleine Garten,<br />

der es umgab, war bis zu Baharoffs Drahtzaun mit hochstämmigen Zuchtrosen bepflanzt.<br />

„Ö — wünschen Sie noch irgendeine Auskunft? Mir wird es hier oben zu heiß.“<br />

Maurice drehte Baharoff sein schmales Gesicht zu. Er war nicht bei der Sache, das sah man deutlich.<br />

„Nein, ich glaube nicht.“ Er raffte sich zusammen. „Und wenn noch eine Frage . . .“<br />

Ungeduldig fiel ihm Baharoff ins Wort: „Ich stehe jederzeit zur Verfügung. Jean-Baptiste ebenfalls.“<br />

Dicke Schweißtropfen standen auf seiner weißen, fleischigen Stirn. Er wandte sich um und ging die<br />

ausgetretenen, engen Steinstufen hinunter. Die Jungen folgten ihm wortlos.<br />

Die Treppe führte auf den Flur des obersten Turmgeschosses. Baharoff drückte einen Knopf, der<br />

elektrische Aufzug summte herauf. Die Jungen benutzten die Treppe. Maurice marschierte als letzter,<br />

langsam und nachdenklich.<br />

André, der hinter Seppe herging, schob sich unbemerkt an dessen linke Seite, und mit den Worten „Was<br />

klappert denn da?“ griff er dem König der Diebe in die Hosentasche. Zwei silberne Kaffeelöffel kamen<br />

zum Vorschein.<br />

Klatsch! Andrés Handschrift war nicht von schlechten Eltern. Schmerzverzerrt rieb Seppe seine rechte<br />

Wange.<br />

„Hast du redlich verdient! Mann, du bringst uns ja in Verruf!“ Noch nie hatten die Jungen Maurice so<br />

wütend gesehen. Sonst hatte er doch immer gelacht, wenn Seppe was angestellt hatte! Wie seltsam.<br />

„Warum tust du das eigentlich? Warum musst du immer lange Finger machen?“<br />

Seppe probierte ein Lachen, um damit die Situation zu entspannen, gab es aber schnell auf. Keiner lachte<br />

mit, er hatte sie alle gegen sich. Schweigend blickte er vor sich hin.<br />

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„Du legst die Löffel auf den Anrichtetisch, unter Andrés Aufsicht. Diesmal sollst du mit ‘nem blauen<br />

Auge davonkommen, aber erwischen wir dich noch mal, prügeln wir dich aus dem Schloss hinaus, und<br />

du kannst sehen, wo du bleibst. Verstanden?“ Die andern nickten beifällig. Seppe blickte zu Boden,<br />

blutübergossen.<br />

„Was machen wir jetzt?“<br />

„Ich geh‘ zum Wagen, guck‘ mir mal die Kupplung gründlich an. Das muss man doch hinkriegen, dass<br />

der Karren besser zieht! An den ausgeleierten Zylindern kann‘s allein nicht liegen. — Zwei von euch<br />

könnten mitgehen; Wagen waschen!“<br />

„Ich geh‘ mit“, sagte Pipin sofort.<br />

„Na, noch einer? — Filou?“<br />

„Nein, Filou bleibt hier“, sagte Maurice.<br />

„Ich“, flüsterte Seppe. Reichlich belämmert, mit hängenden Schultern, schob er mit den beiden andern<br />

ab.<br />

„Was hast du vor, André?“<br />

„Sozusagen nichts Besonderes. Ich wollte etwas lesen.“<br />

„Bring doch bitte für mich einen Brief zur Post, ja?“<br />

„Recht gern, Maurice. Ich hege ohnehin die Absicht, mir Villeneuve anzusehen.“<br />

Im Gelben Zimmer gab Maurice ihm den Brief; interessiert schaute André auf die Adresse.<br />

„Marcel Dupont, ist das dein Vater?“ „Ja.“<br />

„Komisch.“<br />

„Du meinst, weil ich ihm lange Briefe schreibe, obgleich er mir kein Geld schickt? Ich find‘ das nicht<br />

komisch. Er meint es ja nicht böse, ganz im Gegenteil! Weißt du, das ist ein fanatischer Kaufmann, und<br />

im Grunde seines Herzens versteht er gar nicht, dass nicht alle Menschen Kaufleute sind. Dass er mir<br />

gegenüber — sagen wir mal: besonders kritisch ist, kann ich ihm nicht verdenken. Er glaubt, in mir wäre<br />

ein Kaufmann verborgen, bloß verdeckt durch den vorübergehenden Malerfimmel. Und den Kaufmann<br />

will er retten für seine Firma, die er sich in jahrzehntelanger Schufterei aufgebaut hat. Damit der Name<br />

Dupont, ‚nur echt mit dem großen D’, erhalten bleibt.“<br />

„Ziemlich Pech für ihn, wie?“<br />

„Allerdings, aber ich kann es nicht ändern. Eines Tages wird er das auch einsehen. Wenn er nämlich<br />

feststellt, dass ich was leiste. Denn vor Leistungen hat er, wie alle Leute, die selbst was auf die Beine<br />

gestellt haben, die allergrößte Hochachtung. Besonders, wenn man damit auch noch Geld verdient, und<br />

das hab‘ ich ernstlich vor.“<br />

Mensch, ich müsste an deiner Stelle sein, dachte André und machte sich auf den Weg.<br />

Maurice kramte einen Skizzenblock und einen dicken Bleistift hervor und sah Filou aufmunternd an:<br />

„Na, Dicker? Wie war das mit dem Lesen- und Schreibenlernen? Willst du immer noch?“<br />

„Jaa, gärn!“<br />

„Ist aber ein bisschen anstrengend!“<br />

„Macht nix, Maurice. Velleicht — velleicht bin ich aber zu dumm?“<br />

„Das wird sich ja herausstellen. Hol dir einen Stuhl und setz dich hier an den Tisch.“<br />

Schnaufend vor Eifer kam der Schwarze heran.<br />

„Pass mal auf, Filou: es gibt vierundzwanzig Buchstaben.“<br />

„Viernzwanzich Buchstam!“<br />

„Ja. Aus diesen vierundzwanzig Buchstaben werden alle Worte gemacht, die es gibt. Alle!“<br />

„Alle“, bestätigte Filou kopfnickend.<br />

„Wir lernen jetzt zuerst die leichten Buchstaben. Das ist ein >iouo< geworden! Aber du musst den Bleistift viel lockerer fassen und nicht<br />

so stark aufs Papier drücken. Komm, noch einmal! — Und nun kannst du‘s schon allein, mach mal<br />

genauso ein >o< wie dieses hier!“ Filou schob die Zunge zwischen die dicken Lippen und malte<br />

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keuchend, immer wieder auf den Musterbuchstaben blickend, ein etwas krummes, eiförmiges Gebilde.<br />

Maurice lobte ihn über den grünen Klee und forderte ihn zu weiteren Wiederholungen auf. Der<br />

Schwarze strahlte, schwitzte und malte.<br />

Während André den Berg hinunter nach Villeneuve ging, dachte er noch einmal: ich müsste an Maurices<br />

Stelle sein! Viel Geld haben, Ansehen genießen — wie kann man so etwas verschmähen? Sehr dumm<br />

von Maurice. Müht und schindet sich und wird vielleicht nie reich. Ganz selten, dass ein Maler viel Geld<br />

verdient. Als Kaufmann muss man auch schwer arbeiten, muss man auch tüchtig sein, ganz gewiss. Aber<br />

es gibt viel mehr reiche Kaufleute als reiche Maler. Kommt eben quasi gewissermaßen mehr dabei rum.<br />

Schon allein deswegen werde ich Kaufmann, langsam, aber sicher. Und das Geld, das Baharoff uns<br />

geben wird, wenn wir den Spuk gefangen haben, soll mich ein gutes Stück weiterbringen.<br />

Ohne rechts und links zu schauen, folgte er der Asphaltstraße und hing seinen Gedanken nach.<br />

Dreitausend Franken geteilt durch sechs, macht fünfhundert. Ganz hübsches Sümmchen! Dafür kaufe<br />

ich eine Karre, eine gebrauchte natürlich. Ich werde mal zu Katchourian in der Rue des Mauvestis<br />

gehen, der hat immer welche. Dann lass‘ ich mir Konzession geben. Und dann verkaufe ich Blumen. Ist<br />

besser als Obst, wird mehr dran verdient. Wenn man geschickt ist natürlich, denn das Risiko ist größer.<br />

Ich werd‘ schon aufpassen! Ich werd‘ morgens der erste sein auf dem Großmarkt. Ich werde als erster in<br />

die Stadt rennen und mir den besten Platz sichern. Meine Blumen sollen die schönsten und frischesten<br />

sein. Drei, vier Jahre, dann miete ich einen Laden. Zunächst in einer Nebenstraße, und dann....<br />

Glückstrahlend und plattfüßig latschte er weiter. Plötzlich rutschte er aus, überkugelte sich und blieb vor<br />

einem Drahtzaun liegen. Was ist denn nun? Was ist passiert? Er stand auf und bewegte Arme und Beine,<br />

Der Schrecken steckte ihm in allen Gliedern. Nein, glücklicherweise heil geblieben, nur die Schulter tut<br />

ein bisschen weh. Entgeistert blickte er sich um. „Ach so!“<br />

Die Straße hatte einen Knick gemacht, er war geradeaus weitergegangen und an der abschüssigen<br />

Böschung zu Fall gekommen. Was liegt denn da? Ach ja, der Brief! An Maurices Vater. Er nahm ihn auf<br />

und ging weiter.<br />

Eigentlich könnte ich meinem Vater auch mal schreiben. Hat schon lange von mir nichts gesehen und<br />

gehört. Viel zu lange. Ansichtskarte? Was soll ich denn schreiben, warum ich hier bin? Quasi<br />

gewissermaßen unmöglich, ihm den Grund meines Hierseins verständlich zu machen. Schriftlich<br />

wenigstens, mündlich ging‘s. Soll ich schreiben: geschäftlich? Das glaubt mir Vater nicht. Er ist so<br />

furchtbar genau und macht sich dann unnötige Gedanken. Oder: zum Vergnügen? Dann sagt er: ‚Schade<br />

um das Geld!’ Nein, besser nicht. Sobald wir wieder in Marseille sind, gehe ich mal hin und erzähle ihm<br />

alles.<br />

Bei den ersten Häusern von Villeneuve fragte er eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich her schob,<br />

nach dem Postamt.<br />

„Postamt? Nein, das gibt‘s hier nicht. Aber wenn Sie ein paar Minuten weitergehen, finden Sie auf der<br />

linken Seite eine kleine Wirtschaft. Da hängt ein Briefkasten. Und in der Wirtschaft können Sie<br />

Briefmarken kaufen.“<br />

Gerade als André in die Wirtschaft hineingehen wollte, öffnete sich die Tür, und heraus kam ein<br />

Betrunkener. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, mittelgroß und recht stämmig. Er trug eine<br />

blauleinene Arbeitshose und ein schmutziges, dunkelrotes Hemd.<br />

„Guck — guck mal da“, stammelte er, taumelte hin und her und rieb sich mit der Hand über das rote,<br />

verquollene Gesicht, dass man die Bartstoppeln rauschen hörte. Haltsuchend lehnte er sich gegen den<br />

Türrahmen und blickte André mit seinen glasigen Augen erstaunt an.<br />

„Guck mal an! Da-da kommt ja eine von d-den Marseiller Blüten, d-die der Alte sich geholt hat. Na —<br />

hick — kommt ihr gut zurecht mit Monsieur Baharoff? Hick. M-mit diesem Lumpen?“<br />

„Punaise!“ rief von drinnen eine wütende Stimme. „Mach, dass du nach Hause kommst!“<br />

„Ich g-gehe — hick — w-wann ich will! — Na, was sagt denn der gute B-Baharoff, hm? Ist er. . .“<br />

„Punaise, red keinen Blödsinn daher!“ Der Wirt erschien und gab dem Betrunkenen einen wütenden<br />

Schubs. „Hau endlich ab, oder du kriegst nie wieder bei mir einen Tropfen! — Hören Sie nicht auf den<br />

Mann“, wandte er sich an André „der ist stockbetrunken und weiß nicht, was er redet.“<br />

Punaise machte einige schwankende Schritte, dann drehte er sich um: „Ich w-weiß genau, was ich rede,<br />

jawoll! Aber ich d-darf ja nicht reden. D-darf nicht!“ Er schüttelte so heftig den Kopf, dass er ins<br />

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Schwanken geriet. Als er wieder einigermaßen sicher stand, hob er die Hand und zeigte zum Schloss<br />

hinauf: „V-von da oben könnt‘ ich ‘ne ganze Menge erzählen, a-aber ich darf nicht!“<br />

„Verschwinde! Geh zum Teufel!“ schrie der Wirt.<br />

„Bin sch-schon unterwegs!“<br />

André kaufte eine Marke und warf den Brief ein. Der Wirt versicherte ihm mehrmals, das Gerede des<br />

Betrunkenen sei völlig haltlos. Punaise habe früher auf dem Schloss als Verwalter gearbeitet, sei aber<br />

wegen Trunkenheit entlassen worden. Daher sein Zorn.<br />

André schlenderte noch ein wenig durch den Ort und machte sich dann auf den Rückweg. Unterwegs<br />

dachte er wieder an das, was er mit dem zu erwartenden Geld anfangen wollte, und legte sich einen<br />

genauen Plan zurecht. Überlegte, wieviel er für den Karren ausgeben wollte, wieviel für die ersten<br />

Blumen, wo er sich billige Blecheimer beschaffen könnte. Das Erlebnis vor der Wirtschaft hatte er<br />

bereits vergessen. Zufrieden mit sich selbst und seiner glücklichen Zukunft, trat er in das Gelbe Zimmer.<br />

„Ah, Maurice kümmert sich um die geistig Armen!“<br />

„Ja. Verhalt dich noch ‘n Moment ruhig, du bist gleich an der Reihe.“<br />

Verblüfft ließ sich André auf den nächsten Stuhl sinken. Ich? Gehöre ich denn auch zu denen? Einen<br />

Augenblick lang zweifelte er an seinen geistigen Reichtümern, dann sagte er sich: Maurice hat sich<br />

gewiss einen Scherz erlaubt. Er atmete auf und ging hinüber ins Blaue Zimmer, öffnete den<br />

Bücherschrank und begann zu kramen. Endlich fand er ein Buch, das ihm zusagte, setzte sich auf Renés<br />

Bett und las.<br />

Filou malte noch zwei Reihen „u“, dann hatte er die erste Unterrichtsstunde überstanden.<br />

„Schluss, Dicker! Hast du wirklich fein gemacht. Sollst mal sehen: in ganz kurzer Zeit kannst du lesen!“<br />

„Ja? Meinste?“<br />

„Sicher! Morgen früh machen wir weiter.“<br />

Filou schwitzte und strahlte. Er druckste und wollte sich bedanken, doch Maurice ließ es nicht dazu<br />

kommen: „Nun hau ab!“<br />

Stolz wie ein Spanier walzte der Schwarze hinaus. Maurice wischte sich den Schweiß von der Stirn.<br />

Strengt mächtig an, dachte er, hätte ich nie geglaubt. Also, das war die Unterstufe, jetzt die<br />

Fortgeschrittenen. Ich Riesenross hab‘ mir was eingebrockt! Er ging hinüber ins Blaue Zimmer.<br />

„Was liest du denn da?“<br />

André blätterte den Titel auf und zeigte ihn Maurice: „Untersuchungen über Interferenzen an<br />

schwingenden Festkörpern.“<br />

„Du hast ja ‘n Klaps, Mensch!“<br />

„Wieso? Ich bitte dich, Maurice! Das ist gewiss ein äußerst interessantes und lehrreiches Werk!“<br />

„Mag sein, für einen Physiker, aber nicht für dich! Davon verstehst du nicht die Bohne!“<br />

„Aber natürlich verstehe ich das, Maurice! Es befinden sich äußerst gebildete Worte darin.“<br />

„Ja, Worte! Da haben wir‘s schon: du verstehst einzelne Worte, aber nicht den Inhalt. Mann, das ist ein<br />

schwieriges, wissenschaftliches Buch, nur für Fachleute, das kannst du nicht verstehen! Lies doch<br />

Dinge, die du verstehen kannst, von denen du auch was hast! Was du da tust, ist Unsinn, glatte<br />

Zeitverschwendung.“<br />

André machte ein gekränktes Gesicht und schwieg. Maurice ließ sich seufzend auf Seppes Bett nieder.<br />

Unkraut jäten ist schwieriger als junge Bäume pflanzen, dachte er.<br />

„Was hast du denn bisher gelernt? Erzähl mal! Warst du in der Schule?“<br />

„Klar? Ich hab‘ sogar ein sehr gutes Abgangszeugnis.“<br />

„Schön. Und was hast du dann gemacht?“<br />

„Gearbeitet, wenn ich Zeit hatte gelesen. Du wirst es vielleicht nicht glauben: ich habe zu Hause eine<br />

Liste, auf der sind über dreihundert Bücher notiert, die ich bisher schon gelesen habe“, fuhr er, eifriger<br />

werdend, fort. „Die Liste habe ich deswegen gemacht, weil es vorgekommen war, dass ich ein Buch zum<br />

zweiten Mal las, ohne es gleich zu bemerken.“<br />

„So, so! Ein sehr schlechtes Zeichen! Du liest eben nicht richtig. Nun zieh nicht wieder ein Gesicht wie<br />

eine beleidigte Leberwurst! Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: ich will dir helfen. So, wie du<br />

es jetzt machst, wirst du nämlich nie zum Ziel kommen.“<br />

André zog erstaunt die Augenbrauen empor. Also doch geistig arm?<br />

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„Bücher liest man entweder gründlich, und dann behält man das Wesentliche, oder man liest sie<br />

überhaupt nicht. Das heißt also: man sucht sich das, was man lesen will, sorgfältig aus. Was interessiert<br />

dich denn eigentlich?“<br />

„Eigentlich — eigentlich alles. Weißt du, ich will Kaufmann werden, und da kann man doch nicht genug<br />

wissen.“<br />

„Stimmt. Aber was wird denn gerade ein Marseiller Kaufmann am dringendsten brauchen? Na?“<br />

„Sprachkenntnisse. Man müsste Italienisch und Englisch, vielleicht sogar Spanisch sprechen.“<br />

„Stimmt auffallend! Das kannst du am besten in der Abendschule lernen. Wenn du mal ein bisschen<br />

mehr verdienst, wirst du dir das leisten können. Und was wäre wohl das Nächstwichtigste?“<br />

„Ja, ich meine, man müsste ein bisschen von den Ländern wissen, mit denen Marseille hauptsächlich<br />

Handel treibt, nicht wahr?“<br />

„Richtig. Das wären also die übrigen Mittelmeerländer, Afrika und natürlich Nord- und Südamerika.“<br />

„Ganze Menge Zeug!“ André rieb sich verzweifelt das Kinn, auf dem sich der erste spärliche Bartwuchs<br />

zeigte.<br />

„Nicht so schwierig, wie‘s aussieht, wenn man‘s nur richtig anfasst! Wie macht man das, wenn man so<br />

einen Berg Stoff vor sich sieht? Man fängt beim Nächstliegenden an und bohrt sich allmählich weiter.<br />

Das heißt also in unserem Falle: du kaufst dir einen brauchbaren Atlas, dabei werde ich dir helfen. Und<br />

dann gehst du zur Stadtbücherei und bittest den Bibliothekar, er solle dir ein leicht fassliches<br />

Erdkundebuch über Italien geben. Und das arbeitest du an Hand des Atlas gründlich durch.“<br />

André war ganz Ohr, kein Wort entging ihm, man sah förmlich, wie sein Kopf arbeitete. Eine<br />

bedauernde Grimasse zuckte um seinen Mund: „Wird das nicht zu teuer? Die Bücherei, der Atlas?“<br />

„Nein. Wir kaufen einen gebrauchten Atlas, der kann nicht teuer sein, und ein Buch zu leihen kostet<br />

genauso viel wie einmal Schuhe putzen.“<br />

„Oh, dann geht‘s!“ André strahlte über beide Backen. „So werd‘ ich‘s machen. Maurice. Genau so! Ein<br />

Land nach dem andern auswendig lernen und nur noch Erdkundebücher lesen!“<br />

„Das ist auch wieder falsch! Es gibt noch viele andere Dinge, die auch zur Bildung gehören. Du kannst<br />

ruhig zwischendurch einen guten Roman lesen . . .“<br />

„Romane?“ unterbrach ihn André erstaunt. „Dergleichen habe ich bisher verabscheut. Daraus kann man<br />

doch nichts lernen, das ist doch alles nicht wahr!“<br />

„Darauf kommt‘s nicht an. Lies erst mal einen — ich werde dir mal ein paar gute aufschreiben —‚ und<br />

dann unterhalten wir uns darüber. Du wirst staunen, was man aus einem einzigen Roman lernen kann.<br />

Und weiß du: ein Lexikon ist nicht zum Auswendiglernen da, sondern zum Nachschlagen!“<br />

André wurde rot. Der hat es also gemerkt! Und ich war schon bei „D“, Dauerlauf bis Dynamo.<br />

Während Maurice noch sprach, wurde der Mittagsgong zum erstenmal angeschlagen. Wenig später<br />

lautes Getrampel auf dem Flur. Munter und dreckig strömten die andern zur Tür herein.<br />

Den ganzen Nachmittag verbrachten sie am Strand. Das Wasser war noch klarer, noch durchsichtiger als<br />

in Marseille. Bis zu zehn, zwölf Metern Tiefe konnte man jeden Felsbrocken, jeden Fisch und<br />

glücklicherweise jeden Seeigel genau erkennen. Seeigel sind nämlich gerngesehene Tiere! Die einen<br />

sehen sie gern, um nicht mit nackten Füßen in ihre Stacheln zu treten, denn das kann böse Entzündungen<br />

geben. Die andern sehen sie gern — um sie zu essen. René und Filou zum Beispiel suchten die<br />

Stacheltiere mit großem Eifer. Zu Dutzenden fingen sie die dunkelbraunen Meeresbewohner und setzten<br />

sie auf eine Steinplatte, von wo sie natürlich auszukneifen versuchten. Die Stacheln abwechselnd<br />

zusammenziehend und spreizend, marschierten sie seewärts, Geschwindigkeit etwa drei Meter in der<br />

Stunde. Damit konnten sie ihr Leben nicht retten, denn die beiden Jungen zückten nun ihre<br />

Taschenmesser.<br />

„Was macht ihr da?“ erkundigte sich Tista neugierig.<br />

„Die Seeigel haben sich heute morgen nicht rasiert, Tista! Und das geht doch nicht, Ordnung muss sein“,<br />

ulkte René und packte einen Seeigel vorsichtig bei den Stacheln. Tista riss den Mund auf und staunte,<br />

vergaß ganz das geliebte Nasenbohren.<br />

„Du machs den ja kaputt!“ empörte er sich, denn René schnitt das arme Stacheltier mitten entzwei.<br />

Vorsichtig hielt er die beiden Hälften waagerecht, um nichts von der weißlichen Flüssigkeit zu<br />

verschütten und um sich nicht zu stechen, schlürfte erst die eine Hälfte aus, in der ein brauner,<br />

dotterartiger Kern schwamm, und dann die andere, die nur Flüssigkeit enthielt.<br />

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„Hm!“ machte er genießerisch. „Willst du auch mal, Tista ?“<br />

Der Kleine nickte begierig. Er kostete — und verzog das Gesicht. „Bih!“ sagte er und spuckte. „Bih!“<br />

„Du weißt eben nicht, was gut schmeckt!“<br />

Aber er wusste, wie man Krebse fängt, von denen alle möglichen Abarten zwischen den Steinen<br />

herumflitzten. Er grapschte sie geschickt mit seiner ewig schwarzen Pfote, zerrte sie sogar aus ihren<br />

Verstecken hervor und setzte sie Filou auf die Badehose oder auf die dicken Beine.<br />

Der Schwarze, der auf dem Bauch lag und mit dem Finger immer neue Reihen „i“, „o“ und „u“ in den<br />

Sand malte, schrie jedes Mal jämmerlich auf, wenn er die ekelhaft kalten Tiere an sich herumkrabbeln<br />

fühlte. Er hatte eine unbezähmbare Furcht vor diesen seltsamen Vierfüßlern, die so rasend schnell<br />

seitwärts laufen konnten.<br />

Todmüde vom Schwimmen, Tauchen, Sonnenbaden, Buchstabenmalen, Krebsesuchen und<br />

Seeigelfangen, trabten sie zum Schloss zurück. Eigentlich hatten sie, nach Andrés Vorschlag, schlafen<br />

wollen, doch erstens war es windstill und daher selbst am Wasser viel zu heiß gewesen, und zweitens<br />

hatten sie die See so lang entbehrt, dass sie sich erst einmal gründlich austoben mussten. Diesmal aßen<br />

sie ohne Baharoff zu Abend, diesmal schmeckte es allen, dennoch aß Maurice zunächst wenig. Er sparte<br />

seinen Hunger für den Nachtisch: eisgekühlte Melonen mit Schlagsahne. Für Melonen hatte er nämlich<br />

eine erhebliche Schwäche.<br />

„War ja ganz ordentlich, Jean-Baptiste“, lobte René und schnallte seinen Gürtel drei Löcher weiter, „wie<br />

wär‘s für morgen denn mal mit ‚Bouillabaisse’ 2 , na?“<br />

„Aber gern, ich werde sofort den Koch verständigen!“<br />

Die Jungen gingen in die Halle, wo es immer am kühlsten war, um noch etwas zu trinken. Draußen gab<br />

jetzt der Boden die tagsüber aufgespeicherte Hitze ab.<br />

Faul und müde räkelten sie sich in den bequemen Lehnsesseln. Selbst André war träge. Er hatte ein<br />

Buch vor sich liegen — es war nicht mehr der „Gute Ton“, sondern ein italienischer Reiseführer, den<br />

Jean-Baptiste ihm aus den Beständen des seligen Grafen geliehen hatte —‚ aber er brachte es nicht<br />

fertig, mehr als zwei Seiten zu lesen. Dann begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen, und er<br />

kam trotz aller Anstrengungen nicht weiter. Er rieb sich die Augen und gähnte. Kurz darauf gähnten alle,<br />

denn die Gähnkrankheit ist ansteckend und greift schnell um sich. In wenigen Minuten nahm das<br />

Mundaufreißen und Japsen ungewöhnliche Formen an, steigerte sich zu einem mehrstimmigen Chor,<br />

wuchs sich aus zu einer Epidemie, an der sämtliche guten Vorsätze zuschanden wurden.<br />

Maurice blickte mit halbgeschlossenen Augen auf seine Armbanduhr. Seltsam, erst zehn nach neun!<br />

Und so maßlos schläfrig. Seltsam!<br />

„Kinder“, sagte er mühsam, „lasst uns nach oben gehen und pennen, bis der Spuk kommt. Hu-ah, wir<br />

legen uns angezogen aufs Bett, damit wir sofort eingreifen können.“<br />

Bald darauf hörte man aus dem Gelben und Blauen Zimmer mehrstimmiges Schnarchen und Schnaufen,<br />

natürlich wieder im Chor.<br />

Tista wurde plötzlich wach, weil Sasu sich kräftig bewegte. Er öffnete die Augen. Sasu stemmte die<br />

Vorderpfoten auf seine Brust, streckte den runden Kopf vor und lauschte in das mondbeschienene<br />

Zimmer hinein. Er folgte ihrem Blick, sah aber nichts. Irgend etwas musste es jedoch geben, was sie<br />

aufmerksam gemacht hatte.<br />

Sicha das Spuk, dachte er und fürchtete sich ein wenig.<br />

Da wurde der Katzenkörper mit einem Male ganz straff, ganz gespannter Muskel. Der Kleine hielt den<br />

Atem an. Ein leises, schlurfendes Geräusch, dann ein schwacher, kühler Luftzug. Vorsichtig drehte er<br />

den Kopf nach rechts zur Tür hinüber.<br />

Das Spuk! Wahaftig!<br />

Sofort entspannte sich der Tierkörper. Was dort stand, war weder Maus noch Ratte, noch Hund, also<br />

uninteressant für Sasu. Sie nahm ihre Pfoten von Tistas Brust und kuschelte sich wieder an ihn.<br />

Der Kleine hatte nun schon erheblich mehr Angst. Sasu spürte sein Zittern, unruhig rieb sie ihr langes,<br />

seidiges Fell an seiner schmalen Brust. Das Gespenst im Auge behaltend, versuchte er, seinen großen<br />

Bruder zu wecken. Vergebens, Seppe war nicht wach zu kriegen. Er wechselte nur den Schnarchton von<br />

Moll zu Dur.<br />

2<br />

Bouillabaisse: eine kräftige Fischsuppe, die an der ganzen Mittelmeerküste, besonders aber in Marseille, von arm und<br />

reich gern gegessen wird. Man verwendet dazu Fische, Fischreste aller Art und Langusten, und als Gewürze ölgedünsteten<br />

Lauch, Tomaten, Zitronen, Weil3wein, Lorbeerblatt, Petersilie, Fenchel, Nelke, manchmal auch Knoblauch.<br />

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Inzwischen hatte das Gespenst Filou und René die Decken weggerissen und aus dem Fenster geworfen.<br />

Jetzt schlich es lautlos zu Renés Bett zurück, drehte den tief und fest schlafenden Jungen in die<br />

günstigste Lage und haute ihm eine saftige Ohrfeige runter. René knurrte, rieb sich die Backe, wurde<br />

aber nicht einmal durch den Schlag völlig wach.<br />

Tista verhielt sich mucksmäuschenstill und beobachtete die furchterregende, phosphoreszierende Gestalt<br />

aus den Augenwinkeln. Jetzt kommen wia dan, dachte er und zitterte noch mehr. Unhörbar näherte sich<br />

das weiße Gespenst dem Bett, in dem Seppe schnarchte und Tista vor Angst bebte; jetzt streckte es<br />

langsam eine grünlich schimmernde Knochenhand aus. Tista glaubte, es ginge ihm an den Kragen, warf<br />

sich herum und brüllte wie besessen. Da griff Sasu ein! Sie sprang den Spuk mit einem mächtigen Satz<br />

an, gelbes Feuer sprühten ihre Augen, erbittert fauchend fiel sie mit ihren scharfen Krallen über den<br />

seltsamen Gegner her.<br />

Vor Katzen scheinen <strong>Gespenster</strong> Angst zu haben. Der Geist schrie erschrocken und flüchtete, unterwegs<br />

Sasu abschüttelnd.<br />

Weg is ea! Tista atmete auf. Mit einem weichen, eleganten Sprung kehrte Sasu zurück. Der Kleine<br />

drückte seine tapfere Freundin heftig an sich und streichelte sie zärtlich mit zitternden Fingern. „O<br />

Sasu“, murmelte er dankbar und wühlte seinen Kopf in das seidige Fell. „Sasu is so bav, Sasu gaakein<br />

Angst! O Sasu!“<br />

Lange blieb er nach diesem aufregenden Erlebnis wach. Er hörte den Geist noch an verschiedenen<br />

Stellen rumoren, aber ins Blaue Zimmer kam er nicht mehr. Trotz aller Aufregung schlief Tista doch<br />

endlich wieder ein. Sasu passte auf, beruhigte er sich, besser als Seppe.<br />

Überraschungen<br />

„Kinder, das ist eine tolle Blamage! Statt uns um den Spuk zu kümmern, schlafen wir wie die<br />

Murmeltiere! So geht das nun wirklich nicht weiter.“<br />

Ärgerlich schüttelte Maurice den Kopf. Ungewaschen und ungekämmt saßen die Jungen im Blauen<br />

Zimmer auf den Betten. Eben waren sie wach geworden, und sogleich hatte Tista sein nächtliches<br />

Abenteuer erzählt.<br />

„Mir hat er wieder eine geklebt, sagst du?“<br />

„Ijaha! Das Spuk hat dich sogaa um-umgedeht, und dann hat es gehauen, feste!“<br />

„Man sieht‘s, René, die rechte Backe ist wieder hübsch rot. Wie war das mit dem Knüppel?“<br />

„Mann, wenn ich doch wach geworden wär‘, der hätte was erleben können, das steht fest!“ Wütend rieb<br />

er seine rechte Wange.<br />

„Tista, hast du gesehen, wo das Gespenst herkam?“ „Gaanich!“<br />

„Wo ist es denn hin, als Sasu ihn gekratzt hatte?“<br />

„So wech!“ Der Kleine deutete unbestimmt in eine Richtung zwischen Tür und Bücherschrank.<br />

„Ist es durch die Tür gegangen?“<br />

„Nein!“ Das klang sehr überzeugt. „Auf einmal wa ea wech.“<br />

„Wie höchst merkwürdig!“ sagte André. „Doch andererseits auch wieder nicht. Geister können quasi<br />

gewissermaßen durch die Wand gehen. Schlimm ist nur, dass wir mal wieder nichts erreicht haben! Was<br />

sagen wir Monsieur Baharoff nur? Wie machen wir dem Ärmsten klar, dass wir noch immer nicht<br />

weitergekommen sind?“<br />

„Ach, das ist das wenigste. Wir müssen eben zunächst Erfahrungen sammeln, dafür wird er Verständnis<br />

haben. Und das geht nicht von heute auf morgen. Nein, merkwürdig ist was anderes.“<br />

„Na, was?“<br />

„Als der Geist vorige Nacht hier im Zimmer war, hat er auch Seppe und Tista die Decke weggerissen,<br />

aber die Katze hat sich nichtgerührt! Wie kommt das?“<br />

„Vielleicht wäre dieses dermaßen zu erklären, dass Tista nicht wach wurde, demgemäss auch keine<br />

Angst hatte. Da war ihr die Geschichte gleichgültig.“<br />

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„Möglich, André, möglich! Doch warum wird immer nur einer von uns wach? In der vorigen Nacht<br />

Filou, letzte Nacht Tista. Und wir andern schlafen so fest, dass wir selbst durch Rütteln und Ohrfeigen<br />

nicht zu wecken sind. Da stimmt doch was nicht!“<br />

Später, im Waschraum, klagte Filou über Kopfschmerzen. Er zog einen Flunsch und rieb sich die<br />

fleischige Stirn: „Hier tut‘s mich weh! Hap ich doch nie gehapp!“<br />

„Nun, ich kann auch wohl ohne Übertreibung behaupten, dass ich mich ein wenig benommen fühle“,<br />

quengelte André „mir ist so nebelhaft zumute!“<br />

„Mit andern Worten: du hast ‘ne Mattscheibe“, rief René zwischen Prusten und Abspülen herüber.<br />

„Aber das ist ja nichts Neues.“<br />

Maurice, der sich gerade abtrocknete, hielt plötzlich inne und pfiff durch die Zähne. „Sieh mal an! Dann<br />

könnte der Gedanke, der mir vorhin schon kam, doch nicht ganz abwegig sein. Normalerweise schläft<br />

man nämlich nicht so fest wie wir in den letzten Nächten. So schläft man nur, wenn man starke<br />

Schlafmittel eingenommen hat!“<br />

„Schlafmittel?“<br />

„Ja! Filous Kopfschmerzen und Andrés Mattscheibe bestärken mich in dieser Annahme.“ Er rieb sich<br />

schnell trocken und legte sich das Handtuch zusammengerollt um den Hals.<br />

„Passt mal auf: gestern nacht wurde Filou wach. Er hatte nur wenig gegessen oder sogar rückwärts<br />

gegessen. Und gerade er wurde wach! Um die Möglichkeit auszuschalten, dass wieder einer von uns<br />

nicht mitaß, hat man gestern Abend das Zeug in den Rotwein getan. In der berechtigten Annahme:<br />

Durst werden sie alle haben! Tista bekam von Seppe ein Gemisch zurechtgemacht, das aus sehr wenig<br />

Wein und viel Mineralwasser bestand. Tista bekam also nur eine geringe Menge Schlafpulver mit<br />

und wurde wach. In der Nacht vorher dagegen hat er tief und fest geschlafen, samt Sasu, die er von<br />

seinem Teller gefüttert hatte.“<br />

„Aber, aber, Maurice!“ André lächelte geringschätzig und ließ den Wasserkopf pendeln wie eine Boje<br />

im Sturm. „Seit wann arbeiten Geister mit Schlafmitteln? Dergleichen Unsinn glaubst du doch wohl<br />

selbst nicht! Was du da erzählt hast, ist beileibe noch kein Beweis, dass wir etwas intakt hatten.“<br />

„Intus!“ verbesserte Maurice, „soviel wie: innen oder im Leibe. Natürlich, ich kann meine Annahme<br />

nicht beweisen, aber sie hat so einiges für sich, das musst du zugeben. Falls sie stimmen sollte, dann hat<br />

das Spuken noch eine weit natürlichere Ursache, als ich annahm: dann steckt nämlich ein Mensch<br />

dahinter, der es absichtlich macht!“<br />

„Ganz meine Meinung, Maurice!“ bellte René. „Schlafmittel oder nicht: absichtlich, sage ich! Schon<br />

zum zweitenmal. Guck bloß meine Backe an! Der sogenannte Geist soll sich vorsehen! Wenn ich den<br />

erwische, den schlag ich bunt und blau.“<br />

„Erwischen: ein wahres Wort, René! Und um den Spuk zu erwischen, dürfen wir heute Abend nichts<br />

von dem essen und trinken, was man uns vorsetzen wird. Wir lassen uns Eier kochen und trinken<br />

Mineralwasser, damit kann man uns nicht bemogeln. Die Flaschen werden wir uns sogar selbst öffnen.“<br />

„Eier? Kommt nicht in Frage! Mann, ich hab‘ Bouillabaisse bestellt, glaubst du, die lass ich stehen und<br />

esse Eier? Nee, ich nicht! Ich esse Bouillabaisse, da bringen mich alle Spuks der Welt nicht von ab.“<br />

Ausgerechnet René, der die berühmte Fischsuppe in Marseille erst kennengelernt hatte, weigerte sich<br />

hartnäckig. Seine Mutter hatte niemals Bouillabaisse gekocht, daher war er anfangs nicht zu bewegen<br />

gewesen, das unbekannte Gericht zu essen. Spaßeshalber probierte er dann doch einmal: seitdem war<br />

und blieb Bouillabaisse sein Leibgericht. Und darauf sollte er nun verzichten?<br />

„René, du stellst unser ganzes Unternehmen in Frage und riskierst noch eine dritte Ohrfeige!“<br />

„Egal, Maurice! Morgen will ich hungern, wenn‘s sein muss, aber heute Abend ess‘ ich Suppe, das steht<br />

eisern fest! Hoffentlich tun sie tüchtig Knoblauch ‘rein, das mag ich gern.“<br />

Nach dem Frühstück sollte, wie nun schon üblich, gearbeitet werden.<br />

„Ich geh‘ wieder runter zum Wagen“, sagte René. „Zwei Mann müssen mir helfen, das Getriebe<br />

ausbauen und reinigen. Aber mal andere als gestern!“<br />

„Ich werde dir behilflich sein.“<br />

„Du?“ René musterte argwöhnisch seinen Widersacher André. „Meinetwegen. Den schwarzen Frack<br />

ziehst du aber aus, klar? In der Garage hängt ‘n alter Monteuranzug. — Hopp, noch einer!“<br />

„Ich“, sagte Maurice.<br />

„Nee, Quatsch, du nicht! So war das nicht gemeint.“ René wurde ein wenig rot und lächelte verlegen.<br />

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„Auf keinen Fall, Maurice!“ ereiferte sich André. „Nein, das gibt es nicht!“<br />

„Wieso denn, Mensch? Ich will mich nicht drücken!“<br />

„Ach, davon ist ja gar keine Rede!“ René wurde noch verlegener und fuhr sich wiederholt über die<br />

roten Borsten. Er wollte etwas sagen, fand aber die richtigen Worte nicht.<br />

„Ja, weißt du . . .“ setzte André an, kam aber auch nicht weiter, weil er es schwierig fand, das<br />

auszudrücken, was er fühlte und dachte.<br />

Für Maurice wurde die Sache durchaus nicht klarer, dass ihn André, René, Pipin und Seppe seltsam<br />

lächelnd ansahen, abwehrende Handbewegungen machten, die Köpfe schüttelten und alle zu gleicher<br />

Zeit auf ihn einredeten:<br />

„Nee, nee, lass nur!“ — „Ach wo, Mann! Nicht nötig!“ — „Das machen wir schon!“ — „Bleib du oben,<br />

ist besser!“<br />

Maurice dämmerte es jetzt, doch gerade deshalb fragte er betont lustig: „Hab‘ ich mich denn beim<br />

letzten Mal so dämlich angestellt, dass ich ganz unbrauchbar bin?“<br />

„Nein, nicht direkt dämlich, aber darum geht es ja nicht. Du ...“ René stockte schon wieder. Pipin<br />

machte eine leichte Kopfbewegung zu Filou hinüber und fuhr fort: „Du kannst hier was Besseres tun.“<br />

„Richtig! Das mein‘ ich auch!“ — „Stimmt! Ein Auto reinigen, das kann quasi gewissermaßen jeder,<br />

aber. . .“ „Was viel Besseres, kann man wohl sagen!“<br />

Maurice blickte den vier Jungen in die Augen. Noch nie hatte sich darin so offen so viel Zuneigung und<br />

Achtung gespiegelt. Die strahlen ja förmlich vor Gefühl, dachte er. Und es gilt mir, zum Donnerwetter!<br />

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Weshalb eigentlich? Weil ich mich um die beiden kümmere, die<br />

es am nötigsten haben? Weil ich mich um alles ein bisschen mehr kümmere? Er räusperte sich und<br />

schluckte heftig. Dann sagte er: „Schön, wenn ihr meint!“<br />

„Meinen wir!“ brummte René und boxte ihn freundschaftlich in die Seite.<br />

Jetzt werd nur nicht weich, Bursche, ermahnte Maurice sich selbst und blickte angespannt zum Fenster<br />

hinaus. Was hab‘ ich denn schon getan? Keine Heldentat, die ich mir hoch anrechnen könnte, gewiss<br />

nicht. War eigentlich ganz selbstverständlich. Man kann doch nicht Jungen wie Filou und André sich<br />

selbst überlassen, wenn man in der Lage ist, ihnen zu helfen. Und dann: was haben die Jungen nicht<br />

schon alles für mich getan!<br />

René legte sich halb über den Tisch und fixierte den König der Diebe. „Na?“ meinte er auffordernd.<br />

„Ich geh‘ freiwillig, du brauchst nicht so zu gucken wie ‘n kurzsichtiger Thunfisch! Ich geh‘ für<br />

Maurice!“<br />

Für Maurice! Für mich, schon wieder mal. Sie waren vom ersten Tag an nett zu mir. Nun, ich mag sie<br />

auch gut leiden, alle, jeden in seiner Art, und nicht erst seit heute. Doch im Grunde hab‘ ich keinen an<br />

mich rangelassen, nur an meine Sorgen gedacht. Dass sie auch Sorgen haben könnten, ist mir nie in den<br />

Sinn gekommen. Ja, verflixt, ja: so wie‘s jetzt ist, ist‘s schöner! Zu spüren, dass man dazugehört, dass<br />

man gut aufgehoben ist. Fast wie zu Hause. Verflixt schönes Gefühl, ich möcht‘s nicht mehr missen!<br />

Er blickte die Reihe seiner Freunde entlang und räusperte sich noch einmal, diesmal ärgerlich, weil er<br />

nicht verhindern konnte, dass er rot wurde, als sie ihm lächelnd zunickten.<br />

„Ja, — rröh, hm — schön. Aber meine Arbeit dauert höchstens anderthalb Stunden, mehr hat im Anfang<br />

keinen Zweck, dann komme ich runter und lös‘ dich ab, Seppe!“<br />

„Quatsch!“ polterte René. „ Erstens hab‘ ich keine Sehnsucht, nachts Ohrfeigen und tagsüber<br />

Schraubenschlüssel an den Schädel zu kriegen, und zweitens dachte ich, du wärst Maler! Ich hab‘ dich<br />

noch nie malen sehen! Was glaubst du wohl, wozu wir dich in so ‘ne tolle Gegend gefahren haben, wie?<br />

Ran, Kerl, du bist hier nicht zur Erholung!“<br />

„Erholung — hähähä!“ meckerte André, legte den Kopf schief und klopfte René ironisch-wohlwollend<br />

auf die Schulter. „Charmanter Plauderer, unser René, nicht wahr?“<br />

„Macht, dass ihr rauskommt, ihr scheußlichen Salatschnecken!“ rief Maurice lachend.<br />

André sprang auf. „Kommt, höchste Zeit: Maurice wird gewöhnlich.“ Er verbeugte sich vor René mit<br />

großartiger Geste beide Arme weit zur Seite führend: „Ohne allerdings dich im mindesten erreichen zu<br />

können. René Forgeron, der Name bürgt für Qualität: konkurrenzlos gewöhnlich!“<br />

Die Keilerei ging auf dem Flur weiter.<br />

Filous zweite Unterrichtsstunde begann mit der Wiederholung des gestrigen Pensums. Allmählich<br />

wurden die Striche des Schwarzen sicherer und schneller, und die Gebilde, die er hervorbrachte, zeigten<br />

tatsächlich schon eine gewisse Ähnlichkeit mit Buchstaben. Den Rest der Zeit verwandte Maurice<br />

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darauf, ihm „a“ und „e“ beizubringen. Als auch das einigermaßen klappte, riss Maurice aus seinem<br />

Skizzenblock fünf Seiten heraus, linierte sie und schrieb in die linke obere Ecke je einen der fünf<br />

Buchstaben.<br />

„So, Dicker, du schreibst jetzt die Seiten voll! Also eine<br />

Seite o, eine Seite i und so weiter. Hast du das<br />

verstanden?“<br />

„Na klar!“<br />

„Fein, und wenn du fertig bist, kommst du rauf auf den<br />

Turm und zeigst mir alles, ja?“<br />

Filou nickte und begann mit einem Eifer ohnegleichen zu<br />

malen.<br />

Wie am Tage vorher saßen sie nach dem Abendessen in der Halle. „Wirst du müde?“ fragte Maurice den<br />

Bouillabaisseliebhaber René.<br />

„Keine Spur! Du etwa?“<br />

„Natürlich nicht. Na, warten wir mal ab! Kommt, wir machen einen Gang um das Haus.“<br />

Die Hände in den Hosentaschen, trotteten sie zufrieden über den Kiesweg.<br />

„Ich möchte mir die Bemerkung erlauben, dass ich diese Kakteenzucht großartig finde“, sagte André<br />

und stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. „Rosen sind nichts dagegen, Rosen gibt es<br />

nämlich allenthalben, aber wer hat schon so große und vor allem so seltene Kakteen?“<br />

„Kann ich nicht finden!“ widersprach Maurice. „Rosen züchtet man, mit viel Liebe und Ausdauer; um<br />

Kakteen braucht man sich fast nicht zu kümmern. Und selten sind sie nur in solchen Mengen und<br />

solchen Ausmaßen. Wenn du statt großartig protzig, auffällig sagst, dann stimmt‘s. Ist ja auch auf<br />

Wirkung berechnet. Ich finde, sie verschandeln den Hügel. Das Ding sieht jetzt aus wie ‘ne Glatze mit<br />

Warzen.“<br />

„Aber ich bitte dich! Sieh doch mal diesen hinreißenden Kaktus hier...“<br />

„Fass den nicht so rauh an! Das ist ‘ne Agave, die fleischigen Blätter brechen leicht ab.“<br />

„Jaja, Agave, schön. Aber sieh doch mal: alle möglichen Sorten! Höher noch als mein ausgestreckter<br />

Arm, lang und schmal wie ‘ne Gaslaterne! Und diese drolligen Kugeln hier am Boden...“<br />

„Hm, wie Fußbälle mit Stacheln.“<br />

„Es gibt auch welche ohne Stacheln — da zum Beispiel! Und die Farben! Das müsste dich doch<br />

begeistern? Und dort diese <strong>biz</strong>arren, faltigen Arten, sehen die nicht aus, als wären sie aus dunkelgrünem<br />

Gummi geschnitzt? Ich kann mir nicht helfen, ich finde die Anlage großartig!“<br />

„Sicher, jedes Stück für sich genommen ist ganz hübsch. Ich habe ja auch nichts gegen Kakteen, aber<br />

einiges gegen Protzerei. Am schönsten finde ich doch die Blüten.“ Maurice bog einen langen, dünnen<br />

Blütenstängel zu sich heran und betrachtete die zinnoberroten, kolbenartig angeordneten Kelche. „Na<br />

ja“, brummte er und fühlte vorsichtig über die flauschige Innenseite der Blume, betrachtete aufmerksam<br />

den rußschwarzen Strich, der schnurgerade auf den Fruchtstand führte, und ließ den Stängel wieder los.<br />

„Mir sind nun mal Rosen lieber.“<br />

Im Hof setzten sie sich auf den abgedeckten Brunnen. Die Erde hatte ihre Hitze verströmt, es war<br />

angenehm kühl. In einer Stunde würde man ohne Rock frösteln.<br />

Tista fiel plötzlich etwas ein: „Hia hab‘ ich heut Nachmittag was gehöat!“<br />

Keiner hielt das, was er gehört haben wollte, für bedeutend, keiner ging darauf ein. Enttäuscht blickte<br />

der Knirps von einem zum andern: die großen Jungen beachteten ihn nicht. Aus dem Küchenfenster<br />

drang Geschirrklappern, sonst war es ganz still.<br />

„Ich hab‘ was gehöat!“ beharrte Tista. „Bumm-bumm hat‘s da unten gemacht!“<br />

„Wird ‘n Frosch gewesen sein“, tröstete ihn der große Bruder. „Und jetzt musst du ins Bett.“<br />

„Ich will aba nich!“<br />

„Seppe bleibt bei dir, du brauchst keine Angst zu haben.“ „Hab‘ ich auch gaanich, Sasu passt bessa auf<br />

als du!“ „Ja, Sasu ist brav. Nun komm schön!“<br />

Alle gingen mit. Im Gelben Zimmer fragte Maurice noch einmal den Bouillabaissefanatiker:<br />

„Bist du müde?“<br />

„Absolut nicht! Was ‘n Glück, dass ich nicht so dumm war und Eier gegessen habe! Ihr tut mir richtig<br />

leid. „<br />

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„Vielleicht liegt es daran, dass wir heute nachmittag am Strand etwas geschlafen haben.“<br />

„Das mit dem Schlafpulver war also Blödsinn, ich habe es ja gleich gesagt, ich kenne eben das Leben.<br />

Wie steht es, Maurice, hast du einen Schlachtplan für diese Nacht?“<br />

„Hab‘ ich! Ich denke, wir erwarten den Besuch aus dem Geisterreich hier im Zimmer — wach natürlich!<br />

Einer von uns streift ständig im Haus herum. Und falls der Spuk auftaucht, versuchen wir, ihm den Weg<br />

abzuschneiden.“<br />

„Richtig! Und dann gibt‘s Saures!“ René streichelte liebevoll den handlichen Eichenknüppel, den er<br />

sich beschafft hatte.<br />

„Meinetwegen. Ich bin mal gespannt, wie weit wir mit unseren Absichten kommen.“<br />

Dumpf wummernd schlug die Standuhr in der Halle elfmal, dann war es still im Schloss. Bedrückend<br />

still sogar. Manchmal knackte und knisterte es irgendwo, unwillkürlich zuckten die Jungen jedes Mal<br />

zusammen und horchten.<br />

„Ich meine, wir fangen an. Wer geht zuerst?“<br />

„I-ich!“ sagte der mutigste Mann Marseilles schnell, denn vor Mitternacht war der Geist noch nie<br />

aufgetreten, die Zeit bis dahin musste man ausnutzen.<br />

„Gut, Filou!“ Maurice lächelte verständnisvoll. „Wer löst ihn ab?“ Nach einiger Überlegung sagte<br />

André forsch: „Mach‘ ich!“<br />

„Treffpunkt halb zwölf in der Halle.“<br />

Filou presste die dicken Lippen zusammen und erhob sich. Mit einem rührend ängstlichen Blick nahm er<br />

Abschied. Natürlich erschien der Geist nicht, während er die Runde machte. André ging, um ihn<br />

abzulösen. Als der Schwarze wieder ins Gelbe Zimmer trat, fiel mit einem Schlage die Angst von ihm<br />

ab, die ihn mit Zentnerschwere bedrückt hatte. Die Erleichterung löste ihm die Zunge, er schnatterte wie<br />

ein ganzer Entenstall. Selbstverständlich nicht davon, dass er keinen Schritt ohne Zittern und Zagen<br />

getan hatte, dass das Ticken der Standuhr, das Knacken der Dielen, ja sogar der Hall seiner eigenen<br />

Schritte ihm lebensgefährlich vorgekommen waren.<br />

Zweimal trabte André über sämtliche Korridore beider Etagen des Mittelbaues. In den fremden,<br />

totenstillen Räumen war ihm etwas beklommen zumute, aber Angst, richtige Angst hatte er nicht. Es<br />

ging um sein Geld, da war Angst Luxus. Vor der Standuhr in der Halle blieb er stehen. Erst Viertel vor<br />

zwölf, noch Zeit also. Das Gespenst erscheint immer zwischen zwölf und vier Uhr.<br />

Es müsste endlich mal was geschehen, überlegte er. Maurice fasst die Sache nicht scharf genug an, wir<br />

vergeuden quasi gewissermaßen bloß Zeit. Ich möchte zu meinem Geld kommen, zum Donner! Und<br />

Monsieur Baharoff will schließlich Erfolg sehen, der wird sicher allmählich ungeduldig. Es muss was<br />

geschehen! Aber was?<br />

Soll ich nicht?<br />

Klar, ich müsste allein mal was unternehmen! Klar, allein! Der Gedanke berauschte ihn geradezu. So<br />

sehr, dass er ein feines Summen, wie von einem elektrischen Gerät, völlig überhörte. Ein leises Knacken<br />

das Summen hörte auf.<br />

Wenn ich Glück habe und fange den Spuk allein — dann — dann müssten sie mir doch mehr Geld<br />

geben! Das heißt: von Rechts wegen stände mir die ganze Belohnung zu! Jawohl! Wenn ich den Spuk<br />

allein vertreibe oder wenn ich allein die Ursache feststelle, gehört mir auch das Geld allein. Natürlich,<br />

ich würde den Jungens etwas mitgeben, so bin ich ja nicht. Aber dann brauchte ich nicht erst<br />

Blumenhändler zu werden, dann könnte ich gleich einen Laden mieten. Mensch, das ist die Sache, die<br />

Idee überhaupt! Das Geld allein verdienen! Dass ich nicht eher darauf gekommen bin!<br />

Aber wie? Der Spuk ist nicht ganz ungefährlich. Teilt Ohrfeigen aus und wirft mit allen möglichen<br />

Dingen. Man müsste sich irgendwie schützen und ihn dennoch beobachten können.<br />

Suchend blickte er sich um. Mit einem Male leuchtete sein Gesicht wie der Vollmond. Halt, ich hab‘s!<br />

So geht‘s! Prima sogar!<br />

Im Gelben Zimmer unterhielten sich die Jungen leise. Maurice saß auf dem Fensterbrett und blickte in<br />

den kristallklaren Sternenhimmel. Tista schlief, die Glieder genießerisch ausgebreitet. Noch nie hatte er<br />

ein Bett für sich allein gehabt.<br />

„Klirrte da nicht was?“ fragte René und fasste seinen Knüppel fester.<br />

Sie horchten, aber es blieb still. Filou plapperte weiter von Stinker. Mit rauher, kehliger Stimme gab er<br />

eine Heldentat nach der andern zum besten. Ja, Stinker war ein prächtiger Köter gewesen, und in Filous<br />

Erzählungen wurde er noch viel, viel prächtiger.<br />

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„Da rummst tatsächlich was“, sagte nun auch Maurice und sprang vom Fensterbrett. René wollte zur<br />

Tür laufen, doch Maurice hielt ihn zurück.<br />

„Abwarten, René! Langsam voran.“<br />

Er öffnete die Zimmertür einen Spalt weit, und jetzt hörte man es ganz deutlich: schweres,<br />

näherkommendes Stampfen, Klirren, Rasseln, zwischendurch lautes Stöhnen. René war kaum zu halten.<br />

„Warte doch, Kerl! Mal sehen, wo der Spuk hinläuft!“<br />

Die Standuhr in der Halle schlug zwölfmal.<br />

„Geisterstunde“, flüsterte Seppe aufgeregt und machte große Augen. Maurice blickte auf das<br />

Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr.<br />

„Die Uhr in der Halle geht eine Minute nach, aber der Geist hat pünktlich angefangen, der arbeitet wohl<br />

mit Radiozeit.“ Seppe lief es kalt über den Rücken, ihm war nicht nach Scherzen zumute. Sämtlicher<br />

Mut sank ihm in die Hosen, als nun das Gespenst stampfend und klirrend immer näher kam. Einige<br />

Meter vor der Zimmertür machte der Spuk halt, stöhnte schaurig und kratzte anscheinend an der Wand<br />

herum. Dann hörte man eine Tür gehen und wieder ins Schloss fallen.<br />

„Los, Mann, sonst ist er weg!“<br />

Maurice stieß die Zimmertür auf, mit einem Satz waren die beiden Jungen auf dem Gang. Seppe schielte<br />

vorsichtig um die Ecke. Der Gang war leer. Kein Gespenst weit und breit.<br />

„Verflixt!“ schimpfte René. „Das hast du davon! Schon weg!“<br />

Plötzlich begann irgendwo in der Wand ein dumpfes, wütendes Rumoren. Mit gezücktem Knüppel<br />

rannte René zu der Stelle hin, Maurice und Seppe folgten ihm. Filou blieb im Gelben Zimmer. „Es mumuss<br />

do-doch einer auf Ti-Ti-Tista aufpassen“, flüsterte er zu seiner eigenen Entschuldigung.<br />

Die Geräusche schienen aus einem der großen, bis auf den Boden reichenden Wandschränke zu<br />

kommen, die es im Flur gab.<br />

„Da drin geht‘s ja hoch her!“ flüsterte René und deutete mit dem Daumen auf den Schrank, der trotz<br />

seiner altfränkischen, soliden Bauart in allen Fugen krachte. „Seppe, du machst die Tür auf, und ich<br />

nehme ihn in Empfang. Na warte, du Biest!“ René hob den Knüppel, Seppe fasste die Klinke und stellte<br />

sich so auf, dass die geöffnete Tür ihn schützen konnte, falls ... Auf Renés Wink drückte er die Klinke<br />

herunter — weiter brauchte er nichts zu tun, denn die Tür sprang von selbst auf. Heraus plumpste ein<br />

großes, dunkles Etwas und fiel klirrend der Länge nach auf den Boden. Wie ein Wilder machte sich<br />

René darüber her, prügelte, dass die Funken stoben. Bei jedem Hieb schepperte und dröhnte es wie in<br />

einer Schmiede.<br />

„Du Hund, du verflixter! Hab‘ ich dich endlich! Na, dir wird das Spuken ausgetrieben, da kannst du den<br />

alten René für ansehen! Ich werd‘ dir Anstand beibringen, du Biest!“ Auf je zwei Worte ein wuchtiger<br />

Schlag mit dem Eichenknüppel.<br />

„Halt mal! Hör auf, René! Die Ritterrüstung brauchst du nicht kaputtzuschlagen. Hör doch auf,<br />

Mensch!“<br />

Tatsächlich: das Gespenst trug eine Ritterrüstung!<br />

Die Jungen knieten nieder, Maurice versuchte den Helm abzuziehen. Das ging nicht ohne weiteres, weil<br />

entweder der Helm selbst oder das heruntergeklappte Visier irgendwo klemmte. Maurice zog mit beiden<br />

Händen, der Geist stöhnte zum Steinerweichen.<br />

„Soll ich ‘n Büchsenöffner holen?“ fragte Seppe grinsend. Seine Angst war wie weggeblasen.<br />

Endlich war es soweit, vier Augenpaare blickten gespannt auf den zum Vorschein kommenden Kopf!<br />

André!<br />

Er hielt die Augen geschlossen, blutete an der Stirn und am Mund und stöhnte: „Ha-uh! Ha-uh!“<br />

„André ?“ rief René erschrocken. „Ja, ist denn das die Möglichkeit! Au Backe, haben wir den armen<br />

Kerl verdroschen!“<br />

„Kommt, zieht ihm den Klempnerladen vom Körper“, drängte Maurice voller Sorge. Bald darauf trugen<br />

sie den Schuhputzer ins Blaue Zimmer und legten ihn aufs Bett. Seine Augen waren nun offen, er drehte<br />

sie hin und her und lallte blöde. René wischte ihm das Blut ab und legte ihm ein nasses Taschentuch auf<br />

die Stirn, dann rüttelte er ihn und brüllte: „Nun red schon!“ Nur zu deutlich spürte man durch die<br />

Grobheit hindurch seine Angst.<br />

„Lass ihn, René, er wird schon zu sich kommen.“<br />

Immer noch stöhnte André: „Ha-uh, ha-uh!“ Dann sagte er: „Hauh! Jungens, mein Schädel, ha-uh!“<br />

„Na, endlich! Der Herr Ritter geruhen, das Maul aufzumachen. Wie geht‘s denn, Euer Merkwürden?“<br />

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„Ha-uh! Oh-a!“<br />

„René zieh den armen Kerl nicht noch auf. Schlimm genug, dass du ihn so verprügelt hast.“ Maurice<br />

hatte Mitleid, dennoch musste er lachen.<br />

„Ich möchte verflixt gern wissen, was die Exzellenz mit der Rüstung im Wandschrank wollte! So was<br />

Dämliches hab‘ ich noch nicht erlebt!“<br />

Als André sich ein wenig erholt hatte, begann er:<br />

„Kinders, mein Kopf summt und brummt, ich verstehe quasi gewissermaßen mein eigenes Wort nicht.“<br />

„Was wolltest du mit dem knitterfreien Anzug? Wolltest du uns erschrecken?“<br />

„Ach wo! Ich wollte — ich wollte . . .“<br />

„Na, los!“<br />

„Ich wollte das Ding quasi gewissermaßen — nur mal anziehen. Die Eisenschuhe, die Beinschienen und<br />

der Brustpanzer passten auch ganz gut. Es dauerte natürlich eine gewisse Zeit, bis ich — ha-uh — raus<br />

hatte, wie man dergleichen Gerätschaft anzieht und festmacht. Als ich schließlich alles am Leibe hatte,<br />

passte der Helm leider nicht. War — hm — ein wenig zu klein.“<br />

„Kein Wunder! Ritter haben keine Wasserköpfe. Weiter!“<br />

Alle lachten, nur Pipin schaute André ernst und unentwegt ins Gesicht.<br />

„Ich wollte ihn aber unbedingt aufsetzen, also schlug ich mit der Faust recht heftig oben drauf. Dadurch<br />

aber klappte das Visier runter und — und klemmte mir aufs gemeinste Mund und Nase. Ich bekam<br />

eigentlich recht wenig Luft, und es tat zudem scheußlich weh. Sehen konnte ich quasi gewissermaßen<br />

nichts, indem dass der Helm viel zu hoch hängenblieb.“<br />

„Das hast du aber fein hingekriegt, du Trampeltier!“ René lachte schallend. „Und dann?“<br />

„Nun, ich bemühte mich sehr, mich des Helmes zu entledigen, welches jedoch nicht ging, weil es<br />

unerträglich schmerzte. Deswegen wollte ich hinauf zu euch, ihr solltet mir helfen. Aber nein, war das<br />

eine Tour! Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, dass die Eisengelenke alle rostig sind, da sie sich<br />

dermaßen schwer bewegen ließen. Es war sehr mühselig, das könnt ihr mir glauben, kaum Luft und so<br />

schlechte Sicht. Nun also, den Rest wisst ihr: statt hier im Zimmer landete ich irrtümlicherweise im<br />

Wandschrank. Diese blöden Kästen haben leider von innen keine Klinke, so dass ich mich regelrecht in<br />

der Falle befand.“<br />

Natürlich lachte alles, und André dachte: schon wieder über mich!<br />

„Und als die Mausefalle plötzlich geöffnet wurde, da bist du rückwärts rausgekippt, und dann hat‘s<br />

gehagelt, nicht wahr?“<br />

„Ja, und wie!“ piepste André kleinlaut. „Ich konnte den Mund nicht aufkriegen, ich konnte euch nicht...“<br />

„Hat‘s arg weh getan?“<br />

„Ach ja, eigentlich schon, besonders am Kopf. Manche Schläge hab‘ ich auch nicht gespürt, der Panzer<br />

hat viel abgehalten.“<br />

Allmählich wurde ihm besser, aufstehen konnte er jedoch nicht. Er torkelte wie betrunken, klagte über<br />

Kopfschmerzen und Schwindelgefühl.<br />

„Bleib liegen, Alter!“ René wurde fürsorglich. „Das verträgt eben nicht jeder, so ‘n Eichenknüppel<br />

rumms auf die Gedächtnishalle! Komm, bleib schön liegen, morgen ist es bestimmt besser.“<br />

Irgendwo im Hause begann lautes Toben, Schreien, Knallen.<br />

„Jungens, ich glaub‘, der richtige Geist ist da! Pipin, willst du bei André und Tista bleiben?“<br />

Der Gelbe nickte stumm.<br />

„Gut, dann gehen wir mal los. Kommt!“ René, Seppe und Filou folgten Maurice über den Flur.<br />

Das Toben hatte aufgehört, ebenso plötzlich wie es angefangen hatte. Es war unheimlich still. Leise<br />

schlichen die Jungens die Treppe hinunter und gingen in die Halle. Einige Minuten standen sie<br />

schweigend herum, aber es blieb still. Mit einer Handbewegung forderte Maurice sie auf, sich zu setzen.<br />

Im Blauen Zimmer lag André auf Renés Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere, um eine Stelle<br />

zu finden, wo es nicht so sehr weh tat, und stöhnte gelegentlich leise. Er tastete über seine Oberlippe, sie<br />

wurde dick, das Blut klopfte und pulste darin.<br />

Mann, das ist aber herrlich schiefgegangen, dachte er. Nein, ich glaube, allein kann man dergleichen<br />

doch wohl nicht. Welch ein Glück, dass die andern nichts gemerkt haben. Das wäre eine erhebliche<br />

Blamage geworden. Sie haben ohnedies schon wieder über mich gelacht. Seltsamerweise lacht man sehr<br />

oft über mich.<br />

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Pipin saß auf einem Stuhl am Fenster. Immer noch betrachtete er André, sein Gesicht schien gleichmütig<br />

wie immer, nur seine Augen wirkten anders als sonst. Jetzt nahm er Anlauf, noch weiteren als sonst, und<br />

fragte: „Hast du eigentlich keine Eltern mehr, André?“<br />

Der war etwas überrascht über die Frage, die ihn aus seinem Nachdenken riss. „Doch“, sagte er zögernd,<br />

„mein Vater lebt noch. Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben. Warum fragst du?“<br />

„Warum?“ Pipin wusste sehr wohl, dass Andrés Vater draußen in St. Antoine wohnte, er hatte die Frage<br />

nur gestellt, um Andrés Gegenfrage hervorzulocken. Das war also fehlgeschlagen. „Warum? Weil du so<br />

wenig nach Hause gehst.“ Eigentlich hatte Pipin das nicht sagen wollen, er wollte nicht aufdringlich<br />

erscheinen, aber nun musste er sich irgendwie aus der Affäre ziehen.<br />

„Ja, weißt du, Vater arbeitet tagsüber in der Fabrik und abends im Garten. Man sieht ihn wenig.<br />

Meistens ist nur meine Schwägerin da, und im Haus brüllen die Kinder, keiner hat richtig Zeit für mich.<br />

Die sind auch alle so anders wie ich, weißt du? Ich interessiere mich nicht für Gemüse, wie mein Vater,<br />

und auch nicht für Fußball, wie mein Bruder. Und wenn ich mal was erzähle, dann sagen sie: Immer<br />

erzählst du bloß von dir, und was wir machen, das interessiert dich nicht. Nein, ich gehe nicht allzu gern<br />

heim.“<br />

„Hm, hm. Ich will dir mal ‘ne Geschichte erzählen von ‘nem kleinen Chinesenjungen, soll ich?“ Pipin<br />

grinste breit, doch der Ausdruck seiner Augen passte nicht zu seinem Grinsen. André zog erstaunt die<br />

Brauen empor. Seit wann erzählt denn der Geschichten? Sagt doch sonst kaum einen Ton?<br />

„Bitte, erzähle nur!“<br />

Pipin nahm den weitesten Anlauf, den er je genommen hatte. „Meine Mutter hab‘ ich nie gekannt, starb<br />

bei meiner Geburt. Übrigens: geboren bin ich in Frankreich, in der Gegend von Lyon. Das kam so: mein<br />

Vater war schon zwanzig Jahre als Koch bei Monsieur Pricault, als der pensioniert wurde und nach<br />

Frankreich zurückging. Monsieur Pricault war bei der Botschaft in Peking, vielleicht war er auch selber<br />

Botschafter, ich weiß es nicht. Jedenfalls, als er nach Hause ging, nahm er meine Eltern mit. Nicht lange<br />

nach der Ankunft in Frankreich wurde ich geboren, und meine Mutter . . . Als ich sechs Jahre alt war,<br />

starb auch mein Vater. Ich hab‘ nur noch ganz schwache Erinnerung an ihn.“<br />

André zog ein bedauerndes Gesicht und wackelte mit dem Kopf. Er begriff nicht, warum Pipin ihm<br />

Dinge erzählte, über die er bisher beharrlich geschwiegen hatte.<br />

„Dann nahm sich Monsieur Pricault meiner an, das heißt, annehmen ist ein bisschen viel gesagt. Ich<br />

bekam einen Hauslehrer — stinkvornehm, was? Und wurde auch getauft, auf Pipin Hieronymus sogar.<br />

Diese Namen sind bei den Pricaults Tradition, und deshalb nehme ich an, der Alte wollte mich<br />

adoptieren. Leider hat er‘s vergessen, wie er mich überhaupt wochenlang vergessen hat über seinen<br />

chinesischen Vasen und all dem Kram, von dem das ganze Haus voll war.“<br />

„Wärst ja beinahe ein reicher Mann geworden, was?“ meinte André bewundernd.<br />

„Ja, beinahe. Weißt du, der alte Pricault war nicht übel, aber trotzdem war‘s keine schöne Zeit für mich.<br />

Ich glaube, ich hab‘ viel geheult, es war nämlich keiner da, der mich gern hatte, und keiner, den ich so<br />

richtig gern hatte. Den Alten hab‘ ich kaum gesehen, der Lehrer tat nur, was er musste, die Köchin auch.<br />

Du kannst das wohl nicht verstehen“ — Pipin lächelte und zuckte die Schulter —‚ „aber ich fühlte mich<br />

so schrecklich allein und verlassen. Aber noch Gold gegen das, was dann kam! Ich war gerade zwölf, da<br />

starb auch der Alte. Schon am nächsten Tag erschienen die Erben und setzten mich vor die Tür.<br />

Heute weiß ich, warum sie mich so gemein behandelten: sie wussten, dass ich eigentlich den ganzen<br />

Krempel erben sollte.“<br />

„Und du hast nichts gekriegt, keinen Pfennig?“<br />

„Nein. Sie gaben mich in die ‚Lehre’, zu einem Weinhändler. In die Lehre, Mensch, und ich war doch<br />

erst zwölf! Das wurde feierlich, kann ich dir sagen! Ich schlief in einem Dreckloch, vorher hatte ich ‘n<br />

eigenes Zimmer und ‘n Hauslehrer. Und kriegte mehr Schläge als zu essen.“<br />

„Na, hör mal!“<br />

„Ja, so war‘s! Der Weinfritze und seine Frau hatten ständig Krach. Nur darüber waren sie sich einig:<br />

dass ich eine faule gelbe Bestie sei. Von morgens sechs bis abends neun, zehn Uhr musste ich schwere<br />

Fässer wälzen und Flaschen abfüllen. Aber nicht mit ‘ner Abfüllmaschine, sondern mit ‘nem Schlauch!<br />

Das heißt also: ich bekam immer, ob ich wollte oder nicht, Wein in den leeren Magen. Da ist es dann<br />

öfters passiert, dass ich einschlief, und der Wein lief aus. Und dann hinkte ich gewöhnlich eine Woche,<br />

so wurde ich geprügelt.“<br />

„Mann, Pipin! Wie lange hast du das denn mitgemacht?“<br />

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„Gut zwei Jahre, dann riss ich aus, als wieder mal hinken fällig war. Vor lauter Angst bin ich nur nachts<br />

gelaufen, tagsüber hab‘ ich mich versteckt. Hab‘ auf den Feldern Melonen, Weintrauben und Tomaten<br />

geklaut und bin weitergerannt. In Valence landete ich bei einem Fuhrunternehmer. Der versprach mir<br />

goldene Berge, wenn ich bei ihm blieb. Nun, das Essen war tatsächlich besser, aber geschunden hat er<br />

mich genauso. Ich musste arbeiten, dass mir die Schwarte krachte, und statt Geld kriegte ich bloß<br />

Versprechungen und manchmal Schläge. Ein halbes Jahr lang hat er mich hingehalten, dann bin ich<br />

wieder ausgekniffen und nach Marseille getippelt. Mit dicken Schwielen an den Händen und auf dem<br />

Rücken und großer Angst vor allen Menschen.“<br />

„Aber in der Zwiebelstraße ging‘s dir doch besser, oder?“<br />

„Ich bin nicht direkt zur Zwiebelstraße. Die Polizei kriegte mich am Kragen und brachte mich ins<br />

Obdachlosenheim, Rue de Forbin. Das war mein Glück, denn ich war am Ende, todkrank. Das Heim war<br />

prächtig, die Johannis-Brüder ausgesprochen prima — ich hab‘ sie angestaunt wie ‘n Weltwunder,<br />

glaub‘ ich, als sie mir nicht die Jacke auszogen, um mich zu prügeln, sondern um mich zu baden. Vier<br />

Monate bin ich da gewesen, es war wie im Himmel! Ich wurde gepflegt, bekam zu essen, wurde nicht<br />

angeschrieen und nicht verhauen. Als ich gesund war, hab‘ ich ‘n bisschen geholfen. Ich hätte dableiben<br />

können, aber — nee, weißt du, so ‘n Obdachlosenheim, wo im Jahr mehr als zehntausend Menschen<br />

durchgehen, das ist nichts. Ich wollte ‘ne Art Zuhause haben, ich kriegte vom Heim ‘ne Stelle vermittelt<br />

als Zeitungsjunge, und sogar das billige Zimmerchen bei Madame Quinquaille haben sie mir besorgt.<br />

Seit ‘nem guten halben Jahr bin ich jetzt in der Zwiebelstraße, das weißt du ja, und ich muss sagen, seit<br />

einigen Wochen fühle ich mich auch ganz wohl dort.“<br />

Bei den letzten Worten blickte er André eindringlich an und dachte: ob er es merkt, warum ich ihm die<br />

ganze Sache erzählt habe? Ob er es merkt? Der hat nun eine Familie, und weiß nichts damit anzufangen;<br />

hat Freunde, und ist drauf und dran, sie zu verlieren. Wegen einem bisschen Geld, denn darauf lief doch<br />

diese dumme Masche mit der Ritterrüstung hinaus, das hab‘ ich doch gemerkt. Er weiß eben nicht, wie<br />

gut er‘s hat und wie miserabel es ist, mutterseelenallein dazustehen. Was ist da schon Geld? Ich bin<br />

jedenfalls heilfroh, dass ich ‘n paar prima Freunde gefunden habe.<br />

André dachte: Warum hat er mir das erzählt? Warum guckt er mich so komisch an? Da ist doch was bei?<br />

Aber er kam nicht darauf, denn schon bald hatte ihn sein Lieblingsgedanke wieder: wie ziehe ich mit<br />

meinem Anteil an der Belohnung den Blumenhandel auf? Noch einmal schoss ihm flüchtig der Gedanke<br />

durch den Kopf: was hätte man mit dem ganzen Geld anfangen können? Doch mit einem leisen Seufzer<br />

legte er diesen kühnen Gedanken zu den Akten, er war Realist; allein würde er das Geld nie bekommen,<br />

das sah er nun ein.<br />

Die andern Jungen warteten noch immer in der Halle. Immer noch war es völlig still, so beängstigend<br />

still, dass während der ganzen Zeit niemand ein Wort gesprochen hatte. Maurice, der das Warten leid<br />

war, stand auf und winkte. Wortlos erhoben sich die andern und folgten ihm die Treppe hinauf. Nur<br />

noch wenige Schritte waren es bis zum Gelben Zimmer, da ging es los!<br />

Sie hatten Schlimmes erwartet, waren wach und vorbereitet, dennoch erschraken sie furchtbar. Sie<br />

erstarrten, wo sie gingen und standen, Schrecken und Angst rieselten wie Schauer über den Rücken, im<br />

nächsten Moment drängten sie sich schutzsuchend an die Wand.<br />

Mit einem hohen, hohlen Pfeifen fing es an, das noch hinter dem Blauen Zimmer, im Turm anscheinend,<br />

begann; steigerte sich beim Näherkommen zu einem infernalischen Kreischen, schoss ihnen entgegen.<br />

Die Jungen zogen die Köpfe zwischen die Schultern und starrten nach oben. Gellend pfiff es über sie<br />

hinweg — es war nichts zu sehen — die Treppe hinunter, immer noch lauter werdend, immer noch<br />

schrecklicher, schien in tausend klirrende Scherben zu zerspringen und klang aus in einem krachenden<br />

Donner, der die Fensterscheiben erzittern und das Licht flackern ließ.<br />

Es war wieder still, gemein still.<br />

Maurice schluckte, sein Mund war trocken und rauh.<br />

„Da bleibt einem wirklich die Spucke weg!“ flüsterte er. Der Eichenknüppel zitterte in Renés Hand wie<br />

der Zeiger eines Kilometerzählers. Filou stöhnte tief, dann begann sein Reklamegebiss Morsezeichen zu<br />

klappern. Seppe war trotz seiner Bräune kreideweiß, seine Augen blinzelten nervös.<br />

„Kommt!“ keuchte Maurice und drückte sich mit schweißnassen Händen von der Wand ab. Kaum<br />

waren sie in der Nähe der Treppe, als es von neuem losging.<br />

Ein widerliches, blechernes Gelächter begann irgendwo in einer Ecke der Halle, kam näher, steigerte<br />

sich zu einem gruselerregenden Gewieher, glitt kichernd und keckernd in alle Gänge, schwoll an und<br />

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erstarb plötzlich. Wieder donnerte es, wieder erlosch das Licht, bläuliche Blitze zuckten irgendwo, man<br />

sah nur ihren Widerschein. Jetzt flackerte die gesamte Beleuchtung der Halle und des Treppenhauses<br />

auf, erlosch wieder. Krachend fiel die zweite Ritterrüstung um, wieder ein rollender Donner, dann hörte<br />

man oben, im zweiten Stockwerk, laut und deutlich Renés Stimme sagen:<br />

„Wehe, wenn ich den erwische, den schlag‘ ich bunt und<br />

blau!“ Ein schrilles Hohngelächter, dann ein tappendes,<br />

leiser werdendes Gescharre, und es war wieder still. Ruhig,<br />

als wäre nichts gewesen, brannte die Beleuchtung. Die<br />

Gesichter der Jungen waren verzerrt, das Herz schlug ihnen<br />

bis zum Hals, dennoch näherten sie sich dem<br />

Treppengeländer und schauten in die Halle.<br />

„Verdammt! Mau-Maurice, was sagst du da-dazu? Mit-mitmit<br />

meiner Stimme!“ René stotterte vor Erregung, fasste<br />

haltsuchend das eiserne Treppengeländer — und sank mit<br />

einem leisen „Ah“ in die Knie.<br />

„Was ist?“<br />

Der Junge rappelte sich auf, schluckte mühsam und sagte:<br />

„Mann, elektrischer Schlag! Ich hab‘ einen gewischt<br />

gekriegt, der war nicht von Pappe!“<br />

„Komisch!“ Vorsichtig berührte Maurice das Geländer,<br />

zunächst mit einem Finger, dann mit der ganzen Hand. „Du<br />

spinnst! Schau, ich fass‘ das Ding an und kriege keinen!“<br />

„Wirklich komisch“, sagte René und fasste noch einmal an<br />

das Geländer, das Maurice soeben losgelassen hatte. Und<br />

ging wieder mit „Ah“ in die Knie. Filou ebenfalls, der sich<br />

neugierig vorgebeugt und Renés nackten Arm berührt hatte. „Verdammter Kram!“ René rieb sein<br />

rechtes Handgelenk.<br />

„Weiter in die Halle!“ Maurice ging voran. Stufe für Stufe, langsam und vorsichtig stiegen sie die<br />

Treppe hinunter. Unten blickten sie sich um. Die Halle sah aus wie immer, bis auf die am Boden<br />

liegende Ritterrüstung.<br />

Dumpf summend schlug die Standuhr einmal.<br />

Maurice seufzte, sogar die Uhr wirkte unheimlich.<br />

Da flüsterte und wisperte es auf einmal in allen Ecken: „Mann, elektrischer Schlag! Ich hab‘ einen<br />

gewischt gekriegt, der war nicht von Pappe!“<br />

Das, was René eben gesagt hatte, mit seiner Stimme!<br />

„Komisch! — Du spinnst! Schau, ich fass‘ das Ding an und kriege keinen!“<br />

Das, was Maurice kurz vorher gesagt hatte!<br />

Die beiden Wisperstimmen mischten sich, lösten sich ab, tönten von oben, raunten und zirpten aus den<br />

Ecken und gingen in einem grauenvollen Stöhnen schließlich unter.<br />

Maurice bekam eine Gänsehaut nach der andern. Er blickte René an, der mit weitaufgerissenen Augen<br />

wie verzaubert um sich schaute. Seine rechte Hand mit dem Knüppel darin hing schlaff herab.<br />

Ich muss mich setzen, das war ein bisschen viel! Maurice ging zur Truhe hinüber und ließ sich seufzend<br />

darauf nieder. Filou folgte ihm auf dem Fuße, blickte ihn an, sagte jedoch kein Wort. Seine bebenden<br />

Lippen drückten alles aus, was er hätte sagen können: Angst, Angst, Angst! René stand immer noch bei<br />

der Uhr am Treppenaufgang. Seppe postierte sich neben die Truhe und trat unruhig von einem Bein auf<br />

das andere.<br />

Wieder erlosch das Licht. In der Bibliothek jaulte und wimmerte es, hoch und klagend, ein Tappen und<br />

Gescharre, im Treppenhaus blitzte und krachte es, fahle Helligkeit zuckte von oben in den Raum und<br />

beleuchtete schemenhaft den wie gebannt dastehenden René. Etwas flog durch die Luft und zerschellte<br />

an der Wand; es klatschte schallend, und René schrie: „Au-hu!“ Ein winselndes, meckerndes Gelächter,<br />

das aus keiner menschlichen Kehle zu kommen schien —und da — da hob sich hinter René ein grünlich<br />

leuchtendes Knochengerüst in die Höhe, fuchtelte mit den Armen, die dürren Knochen klapperten, rot<br />

schimmerten die leeren Augenhöhlen — weg war das Gespenst! Das Licht flackerte noch eine Weile,<br />

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dann brannte es ruhig. René stand immer noch neben dem Treppenaufgang. Er rieb sich die rechte<br />

Wange. Maurice ging zu ihm hinüber. „Was ist?“<br />

„Schon wieder ‘ne Knallzigarre, und was für eine!“ Prüfend bewegte er seine Kiefer. „Mann, ich dachte,<br />

der Kopf fliegt weg.“<br />

„Und der Knüppel?“<br />

René zuckte hilflos die Achseln.<br />

Seppe schob mit dem Fuß die Scherben einer großen Vase aus dem Weg. „Die war wohl für mich<br />

bestimmt! Da ist sie hingeflogen!“ Er zeigte auf die Wand neben der Truhe.<br />

Einige Minuten lang blieb es ruhig. Die Tür zur Bibliothek öffnete sich, und Monsieur Baharoff erschien<br />

in einem wunderschönen, dunkelroten Seidenmantel.<br />

„Nun — ö, meine Herren, was sagen Sie dazu? Nehmen Sie das immer noch scherzhaft, Herr Dupont?“<br />

„Hm, scherzhaft? Herr Forgeron hat bereits seine dritte Ohrfeige bezogen. Das waren schon recht derbe<br />

Scherze. Und was wir sonst erleben durften, war ebenfalls recht eindrucksvoll! Der Spuk ist erheblich in<br />

meiner Achtung gestiegen.“<br />

„So? Ö — ja, Sie wollen doch nicht aufgeben? Ö — kommen Sie bitte in mein Arbeitszimmer, wir<br />

trinken einen Cognac. Das wird Ihnen gut tun!“<br />

Keiner lehnte die angebotene Stärkung ab. „Ist Ihnen was geschehen, Monsieur?“<br />

„Nein, nicht das geringste!“<br />

„Auch der wertvollen Sammlung nicht?“<br />

„Ö — ich habe noch nicht nachgesehen, glaube aber kaum, habe nichts bemerkt. Es spukte<br />

hauptsächlich in der Halle.“<br />

Baharoff ging schwerfällig zur Schlafzimmertür und öffnete sie. Die Jungen folgten ihm. Kaum hatte er<br />

einen Blick in den Raum geworfen, als der große Mann blitzschnell nach vorne schoss, sich bückte und<br />

einen Zipfel des Teppichs in die Höhe riss, so dass die daraufliegenden Kragenknöpfe durcheinander<br />

kollerten. Dennoch hatte Maurice gesehen, dass die Kragenknöpfe das Wort „Lump“ gebildet hatten.<br />

Jeder Buchstabe war aus zehn ganz berühmten Stücken zusammengesetzt gewesen.<br />

Im Blauen Zimmer hockten André und Pipin trübselig auf Renés Bett. Tista war zu beneiden, er schlief<br />

immer noch.<br />

„Wie war‘s denn bei euch?“<br />

„Hier war das Biest natürlich auch. André behauptet sogar, ein Totenkopf hätte durch‘s Fenster<br />

geguckt.“<br />

„Hat auch!“<br />

„Aber das hab‘ ich nicht gesehen. Doch auch ohne das war‘s ein toller Rummel! Es hat geschrieen,<br />

gelacht und gedonnert, eure Stimmen haben was geflüstert, erst deine, René, dann auch deine, Maurice.<br />

Nee, alles dran!“ Pipin lächelte melancholisch. „Was habt ihr denn erlebt? Bei euch war‘s sicher noch<br />

schlimmer, was?“<br />

„Danke der Nachfrage, ich bin bedient!“ René rieb seine Backe.<br />

„Es war verflixt grausig, das kann ich euch sagen. Ich glaube, wir haben uns die Sache ein wenig zu<br />

leicht vorgestellt.“ Mutlos ließ sich Maurice auf den Stuhl fallen.<br />

„Nix Mangobaum?“ Pipin feixte den Maler an und dachte: er lässt mal wieder die Flügel hängen.<br />

„Nee, nix Mangobaum! Alle die Dinge, von denen ich annahm, sie könnten die Ursache sein, treffen hier<br />

nicht zu. Mein Latein ist zu Ende.“<br />

„Sollen wir nicht lieber aufgeben, Jungens?“ Seppe schob den Kopf vor wie eine Spitzmaus. „ Den Spuk<br />

kriegen wir nie! Nie! Ich will lieber mit heilen Knochen nach Haus kommen als mit ‘nem Knacks, lieber<br />

arm und gesund als . . .“<br />

„Waas? Arm und gesund? Aufgeben? Entschuldige mal, ich glaube, du hast einen Vogel! Wir dürfen<br />

nicht aufgeben, ich muss das Geld haben, verstehst du? Nun, von morgen an bin ich dabei, und ich<br />

kenne das Leben, ich werde schon Rat wissen!“<br />

„Aufgeben? Nee, du Armleuchter!“ René lief rot an und rollte die Augen wie ein Gorilla. „Nee, jetzt<br />

hat er mich wütend gemacht, jetzt will ich den Burschen kriegen, der mir schon zum drittenmal eine<br />

gepappt hat! Das Geld kann mir meinetwegen gestohlen werden, aber ich will dem ein paar<br />

wiedergeben, dass er Freude dran hat. Drei saftige Ohrfeigen, das ist zuviel! — Willst du etwa auch<br />

aufgeben, Maurice?“<br />

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„Nein, ich will nicht. Du brauchst übrigens nicht so geschwollen daherzureden von gestohlen werden,<br />

René! Das Geld stünde uns allen sehr gut zu Gesicht. — Nein, ich möchte nicht aufgeben, aber ich weiß<br />

nicht weiter!“<br />

„Mach dir nicht allzu viel Sorgen, Maurice, wir gucken uns die Geschichte morgen noch mal an. Nicht<br />

gleich die Flinte ins Getreide schmeißen!“ Pipin lächelte ihm tröstend zu. „Ihr habt lange warten<br />

müssen, das zermürbt. Ihr habt den ganzen Kram schlimmer empfunden, als er vielleicht ist. Ich glaub‘<br />

nämlich immer noch nicht so recht dran, trotz allem, was passiert ist. Sieh mal: René bezieht Ohrfeigen<br />

und hat am andern Morgen noch ‘ne rote Backe. . .“<br />

„Wehe, wenn ich den kriege!“<br />

„Ja, der Spuk drehte ihn sogar um, wie Tista erzählte! Das ist eigentlich hochinteressant!“<br />

„Und ob! Ich hab‘s gespürt!“<br />

„Kann denn ein Spuk so was? Ein Geist hat doch keinen Körper, also auch keine Kraft!“<br />

„Keine Kraft?“ empörte sich René.<br />

„Red doch nicht immer dazwischen!“ blies Maurice ihn an.<br />

„Weiter, Pipin!“<br />

„Ich meine, ein Geist hat keine Kraft und kann einen Menschen nicht umdrehen. Und dann: René kriegt<br />

seine Ohrfeigen immer auf die rechte Backe. Du, ich glaub‘, unser Geist ist Linkshänder!“<br />

„Linkshänder!“ André schüttelte sich in komischem Entsetzen. „Wie der alte Gregoriades, was? Bitte,<br />

nimm‘s mir nicht übel: du hast auch einen Vogel! Hähähä!“<br />

„Stimmt, André! Du bist der einzige von uns, der keinen hat!“ „Sag mal, Pipin“, begann Maurice<br />

zögernd, „die Schlafpulvergeschichte würde ganz gut dazu passen, nicht wahr?“<br />

„Ja, hab‘ ich auch schon gedacht.“<br />

„Trotzdem: es war toll, einfach grauenhaft! Ich weiß noch nicht, wie‘s weitergehen soll.“<br />

Sehr nachdenklich ging Maurice zu Bett.<br />

Der nächste Morgen verlief wie üblich: Frühstück, anschließend Filous Schreibunterricht. Während der<br />

Schwarze seine „Hausaufgaben“ machte und René eine kleine Probefahrt veranstaltete, kletterte Maurice<br />

auf den viereckigen Turm. Mit Zeichenblock, Farbkasten und einem Glas Wasser. Tista krabbelte eifrig<br />

hinterher, mit Sasu. Ganz langsam folgte André, mit nichts weiter als einem versonnenen Gesicht.<br />

Maurice hockte sich auf die Brüstung des Wehrgangs und breitete seine Malgeräte aus.<br />

„Nein, Tista, hier darfst du nicht ‘rauf! Auf einmal fällst du runter, und dann haben wir keinen Tista<br />

mehr. Nein, nein, bleib schön unten!“<br />

„Ich will aba auch was sehn!“<br />

„Da kommt André, der kann dich festhalten.“<br />

„Los!“ kommandierte Tista.<br />

André setzte den Kleinen auf die Mauer und umklammerte ihn mit beiden Armen. „Auto!“ brüllte Tista.<br />

„Huhu!“ Er winkte eifrig der Taxe zu, die von Villeneuve heraufschnurrte und vor dem Portal hielt.<br />

Baharoff stieg ein und fuhr ab. „Huhu, Opa!“ rief Tista, doch Jean-Baptiste, der über den Hof ging,<br />

kümmerte sich nicht darum, öffnete ein Tor im Drahtzaun und verschwand zwischen den Rosen am<br />

Abhang.<br />

Maurice blickte ihm nach. Was wollte der Opa dort?<br />

Seppe erschien auf dem Turm, blickte sich scheu um und ging sofort wieder.<br />

„Ich will wieda runta!“ Schöne Aussicht fand Tista ausgesprochen langweilig. Er tappelte zu Sasu, die<br />

zusammengerollt in einer sonnigen Ecke schlief. Brabbelnd setzte er sich auf den warmen Steinboden<br />

und nahm die Katze auf den Schoß.<br />

In der entgegengesetzten, schattigen Ecke ließ sich André nieder. Sein Kopf brummte immer noch, leise<br />

stöhnend fuhr er über das Pflaster an der Stirn und über die geschwollene Oberlippe.<br />

Da hab‘ ich mir was eingebrockt! Dergleichen passiert den andern nie. Und man lacht recht häufig über<br />

mich, auffallend häufig. Ich geb‘ mir Mühe, ich strenge mich an, um voranzukommen, und da kann<br />

natürlich mal was schiefgehen. Dann lachen die andern. Die tun ja nichts, denen passiert auch nichts.<br />

Die sind zufrieden mit dem, was sie haben. Ich nicht! Ich will vorankommen, Blumenhändler werden,<br />

ein Geschäft aufmachen. Ist das was Schlimmes?<br />

„Maurice, ist das was Schlimmes, wenn man vorankommen möchte?“<br />

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„Vorankommen? Du meinst: wenn man ehrgeizig ist? Nein, an sich nicht. Aber Ehrgeiz verdirbt oft den<br />

Charakter.“<br />

„Bitte erkläre mir, wie du das meinst!“<br />

Maurice blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen seitwärts, von dem frisch eingetunkten Pinsel<br />

tropfte die Farbe auf seine Hose. „Hm — ja, Ehrgeizige haben es oft mit dem Vorwärtskommen sehr<br />

eilig. Und wenn es dann nicht schnell genug geht, vergessen sie manchmal, dass es außer ihnen noch<br />

andere Menschen gibt, und vor allem: dass es wichtigere und schönere Dinge gibt als Geld, Ehre und<br />

Ruhm. Kurz gesagt: Ehrgeizige machen leicht Fehler.“<br />

André nickte heftig zustimmend mit dem Kopf, so heftig, dass es ihm weh tat. Doch er hatte Maurice<br />

völlig missverstanden. Für einen Fehler hielt er seinen Versuch, den Spuk allein zu fangen, deshalb, weil<br />

er nun einsah, dass diese komplizierte Aufgabe durch einen einzelnen nicht zu lösen war. War in der Tat<br />

ein Fehler, dachte er, aussichtslose Sache. Hätte ich mir vorher überlegen müssen, hätte ich mir sparen<br />

können.<br />

Weiter dachte er nicht.<br />

Tista schlief. Sasu sprang von seinem Schoß, machte einen Buckel, ihr seidiges Fell glänzte in der<br />

Sonne. Mauzend streckte sie sich, ihr langer, dicker Schwanz malte merkwürdige Zeichen in die Luft,<br />

dann leckte sie sich das Brustfell. Jäh unterbrach sie ihre Schönheitspflege und lauschte. Langgestreckt,<br />

wie an der Nase gezogen, schlich sie zu einem Loch in der Mauer. Forschend blickten ihre Augen in die<br />

ungefähr zwei Fäuste große Öffnung.<br />

Hopps, ein kleiner Sprung. Sasus weiße Schwanzspitze verschwand in der dunklen Mauerlücke wie das<br />

Schlusslicht eines Zuges in einem Tunnel.<br />

„Sasu! Sasu!“ Tista suchte den Wehrgang ab, zerrte Maurice am Hosenbein: „Hasse Sasu nich gesehn?“<br />

„Nein, Tista.“<br />

„Du auch nicht, André?“<br />

„Nein, leider nicht, mein Kleiner! Ich habe etwas geschlafen.“<br />

„Dann isse sicha unten, Sasu musste sicha mal.“<br />

Eilig stiefelte er die Treppe hinunter, suchte die Katze auf dem Hof, in den Schlafzimmern, in der<br />

Küche. Von überall her hörte man sein „Sasu! Sasu!“ Dann trappelte er wieder die Treppe herauf und<br />

zerrte Maurice zum zweitenmal am Hosenbein: „Sasu is wech!“<br />

„Ach wo, Tista! Sie macht ‘nen kleinen Ausflug oder ist auf Jagd. Wird schon wiederkommen!“<br />

Traurig und ungläubig schüttelte der Kleine seine schwarzen Locken. „ Sie kommt sons imma sofoat.<br />

Nee, Sasu is wech!“ Seine Unterlippe schob sich vor, die ersten Tränen kamen.<br />

„Warte nur, heute Mittag ist sie wieder da! Woll‘n wir wetten?“<br />

„Nee, nee!“ Heulend zog er ab, rannte den Hügel hinunter an den Strand, hin zum großen Bruder.<br />

Seppe versuchte ihn zu beruhigen, doch ohne Erfolg. Tista bestand darauf, dass Seppe mitging und<br />

suchen half. Sie durchstöberten das ganze Schloss, auch den Garten bis zum Drahtzaun. Sasu war<br />

nirgends zu finden. Wem Tista begegnete, vor dem baute er sich auf, legte den Kopf in den Nacken und<br />

fragte: „Hasse Sasu nich gesehn?“ Doch weder Jean-Baptiste noch Louise, weder der Koch noch der<br />

Gärtner hatten die berühmte Katze gesehen. Jeder sagte dem Kleinen ein paar tröstliche Worte, selbst<br />

Jean-Baptiste. Aber Tista wollte nicht Trost, er wollte Sasu.<br />

Gerade als Maurice seine Malgeräte einpacken wollte, kletterte Filou zum Turm hinauf. Vor der kurzen<br />

Steintreppe, die zum Wehrgang führte, machte er halt und legte die beiden Melonen, die er in den<br />

Händen gehabt hatte, vor sich auf die Stufe. Dann zog er aus dem Halsausschnitt seines Hemdes einen<br />

Teller, den er bruchsicher am nackten Bauch geborgen hatte, griff in die rechte Hosentasche und holte<br />

zwei Handvoll Streuzucker hervor. Las säuberlich die Flusen heraus, die sich eingeschlichen hatten,<br />

nahm aus der linken Hosentasche ein Messer und einen Kaffeelöffel und legte sie auf den Teller. Packte<br />

die Melonen auf den linken Arm, fasste den Teller mit der rechten Hand und balancierte vorsichtig und<br />

langsam aufwärts. Ohne Unfall gelangte er bis zu Maurice.<br />

„Da!“ sagte er strahlend, das Gesicht schweißnass vor Anstrengung und Aufregung. „Für dich!<br />

Mellohnen machse doch gärn, nich?“<br />

„Rröh-hm, ja, ja, sehr gern sogar, Filou! Vielen Dank!“ Maurice war überrascht, verlegen und gerührt<br />

zugleich. „Vielen Dank, Mensch! Nett von dir! Aber, sag mal, wie kommst du an das Zeug?“<br />

„Och, ganz einfach! Gestern hap ich gehört, wie der Koch mit Jean-Baptiste schimpfte, weil so viel<br />

Geschirr zum Spülen wär‘ und Louise hätt‘ Ausgang und er könnt‘ das nich allein. Bin ich hingegangen<br />

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und hap geholfen. Der Koch hat sich vielleicht gewundert, dass ich so gut spülen kann! Hat er mir<br />

Mellohnen geschenkt heute, und Zucker gegeben und Teller und alles.“<br />

Maurice grinste und drohte mit dem Finger: „Hat er dir wirklich Melonen angeboten oder was anderes?<br />

Ehrlich?“<br />

„Och! Erst wollter mir Torte geben oder Eis, Mellohnen hatter nich. Aber heute hatter. Ich kann noch<br />

mehr ham!“<br />

Pünktlich um Mitternacht begann das Rumoren und Toben im Treppenhaus, in der Halle und im Keller.<br />

Tista erwachte und jammerte nach Sasu. Seppe schimpfte leise vor sich hin; es war so schwierig<br />

gewesen, den Kleinen zum Schlafen zu bewegen ohne die Katze im Arm.<br />

Im Haus wurde es wieder ruhig.<br />

„Los, Jungens, runter! Ran an den Feind!“ Obgleich ihm nicht danach zumute war, suchte Maurice<br />

Stimmung zu machen, doch selbst der gewalttätige René hatte ziemliche Scheu vor dem, was nun<br />

kommen musste. Filou fürchtete sich ausgesprochen. Seine Zähne klapperten zwar noch nicht, aber das<br />

war nur eine Frage der Zeit.<br />

„Kommt, ab!“ Maurice ging zur Tür. „Seppe und Filou bleiben bei Tista.“<br />

„Na-in!“ schrie der Kleine. „Ich bleib‘ nich hia!“<br />

Gutes Zureden half nicht: ohne Sasu hatte Tista grässliche Angst, wollte auf keinen Fall im Blauen<br />

Zimmer bleiben, sondern aufstehen und mitgehen.<br />

„Na, schön, soll er. Zieh ihn an, Seppe!“<br />

Vollzählig marschierten sie in die Halle, wo sämtliche Lampen brannten. Die Standuhr tackte, die Stille<br />

wurde dadurch nur noch fühlbarer. Die Jungen setzten sich in die Sessel und auf die Truhe. Keiner sagte<br />

ein Wort.<br />

Tack. Tack. Tack. Tack.<br />

Langsam und stetig, in gleichmäßigen Zwischenräumen, fiel der Geräuschtropfen. Tack. Tack. Tack.<br />

Das schläferte ein, entrückte. Die Körper schienen ihre Schwere zu verlieren, man spürte sich nicht<br />

mehr. Aus Angst, gespannter Erwartung und aus der tackenden Stille wurde etwas Neues: ein lähmender<br />

Zauber, der die Sinne benebelte und die Brust beklemmte. Die Uhr gab einen Schnarchton von sich - die<br />

Jungen fuhren erschrocken auf — und schlug dumpf summend einmal. Bomm! Hallend kam der Schall<br />

von überall her zurück.<br />

Verflixt, dachte Maurice, das ist Zermürbungstaktik, genau wie gestern. Erst lockt er uns raus, und nun<br />

lässt er uns warten. Warten macht einen fertig. Ich muss dagegen angehen, sonst sind meine Helden<br />

gleich völlig ungenießbar. Er klatschte in die Hände und rief mit gemachter Munterkeit: „Kinders, sitzt<br />

nicht so trübselig rum! Macht den Mund auf, erzählt mal was!“ Auffordernd blickte er sich um.<br />

Niemand rührte sich, alle starrten finster vor sich hin. Da richtete sich Seppe in seinem Sessel auf, kniff<br />

Maurice ein Auge und machte so täuschend ähnlich den Schnarchton der Uhr nach, dass die andern<br />

Jungen noch einmal aufschraken. Als René merkte, dass er angeführt worden war, blickte er den König<br />

der Diebe wütend an und schüttelte stumm die Faust.<br />

Wenn der Spuk doch bloß kommen wollte! Seufzend rutschten sie in den Sesseln herum. Eklige<br />

Warterei, schon über eine Stunde. Zwölf Minuten nach ein Uhr ging es los. Endlich! Es war geradezu<br />

eine Erlösung.<br />

Wieder fing es mit einem hohlen Pfeifen an, das von oben kam, durch das Treppenhaus herunterschoss<br />

und klirrend in der Halle zersprang.<br />

Verflixt, au verflixt! Ich dachte, man könnte sich dran gewöhnen, ich dachte, heute wär‘s nicht mehr so<br />

schlimm! Aber es ist genau wie gestern, genau! Maurices Hände tasteten nervös über den gerippten Stoff<br />

seiner Hose.<br />

Seppe schubste Tista unter die Truhe.<br />

„Bleib da unten, Tista, bleib schön da unten“, flüsterte er, „da kann dir nichts passieren!“<br />

Es blitzte wieder, heulte, johlte, jammerte, krachte. Die Beleuchtung erlosch, eine Serie Kaffeetassen<br />

sauste durch die Luft und zerschellte an den Wänden. Das Licht flackerte: an, aus, an.<br />

In höchster Eile, auf allen vieren kriechend, verließ Tista sein Versteck, raste zu Seppe hinüber und<br />

kroch zu ihm in den Sessel. „Seppe!“ schrie er atemlos. „Hinta mia hat ea was gesagt!“<br />

„Wer hat was gesagt, Tista?“ „Das Spuk!“<br />

„Was hat er denn gesagt?“ „Weiß ich nich meha.“<br />

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Die Geräusche wurden leiser, versickerten im Keller, verflüchtigten sich im Dachgeschoss. Nun hörten<br />

sie alle den Spuk reden:<br />

„Mach dir nicht allzu viel Sorgen, Maurice!“ Das, was Pipin gestern Abend gesagt hatte, mit seiner<br />

Stimme. Immer wieder, immer von neuem: „Mach dir nicht allzu viel Sorgen, Maurice! Mach dir nicht<br />

allzu viel Sorgen, Maurice! Mach dir nicht . . .“ Laut und leise, wispernd, zischend, dann wieder<br />

brüllend laut, in der Halle, auf dem Flur, im Treppenhaus.<br />

André zog die Augenbrauen bis unter den Haaransatz und sperrte den Mund auf. „Grausig, wie?“ meinte<br />

er mit zitternder Stimme zu Pipin.<br />

„Hm“, machte der Gelbe und nickte zustimmend, „grausig, aber auch interessant. Ich höre meine<br />

Stimme zum erstenmal, hab‘ gar nicht gewusst, dass ich so singe. Na, ich geh‘ mal ein bisschen.“<br />

Geschmeidig erhob er sich und trabte über den Gang davon, Richtung Speisesaal. Im Rikschastil.<br />

„Angeber!“ murmelte André hinter ihm her. „U-unsereins hat-hat die Hose voll, und der s-sagt,<br />

iiinteressant!“<br />

Aus Baharoffs Bibliothek drang schauderhaftes Stöhnen, es hörte sich an, als läge ein Mensch in den<br />

letzten Zügen.<br />

„Los, hin!“ rief Maurice. „Vielleicht ist ihm was zugestoßen!“ sprang auf und lief durch die Halle zur<br />

Bibliothek. Die Jungen folgten ihm wie die Küken der Henne. Als er eben auf dem Gang war, ertönte<br />

ein blechernes, widerliches Gelächter. Maurice stutzte einen Moment erschrocken, dann öffnete er die<br />

Tür zur Bibliothek. Der Raum war leer! Das Stöhnen hatte aufgehört, statt dessen flüsterte eine Stimme<br />

ununterbrochen und monoton: „Lump! Lump! Lump! Lump!“<br />

Maurice durchquerte die Bibliothek und öffnete die Tür zum angrenzenden Arbeitszimmer. Dort saß<br />

Baharoff auf einem Stuhl, dicht vor dem offenen Fenster, und schaute in die Nacht.<br />

„Monsieur!“ rief Maurice. „Monsieur!“ Baharoff rührte sich nicht. Maurice ging zu ihm hin und rüttelte<br />

ihn an der Schulter. Mit einem Schrei fuhr Monsieur herum, nahm die Wachsstopfen aus den Ohren und<br />

sagte: „Ö — Sie sind es, Herr Dupont! Entschuldigen Sie, ich bin sehr mit den Nerven runter.“<br />

„Ist Ihnen was geschehen?“<br />

„Nein — ö, nein, bisher nicht.“<br />

In der Halle herrschte gerade mal wieder Ruhe.<br />

Sie gingen zurück, René voran. Kaum hatte er die Bibliothek verlassen und war ein paar Schritte<br />

gegangen, da setzte wieder das Gelächter ein, überfiel ihn unerwartet wie ein Strauchritter. Erschrocken<br />

blieben die Jungen stehen. Nach einigen Sekunden endete das Lachen ebenso jäh, wie es begonnen hatte.<br />

Kopfschüttelnd setzten sich André und Seppe in Marsch, gingen wenige Meter weit, als auch sie das<br />

blecherne Lachen überfiel. Sie zuckten zusammen und rannten in die Halle.<br />

Tista hatte in der Bibliothek noch schnell „Sasu“ gerufen und war dadurch von seinem großen Bruder<br />

getrennt worden. Als das Gelächter begann, klammerte er sich schnell an die Hosenbeine des<br />

Nächstliebsten, und das war für ihn Maurice. Sobald der abscheuliche Lärm aufgehört hatte, rannte er<br />

hinter Seppe her. Maurice folgte ihm langsam mit Filou. Die beiden legten nur wenige Schritte zurück,<br />

da lachte das Gespenst erneut.<br />

„Merkwürdig!“ murmelte Maurice und wartete, bis der Geist aufhörte, dann ging er zurück zur<br />

Bibliothek. Wieder begann die Lache!“Verflixt merkwürdig!“<br />

Gerade setzten die Jungen sich in die Sessel.<br />

„Seppe, komm doch bitte mal hierher!“ rief Maurice.<br />

Bereitwillig erhob sich Seppe, Tista wollte ihn begleiten. „Nein, ohne Tista.“<br />

Der Kleine blieb in der Halle, wenn auch höchst ungern.<br />

Seppe näherte sich. Nur drei Meter noch trennten ihn von Maurice, der vor der Bibliothekstür stand, da<br />

ging das Gelächter wieder an. Maurice schüttelte den Kopf: „Merkwürdig! Merkwürdig!“<br />

„Was soll ich?“ fragte Seppe.<br />

„Abwarten! Tista, jetzt kannst du kommen!“<br />

Wie ein Wiesel flitzte der Kleine durch die Halle, über den Flur hin zum großen Bruder.<br />

Die Lache blieb aus.<br />

„So, jetzt könnt ihr zurückgehen. Aber einzeln!“<br />

Seppe begriff zwar nicht, aber er tat, was Maurice wollte. Nach wenigen Schritten begann das Gelächter.<br />

Als es vorbei war, durfte Tista zurück in die Halle.<br />

Der blecherne Spektakel erhob sich nicht.<br />

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René ging zu Maurice in den Flur. Schrill und blechern lachte das Gespenst von neuem. „Komisch!“<br />

brüllte er Maurice während des Getöses ins Ohr, „für Tista scheint der Spuk ‘ne Schwäche zu haben,<br />

was? Bei dem Kleinen schreit er nicht wie abgestochen!“<br />

„Hm, ja. Scheint so. Bleib mal hier stehen, René!“ Ganz langsam ging Maurice über den Flur in<br />

Richtung auf die Halle. Ganz langsam, Schrittchen für Schrittchen. Am Ende des Flurs, ungefähr einen<br />

Meter vor der Stelle, wo er in die Halle mündete, begann die blecherne Lacherei.<br />

Sofort ging Maurice ein Stück zurück.<br />

Als das Lachen aufhörte, trat er wieder ein Stückchen vor.<br />

Augenblicklich brüllte das Gespenst los!<br />

Vor Überraschung schüttelte Maurice den Kopf, dass seine langen Haare flogen.<br />

Wieder war es still. Wieder bewegte Maurice sich ein Stück vor.<br />

Und schon brüllte die Lache wieder!<br />

„Nanu“, sagte Maurice, „nanu!“<br />

Sein Gesicht entspannte sich. Lächelnd ging er zur rechten Flurwand und suchte sie genau ab. In<br />

Brusthöhe fand er ein kleines Loch, nicht größer als eine Erbse. Die Öffnung war recht geschickt<br />

angebracht: in einer Ecke der Täfelung. Kaum hörte das <strong>Gespenster</strong>lachen auf, da hielt Maurice den<br />

Finger auf das Loch.<br />

Das Gespenst wieherte und lachte blechern. Aufgeregt winkte Maurice die Jungen heran. Sobald es<br />

wieder still war, sagte er strahlend:<br />

„Kinder, ich hab‘ eine Stelle entdeckt, wo der Spuk kitzelig ist! Passt mal auf!“<br />

Noch einmal hielt er den Finger auf die Öffnung in der Täfelung. Prompt begann der Geist zu wiehern.<br />

Aber nur ganz kurz, dann brach die hässliche Lache ruckartig ab. Von nun an konnte Maurice so lange<br />

den Finger auf das Loch halten, wie er wollte, konnte die Jungens auf dem Flur hin und her schicken:<br />

das Lachen, das widerliche, blecherne Lachen ertönte nicht mehr.<br />

Statt dessen donnerte es jetzt im Treppenhaus, schepperte und rasselte es im Keller, schauriges Getöse<br />

allenthalben. Vasen flogen durch die Luft, Geschirr aller Art kollerte die Treppe herunter,<br />

Flüsterstimmen zischelten, Schritte tappten. Das alles rührte Maurice nicht mehr. Er saß in seinem<br />

Sessel und hörte sich den Aufruhr lächelnd an. “Der Geist ist furchtbar böse! Der hat es nicht gern, wenn<br />

man ihn kitzelt. Jungens, ich glaub‘, wir haben eine wichtige Entdeckung gemacht!“<br />

„Bist du etwa der Meinung, das Loch in der Wand hätte etwas mit dem Spuk zu tun?“ zweifelte André.<br />

„Allerdings! Ich habe da so meine Vermutungen!“ erwiderte Maurice. Seine fröhliche Sicherheit<br />

übertrug sich auf die Jungen. Zwar beeindruckte sie der Zauber noch immer, aber sie schlotterten nicht<br />

mehr vor Angst, selbst Filou nicht. Wenn es mal wieder ganz toll wurde, dann blickte er Maurice ins<br />

Gesicht und war getröstet.<br />

André blieb skeptisch. Weiß der Teufel, was Maurice wieder hat, dachte er und wackelte mit seinem<br />

ramponierten Wasserkopf. Diese Maler haben eine Phantasie, unglaublich!<br />

Zur selben Zeit schlich Pipin durch das Haus. Im Rikschastil. Quer durch den Speisesaal, über den Flur<br />

in den Anrichteraum. Von da in die Küche und zurück in den Flur. Fast unhörbar tappte er auf nackten<br />

Füßen die Nebentreppe zum ersten Stockwerk empor. Niemand begegnete ihm, kein Mensch und auch<br />

kein Geist.<br />

Pipin verfolgte mit seiner einsamen Wanderung kein bestimmtes Ziel. Er fühlte nur, dass etwas nicht<br />

stimmte, und sagte sich, dass es vielleicht aussichtsreicher sei, allein und unbeachtet auf die Suche zu<br />

gehen. Angst hatte er gerade so viel, dass er sie spürte wie einen Kragen, der eine Kleinigkeit zu eng ist.<br />

Ein wenig Überwindung hatte es ihn schon gekostet, diesen Streifzug auf eigene Faust zu unternehmen,<br />

aber er dachte: falls ich irgendwas erreichen könnte, wäre uns allen geholfen! Wär‘ schön, wenn ich was<br />

tun könnte für den komischen Verein in der Halle. Feine Kerle, allemal!<br />

Noch behutsamer als bisher trabte er über den Korridor. Hier, über den Küchenräumen, lagen die<br />

Zimmer der Angestellten. Niemand zu sehen. Alles still und leer. Leise schlich Pipin weiter. Quer durch<br />

das Frühstückszimmer, das dem Speisesaal darunter entsprach, und war nun im Flur des Mittelbaues, vor<br />

dem Blauen Zimmer. Er warf einen Blick hinein. Aha, die Steppdecken sind mal wieder weg! Da hörte<br />

er in der Halle das blecherne Gelächter des Spuks, blieb stehen und horchte. Als das Gespenst<br />

ausgelächtert hatte, trabte er weiter, am Gelben Zimmer vorbei. In der Nähe der großen Treppe verhielt<br />

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er plötzlich den Schritt. Unten in der Halle unterhielten sich die Jungen. Aber sprach da nicht noch<br />

jemand?<br />

Natürlich! Oben, anscheinend in der zweiten Etage, flüsterte eine Stimme! Pipin drückte sich an die<br />

linke Wand und schob vorsichtig an ihr entlang. Bückte sich und schaute um die Ecke nach oben, ins<br />

Treppenhaus.<br />

Schade! Von hier aus sah man bloß den Treppenabsatz. Er glitt ein Stück zurück und lief dann, dicht an<br />

der rechten Wand entlang, möglichst weit von der Treppe entfernt, durch die Diele. Trabte weiter über<br />

den Flur bis zu dem runden Turm. Hier begann eine eiserne Wendeltreppe. Auf allen vieren kroch Pipin<br />

hinauf, unendlich vorsichtig. Da war die Tür, die auf den Korridor des zweiten Stockwerks führte. Pipin<br />

blickte durch das Schlüsselloch. Seine Augen begannen zu glitzern, aber er verzog keine Miene.<br />

Im Hocksitz öffnete er leise die Tür, gerade so weit, dass er bequem durch den Spalt beobachten konnte.<br />

Einige Minuten später erhob sich Pipin, ging auf den Flur hinaus und trabte die große Treppe hinunter in<br />

die Halle. Im Rikschastil.<br />

Lächelnd näherte er sich den Jungen: „Kommt doch mal mit!“ Auf dem Flur der zweiten Etage, links<br />

neben der Treppe, blieb der Gelbe stehen, legte den Finger auf den Mund und flüsterte jedem ins Ohr:<br />

„Nichts sagen und nichts anfassen!“, bückte sich und drückte auf eine Leiste der Wandtäfelung. Kaum<br />

hörbar surrend sprang eine Holzplatte zurück und gab den Blick frei auf eine Nische, etwa so groß wie<br />

ein Reisekoffer.<br />

„Ah!“ machte René überrascht, trotz Warnung. Pipin drohte ihm wütend.<br />

Zwölf Augen bestaunten: ein Telefon mit vielen Hebeln daran, eine Menge großer und kleiner Schalter,<br />

auf denen rote Kontrollämpchen brannten. Ferner: einen kleinen Lautsprecher, Steckbuchsen mit<br />

seltsamen Aufschriften und säuberlich an der Wand aufgehängte Verbindungsschnüre.<br />

Wieder drückte Pipin auf die Leiste, die Holztäfelung schloss sich surrend. Noch einmal legte er den<br />

Finger auf den Mund, Schweigen fordernd, dann winkte er und ging voran, die Treppe hinab. Unten in<br />

der Halle öffnete er die große Flügeltür und führte die Jungen ins Freie.<br />

Auf dem Brunnendeckel sank Pipin in seinen asiatischen Hocksitz und sagte lächelnd: „So, jetzt könnt<br />

ihr reden!“<br />

„Tja, nun sag mal, Pipin, was ist das für ‘ne Nische und wie hast du das Ding entdeckt?“ platzte René<br />

sofort los.<br />

„Die hübsche Nische gehört unserm Spuk! Und gefunden hab‘ ich sie ganz einfach. Ich bin im runden<br />

Turm die Wendeltreppe rauf und hab‘ durchs Schlüsselloch geschaut. Wen seh‘ ich eifrig telefonieren?<br />

Was meint ihr?“<br />

„Sag schon!“<br />

„Jean-Baptiste!“<br />

„Nein!“<br />

„Doch, ganz bestimmt! Als der sogenannte Geist unten bei euch gerade mal wieder lachte, hab‘ ich die<br />

Tür aufgemacht und zugeschaut. Er hat nichts gemerkt.“<br />

„Wer?“<br />

„Jean-Baptiste natürlich. Hängte das Telefon ein, ging zur Treppe und guckte durch das Geländer in die<br />

Halle runter. Dann hast du irgendwas gesagt, Maurice, was ihm gar nicht passte. Der sogenannte Geist<br />

lachte wieder, im selben Moment raste der Diener zu seinem Kasten, fummelte an einem Schalter, und<br />

das Lachen hörte sofort auf. Dann telefonierte er noch mal, hängte ein und bewegte ein paar Schalter.<br />

Daraufhin donnerte und polterte es überall. Schließlich machte er den Laden dicht — ich hab‘ mir genau<br />

angesehen, wie —und haute ab. Aber mit Vollgas. Ja, und dann hab‘ ich euch geholt.“<br />

Maurice pfiff durch die Zähne.<br />

„ Sieh mal an! Sieh mal einer an! Der gute Jean-Baptiste!“<br />

„Glaubst du, dass Jean-Baptiste der Spuk ist?“ fragte André. „Das wäre aber sehr hässlich von ihm,<br />

seinen armen Herrn so zu quälen!“<br />

„Das wäre aber sehr hässlich von ihm!“ ahmte René ihn nach. „Du mit deinem blöden Baharoff-Fimmel!<br />

Wir haben den Spuk so gut wie sicher, das ist viel wichtiger! Mensch, Jungens, haben die uns einen<br />

vorgezaubert! Mensch! Einen künstlichen, technischen Spuk haben die uns vorgesetzt! Jetzt brauchen<br />

wir bloß noch rauszukriegen, mit wem der Diener telefoniert hat, dann haben wir unser Geld verdient.<br />

Jungens, das kriegen wir auch noch hin.“<br />

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„Moment mal, René, nicht so wild! Das mit dem technischen Spuk stimmt, und wir haben Grund, uns<br />

über Pipins Entdeckung zu freuen. Aber du sagtest selbst ganz richtig, wir brauchen ‚bloß’ noch<br />

rauszukriegen, mit wem Jean-Baptiste telefoniert — ja, was hast du denn, Tista?“ unterbrach sich<br />

Maurice ein wenig ärgerlich, denn der Kleine schluchzte laut.<br />

„Seid doch mal still“, flehte Tista, „seid doch mal still!“<br />

„Warum denn?“<br />

„Ich hab‘ Sasu gehöat!“<br />

„Ach, Unsinn, Tista! Du bist übermüdet. Gleich kommst du ins Bett!“ Seppe wollte den Kleinen zu<br />

sich heranziehen, aber der sträubte sich energisch und bettelte wieder: „Seid doch mal still! Maurice,<br />

lass se doch mal still sein!“<br />

„Also schön, eher werden wir ja doch keine Ruhe kriegen. Seid mal einen Augenblick still!“<br />

Ein paar Sekunden lauschten sie. Dann hörten sie leise, aber ganz deutlich Sasus weinerliches Ma-au,<br />

mau!<br />

Tista überschlug sich förmlich: „Sasu! Sasu! Wo bisse denn? Sasu! Sasu!“<br />

„Verflixt!“ schimpfte René und sprang vom Brunnendeckel herunter. „Wie kommt der preisgekrönte<br />

Dachhase in den Brunnen? Was macht der Bohnerbesen da unten? Frösche fangen, wie?“<br />

„Kaum“, meinte Maurice, „los, hebt mal den Deckel an!“<br />

Tista beugte sich über den Brunnenrand und stammelte zärtliche Lockworte in den schwarzen, hallenden<br />

Schacht.<br />

Laut klagend antwortete Sasu: Ma-oo! Ma-oo!<br />

„Holen gehn! Maurice, holen gehn! Sofoat! Sofoat!“ Er stampfte mit dem Fuß auf und zerrte wild an<br />

Maurices Manchesterhose.<br />

„Holen gehn! Arm Sasu! Sofoat holen gehn!“<br />

„Ist gut, Tista! Wir holen deinen Kater!“ So viel rührende Anhänglichkeit stimmte selbst René weich.<br />

„Is kein Kater! Is ‘ne Katze! Sofoat holen, René, ja?“<br />

„Jaja, sofort, Tista! In der Garage ist ‘ne lange Leiter. Hoffentlich ist der Brunnen nicht so arg tief.“<br />

Die Leiter reichte aus. René zog sein Feuerzeug aus der Tasche und kletterte abwärts. Flackernd<br />

beleuchtete die kleine Flamme die mehr als zwei Meter weite Brunnenröhre. René war noch nicht ganz<br />

unten, da hörten die Jungen ihn leise sagen: „Ich werd‘ verrückt! Nee, so was!“<br />

Er leuchtete mit dem Feuerzeug seitwärts, besah sich irgend etwas und murmelte dabei. Mit Sasu im<br />

Arm kehrte er zurück. Überglücklich nahm Tista seine Freundin in Empfang.<br />

„Jungens“, sagte René seine Stimme war heiser vor Erregung, „bald werden wir wissen, mit wem der<br />

Opa telefoniert hat!“<br />

„Wieso?“<br />

„Geht mal runter! Ihr staunt vielleicht, sage ich euch! Da unten sind zwei Gänge! Gemauerte Gänge!<br />

Kreuzen sich hier im Brunnen! Einer läuft so!“ René zeigte vom Küchengebäude bis zur Ruine<br />

gegenüber. „Der andere läuft so!“ Er zeigte vom Mittelbau über den Brunnen hügelwärts. „Sasu war<br />

nicht im Brunnen, sondern im Gang. In dem zum Mittelbau hin. Da liegen übrigens allerhand Kabel an<br />

der Decke!“<br />

„Ach nee!“ Wieder einmal pfiff Maurice durch die Zähne. „Wir brauchen Lampen, René! Oder Kerzen!“<br />

„Kerzen gibt es in der Halle genug. André, Filou, kommt mit!“<br />

Mit einem Stoß bester gelber Wachskerzen kamen sie zurück.<br />

„Das reicht für ‘ne ganze Prozession! Seppe, du bleibst bei Tista. Du auch, Filou!“<br />

„Immer ich!“ maulte Filou, der mit einem Male keine Angst mehr kannte.<br />

Vier Jungens stiegen in den Brunnen, die brennenden Kerzen in der Hand. Die Leiter stand so, dass sie<br />

den Gang zum Mittelbau gut erreichen konnten. Sie krochen hinein und leuchteten ihn ab. Er war fast<br />

mannshoch, gut einen Meter breit und aus großem Bruchstein gemauert.<br />

„Tatsächlich! Ein dickes Kabel!“<br />

„Soll ich‘s durchschneiden?“ fragte René.<br />

„Auf keinen Fall! Es braucht niemand zu merken, dass wir die Gänge entdeckt haben. Wo führt das<br />

Kabel hin? Das ist nämlich viel interessanter!“<br />

Es führte aus dem Gang heraus, um den Brunnenschacht herum und verschwand in der jenseitigen<br />

Fortsetzung, die hügelab verlief.<br />

„Ich ahne Böses!“ flüsterte Maurice, kletterte auf die Leiter zurück und leuchtete dem Kabel nach.<br />

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„Dacht‘ ich‘s mir doch schier!“ sagte er lächelnd. „Da drüben liegt so eine Art Brücke. Die sogenannte<br />

Geisterbrücke! Pipin, willst du mit André den Gang zum Haus rüber verfolgen? Seht doch mal nach, wo<br />

er endet und was sonst mit ihm los ist. Ich gehe mit René dem Kabel nach, ja?“<br />

„Ist gemacht, Maurice!“ sagte Pipin ruhig. Er spürte, dass dieser Auftrag eine Auszeichnung war, fühlte<br />

deutlich, dass er in den Augen der Jungen erheblich Ansehen gewonnen hatte durch seine Entdeckung.<br />

Maurice und René stiegen hinüber auf die andere Seite. Da lag die Brücke: ein Steg aus dicken Bohlen,<br />

ungefähr einen halben Meter breit, auf einer Seite sogar mit einem Eisengeländer versehen. Sie lief über<br />

Rollen und ließ sich fast mühelos über den Brunnenschacht schieben.<br />

Langsam und möglichst geräuschlos gingen sie weiter vor. Die Luft war modrig und feucht.<br />

„Sieh mal, Maurice“, flüsterte René „elektrische Beleuchtung sogar!“<br />

Nach etwa dreißig Metern führte der unterirdische Tunnel leicht abwärts. Aha, der Hügel, dachte<br />

Maurice. Ich glaube, ich weiß jetzt schon, wo wir landen werden.<br />

Noch rund neunzig Meter legten sie zurück — sie kamen ihnen endlos vor —‚ dann standen sie vor einer<br />

festen, ziemlich neuen Tür. Ohne Klinke und ohne Schloss!<br />

„Wie kommen wir da rein?“ wisperte René. Maurice zuckte die Achseln. Die Nische, die Pipin entdeckt<br />

hatte, fiel ihm wieder ein. Vielleicht gab es hier auch eine Leiste, auf die man nur zu drücken brauchte.<br />

Seine Augen suchten.<br />

Oben links, am äußersten Rand der Türfüllung, fand sich eine Stelle, die aussah wie angestückt. Maurice<br />

drückte darauf — sie wich nach innen, klick — die Tür öffnete sich.<br />

Der Raum dahinter war dunkel. René hob den Knüppel und wollte vorstürmen. Doch Maurice hielt ihn<br />

zurück und untersuchte die Türfüllung.<br />

„Hier, siehst du das Loch?“ flüsterte er. „Genau wie das in der Halle, da, wo der Spuk kitzelig war.<br />

Wenn wir durchgegangen wären, hätte es todsicher Alarm gegeben.“<br />

„Ja, und jetzt?“<br />

Maurice lachte leise. „Durchkriechen, Mensch! Unter dem Loch vorbei. Nimm mal die Kerze!“ Bückte<br />

sich und kroch auf allen vieren in den Raum, ließ sich beide Kerzen geben, damit René nachkommen<br />

konnte. Dann richteten sie sich auf und hielten die Kerzen hoch. Sie befanden sich in einem etwa sechs<br />

Meter langen und vier Meter breiten Kellerraum, in dem mehrere seltsame Tische standen. An der<br />

niedrigen, weißgekalkten Decke entlang liefen viele Kabel und Leitungen, in der rechten, hinteren Ecke<br />

erhob sich eine einfache hölzerne Stiege. Maurice näherte sich ihr.<br />

„Ziemlich sicher, dass da oben der Herr Spuk wohnt, was?“<br />

brummte René so leise er konnte. Maurice nickte und stieg<br />

die Stufen empor. Der Aufgang war durch eine lukenartige<br />

Falltür verschlossen. Auch hier suchte er die bewegliche<br />

Leiste, fand jedoch keine. Ein paar Minuten lang horchte er<br />

angestrengt — nichts zu hören. Er ging wieder hinab und<br />

schaltete das elektrische Licht ein: starke Birnen erleuchteten<br />

den Keller. Rundherum an den Wänden, auf dem<br />

Boden, auf den Tischen unzählige technische Apparaturen.<br />

„‘Ne richtige Hexenküche!“ brummte René. Maurice trat<br />

an einen der Tische und schaute verwundert auf die schräge<br />

Platte aus dickem Milchglas.<br />

„Ob das ‘ne Abhöranlage ist?“ Er betrachtete die<br />

Zeichnungen und Inschriften auf der Glasscheibe. „Alle<br />

Zimmer sind drauf. Halle, Bibliothek, Baharoffs<br />

Schlafzimmer“, las er leise. „Toll, was?“<br />

René rollte die Augen; man sah ihm an, dass er sich keinen<br />

Vers drauf machen konnte.<br />

„Doch, ist sicher eine Abhöranlage!“ meinte Maurice, als er<br />

keine Antwort bekam. „Guck: M1, M2, M3 — das sind bestimmt die Mikrophone! In der Halle sind<br />

sogar sechs auf einmal, in den Zimmern zwei bis höchstens vier. Die blaue Schraffierung und die Pfeile<br />

geben die Reichweite an. Ich entsinne mich, so was Ähnliches schon mal auf technischen Zeichnungen<br />

gesehen zu haben.“<br />

René rollte die Augen und verstand Käsekuchen.<br />

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„Und hier: L1, L2, L3 und so weiter: das sind die Lautsprecher, mit denen sie uns bange gemacht haben.<br />

In jedem, aber auch in jedem Raum eine Unmasse! Hier sind rote Striche dran, die bedeuten sicher, wie<br />

weit man das einzelne Ding hören kann, bei einer bestimmten Einstellung natürlich. Toll, was?“<br />

René grinste verständnislos. Er war zwar Techniker, aber das da ging zunächst mal über seinen<br />

Horizont.<br />

Für jedes Zimmer fanden sie auf der Platte zwei Kippschalter, einer mit einem blauen M, der andere mit<br />

einem roten L gekennzeichnet. Nach einigem Zögern legte Maurice in dem Kästchen ‚Baharoffs<br />

Schlafzimmer’ den Schalter M um. Der Zimmergrundriss leuchtete in blauer Farbe auf — und über sich<br />

hörten sie die Atemzüge des schlafenden Baharoff. Überrascht schauten sie zur Decke: das riesige,<br />

kreisrunde Ding war also ein Lautsprecher!<br />

„Hörst du ihn, René? Das ist der ‚arme’ Baharoff!“ Feixend schaltete er aus und legte den Hebel M im<br />

Kästchen ‚Blaues Zimmer’ um.<br />

Auch dieses schwarzumrissene Rechteck leuchtete blau auf, doch über ihnen blieb es still.<br />

„Keiner zu Hause! Damit haben die Schufte unsere Gespräche ab8ehört, auf Tonband aufgenommen und<br />

uns später wieder vorgespielt.“<br />

„Ah, soo!“ In Renés „Gedächtnishalle“ begann es zu dämmern. „Tja, jetzt kapier‘ ich. Die können hier<br />

alles hören, was im Haus gesagt wird, und können auch wieder zurücksprechen oder sonst ‘n Quatsch<br />

machen, nicht?“<br />

„Klar!“ Gerade wollte Maurice ausschalten, da knarrte es im Lautsprecher, und Andrés Stimme ertönte:<br />

„Nein, wie raffiniert, Pipin! Ich kenne zwar das Leben, aber eine Geheimtür im Bücherschrank habe ich<br />

noch nicht gesehen! Hierdurch ist also der Spuk ins Zimmer gekommen? In der Tat höchst interessant.<br />

Warum machst du denn zu? Ach! Ich muss meinem Erstaunen abermals Ausdruck verleihen, dass man<br />

die Geheimtür auch von dieser Seite öffnen kann. Wie raffiniert! Und man sieht nicht das geringste. Zeig<br />

doch mal, wie du das gemacht hast. Wie? Bloß auf dieses Hölzlein drücken! Das...“<br />

„Nun halt endlich die Klappe André! Du redest einem Löcher in den Bauch!“ sagte Pipins wütende<br />

Stimme.<br />

Lächelnd schaltete Maurice ab.<br />

„Unser sonst so mundfauler Pipin scheint ja allerhand entdeckt zu haben!“<br />

„Scheint so. Kerl, Maurice, in was für ‘ne Bude sind wir hier geraten? Geheimgänge, Geheimtüren,<br />

geheime Lautsprecher und Mikrophone, spukende Diener, und Baharoff soll ‘n Lump sein — was ist<br />

hier bloß los? Gibt es denn hier keinen vernünftigen, ehrlichen Menschen?“<br />

„Ich weiß nicht, René, Wir werden ja bald erfahren, was in Sankt Augustin gespielt wird. Komm, wir<br />

verschwinden!“ Maurice knipste das Licht aus und zog die Tür sorgfältig ins Schloss.<br />

„Soll‘n wir nicht lieber Rabatz machen und den Spuk unsanft wecken ?“<br />

„Das wäre so ziemlich das Verkehrteste, was wir tun könnten. Nein, nein, komm nur, der soll überhaupt<br />

nicht merken, dass er Besuch hatte.“<br />

Als sie aus dem Brunnen stiegen, war es bereits taghell. Kaltblau schimmerte der Himmel. Noch war die<br />

Sonne nicht aufgegangen, doch der östliche Horizont leuchtete schon rötlichgelb. Maurice und René<br />

fröstelten, denn im Schacht war es modrig-warm gewesen. Ein sachter, kühler Windhauch kam vom<br />

Meer herüber. Da kam Pipin mit André.<br />

„Na, Pipin, wie viele Löcher hat dir André in den Bauch gefragt?“<br />

„Was? Wieso? Woher weißt du . . .“<br />

Maurice erzählte vom Abhörtisch.<br />

„Jungens, das ist doch von höchster Interessantheit! Erzähl mal, wie war‘s da unten?“ André war völlig<br />

aus den Fugen, denn das Geld hatten sie ja nun so gut wie sicher.<br />

„Später, André. Pipin soll zuerst erzählen. Los, Pipin!“<br />

„Ja, viel ist da nicht zu erzählen.“<br />

„Doch“, unterbrach ihn André „eine ganze Menge!“<br />

„Lass ihn erzählen, Mensch!“<br />

„Ja, also, der Gang endet im Keller. Nicht in dem, den wir kennen, sondern noch ein Stockwerk tiefer.<br />

Ja, und das drollige ist: da sind noch zwei Treppen! Wir sind beide mal raufgeklettert. Die eine ist im<br />

viereckigen Turm und geht bis oben hin. Die andere ist im runden Turm und geht nur bis zur zweiten<br />

Etage. Da ist ‘ne Geheimtür, die geht auf die Wendeltreppe.“<br />

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„Das ist total verrückt, Jungens! So was von Geheimtür! Das ist ‘n richtiges Stück gemauerte Wand.<br />

Und das Stück dreht sich, wenn man die richtige Stelle erwischt!“<br />

„Muss komisch aussehen!“ meinte Seppe. „Ist das denn nicht schwer zu bewegen?“<br />

„Ach nee, geht ziemlich leicht.“<br />

„Weiter, Pipin!“<br />

„Ja, und da, wo die Geheimtür ist, da fängt ein neuer Gang an, der waagerecht läuft. In der vorderen<br />

Wand vom Mittelbau, vom runden Turm bis zum viereckigen!“<br />

„Wie breit ist der Gang? Die Wand muss doch furchtbar dick sein?“<br />

„Breit ist er nicht, schmal. Man kann sich nur so seitwärts durchschieben. Und im viereckigen Turm<br />

stößt der Gang auf die Geheimtreppe, die bis oben hin geht. Ja, und von dieser Treppe aus kann man in<br />

das Blaue Zimmer kommen!“<br />

„Das hörten wir schon.“<br />

„Stellt euch mal vor: da ist eine Mauerlücke, da muss man reinfassen und einen Hebel umlegen. Und<br />

dann kann man die Tür bewegen! Und wo kommt man raus? fragte ich. Im Bücherschrank. Das heißt,<br />

quasi gewissermaßen neben dem Bücherschrank. Auf der andern Seite von der Geheimtür ist nämlich<br />

ein Stück von dem Bücherschrank draufgemacht und dreht sich mit.“<br />

André platzte fast vor Begeisterung. Mein Geld, dachte er, die Blumenkarre!<br />

„Merkst du was, Seppe? Weißt du jetzt, warum dein Bett am Fenster stehen musste?“<br />

„Na klar!“<br />

„Weiter!“<br />

„Auf dieselbe Art kommt man in das Turmzimmer, neben dem Blauen Zimmer. Genauso auch in den<br />

Speisesaal darunter und in Baharoffs Arbeitszimmer.“<br />

„Sieh mal an! Hätte man dem alten Bau gar nicht zugetraut! Noch was, Pipin?“<br />

„Nein. Kabel und Fußspuren natürlich.“<br />

„Hast du mal in den Quergang reingeschaut, der vom Brunnen bis zur Küche und bis zur Ruine führt?“<br />

„Das haben wir gleich zu Anfang gemacht. Die sind beide verfallen; man sieht auch, dass da niemand<br />

durchgegangen ist.“<br />

„Sehr gut, Pipin!“ Maurice nickte ihm erfreut zu. Wie zuverlässig und gewissenhaft Pipin arbeitet,<br />

dachte er. Wirft sich seit einigen Tagen mächtig ins Geschirr!<br />

„Jetzt musst du aber erzählen, was war bei euch los?“<br />

Maurice berichtete.<br />

„Großartig, Maurice! Meine Anerkennung! Die Spukzentrale wäre also entdeckt, die Brüder sind<br />

geliefert!“ André legte die Hände auf den Rücken und machte ein Gesicht, als hätte er soeben einen<br />

Orden bekommen. „Die Sache hätten wir hervorragend gelöst!“<br />

„Nun schnapp bloß nicht über, Mensch!“ deckelte ihn René. „Überführt ist der Herr Spuk noch nicht!“<br />

„Hm, allerdings. Ich erlaube mir die Frage, warum ihr nicht gleich weiter vorgestoßen seid und den<br />

Spuk ausgehoben habt. Wenn es sein musste, mit unserer Hilfe, das heißt also: mit Gewalt! Wir müssen<br />

doch rauskriegen, wem der Keller gehört und wer hinter dem ganzen technischen Kram steckt. Jean-<br />

Baptiste traue ich das nicht zu!“<br />

„Ich auch nicht. Da ist noch jemand beteiligt, der sehr viel von Physik versteht. Aber mit Gewalt —<br />

nein, das hat keinen Sinn. René hat schon recht: wir müssen den Spuk überführen. Auf frischer Tat<br />

ertappen! Seine physikalische Majestät der Spuk soll uns in die Falle gehen!“<br />

„Wie willste das machen?“ fragte Seppe.<br />

„Das weiß ich noch nicht, aber wir haben ja Zeit. Uns wird schon was einfallen. Bis dahin darf das<br />

sogenannte Gespenst nicht das geringste merken, ist das klar?“<br />

„Natürlich! Sonst geht er uns durch die Lappen!“<br />

„Richtig! Und dazu ist nötig, dass im Haus nicht ein Tönchen laut wird über unsere Entdeckungen,<br />

Alles, was wir sagen, wird abgehört, denkt daran! Achtet gegenseitig auf euch! Und du, Seppe, du<br />

nimmst Tista ins Gebet. Er darf keinesfalls davon sabbeln, dass wir die Katze aus dem Brunnen geholt<br />

haben!“<br />

„Wird gemacht, Maurice.“<br />

„So, und jetzt ins Bett! Ich bin müde wie ein Hund.“<br />

90/117


Die Falle<br />

„Da kommt einer!“ flüsterte Filou, zum Hügel hinaufblickend. Vorsichtig hoben die Jungen ihre Köpfe<br />

über die Weinstöcke, zwischen denen sie sich verborgen hielten. Gegen den helleren Nachthimmel<br />

zeichnete sich eine dunkle, näher kommende Gestalt ab.<br />

„Ja, Pipin“, bestätigte René, „so komisch geht nur Pipin.“ Jetzt erst hörte man seine Schritte, Pipin trug<br />

Espadrilles: leichte Stoffschuhe mit Strohsohlen. Nun hatte er die Jungen entdeckt, die wie schwarze<br />

Klumpen am Boden hockten.<br />

„Jean-Baptiste ist weg!“sagte er leise.<br />

„Ganz sicher?“ fragte Maurice.<br />

„Allerdings!“ Der Gelbe zeigte grinsend die Backenzähne. „Ich hab‘ mich auf den Brunnen gesetzt.<br />

Wenn er nämlich durch den Geheimgang abhauen wollte, musste ihm vorher jemand die Brücke<br />

rüberschieben, und das hätte ich gehört. Wenn er aber oben rum ging, musste er über‘n Hof. So war‘s<br />

denn auch! Als es halb zwölf schlug, machte er in seinem Zimmer das Licht aus. Kurz darauf kam er<br />

leise aus der Hoftür, guckte sich um und ging schnell runter zum Drahtzaun — ich natürlich hinterher—<br />

und verschwand in dem kleinen Häuschen am Abhang, drüben auf der anderen Seite.“<br />

„Gute Idee, Pipin! Besser noch, als sich im Flur zu verstecken. Fein gemacht!“ Anerkennend nickte<br />

Maurice ihm zu.<br />

„Jungens, zu den Waffen!“<br />

Sieben Eichenknüppel wurden geschwungen, denn sogar Tista war bewaffnet. Er hatte Seppe so lange in<br />

den Ohren gelegen mit seinem „Ich will auch das Spuk vahauen!“ bis der ihm eine dünne Gerte<br />

abschnitt. Sieben Jungen setzten sich in Bewegung, hügelaufwärts. Seit einer halben Stunde hatten sie<br />

im Weinberg unterhalb des Schlosses in Bereitschaft gelegen.<br />

Es hatte keine vierundzwanzig Stunden gedauert, einen gemeinsamen Schlachtplan zu entwickeln. Den<br />

ganzen Nachmittag über war am Strand der „Film“ eingeübt worden, der nun abrollen sollte. Die erste<br />

Szene spielte in der Halle, dorthin waren sie unterwegs. Träger der Hauptrolle: Seppe Palotti, ein Star,<br />

ein Meister seines Fachs!<br />

Mindestens ebenso gut wie stehlen konnte Seppe Geräusche und Stimmen nachahmen; auf diese<br />

Fähigkeit allein gründete sich der Schlachtplan, stand und fiel also mit seiner Leistung. Das<br />

schwarzgelockte Bählämmchen war dementsprechend stolz und aufgeregt. Tista war sein Partner —<br />

schauspielerisch hochbegabt übrigens — und machte begeistert mit.<br />

Laut trampelten sie in die Halle. Maurice beugte sich zu dem Kleinen herunter und flüsterte: „Los, Tista,<br />

fang an!“<br />

Tista zog sein braunes Stumpfnäschen kraus und nickte spitzbübisch. „Seppe“, knutterte er, „ich hab‘ so<br />

Angst! Gleich kommt das Spuk wieda!“<br />

Seppe beruhigte ihn mit seiner natürlichen Stimme, sprang dann blitzschnell ein paar Schritte seitwärts,<br />

um aus einer andern Richtung mit einer andern Stimme zu sprechen. Täuschend ähnlich ahmte er<br />

Maurices dunklen Bariton nach, traf genau den nordfranzösischen Tonfall und sagte: „Komm mal her,<br />

mein Kleiner, ich erzähl‘ dir eine schöne Geschichte!“<br />

„Nee, nee, Maurice“, antwortete Tista prompt und warf dem echten Maurice einen schelmischen Blick<br />

zu, „ich bleib‘ bei Seppe! So Angst!“<br />

Die Jungen lächelten und nickten zufrieden. Maurice winkte ab, die Knüppelgarde schlich auf leisen<br />

Sohlen davon. Die Sache scheint zu klappen, überlegte Maurice, während sie die Kellertreppe<br />

hinuntergingen. Die Gebrüder Palotti ersetzen uns vollkommen. Wenn wir etwas Glück haben, merkt der<br />

Herr Spuk sicher nicht, dass wir ganz woanders sind.<br />

Indem von Pipin entdeckten zweiten Keller postierten sie sich neben dem Eingang des Geheimschachts.<br />

René leuchtete mit einer Kabellampe, die er im oberen Keller eingestöpselt hatte. Die Lampe stammte<br />

aus der Garage, ihre Zuführungsleitung war am Nachmittag vorsorglich um das Doppelte verlängert<br />

worden. Nun drückte er sie Filou in die Hand und brummte ihm ins Ohr: „Also, wenn ich sst mache,<br />

knipst du an, klar?“<br />

Filou nickte.<br />

„Gut, mach aus!“<br />

Es war zehn Minuten vor zwölf Uhr.<br />

„Und wenn nun hier doch ‘ne Abhöranlage ist?“ wisperte Pipin dem neben ihm stehenden Maurice zu.<br />

„Was dann?“<br />

91/117


„Daran denk‘ ich die ganze Zeit schon! Aber ich sagte ja, soweit ich mich entsinne, waren auf dem<br />

Abhörtisch nur zwei Kellerräume aufgemalt: der Weinkeller und der daneben, in dem sich der<br />

elektrische Zähler befindet. Das tiefere, zweite Kellergeschoß, in dem wir jetzt sind, war überhaupt nicht<br />

drauf — meine ich wenigstens. Na, wir werden ja sehen!“<br />

Gespannt und erregt warteten sie in der lautlosen Finsternis. Es war abgemacht, dass kein unnötiges<br />

Wort gesprochen werden sollte. Als um zehn Minuten nach zwölf feststand, dass der Spuk heute nicht,<br />

wie an den Tagen vorher, pünktlich zur Geisterstunde ein Vorspiel geben würde, flüsterte Maurice:<br />

„Hinsetzen!“<br />

Kniegelenke knackten, die Jungen hockten nieder. Unendlich langsam verstrich die Zeit. Alle drei bis<br />

vier Minuten schaute Maurice auf die Leuchtzeiger seiner Uhr. Das Warten war qualvoll. Dass der Spuk<br />

ausgerechnet heute so spät kommen muss! Kann unter Umständen noch Stunden dauern, bis. . . Oder —<br />

sollte er was gemerkt haben? Vielleicht hat Seppe nicht richtig gespurt, vielleicht ist hier doch ein<br />

Mikrophon, und man weiß längst Bescheid? Er schnaufte aufgeregt.<br />

Ein fernes Rumpeln und Bollern.<br />

„Auf!“ zischte Maurice. „Achtung!“ Und in einem Anfall von nervöser Lustigkeit flüsterte er kichernd:<br />

„Das war Tistas Bumm-Bumm! Die Brücke!“<br />

Leises Trappen und Scharren kam näher, wurde lauter. Noch lauter schienen ihre Herzen zu klopfen; sie<br />

standen sprungbereit, die Köpfe geduckt. Ein Lichtschein drang durch den Türspalt.<br />

Hoffentlich klappt alles! Hoffentlich klappt alles! Hoffentlich gehen sie uns nicht durch die Lappen,<br />

hoffent.....<br />

Da wurde die Tür geöffnet, der Strahl einer Taschenlampe fiel in den Raum. Zwei Männer!<br />

„Sst!“ machte Rene. Knips! Die Kabellampe verbreitete blendende Helligkeit.<br />

Erschrocken zuckten die beiden Männer zurück und suchten in den Schacht zu entkommen, doch René<br />

und Pipin standen bereits mit geschwungenen Knüppeln vor dem Eingang, und Maurice und André<br />

hielten sie fest.<br />

Der eine der beiden war Jean-Baptiste. Ergeben in sein Schicksal, drehte der alte Mann sich um, knickte<br />

in die Knie, seine Arme baumelten, als gehörten sie ihm nicht; sein Gesicht verfiel, wurde rissig und<br />

faltig wie alte, ausgetretene Schuhe. Er seufzte.<br />

Wer war der andere? Er trug ein weites, weißes Kostüm, das den Kopf verdeckte, und hatte einen<br />

Totenkopf unter dem linken Arm.<br />

„‘n Abend, Herr Spuk!“ sagte René bissig, fasste den Zipfel seines weißen Gewandes und zog es dem<br />

Träger vom Körper.<br />

„Ich werd‘ wahnsinnig!“ sprudelte er überrascht hervor. „Der<br />

falsche Polizist von der Kreuzung! Der livrierte Chauffeur!<br />

Und der Herr Kollege spukt im Nebenberuf? Nein, wie<br />

fleißig! Und das hübsche Totenköpfchen extra mit<br />

Leuchtfarbe angepinselt?“<br />

„Hör auf, René! Dafür haben wir jetzt keine Zeit.“ Zu den<br />

Männern gewandt, die beide stumm — der eine traurig, der<br />

andere hasserfüllt zu Boden blickten, fuhr Maurice fort: „Wir<br />

müssen Sie für eine Weile kampfunfähig machen, aber ich<br />

verspreche Ihnen, dass wir Sie so bald als möglich erlösen<br />

werden.“<br />

Auf seinen Wink zogen die Jungen Stricke, Schnüre und<br />

Tücher aus den Taschen und fesselten die Männer an Händen<br />

und Füßen. Maurice machte Knebel und schob sie den beiden in den Mund. „Bekommen Sie genügend<br />

Luft?“<br />

Jean-Baptiste nickte bekümmert; man merkte, dass ihm die Situation äußerst würdelos vorkam. Der<br />

falsche Polizist wackelte erbittert, aber bejahend mit seinem runden, fleischigen Schädel.<br />

„Ich möchte bloß wissen, ob mir einer von denen hier die Ohrfeigen verpasst hat!“ sagte René und<br />

durchbohrte die <strong>Gefesselte</strong>n mit bösen Blicken.<br />

„Später, René!“<br />

„Ich möcht‘ es aber verflixt gern wissen!“<br />

92/117


„Komm, wir haben keine Zeit zu verlieren! — Achte gut auf unsere Schützlinge, Filou! Falls sie sich<br />

mucksen: ein Pfiff aus der Trillerpfeife genügt! — Ich rate Ihnen jedoch, sich ruhig zu verhalten, meine<br />

Herren“, redete Maurice den Gefangenen gut zu, „sonst werden wir unangenehm!“<br />

„Sehr unangenehm!“ brummte René und betrachtete liebevoll seinen Eichenprügel.<br />

Filou blieb als Wächter bei den gefesselten „<strong>Gespenster</strong>n“ zurück, Maurice, André, René und Pipin<br />

verschwanden im Gang. Lautlos schlichen sie über die Brücke, über den Gang bis zur Tür.<br />

Das war die zweite Szene, dachte Maurice. Hat über Erwarten gut geklappt. Und nun die dritte und<br />

letzte, die wir selbst noch nicht kennen. Was wird sie bringen? Wer sitzt hier hinter dieser Tür? Er reckte<br />

sich und drückte auf die Leiste in der linken oberen Ecke. Klick!<br />

Maurice schob den Türflügel beiseite, verhielt im Eingang und blickte in den hell erleuchteten Raum.<br />

Neben ihm drängten sich die übrigen Jungen.<br />

Zwischen den Tischen, mit dem Rücken zu ihnen, saß ein junger Mann. Er trug Kopfhörer, knipste auf<br />

dem linken Tisch Schalter und Relais ein, drehte verschiedene Knöpfe, schob dann die Kopfhörer hoch,<br />

drückte auf dem Abhörtisch rechts den Knopf M im Rechteck „Halle“ und hörte vergnügt seinem<br />

eigenen Zauber zu, der aus dem Lautsprecher ertönte: Heulen, Pfeifen, Stimmengetöse. Maurice blickte<br />

den drei Jungen ins Gesicht, sie nickten ihm zu, ihre Augen blitzten. Auch sie hatten den Mann erkannt:<br />

es war der Blonde, der ihnen in Marseille die falsche Auskunft gegeben hatte. Rachelüstern zuckte<br />

Renés erhobener Knüppel.<br />

Wieder schaltete der Mann, die Geräusche hörten auf. Jetzt drückte er den Kippschalter und rief:<br />

„Methusalem! Methusalem! — Warum meldet der sich nicht? — Hallo, Methusalem! — Wo bleibt<br />

der?“<br />

„Das können wir Ihnen sagen!“ meinte Maurice und trat einen Schritt vor. Entsetzt fuhr der Blonde<br />

herum, starrte die vier Jungen entgeistert an. Zehn Sekunden lang fiel kein Wort. Der Mann wurde<br />

blutrot und sofort danach schneeweiß. Immer noch starrte er. Dann riss er die Kopfhörer von den Ohren<br />

und stand auf. „Aus!“ Er seufzte wie Jean-Baptiste.<br />

„Sie haben großartig gearbeitet, alle Achtung!“ Er versuchte ein Lächeln, zündete sich eine Zigarette an<br />

und machte ein paar tiefe Züge. Die Jungen schauten ihm schweigend zu. Ganz wohl war ihnen nicht<br />

zumute, obgleich sie doch hätten triumphieren können, aber das tat nicht einmal André. Er dachte zwar<br />

an sein Geld, das nun endgültig verdient war, und freute sich, doch die Niedergeschlagenheit, die sich<br />

auf dem Gesicht des Ertappten malte, blieb auch auf ihn nicht ohne Eindruck.<br />

„Das war also der Spuk“, sagte Maurice.<br />

„Ja, das war er! Ich glaube, ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig für mein oder — besser gesagt —<br />

unser merkwürdiges Verhalten. Bitte, setzen Sie sich doch, so gut es hier geht! Wollen Sie die Güte<br />

haben, mir fünf Minuten Gehör zu schenken, ehe Sie Baharoff Ihren Sieg melden?“<br />

René ließ sich auf einen Hocker fallen und brummte misstrauisch:<br />

„Schmieren Sie uns bloß nicht wieder an!“<br />

„Nein, diesmal gewiss nicht, René! — Nicht wahr, Sie sind doch René? Ich erkenne Sie an der Stimme“,<br />

fügte er erklärend hinzu. „Übrigens: Was haben Sie mit Jean-Baptiste und Gaston gemacht?“<br />

„Gefangen“, erwiderte Maurice lakonisch. „Hol sie her, René, und bring‘ die andern Jungen mit.“<br />

„Gut, warten wir so lange. — Sie haben mich hübsch hinters Licht geführt, alle Achtung vor Ihrem<br />

Imitator in der Halle! Der Mann ist Geld wert.“ Er schaltete auf dem Abhörtisch noch einmal „Halle“<br />

ein. Im Lautsprecher hörte man „André“ sagen: „Wir können jetzt quasi gewissermaßen mal was<br />

anderes tun als warten, nicht wahr, Maurice“ - und „Maurice“ antwortete: „Werd nur nicht ungeduldig!“<br />

Dann hörte man „René“ wütend drohen, er werde sich für die drei Knallzigarren fürchterlich rächen.<br />

„Toll!“ sagte der richtige André. „Seppe ist in der Tat ein Pännemen...“<br />

„Phänomen“, verbesserte Maurice.<br />

„Eben, das sagte ich ja. — Und wie ist das möglich, dass man dieses hier so gut hört?“<br />

„Sehr einfach: durch Mikrophone! Hier, hören Sie sich mal Baharoff an, der hat Besuch von einem<br />

sogenannten Rechtsanwalt.“ Der junge Mann drückte den Knopf M in „Arbeitszimmer“.<br />

„. . . was Sie sagen wollen, lieber Grimard — ö!“ schallte es aus dem Lautsprecher. „Natürlich, es ist<br />

eine Bande schmutziger Straßenjungen, aber — ö, was sollte ich machen? Die teuren Fachleute haben<br />

versagt — ö, total versagt! Niemand anders meldete sich als diese Bande, musste ich nicht wenigstens<br />

den Versuch machen? Den letzten Versuch — ö? Sollen sich ruhig eine Zeitlang im Schloss<br />

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herumtreiben — ö, wenn sie nur den Spuk beseitigen, dann will ich sie gern noch eine Weile ertragen —<br />

ö. Mut haben sie nämlich, wie —ö—, wie — ö — Löwenbändiger!“<br />

Ein boshaftes Kichern, dann eine fremde Stimme: „Haben ja auch nichts zu verlieren.“<br />

„Sehr richtig — ö! Sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben, werde ich sie rauswerfen. Marseiller Gesindel<br />

— ö! Sogar Farbige: ein Chinese, ein Neger! Und dann dieser dreckige Armenier — ö! Sieht aus, als ob<br />

er Läuse hätte — ö entsetzlich! Nachher bin ich den Spuk los und habe Ungeziefer dafür eingetauscht.“<br />

„Wäre schon möglich, hihihi!“<br />

„Zum Glück sind sie dumm, diese Burschen — ö! Dumm wie Bohnenstroh, haben keinerlei Vertrag mit<br />

mir! Beseitigen sie den Spuk wirklich, drücke ich ihnen ein Trinkgeld in die Hand, keineswegs die<br />

versprochene Summe — ö, versteht sich! Und dann fliegen sie raus, hähä!“<br />

Maurice winkte, der Lautsprecher wurde ausgeschaltet. „Netter Mensch, dieser Baharoff, was?“ Seine<br />

Mundwinkel kräuselten sich verächtlich.<br />

„Prima Kerl!“ schnaubte Pipin aufgebracht.<br />

„Er hat recht, der Gute: geschäftlich sind wir nicht auf der Höhe. Bevor wir ihm irgendwas verraten,<br />

machen wir einen Vertrag, das dürfte klar sein! — Vielen Dank übrigens“, fuhr Maurice, an den Jungen<br />

Mann gewandt, fort. „Ihre komische Anlage hat auch entschieden gute Seiten! Monsieur gedachte also,<br />

uns zu betrügen! Na, den Spaß werde wir ihm verderben! Und was er sonst noch von uns denkt, das<br />

kann uns Wurscht sein, nicht wahr?“<br />

Er blickte Pipin an, der seine braunen Hundeaugen zu ihm aufschlug und wie immer gleichmütig<br />

lächelte. „Oder was meinst du? Bist du beleidigt, weil dieser Schuft dich wegen deiner Hautfarbe<br />

verachtet?“<br />

„Och.“ Pipin hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Ich bin Franzose. Dass ich gelb und<br />

schlitzäugig ausgefallen bin, dafür kann ich nicht. Wozu soll ich mich darüber aufregen, wenn ihm<br />

meine Tapete nicht gefällt? Ich will sie ihm ja nicht verkaufen.“<br />

„Und was meinst du?“<br />

André antwortete nicht sofort. Mit hochrotem Kopf schaute er vor sich hin. Das ist also der „arme<br />

Baharoff“, wie ich ihn immer genannt habe! Ein gemeiner Mensch, wollte uns das schwerverdiente Geld<br />

nicht geben. Welch ein Glück, dass wir sein Gespräch belauscht haben! Mir wurde ganz schwach, als er<br />

sagte, er wollte uns nur ein Trinkgeld geben. Nein, Maurice ist wirklich kein Kaufmann. Dreckiger<br />

Armenier hat er mich genannt, dieser Frechling, dieser Betrüger! Dabei wasche ich mich zweimal<br />

täglich! Läuse! Nie gehabt. So etwas von Gemeinheit spottet jeglicher Beschreibung. Dreckiger<br />

Armenier!<br />

„Nun red mal endlich, André, und mach dir vor allem nichts draus!“<br />

„Tue ich auch keineswegs. Ich zähle mich ebenfalls zu den Franzosen! Ich erblickte in Marseille das<br />

Licht der Welt, welches amtlich feststeht. Dass mein Vater aus Armenien geflohen ist, weil damals die<br />

Armenier wegen ihres christlichen Glaubens von den Türken verfolgt wurden, gibt Herrn Baharoff<br />

keineswegs das Recht, mich zu verachten. Ich möchte einmal die Frage gewissermaßen aufwerfen, ob<br />

die vielen tausend Franzosen armenischer Herkunft etwa schlechter sind als andere?“<br />

„Bestimmt nicht, André!“ fiel der junge Mann ein. „Wer einen Menschen deswegen verachtet, weil er<br />

einem andern Volk angehört, beweist damit nur dünkelhaften Hochmut. Alle Menschen sind Brüder und<br />

Schwestern einer einzigen Familie. Das heißt nicht, dass man die Unterschiede übersehen soll, wohl<br />

aber, dass man in jedem Menschen, ganz gleich wie er aussieht und wo er herkommt, seinen<br />

Verwandten sehen und ihn dementsprechend behandeln soll.“<br />

„Eben! Und der Name Baharoff klingt auch nicht astrein französisch!“ grollte André.<br />

Jean-Baptiste, Gaston und die restlichen Jungen kamen herein.<br />

„Du“, sagte René und zeigte auf Gaston, „das ist Baharoffs Chauffeur, der im Sanatorium liegt! Alles<br />

Schwindel hier, nix wie Schwindel!“<br />

„Das mussten wir so einrichten, René! Wo Sie zu sieben Mann aufkreuzten, brauchten Jean-Baptiste und<br />

ich Unterstützung. Also wurde Gaston vom Spuk verletzt! — Darf ich Sie nun bitten, mir in das<br />

Wohnzimmer zu folgen?“<br />

Während Maurice die Stiege hinaufging, überlegte er, wo er Gaston, den Chauffeur mit dem<br />

unverkennbaren Marseiller Dialekt, früher schon gesehen habe. Bereits neulich, als Gaston den<br />

Polizisten an der Kreuzung spielte, war er ihm bekannt vorgekommen. Die große, kräftige Figur, der<br />

runde Schädel, die hellgrauen Augen — woher kannte er diesen Mann?<br />

94/117


„Bitte, nehmen Sie Platz!“ Das Zimmer war eng und niedrig, nicht mit denen des Schlosses zu<br />

vergleichen, aber es wirkte gemütlich und anheimelnd. Die Jungen setzten sich, Jean-Baptiste und<br />

Gaston blieben stehen. Die Gesichter der beiden waren noch immer tief bekümmert.<br />

„Bitte, Methusalem, bring uns was zu trinken!“ sagte der Blonde und lächelte dem alten Diener<br />

aufmunternd zu.<br />

„Sehr wohl, Herr Graf!“ antwortete Jean-Baptiste mit Betonung. Sein Gesicht verlor die Kummerfalten<br />

und wurde dienstlich, sein Körper straffte sich.<br />

„Graf?“ staunte André.<br />

„Ach so, Sie wissen noch nicht, wen Sie gefangen haben: ich bin Franz Graf von St. Augustin und<br />

Trayas.“<br />

„Der Sohn von dem Alten, der das Schloss verkauft hat?“ platzte Seppe heraus.<br />

„Ganz richtig! Damit wären wir schon bei dem, was ich erzählen wollte.<br />

„Gaston“, unterbrach er sich, „setzen Sie sich doch! Unser Besuch beißt sicher nicht.“<br />

„Nee, nicht unsere Angewohnheit. Komm her, Kollege!“ brummte René und rückte auf der Couch ein<br />

wenig beiseite.<br />

„Ja, also“, fuhr der Graf fort, „damit Sie verstehen, um was es geht, muss ich so ziemlich bei Adam und<br />

Eva anfangen.“<br />

„Wie? Was? So lange wohnen Ihre Vorfahren hier schon?“ staunte André und nahm gleichzeitig Seppe<br />

das silberne Feuerzeug aus der Hand, mit dem der König der Diebe spielte, setzte es mitten auf den<br />

Tisch und blickte Seppe drohend an. Der wurde rot und steckte die Hände unter den Tisch.<br />

„Nein, so lange nun gerade nicht“, erwiderte der junge Graf schmunzelnd, „aber immerhin seit fast<br />

vierhundert Jahren.“<br />

„Oh!“ André war tief ergriffen. Das war richtige Vornehmheit! Was anderes als so ein hergelaufener<br />

Baharoff.<br />

„Die Sache begann vor rund acht Jahren damit, dass eines Tages ein Häusermakler auftauchte, der<br />

meinem Vater das Schloss abkaufen wollte. Der Mann bot einen guten Preis, aber mein Vater dachte<br />

nicht daran, zu verkaufen. So alten Familienbesitz gibt man nun einmal nicht her.“<br />

„Da haben Sie recht!“ brummte René. „Unser Hof zu Hause ist nicht groß, und reich kann man da auch<br />

nicht werden, aber seit 1687 sitzen die Forgerons drauf. Meinen Sie, mein Vater tät‘ den verkaufen?<br />

Nie!“<br />

Der junge Mann nickte zustimmend. „Sie verstehen das also! Nun, reich konnte man auf St. Augustin<br />

auch nicht werden. Es ging sogar recht knapp bei uns zu, was, Methusalem?“<br />

„Allerdings, Herr Graf!“<br />

„Mach doch keinen Zauber, Alter! — Sonst sagt er nämlich Franz zu mir, und das finde ich viel schöner.<br />

Als ich geboren wurde, war Jean-Baptiste schon sechsundzwanzig Jahre bei uns. Prost, altes<br />

Familienübel! Prost, Jungens!“<br />

„Prost, Herr Graf! — Komm, Opa, trink auch einen, im Keller war‘s verteufelt kühl.“<br />

„René fließt mal wieder über vor Güte, nicht wahr?“ meinte André und grinste überlegen. Der Graf trank<br />

ihnen lächelnd zu.<br />

„Nun, es ging recht bescheiden her bei uns“, fuhr er fort. „Wir mussten vom Ertrag unserer Weinberge<br />

leben und das Schloss erhalten. Als Verwalter hatten wir einen tüchtigen Winzer, die übrigen Arbeiten<br />

machten wir so ziemlich selbst. Rebenschneiden, zum Beispiel, und Düngen haben mein Vater, Jean-<br />

Baptiste, Gaston und ich zusammen mit dem Verwalter Punaise gemacht. Nur bei der Weinlese stellten<br />

wir tageweise ein paar Leute ein.“<br />

„Es war eine herrliche Zeit!“ schwärmte Jean-Baptiste. „Das Arbeiten in frischer Luft war so gesund,<br />

nicht wahr, Gaston? Du warst damals viel schlanker!“<br />

Der Chauffeur knurrte nur.<br />

„Die beiden sind ebenso nett zueinander wie Sie, André und René“, sagte der Graf, „zanken sich ewig!<br />

— Wo waren wir denn?“<br />

„Bei Punaise“, erinnerte Jean-Baptiste.<br />

„Hm, Punaise.“ Das Gesicht des jungen Mannes wurde ernst. „Ein halbes Jahr später mussten wir den<br />

Mann entlassen. War bis dahin tadellos gewesen, nun fing er mit einem Male an zu trinken, tat nichts<br />

mehr, wurde frech und unausstehlich. Vier Monate später stürzt der neue Winzer, ein junger Mann aus<br />

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dem Dorf, morgens zu meinem Vater und schreit: „Die Reben sind kaputt!“ Man hatte uns über<br />

dreitausend Rebstöcke abgehackt!“<br />

„Eine Büberei, eine Schandtat!“ entrüstete sich André. „Das war doch sicher dieser Punaise, nicht wahr?<br />

Ich bin ihm neulich mal begegnet.“<br />

„Wir haben natürlich auch sofort gedacht: ein Racheakt von Punaise! Aber der Mann hatte eine Reihe<br />

Zeugen dafür, dass er in der fraglichen Nacht in Marseille gewesen war. Es kam nie heraus, wer die<br />

Reben abgeholzt hatte.“<br />

„Manchmal ist die Polizei wie vernagelt.“ Seppe grinste verschmitzt, er schien einige Erfahrungen zu<br />

haben. Wieder blickte André ihn drohend an. Der Lümmel blamiert die Innung, dachte er.<br />

„Na, um es kurz zu machen: unsere Existenzgrundlage war hin, wovon sollten wir jetzt leben? Geld für<br />

neue Weinstöcke hatten wir nicht. Mein Vater war verzweifelt. Eine Woche später erschien Baharoff,<br />

sagte, er hätte in der Zeitung von der Geschichte gelesen, machte großes Theater und tat furchtbar<br />

empört über die „ö — entsetzliche Tat“. Und dann bot er freiwillig Geld an zu sehr günstigen<br />

Bedingungen. Einen so verdienten Mann wie meinen Vater — der alte Herr war Vorsitzender der<br />

Landwirtschaftskammer und Präsident von allen möglichen Vereinen — könne man doch nicht<br />

sitzenlassen, meinte er.“<br />

„Kannte Ihr Vater Herrn Baharoff?“ fragte Maurice.<br />

„Ganz flüchtig. Auf irgendeiner Tagung hatten sie sich mal gesehen. Deswegen wollte er das Geld<br />

zunächst nicht nehmen, sondern bemühte sich um einen Bankkredit. Aber er bekam keinen. Überall<br />

hörte er nur Ausflüchte, die Zeiten seien schlecht, die Sicherheit nicht ausreichend, Weinberge in dieser<br />

Gegend nicht genügend ertragreich und so weiter. Seit längerer Zeit schon wissen wir, dass Baharoff<br />

überall Gerüchte ausgestreut hatte über unsere enormen Schulden und unsere großen Ansprüche, da gab<br />

uns natürlich niemand was! Schließlich war also Vater gezwungen, Baharoffs Geld zu nehmen,<br />

dreißigtausend Franken, zu ganz geringen Zinsen. In dem Vertrag stand, dass Baharoff das Darlehen nur<br />

kündigen könne, wenn er selbst in Schwierigkeiten gerate. Klingt überaus menschenfreundlich, nicht<br />

wahr? Doch gerade das hätte meinen Vater stutzig machen müssen, aber der war viel zu anständig, um<br />

einen Schwindel zu vermuten.“<br />

„Schwindel? Ich finde in der Tat, dass Monsieur Baharoff großzügig gehandelt hat!“<br />

„Warten Sie nur ab, André, es geht weiter! — Die Summe, dreißigtausend Franken, wird Ihnen ziemlich<br />

hoch vorkommen, aber wir brauchten ja nicht nur neue Reben, sondern mussten schließlich auch leben,<br />

bis die neuen Stöcke trugen, und das dauert bekanntlich drei Jahre. Außerdem sollte ich studieren. Nun,<br />

unser Hügel wurde neu bepflanzt, ich fuhr nach Paris, zur Universität. Es waren noch keine zwei Jahre<br />

vergangen, da erschien Baharoff wieder, jammernd und wehklagend, in Sack und Asche sozusagen.“<br />

Der junge Graf machte eine Pause und blickte mit düsterer Miene vor sich hin.<br />

„Und?“ brummte René auffordernd.<br />

„Ja, unser guter Baharoff gestand weinend, dass er ein armer Mann geworden sei! Das Schicksal hatte<br />

ihn schwer getroffen, die schriftlichen Beweise dafür hatte er gleich mitgebracht. Eine Fehlspekulation<br />

hatte ihn sein Barvermögen gekostet; ein Schiff, das ihm zum Teil gehörte, war untergegangen; eine<br />

Aktiengesellschaft hatte mit seinem Gelde Pleite gemacht! Traurig, nicht wahr? Fehlte nur noch, dass<br />

seine Kragenknöpfe vom Blitzschlag getroffen worden wären.“<br />

„Und dann?“<br />

„Und dann“ — der Graf machte eine bedauernde Handbewegung —‚ „dann musste er, so schwer es ihm<br />

auch fiel, das Darlehen kündigen. Wegen persönlicher Notlage! Er brauchte das Geld leider selbst, um<br />

sich eine neue Existenz aufzubauen.“<br />

„Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, werter Herr Graf, dass Sie Monsieurs Angaben wenig<br />

Glauben geschenkt haben, nicht wahr?“<br />

„Wenig Glauben? Na, hören Sie mal weiter! Mein Vater bemühte sich wieder um einen Kredit, lief sich<br />

die Hacken ab. Aber die Zeiten waren immer noch schlecht, keiner von seinen Freunden hatte soviel<br />

Geld flüssig, und die Banken gaben ihm nichts. Hoffnungslos! Was blieb ihm anderes übrig, als<br />

schließlich das Schloss mit den Weinbergen drum herum zu verkaufen?“<br />

„Das war hart, wie?“<br />

„Hart? Als mein Vater hier ausziehen musste, war er ein Wrack. Eine Maklerfirma aus Nizza kaufte St.<br />

Augustin für einen Pappenstiel: für zehntausend Franken! Mindestens das Zehnfache wäre angemessen<br />

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gewesen, aber es fand sich kein anderer Käufer. Mein Vater zog nach Fréjus zu einem Freund und starb<br />

dort, knapp ein Jahr später. Ich stand kurz vor dem Examen damals.“<br />

„Und das Schloss?“<br />

„Drei Monate blieb es leer, dann wurde es einen Monat lang renoviert. Und wer zog ein?“<br />

„Baharoff?“<br />

„Ja! Der plötzlich arm gewordene Baharoff war ebenso plötzlich wieder reich genug, das Schloss zu<br />

kaufen und herzurichten!“<br />

„Das gibt allerdings zu denken!“ André rieb sich das Kinn.<br />

„Ziemlich dicker Hund!“ brummte René.<br />

„Nicht wahr? Ich nahm mir den geschicktesten Marseiller Rechtsanwalt . .“<br />

„Etwa Monsieur Delattre?“<br />

„Ja, kennen Sie ihn?“<br />

„Allerdings! Einer meiner Stammkunden.“<br />

André faltete die Arme vor der Brust und setzte eine bedeutsame Miene auf.<br />

„Delattre tat, was er konnte, musste jedoch bald feststellen, dass rechtlich nichts zu machen war.<br />

Baharoffs Angaben stimmten anscheinend; es war ihm nicht nachzuweisen, dass er das Ganze inszeniert<br />

hatte, um sich in den Besitz des Schlosses zu setzen. Dennoch blieb ich misstrauisch.“<br />

„Glauben Sie, dass Baharoff die Reben abholzen ließ?“ fragte Maurice, lebhaft interessiert.<br />

„Ich möchte nichts behaupten, was ich nicht beweisen kann! Gut möglich, dass er nur die Lage<br />

ausnutzte, dass die Tat ihm sehr gelegen kam. Er hatte nun mal ein Auge auf St. Augustin geworfen; er<br />

war es auch, der vor acht Jahren den Grundstücksmakler zu meinem Vater schickte, das hat mein<br />

Detektiv inzwischen herausbekommen.“<br />

„Sie glauben also keinesfalls an Baharoffs plötzliche Armut und an sein ebenso plötzliches<br />

Wiederreichwerden, obgleich Ihr Anwalt feststellen musste, dass seine Angaben richtig waren?“<br />

„Nein, Maurice, daran kann ich nicht glauben und Rechtsanwalt Delattre auch nicht! Baharoff hat das<br />

alles nur vorgetäuscht, aber er ist so raffiniert, dass man ihn nicht packen kann.“<br />

„Das ist Ihre Meinung, Herr Graf! Einen Beweis dafür haben Sie jedoch nicht, oder?“ fragte André<br />

etwas spitz.<br />

„Keinen, der vor Gericht schlüssig wäre — das stimmt. Doch genügend, um zu wissen, dass Baharoff<br />

uns betrogen hat! Erst hat er auf normalem Weg versucht, St. Augustin zu bekommen— das beweist sein<br />

Interesse. Und wer kaufte schließlich das Schloss? Ich sagte vorhin: eine Firma aus Nizza. Und wer gab<br />

den Auftrag dazu? Natürlich nicht Baharoff — so dumm ist er nicht —‚ sondern Herr Grimard, den Sie<br />

eben im Lautsprecher hörten. Grimard, ein Rechtsanwalt ohne Zulassung, eine trübe Figur, die Baharoff<br />

gelegentlich als Strohmann benutzt! Außerdem besitzt der Mann, nach meinen Erkundigungen<br />

wenigstens, überhaupt keine zehntausend Franken, sondern hat mehr Schulden als ein Jagdhund Flöhe!<br />

Und dann die Sache selbst! Die riecht ja förmlich nach Betrug!“ Der Graf hatte sich in zornigen Eifer<br />

geredet!<br />

„Nun ja, sie ist zweifelsohne etwas verdächtig“, meinte André, zog die Augenbrauen empor und<br />

wackelte mit dem Wasserkopf. „Doch ich kenne das Leben, und ich muss sagen, mir sind Fälle von<br />

schnellem Reichtum bekannt geworden. Warum sollte er nicht? Baharoff ist sicherlich ein guter<br />

Geschäftsmann.“<br />

„Sogar ein so guter, dass er uns um die Belohnung betrügen wollte!“ fuhr Pipin boshaft fort. Andrés<br />

Augenbrauen rutschten nach unten, sein Gesicht wurde finster.<br />

„Und dann haben Sie gespukt? Sie wollten ihn wohl rausekeln, was?“ fuhr Pipin grinsend fort.<br />

„Nein, damit begann ich erst später. Ich machte zunächst Examen. . .“<br />

„Was haben Sie denn eigentlich studiert?“ fragte Maurice.<br />

„Physik, Spezialgebiet Hochfrequenztechnik.“<br />

„Aha!“<br />

„Ich bekam eine Stelle beim Rundfunk und lernte ein Jahr lang Geräusche mischen und sonstige<br />

akustische Späße.“<br />

„Aha! Wir können Ihnen bestätigen, dass Sie gut aufgepasst und viel gelernt haben!“<br />

„Danke schön, Maurice!“ Der Graf lächelte ein wenig bekümmert.<br />

„Sagen Sie das dem Chefingenieur von Radio Paris, wenn Sie ihn mal sehen! Der raunzte mich nämlich<br />

zuweilen an, wenn ich nicht ganz bei der Sache war. Kein Wunder: ich dachte ständig darüber nach, wie<br />

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ich das Schloss wiederkriegen könnte. Irgendwann, als ich mal eine Geräuschkulisse aufnahm, kam mir<br />

damals schon die Idee zu spuken. Doch ich ließ den Gedanken gleich wieder fallen, kam mir nicht ganz<br />

anständig vor — und auch wohl ein bisschen verrückt. Nein, anfangs versuchte ich es auf geradem<br />

Weg.“<br />

„Wie denn? Da bin ich aber gespannt!“<br />

„Ich kündigte und fuhr hierher. Durch Jean-Baptiste — ich wollte Baharoff überhaupt nicht sehen —<br />

kaufte ich dieses Häuschen, in dem zu Zeiten meines Vaters der Gärtner wohnte. Der Bau steht übrigens<br />

auf dem Sockel eines ehemaligen Außenforts, daher auch der unterirdische Gang. Und dann begann ich<br />

zu arbeiten. Zuerst stellten wir Lehrmittel her für Physikunterricht in Schulen, später auch technisches<br />

Spielzeug.“<br />

„Ach, lohnt sich das denn?“ André war ganz Ohr.<br />

„Sicher, wenn man besser und origineller ist als andere! Wir waren fleißig und verdienten recht gut.“<br />

„Wer ist ‚wir’?“<br />

„Jean-Baptiste, Gaston und ich. Die beiden halfen mir in jeder freien Minute, außerdem hatte ich zwei<br />

Leute aus dem Dorf. Wenn ein Gerät besonders gut einschlug, haben wir es durch eine Fabrik herstellen<br />

lassen. Kurzum: Innerhalb von zwei Jahren hatte ich zehntausend Franken zusammen — war nicht mein<br />

Geld allein, Jean-Baptiste und Gaston hatten mir ihre Ersparnisse gegeben, und ein paar Freunde hatten<br />

mir etwas geliehen. Mit diesem Geld schickte ich einen Freund zu Baharoff, das Schloss<br />

zurückzukaufen.“<br />

„Und?“<br />

„Er lachte ihn aus und sagte, für das Zwanzigfache würde er vielleicht verkaufen!“<br />

„Sie sind aber naiv!“ meinte André vorwurfsvoll. „Wo der Mann so viel angelegt hat, Aufzug, Kakteen,<br />

Wasserleitung. . .“<br />

„Ich weiß, ich weiß! Sie müssen das Gartenhäuschen hier in Rechnung stellen, das hatte ich ja bereits<br />

gekauft, und damit dürften die Neuanlagen abgegolten sein. Aber selbst wenn noch ein Rest geblieben<br />

wäre — den hätte ich auch noch bezahlt. Doch das Zwanzigfache! So viel Geld kann ich in absehbarer<br />

Zeit selbst beim besten Willen nicht verdienen.“<br />

„Da haben Sie eben gespukt, nicht?“<br />

„Ja, ich wusste mir keinen andern Rat. Ich wollte ihm das Haus so verleiden, dass er es eines Tages<br />

verkaufte.“<br />

„Beinahe hätten Sie es geschafft, wenn wir Sie nicht überlistet hätten!“ André kreuzte stolz die Arme<br />

vor der Brust und lehnte sich zurück. Der Graf nickte stumm. Eine Zeitlang blieb es still. Tista schlief<br />

auf Seppes Schoß, die Katze an sich gedrückt. Maurice gähnte verstohlen und blickte auf die Uhr. Der<br />

Graf schien noch etwas sagen zu wollen, räusperte sich jedoch nur und rückte seine Krawatte zurecht.<br />

Jean-Baptiste erhob sich feierlich zu ganzer Länge. „Wenn ich Sie um etwas bitten dürfte“, sagte er mit<br />

flatternder Stimme, „wenn Sie so nett sein wollten, den Namen des Grafen nicht zu nennen, dann wäre<br />

ich Ihnen sehr dankbar! Baharoff würde sicher zur Polizei gehen und Bestrafung fordern, und das wäre<br />

zuviel, wo schon... nicht wahr?“ Er schluckte heftig und blickte von einem zum andern. „Sie zeigen ihm<br />

die Mikrophone und Lautsprecher und sagen ihm, es würde nie wieder spuken, wollen Sie das tun?“<br />

„Natürlich, Jean-Baptiste! Wird gemacht!“ Maurice stand auf. Irgendwie war die Sache verflixt<br />

peinlich. Ob der Alte für sich selbst so inständig bitten würde?<br />

„Vorausgesetzt, dass Baharoff damit zufrieden ist! Andernfalls sehen wir uns quasi gewissermaßen<br />

gezwungen. . .“<br />

„Ach, hör doch auf, Mensch! Nee, das machen wir dem schon plausibel, verlassen Sie sich drauf, Opa!“<br />

René winkte ihm väterlich beruhigend zu. Jean-Baptistes Anhänglichkeit schien den dickfelligen René<br />

zu rühren.<br />

„Jungens, drei Uhr durch! Kommt, höchste Zeit, dass wir ins Bett kommen!“ Alle standen auf; Tista<br />

wurde wach und knutterte. „Wir sagen Ihnen morgen Bescheid“, fuhr Maurice fort, an den Grafen<br />

gewandt.<br />

„Ich bringe Sie raus, meine Hunde laufen draußen frei herum.“ Filou wurde munter, Hunde<br />

interessierten ihn viel mehr als Schwindeleien oder Geld.<br />

Vor der Tür pfiff der junge Mann, gleich darauf tauchten aus dem Dunkel drei Hunde auf: ein großer,<br />

zottiger, gefolgt von zwei gleichartigen kleineren. „Ablegen!“ Gehorsam legten sich alle drei auf den<br />

Boden.<br />

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„Oh!“ seufzte Filou, als er die Tiere sah.<br />

„Gute Nacht!“<br />

„Gute Nacht, Jungens!“ Die Stimme des Grafen klang ziemlich bedrückt.<br />

Allerlei Gedanken schossen Maurice durch den Kopf, während sie den Hügel hinaufstiegen. Beim<br />

Brunnen blieb er stehen und hielt die Jungen an.<br />

„Hört mal, für ‘n langes Palaver sind wir jetzt alle zu müde, aber ich bitte euch, das, was ihr heute<br />

Abend gehört habt, noch einmal genau zu überlegen. Wollt ihr?“<br />

„Ich weiß zwar nicht, was noch zu überlegen wäre, aber wenn du willst, werde ich mir noch ein paar<br />

Gedanken machen“, flüsterte André.<br />

Pipin grinste breit und nickte Maurice zu. Die andern brummten oder sagten: „Ja, ist gut!“<br />

Was ist mit Pipin, dachte Maurice. Hat der schon geschaltet?<br />

Andrés erstes Wort am nächsten Morgen war: „Wann gehen wir zu Baharoff? Wir dürfen keinesfalls<br />

vergessen, sofort einen Vertrag mit ihm zu schließen, habt ihr gehört?“ Er hatte nachgedacht, jedoch nur<br />

darüber, ob er sich mit seinen Blumen an der Cannebière oder in der Rue de Rome aufstellen solle.<br />

„Warte doch ab, Kerl!“<br />

Kaum hatten sie gefrühstückt, da stand Maurice auf und sagte:<br />

„ Kommt, wir gehen an den Strand! Dein Unterricht wird später nachgeholt, Filou!“<br />

„Aber Maurice, was sollen wir denn am Strand? Wir gehen zu Baharoff, auf dass wir unser Geld<br />

bekommen!“<br />

„Nein, André! Wir müssen uns zunächst mal über verschiedenes unterhalten, und das machen wir am<br />

besten am Strand, da sind wir ungestört.“<br />

„Nun, wenn du unbedingt willst!“ murrte André und dachte: Was der wieder hat? Mit dem ist ständig<br />

was anderes los.<br />

„Maurice, ich komme sofort nach, geht ihr schon ruhig vor“, sagte Pipin. „Meine Espadrilles sind rechts<br />

ein bisschen geplatzt, und wenn ich die nicht sofort flicke, geh’n die Dinger total aus dem Leim. Ich<br />

lauf‘ durch den Weinberg runter, dann bin ich schneller unten.“<br />

„Gut. — Kommt!“<br />

In diesem Augenblick erschien Jean-Baptiste, um abzuräumen. Sein Gesicht sah aus wie immer; man<br />

konnte sich nicht vorstellen, dass er gestern Abend gefesselt und geknebelt im Keller gestanden hatte. Er<br />

grüßte äußerst höflich und machte sogar eine kleine Verbeugung.<br />

Unten am Wasser suchten sie sich eine Felsenecke, wo man bequem im Halbkreis sitzen konnte. Kaum<br />

waren sie soweit, da erschien auch Pipin, im Rikschastil natürlich.<br />

„Nun denn, Maurice, was gibt es noch zu besprechen? Soweit ich sehe, ist alles sonnenklar!“<br />

„Hm, ja, mal sehen! — Was haltet ihr von der Geschichte? Könntet ihr euch vorstellen, dass Baharoff<br />

die ganze Sache eingefädelt hat, um das Schloss zu bekommen?“<br />

„Was wir uns vorstellen können oder nicht, lieber Maurice, das steht doch gar nicht zur Debatte! Wir<br />

haben den Spuk gefangen, jetzt kriegen wir das Geld, basta!“<br />

Maurice ging auf Andrés Entgegnung nicht ein, sondern wandte sich an René: „Was meinst du?“<br />

„Tja, vorstellen könnte ich mir das schon. Sieht fast so aus, als ob der Graf recht hätte!“<br />

„Was geht uns das an?“ fuhr André dazwischen, doch Maurice winkte energisch ab.<br />

„Und du, Seppe?“<br />

Der König der Diebe grinste, seine Augen glänzten vor Bewunderung wie reife Sauerkirschen.<br />

„Junge, der Baharoff hat da ‘n dickes Ding gedreht, na! Von dem könnte man was lernen — aber ich<br />

will ja so was nicht mehr machen“, fügte er ernst werdend hinzu.<br />

„Filou?“<br />

„Der Chraf hat unbedink recht!“ bubbelte der Schwarze. Er hatte ebenfalls nicht nachgedacht, die Sache<br />

war ihm viel zu kompliziert, doch der junge Mann war ihm schon deswegen sympathisch, weil er Hunde<br />

besaß — daher glaubte er ihm ohne weiteres.<br />

„Pipin?“<br />

„Baharoff ist ‘n Lump, und was für einer! Ich bin sogar überzeugt, dass er den Wein abhacken ließ, um<br />

das Schloss in seine Hand zu kriegen!“<br />

„Pipin! Diese Verdächtigung auszusprechen hat selbst der Graf nicht gewagt!“<br />

„Hör auf, Mensch! Irgendwie weiß ich, dass es so ist. Für so was hab‘ ich ‘n feinen Riecher.“<br />

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„André, du bist noch mal dran. Bitte, beantworte meine Frage und nichts weiter!“<br />

André hatte gespannt und mit steigender Erregung das Frage-und-Antwort-Spiel verfolgt. Was war hier<br />

los? Was hatte Maurice vor? Das wurde ja langsam bedrohlich! Sorgfältig überlegte er sich seine<br />

Antwort.<br />

„Nun, was der Jüngling erzählte, klang — hm — sagen wir: einigermaßen glaubhaft, hatte quasi<br />

gewissermaßen den Schein des Rechts für sich.“ Er hob den rechten Zeigefinger und stocherte aufgeregt<br />

in der Luft herum. „Den Schein des Rechts, sage ich! Nicht das wirkliche Recht, wenn er das hätte,<br />

könnte er zum Gericht gehen und brauchte nicht zu spuken. Außerdem weiß ich nicht, was die Frage<br />

bedeuten soll.“<br />

„Ganz einfach: wenn man davon überzeugt ist, dass Baharoff Unrecht getan hat — und ich bin der<br />

Ansicht —‚ dann darf man ihm auf keinen Fall helfen! Dann dürfen wir den sogenannten Spuk<br />

überhaupt nicht fangen, dann müssen wir auf das Geld verzichten!“<br />

„Waas? Auf das Geld verzichten?“ schnaubte René.<br />

„Jawohl!“ rief Pipin laut.<br />

„Aber Maurice! Bist du des Wahnsinns Beute? Auf das so mühselig erworbene Geld verzichten? Du bist<br />

verrückt, mein Lieber! Wir verzichten keineswegs!“ André sprang auf und fuchtelte wild mit beiden<br />

Armen.<br />

„Reg dich erst mal wieder ab und setz dich hin. So!“<br />

Das wird ein schweres Stück Arbeit, dachte Maurice. Na, zunächst die weniger hartnäckigen Fälle. „Hör<br />

mal zu“, wandte er sich an René, „du sagtest doch eben, du könntest dir vorstellen, dass Baharoff das<br />

Schloss ergaunert hat?“<br />

„Tja, schon. Aber was geht mich der Graf und sein dummes Schloss an? Ich will mein Geld, ich will<br />

mich möglichst bald selbständig machen. Pöh, was hab‘ ich mit diesen Leuten zu schaffen!“<br />

„So einiges! Stell dir mal vor, Baharoff würde auf die gleiche Art und Weise euern Bauernhof<br />

ergaunern, auf dem deine Vorfahren schon seit 1789 sitzen. . .“<br />

„Seit 1687, Mann!“<br />

„Meinetwegen. Stell dir vor, eure Reben würden abgehackt — ihr habt doch sicher Wein?“<br />

René nickte finster.<br />

„Oder eure Weizensaat würde vernichtet, Baharoff liehe deinem Vater Geld, um ihn dann zu vertreiben<br />

und euren Hof billig zu kaufen. Was würdest du tun? Würdest du Baharoff helfen?“<br />

„Helfen? Den würde ich mit der bloßen Faust zu Brei hauen!“ René winkelte die Arme an und rollte die<br />

Augen wie ein gereizter Gorilla.<br />

„Sieh mal an! Aber jetzt willst du ihm helfen! Wo ist denn da der Unterschied? Ist das denn gleichgültig,<br />

was einem andern Menschen geschieht?“<br />

„Nee, du hast recht, so leid es mir tut“, knurrte René ärgerlich. „So ‘nem Schuft darf man wirklich nicht<br />

helfen, von so ‘nem Halsabschneider nehm‘ ich kein Geld! Mann, wenn ich mir vorstelle, das wäre uns<br />

passiert! Ich kriegte zuviel!“<br />

„Bravo, René! — Und du, Seppe?“<br />

Der zuckte die Achseln und lächelte schmerzlich!<br />

„Ehrlich gesagt: ich hätte die Moneten gern gehabt! Ich hab‘ noch nie ‘n bisschen Geld in der Tasche<br />

gehabt, muss ‘n tolles Gefühl sein! Weißt du, meine Eltern geben mir nie was, die sparen jeden Sou für<br />

‘ne eigene Kneipe. Ich glaub‘, dadurch bin ich ans Klauen gekommen, ich glaube, Eltern sollten ihren<br />

Kindern ‘n bisschen Geld geben, sonst lernen sie nicht, damit umzugehen, und machen vielleicht Mist<br />

wie ich. Also, ich hätt‘s mächtig gern gehabt, aber wenn du sagst, es ist nicht anständig, dann nehm‘<br />

ich‘s nicht. Ich will nichts mehr tun, was nicht anständig ist.“<br />

Maurice blickte ihn ein paar Sekunden verwundert an, dann nickte er ihm strahlend zu. „Gut, Seppe, du<br />

bist schon in Ordnung!“<br />

André rutschte voller Angst auf der Steinplatte herum. Maurice ist ein Heimtücker, ein abscheulicher!<br />

Einen nach dem andern macht er fertig!<br />

„Filou? Willst du auf das Geld verzichten, damit der Graf Baharoff rausekeln kann?“<br />

„Na, klar!“ erwiderte der Schwarze schlicht. Geld bedeutete ihm nicht allzu viel, er hatte keine Sorgen<br />

und keine Pläne. Und wenn Maurice dafür war, hatte die Sache bestimmt ihre Richtigkeit, zumal der<br />

Graf ihm gefiel. „Sollen weiter blitzen und Krach machen!“<br />

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„Mich brauchst du gar nicht erst zu fragen“, meinte Pipin, als Maurice ihn anblickte. Er holte tief Luft<br />

und nahm einen tüchtigen Anlauf. „Ich hab‘ schon genug Baharoffs erlebt, um solche Leute nicht<br />

gründlich zu hassen. Ich weiß auch, wie das ist, wenn man vor die Tür gesetzt wird. Ich hab‘ zwar nur<br />

zwölf Jahre in einem Haus gelebt, das meine Heimat war, aber ich hab‘ dran gehangen, und es war<br />

scheußlich, als ich raus musste. Wieviel scheußlicher muss das für den alten Grafen gewesen sein! Der<br />

Mann könnte noch leben, wenn dieses Scheusal von Baharoff nicht ‘n ‚Rahmen’ für seine Geschäfte<br />

gebraucht hätte! — Ich weiß, was du sagen willst, André! Aber davon bringst du mich nicht ab: dieser<br />

glatzköpfige Schakal, dieser Schuft hat den alten Mann auf dem Gewissen! Jawohl! So ‘nem Gauner<br />

helf‘ ich nicht, mit dessen Geld mach‘ ich meine Finger nicht dreckig! Ich bin auch ‘n armer Teufel, ich<br />

könnte auch ‘n bisschen Geld mehr als gut gebrauchen. Ich wollte mir für das Geld was zum Anziehen<br />

kaufen. Ihr seht ja: meine Lumpen fallen mir bald vom Leib. Doch lieber wickl‘ ich mich von oben bis<br />

unten in Zeitungspapier, ehe ich so ‘nem Kerl helfe!“<br />

Maurice nickte heftig. Ich wollte Farbe kaufen, dachte er, ich hätte das Geld ebenfalls gern gehabt,<br />

aber...<br />

Er hob den Kopf und schaute auf die Felswand gegenüber. Es war ganz still. Eine Eidechse kam aus<br />

einem Spalt, verharrte reglos und blickte mit glänzenden Augen unverwandt auf die Menschengruppe.<br />

Tista entdeckte das Tierchen, krabbelte mühselig und langsam in seine Nähe. Als er die Hand<br />

ausstreckte, huschte es davon.<br />

Pipins lange Rede hatte André zunächst betroffen gemacht. Einen Augenblick lang dachte er daran,<br />

ebenfalls zu verzichten. Es passte ihm nicht, dass er der einzige war, der unbedingt das Geld haben<br />

wollte. Doch dann fiel ihm ein, dass er der einzig Zielstrebige war, der einzige, der vorwärtskommen<br />

wollte.<br />

Die haben leicht großzügig sein, dachte er. Wenn ich die Belohnung nicht kriege, das bedeutet für mich<br />

zwei Jahre länger Schuhputzer sein. Nein, ich werde nicht verzichten, und wenn sie sich auf den Kopf<br />

stellen! Für mich eine einmalige Gelegenheit, einen tüchtigen Schritt vorwärts zu tun. Ich bin doch nicht<br />

blöd! Nein, das lasse ich mir nicht entgehen, ich denke nicht dran. Aber ich muss es schlau anfangen, sie<br />

sind alle gegen mich. Und es ist schwierig, denn wahrscheinlich hat der Graf recht. Nein, nein, er hat<br />

nicht recht. Er darf nicht recht haben, und er hat auch nicht.<br />

„Nein, das alles kann mich keineswegs überzeugen“, sagte er laut und entschieden. „Ihr habt euch von<br />

diesem blonden Quatschkopf mal wieder einwickeln lassen. Denkt doch mal an Marseille! Wer gab uns<br />

die falsche Auskunft? Der Herr Graf! Wer zerschnitt uns die Reifen? Der Graf! Wer verleumdete uns bei<br />

der Polizei? Der Graf! Wer so was tut, der hat einen schlechten Charakter! Dem Menschen also schenkt<br />

ihr Glauben? Ich nicht! Was der Graf behauptet, ist schlechthin gelogen, sage ich euch! Baharoff<br />

dagegen ist ein Ehrenmann, das beweist allein schon seine Hilfsbereitschaft. So leicht bietet niemand<br />

einem Fremden sein Geld an, wer so mitfühlend ist, der hat einen guten Charakter!<br />

Ferner: der Graf sagte selbst, dass rechtlich nichts zu machen ist. Ja bitte! Wollt ihr gerechter sein als die<br />

Gerichte? Wollt ihr mehr von den Gesetzen verstehen als der berühmte Rechtsanwalt Delattre? Oh, ihr<br />

Leichtgläubigen! Ihr einfältigen Schwärmer! Mich legt so ein gerissener Liederjan wie dieser junge<br />

Graf, der gewiss das Geld seines Vaters durchgebracht hat, mich legt der nicht rein! Denn ich kenne das<br />

Leben, ich durchschaue ihn, und deshalb verzichte ich nicht auf mein Geld.“<br />

„Du hättest Rechtsanwalt werden sollen“, sagte Maurice schnell, weil er merkte, dass Andrés listige<br />

Verteidigung nicht ohne Eindruck geblieben war.<br />

„Möglich, dass ich zu einem solchen Beruf einige Fähigkeiten habe“, meinte André stolz.<br />

„Hast du bestimmt! Du kannst nämlich schwungvoll eine Sache vertreten, an die du selbst nicht glaubst,<br />

bloß weil Geld dabei herausspringt!“<br />

„Aber Maurice!“<br />

„Hör auf! Was du da gesagt hast, war Unsinn, und das weißt du sehr gut. Dass der Graf uns unterwegs<br />

Schaden zugefügt hat, gehört überhaupt nicht hierher. Das waren reine Kampfmaßnahmen. Gespenst<br />

gegen <strong>Gespenster</strong>jäger! Außerdem haben wir dafür schon angemessene Rache genommen. Und<br />

Baharoffs sogenannte Hilfsbereitschaft kannst du schon gar nicht ins Feld führen. Der Graf hat ja<br />

Beweise, dass Baharoff durch Ausstreuen von Gerüchten andere Geldgeber kopfscheu machte. Nette<br />

Hilfsbereitschaft! — André, mach dir doch um Himmels willen nichts vor, du warst doch sonst immer ‘n<br />

gerader Kerl!“<br />

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„Das bin ich heute noch! Nein, ich kann diesem blonden Jüngling keinen Glauben schenken, er<br />

unterrichtet uns einseitig. Ich erlaube mir daher folgenden Vorschlag: wir unterbreiten Baharoff die<br />

Sache, damit er von seinem Standpunkt aus darlegen kann, was sich zugetragen hat. Erst dann können<br />

wir gerecht entscheiden!“<br />

„Das geht doch nicht, Kerl! Der weiß doch sofort, woher der Wind weht, und wir bekämen weder Geld,<br />

noch könnten wir dem Grafen helfen. Nein, so ‘n Unsinn! — Pass mal auf, André: überleg dir alles noch<br />

mal gründlich. Du hast Zeit bis zum Mittagessen. Ich hätte gern, wenn wir diese Entscheidung<br />

einstimmig träfen, ich möchte nicht, dass wir dich fünf zu eins überstimmen müssten!“<br />

André wurde mit einem Schlag blass und presste die Lippen aufeinander. Fünf zu eins überstimmen? Er<br />

blickte die Jungen der Reihe nach an, seine Augen glitzerten kalt. Dann stand er auf. „Gut! Ich werde es<br />

mir noch einmal überlegen, aber dazu muss ich allein sein. Bis nachher!“<br />

Langsam ging er am Strand entlang davon.<br />

„Du, Maurice“, sagte Pipin, als André außer Hörweite war, „der macht Mist, der hat was vor!“<br />

„Was soll er schon vorhaben? Ach wo, der will tatsächlich allein sein, der Verzicht fällt ihm mächtig<br />

schwer. Ist ja auch kein Wunder.“<br />

„Nein, ich hab‘ ihn doch beobachtet: der will uns reinlegen! Der will zu Baharoff! Der will uns vor<br />

vollendete Tatsachen stellen!“<br />

„Wie kannst du so was sagen, Pipin! Das ist nicht schön von dir!“<br />

„Maurice, ich weiß, dass es so ist! Ich spür‘s einfach, wieso weiß ich selbst nicht. Aber es ist so, glaub<br />

mir!“<br />

„Unsinn! Du bist doch kein Hellseher.“<br />

„Manchmal schon. Gebt mal acht: wir rennen jetzt schnell durch den Weinberg rauf zum Schloss, und<br />

dann werde ich euch beweisen, dass André uns Försterreinlegen will! Er will den Grafen verraten, ich<br />

hab‘ richtig gesehen, wie ihm der Gedanke kam!“<br />

„Ich trau‘ ihm das nicht zu, André tut nichts Unrechtes. Oder, was meinst du, René?“<br />

Der Gorilla fuhr sich über die roten Borsten. „Man hat schon Pferde Rollschuh laufen sehen“, meinte er.<br />

„Wo Geld im Spiel ist, da legt der Teufel ein Ei!“ bubbelte Filou.<br />

„Kommt, kein langes Gerede! Höchste Zeit!“ Pipin wurde richtig böse. „Ziemlich sicher, dass er die<br />

Asphaltstraße nimmt. Wenn wir durch den Weinberg laufen, sind wir vor ihm oben. Kommt, ich<br />

beweise euch, dass ich recht habe! Wir machen noch mal einen ‚Film’, Baharoff ist nämlich nicht da —<br />

das ahnt der gute André nicht! Aber ich hab‘ ihn wegfahren sehen! Kommt doch! Wenn ich ihm unrecht<br />

getan habe, dürft ihr mich windelweich prügeln!“<br />

„Meinetwegen! Der Versuch kann zumindest nicht schaden.“ Maurice stand auf. „Los, ab!“<br />

So schnell sie konnten, rannten sie auf dem schmalen Weg zwischen den Reben den Berg hinauf. Pipin<br />

vorneweg, im unvermeidlichen Rikschastil. Am Schluss Filou, fauchend wie eine Lokomotive, ein Stück<br />

vor ihm René mit Tista auf dem Rücken. Keuchend langten sie im Hof an. Die andern verschnauften und<br />

gingen im Schritt, Pipin rannte weiter bis in die Halle.<br />

„Jean-Baptiste!“ schrie er laut.<br />

„Ja?“ hörte man von weitem die Stimme des Dieners, der nun eilig herankam. „Was gibt es denn? Wo<br />

brennt‘s?“<br />

„War André schon hier?“<br />

„Nein, soll ich was . . . ?“<br />

„Baharoff ist weg, nicht wahr?“<br />

„Jawohl!“<br />

Die andern Jungen waren inzwischen herangekommen. „Los, kommen Sie mit! In Baharoffs<br />

Schlafzimmer!“<br />

Jean-Baptiste setzte ein verwundertes, fragendes Gesicht auf, doch Pipins Forderung klang so<br />

entschieden, dass er wortlos mitging.<br />

„Ziehen Sie die Vorhänge zu und öffnen Sie bitte die Tür zum Ankleidezimmer!“<br />

Der Diener tat, was Pipin wünschte. „Dürfte ich vielleicht wissen. . .“, begann er dann zaghaft.<br />

„Sie sollen sogar! — Jungens, setzt euch alle auf das Bett! — Jean-Baptiste, gleich wird André kommen<br />

und zu Baharoff wollen. Sie sagen ihm, der alte Gauner — das heißt: alter Gauner dürfen Sie natürlich<br />

nicht sagen!“ meinte Pipin grinsend. „Sie sagen ihm also, Baharoff läge mit starken Kopfschmerzen zu<br />

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Bett. André darf auf keinen Fall zu ihm hinein, sondern muss durch die offene Tür mit ihm sprechen,<br />

verstanden?“<br />

„Hm — nicht direkt! Monsieur ist doch nicht da?“<br />

„Nicht nötig, haben wir selbst! Sie brauchen nur André zu bestellen, er dürfe nicht . . .“<br />

„Soweit habe ich begriffen!“ sagte der Diener, mit einem Male sehr eifrig. „Ich werde sagen: ein<br />

Migräneanfall! Dabei verdunkelt man nämlich. Doch wozu. . .“<br />

„Später, später! Jetzt gehen Sie schnell auf Ihren Posten, bitte! Meinetwegen können Sie sich die<br />

Abhöranlage einschalten lassen und mithören. Gehen Sie schon ab mit Rückenwind!“<br />

Pipin schob den alten Mann mit sanfter Gewalt zur Tür hinaus. Jean-Baptiste wurde es nicht einmal<br />

bewusst, dass man ihn ziemlich respektlos behandelte. Selig lächelte er vor sich hin, als er in die Halle<br />

marschierte. „Alter Gauner“, murmelte er. Das war Musik in seinen Ohren.<br />

„So, jetzt seid ihr dran“, wandte sich Pipin an die Jungen. „Ihr seid mucksmäuschenstill, klar? Du auch,<br />

Tista! Leg den Finger auf dein dreckiges Mäulchen und nimm‘s erst wieder runter, wenn ich es sage,<br />

ja?“<br />

„I-jaha!“<br />

„Bloß du musst reden, Seppe! Du kannst doch Baharoff nachmachen?“<br />

„Ö — entsetzlich!“ quäkte Seppe, so täuschend ähnlich, dass die Jungen zu prusten begannen.<br />

„So! Von mir aus kann er kommen! — Was du zu sagen hast, Seppe, werde ich dir ins Ohr flüstern.“<br />

Ein leises metallisches Klingen, dann ein Knacken, und die Stimme des Grafen sagte: „Guten Morgen,<br />

Jungens! Ich dachte, ihr wärt mal vorbeigekommen?“<br />

„Morgen, Herr Graf!“ antwortete Pipin aufgeregt. „Wir kommen schon, aber machen Sie jetzt bloß<br />

keinen Lärm! Es geht um die Wurst!“<br />

Jean-Baptiste ging mit tänzelnden, graziösen Schritten<br />

durch die Halle, ein kupfergetriebenes Gießkännchen in<br />

der Hand. Begoss Blumen und Topfpflanzen, zupfte hier<br />

und da ein welkes Blättchen aus und betrachtete liebevoll<br />

neue Knospen. „Alter Gauner“, murmelte er zufrieden vor<br />

sich hin.<br />

Die große Flügeltür öffnete sich — André kam herein,<br />

bleich wie eine Kellerassel.<br />

„Guten Morgen, Jean-Baptiste! Ist Herr Baharoff<br />

zugegen?“<br />

„Guten Morgen, André! Herr Baharoff ist vorhin wegen<br />

eines Migräneanfalls wieder zu Bett gegangen.“<br />

„Oh — das tut mir aber leid! Hm, ja — ist er nicht zu<br />

sprechen? Ich hätte ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen!“<br />

„Ich müsste mal nachhören. Wollen Sie einen Augenblick<br />

Platz nehmen?“<br />

André setzte sich in den nächsten Sessel, der Diener verschwand. Ich tu‘s, ich tu‘s, wenn er zu sprechen<br />

ist. Ich will vorwärtskommen. Einmalige Gelegenheit. Ich bin Kaufmann, ich lasse mich nicht von<br />

gefühlsduseligem Geschwafel einlullen. Später werden sie mir alle dankbar sein. Ich. . .<br />

Jean-Baptiste kam zurück, seinem Gesicht war nicht das geringste anzumerken.<br />

„Monsieur bittet Sie, im Ankleidezimmer Platz zu nehmen und durch die Tür mit ihm zu sprechen.<br />

Monsieur kann bei Migräne kein Licht vertragen.“<br />

André nickte und folgte dem Diener. Im Ankleidezimmer wies Jean-Baptiste auf einen Stuhl und ging<br />

zur offenen Tür. „Herr Bourian ist anwesend!“ sagte er und stolzierte würdevoll hinaus.<br />

„Bitte — ö, was gibt es denn, mein Lieber?“ tönte es aus dem Schlafzimmer.<br />

Mein Lieber sagt er jetzt, und gestern Abend hat er gesagt: dreckiger Armenier! Ach, ganz egal. Ich will<br />

Geld.<br />

„Ja — hm. Monsieur, ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen...“<br />

„Nun, ö — was denn?“<br />

„Wir haben den Spuk entdeckt, wir könnten ihn beseitigen. . .“<br />

„Wie — ö? Wirklich? Es wird — ö nie wieder spuken?“<br />

„Nie wieder, wenn Sie uns vertraglich die versprochene Summe zusichern!“<br />

103/117


„Ö — Sie machen mich sehr glücklich, lieber Herr Bourian —Ich habe ja immer gesagt — ö, diese<br />

tüchtigen Jungen schaffen es noch! Ganz besonders zu Ihnen hatten wir — ö, hatte ich größtes<br />

Vertrauen. Natürlich bekommen Sie Ihren Vertrag, das — ö ist doch — ö selbstverständlich. Ich möchte<br />

Sie beglückwünschen — ö! Bitte, kommen Sie herein und ziehen Sie den Vorhang beiseite!“<br />

André stand auf, ging ins Schlafzimmer und zog die schweren Übergardinen fort. Blendendhelles<br />

Tageslicht flutete herein. Dann drehte er sich um. Er zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen.<br />

Fünf Jungen blickten ihn an, stumm und voller Verachtung. Er wurde blutrot, schlug die Augen nieder<br />

und krampfte die Hände zusammen. Mit einem Male wurde sein Gesicht eisig und hart, er hob den Kopf<br />

wieder und blickte finster und frech geradeaus.<br />

„Ich hab‘s bis zum letzten Moment nicht glauben wollen“, sagte Maurice langsam.<br />

„Tja, das haut einen um! Unser lieber Freund André! Mann, ich bin der friedlichste Mensch, den ich<br />

kenne. . ..“<br />

„Herr Graf?“<br />

„Ja, bitte?“ klang es aus den Lautsprechern.<br />

„Haben Sie fünfhundert Franken übrig, um einen Verräter zu bezahlen?“<br />

Bei dem Wort Verräter zwinkerte André mit den Augen, sein Mund wurde noch verbissener.<br />

„Natürlich! Kann einer von euch eben herkommen?“<br />

Pipin erhob sich und ging hinaus. Kurze Zeit später kehrte er zurück und übergab Maurice fünf<br />

Hundertfrankenscheine. Der Maler stand auf, ging zu André, der ihn bockig und böse anblickte, stopfte<br />

ihm das Geld in die Tasche und sagte: „Da! Und nun verschwinde, so schnell du kannst!“<br />

„Denk dran, dass in deinem Brustbeutel noch Geld ist, das zum Teil uns gehört!“ mahnte Seppe.<br />

Wortlos drehte André sich um und ging hinaus.<br />

Filou seufzte abgründig dumpf. „Ehrgeiz un Flöhe hüpfen gärn inne Höhe!“<br />

Geführt von Jean-Baptiste, gingen sie den Abhang hinunter zum Häuschen des Grafen. Der lange Diener<br />

tänzelte und scharwenzelte freudestrahlend vor ihnen her.<br />

„Guck dir den Alten an“, brummte René grinsend, „der hopst wie ‘n drei Tage altes Karnickel!“<br />

Maurice nickte belustigt und wandte sich an Filou: „Du, Dicker, aus unserem Unterricht wird heute<br />

nichts werden.“<br />

„Nich schlimm! Hap heut schon viel gelärnt“, erwiderte der Schwarze ernsthaft.<br />

Graf Franz und Gaston standen an der Tür, ebenso vor Freude strahlend wie der Diener. Beide<br />

bedankten sich herzlich, Jean-Baptiste zerdrückte maßvoll gerührt eine Träne.<br />

Als sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten, überreichte der Graf jedem Jungen fünfhundert<br />

Franken. „Sie sollen durch Ihre Anständigkeit keinen Schaden haben. Bitte, nehmen Sie doch Platz!<br />

Diese Nacht konnte ich Ihnen kein Geld anbieten, das hätte nach Bestechung ausgesehen.“<br />

Die Jungen brachten vor Überraschung kein Wort heraus und starrten auf die Scheine, die vor ihnen auf<br />

dem Tisch lagen.<br />

„Schade, dass André umgekippt ist!“ sagte Maurice endlich. „Jammerschade! Nun — nun kriegen wir<br />

auch Geld, und ohne. . . Eigentlich prächtig, nicht wahr? So ganz unerwartet — prima!“<br />

„Ja, schade, dass André. . . Hätt‘ ich nicht gedacht! Wo er sonst doch immer so moralisch ist!“<br />

In Windeseile steckte Seppe das Geld in die Hosentasche, seine Hände zitterten vor Aufregung. Tolles<br />

Gefühl, so ‘n Haufen Geld zu haben, wirklich!<br />

„Das Zeug hat ihn fertiggemacht!“ Pipin hielt seine Scheine in die Höhe und breitete sie aus wie ein<br />

Kartenspiel. „Geld kann manchmal auch ‘n anständigen Menschen fertigmachen. Gelegenheit macht<br />

Diebe.“<br />

„Sagt Oma auch immer.“<br />

„Nichts gegen den Zaster! Aber — ich meine: es gibt noch was Besseres, nicht?“ Lächelnd blickte Pipin<br />

seinen Freunden in die Augen.<br />

Seppe feixte zu Filou hinüber: „Wie sagtest du vorhin so schön! ‚Wo Geld im Spiel ist, da ist der<br />

Teufel...’“<br />

„Ich?“ bubbelte Filou. „Soll ich gesach ham? Nä!“ Er rollte sein Geld zusammen, als wäre es eine<br />

Ambassadeur-Stulle, und gab es Maurice zur Aufbewahrung. „Nä! Ich hap gesach: Gesundheit ohne<br />

Geld is halbes Fieber!“<br />

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Schallendes Gelächter. Jean-Baptiste lachte mit vorgehaltener Hand. André hätte das bestimmt für<br />

Vornehmheit gehalten, aber der Diener hatte nur Angst, sein Gebiss zu verlieren, so schüttelte es ihn.<br />

„Ein reizender Schelm“, keuchte er. „So ein Witzbold! Huhuhu!“<br />

„Beginnt seinem Spitznamen Ehre zu machen, nicht wahr?“ Maurice war ein wenig stolz. Wenn Filou<br />

Witze machte, dann musste er sich sicherer fühlen als sonst, musste sein Selbstbewusstsein gewachsen<br />

sein. Und daran war Maurice nicht ganz unbeteiligt.<br />

„Was haben Sie jetzt vor, Maurice?“<br />

„Ich werde gleich zu Baharoff gehen und ihm mitteilen, dass wir die Sache aufgeben. Und dann fahren<br />

wir nach Hause.“<br />

„Wollen Sie nicht noch ein paar Tage bei uns bleiben? Ich lade Sie alle herzlich ein! Natürlich ist es bei<br />

uns viel weniger bequem als oben im Schloss. Als Schlafgelegenheiten zum Beispiel kann ich Ihnen nur<br />

auf dem Boden ausgebreitete Matratzen anbieten, aber ich fände es sehr nett, wenn Sie noch etwas<br />

bleiben würden!“<br />

„Wenn ich mich dieser Bitte anschließen dürfte“, sagte Jean-Baptiste, „auch mir würde es eine Freude<br />

sein.“<br />

„Wollt ihr, Jungens?“ fragte Maurice sein Häuflein.<br />

„Klar!“ brummte René. „Mein Urlaub ist noch nicht um!“ Die andern nickten zustimmend.<br />

„Fein!“ rief der Graf. „Mögt ihr Kuchen?“<br />

„Und ob! — Was ‘ne dämliche Frage! — Was dachten Sie denn?“<br />

„Los, Methusalem, her damit! — Wir haben nämlich eine zünftige Kuchenschlacht vorbereitet!“<br />

„Übrigens, lieber Franz: eine kleine Schwierigkeit hat die Sache“, begann Jean-Baptiste mit leicht<br />

gerunzelter Stirn, „wir müssten eine Köchin haben. Für so viele Leute kann ich natürlich nicht sorgen,<br />

gelegentlich muss ich mich ja auch um den alten Gauner da oben kümmern.“<br />

„Köchin? Ich kann ‘n bisschen kochen, wenn ihr‘s mit mir mal versuchen wollt?“<br />

„Großartig, Pipin! Gut, Sie übernehmen die Küche.“<br />

Mitten in der Kaffeeschlacht, nach einem Bissen, an dem jeder andere erstickt wäre, fragte René:<br />

„Sagen Sie mal, Herr Graf, wie haben Sie die vielen Kabel, Lautsprecher und Mikrophone eigentlich<br />

anbringen können? Man sieht doch reineweg nichts davon!“<br />

„Für einen Fachmann eine Kleinigkeit! Baharoff ist manchmal tagelang nicht zu Hause, also Zeit und<br />

Gelegenheit genug. Die Apparate liegen natürlich unter den Tapeten und Wandbespannungen<br />

verborgen.“<br />

„Ich habe auch eine Frage!“<br />

„Bitte, Maurice?“<br />

„Diese merkwürdigen kleinen Löcher in der Wand und in der Türfüllung, was bedeuten die?“<br />

„Ah, Sie meinen die Stelle, wo das Gespenst ‚kitzlig’ war, wie Sie sagten. Genau dieselben Anlagen<br />

habe ich an manchen Türen angebracht, ganz richtig! — Das sind Selenzellen!“<br />

„Wie funktioniert so was?“<br />

„Selen ist ein chemisches Element mit einer ungewöhnlichen Eigenschaft: es leitet Elektrizität bei<br />

Belichtung besser als im Dunkeln. Diese Eigenschaft macht man sich zunutze. Ich habe zum Beispiel in<br />

die linke Seite der Türfüllung eine Selenzelle eingebaut und in die rechte eine Lichtquelle, die einen<br />

Strahl genau auf die Zelle schickt. Geht nun jemand durch die Tür, dann wird der Strahl für einen<br />

Augenblick unterbrochen, die Selenzelle also einen Augenblick lang nicht beleuchtet, und lässt weniger<br />

Strom durch. Die angeschlossene Alarmanlage ist nun so gebaut, dass sie sofort in Tätigkeit tritt, wenn<br />

der aus der Selenzelle kommende Strom schwächer wird. Und dann schellen die Klingeln — oder das<br />

Gespenst lacht!“<br />

„Aber man sah doch keinen Lichtstrahl, wenn es mal dunkel war in der Halle?“<br />

„Es gibt auch Licht, das man nicht sehen kann! Infrarote Strahlen, zum Beispiel, mit solchen arbeiten<br />

meine Geräte.“<br />

„Sie sind verflixt schlau!“ brummte René bewundernd.<br />

„Hat mir alles nichts genützt, ihr wart noch schlauer!“<br />

„Und die scheußlichen Geräusche, die haben Sie alle mit dem Mikrophon gemacht?“<br />

„Nein, mit den Lautsprechern. Mit den Mikrophonen haben wir eure Unterhaltungen abgehört, haben<br />

Teile davon auf Magnetophonband aufgenommen und euch dann später wieder vorgespielt.“<br />

„Das war vielleicht schaurig, kann ich Ihnen sagen! Und die Blitze, wie haben Sie die gemacht?“<br />

105/117


„René, frag nicht soviel, iss lieber noch was! Von ‘nem halben Quadratmeter Torte kannst du unmöglich<br />

satt sein.“<br />

„Mann, das ist doch mächtig spannend!“<br />

„Die Blitze zu machen, war noch einfacher“, fuhr der Graf bereitwillig fort. „Ihr kennt doch sicher die<br />

Blitzlichtgeräte der Fotographen?“<br />

„Ach, Sie meinen die schweren Kästen, die man so über die Schulter hängt? Mit denen die Presseleute<br />

ausgerüstet sind, ja?“<br />

„Richtig! Die Kästen enthalten die Batterien, den Zerhacker und so weiter. Wenn man nun den Faden<br />

der Blitzlichtbirne nicht wickelt, sondern streckt, dann ist er immerhin fast vierzig Zentimeter lang. Und<br />

das ist doch ein ganz ansehnlicher Blitz, nicht wahr? Zeig mal das Ding, Gaston!“<br />

Der Chauffeur stand auf und legte seine „Spukausrüstung“ an.<br />

„Hier“, zeigte der Graf, „das ist die Blitzlichtröhre! Sonderanfertigung für Spuk & Co. Mit dem rechten<br />

Ende ist sie an Gastons rechtem Handgelenk befestigt. Wenn er blitzen will, berührt er mit dem Kontakt<br />

am linken Handgelenk das linke Ende der Röhre.“<br />

„Sind Sie etwa Linkshänder?“ fragte Pipin, unmerklich lächelnd.<br />

„Ja“, sagte Gaston und tat, was der Graf beschrieb. Ein greller, bläulichweißer Blitz zuckte auf und biss<br />

in die Augen.<br />

„Sie!“ knurrte René und rollte die Augen wie ein wütender Gorilla, „Herr Kollege, wenn Sie geblitzt<br />

haben, dann waren Sie auch derjenige, der mir die drei Ohrfeigen gescheuert hat!“<br />

„Allerdings, das war ich!“<br />

„So! So! Und weshalb? Und weshalb immer ich?“<br />

„Weil Sie den Tankverschluss verstopft haben. Oder waren Sie das etwa nicht?“<br />

„Doch! Ja, das war ich. Und was haben Sie gemacht? Reifen kaputtgestochen und den Tank auch!“<br />

„Das war meine Idee“, warf der Graf ein. „Ich wollte verhindern, dass Sie überhaupt hierher kamen. Als<br />

ich von Jean-Baptiste hörte, dass eine halbe Fußballmannschaft aus Marseille käme, um den Spuk zu<br />

fangen, da bekam ich allmählich Angst. Je mehr Gegner wir haben, um so schwieriger wird natürlich die<br />

Sache für uns, weil man nicht alle beobachten und sich danach richten kann. Mein Detektiv erzählte...“<br />

„Das war wohl der mit der Baskenmütze, in Marseille an der Tankstelle, wie?“ meinte Pipin.<br />

„Ja. Der erzählte mir, ihr wärt sehr knapp bei Kasse. Daher beschloss ich, euch soviel Schaden<br />

zuzufügen wie möglich, damit ihr eure Absicht aufgeben müsstet, aber ihr wart verteufelt zäh! Den<br />

Schaden werde ich selbstverständlich ersetzen.“<br />

„Darum geht es gar nicht, sondern um die Ohrfeigen. Der komische Benzinkutscher hatte keinen Grund,<br />

mich zu verhauen!“<br />

„Nun ja, Grund — ich hatte eine Mordswut auf Sie“, verteidigte sich Gaston. „Jedes Mal wenn ich Gas<br />

gab, blieb der Wagen stehen. Dreimal habe ich den Vergaser ausgebaut, einmal sogar die ganze<br />

Zuleitung. Hat alles nicht geholfen! Drei Stunden habe ich geschuftet und geschwitzt und musste mich<br />

schließlich doch abschleppen lassen. So eine Blamage! Hat mich maßlos geärgert, dass ich alter<br />

Autofuchs auf so ‘n Kniff ‘reingefallen bin!“<br />

René grinste schadenfroh. „Na, ich will mal nicht so sein“, grummelte er und klopfte Gaston großmütig<br />

auf die Schulter. „Jetzt müssen Sie aber mal sagen, was Sie angestellt haben, damit unser Sprit nicht<br />

sofort, sondern erst nach einiger Zeit auslief!“<br />

Nun war Gaston an der Reihe, schadenfroh zu grinsen. „Ganz einfach! Eine ordentliche Portion<br />

Gummilösung rausdrücken und trocken werden lassen . . .“<br />

„Ich weiß schon“, unterbrach ihn René. „Damit haben Sie das Loch verschmiert. Der Sprit hat das Zeug<br />

aufgelöst, und dann lief er aus. Gute Idee!“<br />

„Bitte, Filou, geben Sie dem Hund nichts! Wenn man einen Hund bei Tisch füttert, erzieht man ihn zum<br />

Betteln. Der Lümmel soll sich in die Ecke legen zu den andern.“<br />

„O — ja, nein“, stammelte der Schwarze. Stinker konnte so herrlich betteln. Er brauchte einen nur<br />

anzusehen, dann aß man selbst lieber nichts. Filou seufzte.<br />

„Geh, Castor! Leg dich!“ Gehorsam schlich der zottige kleine Neufundländer in die Ecke. „Merkwürdig,<br />

sonst nimmt er von Fremden nichts!“<br />

106/117


Gegen sieben Uhr abends kam André in Marseille an; er hatte einen Bummelzug benutzt, um den<br />

Zuschlag zu sparen. Geradewegs ging er in die Rue des Mauvestis zu Katchourian. Der drahtige Alte,<br />

Armenier wie er, witterte sofort ein Geschäft und bat ihn freundlich, auf der Bank Platz zu nehmen. Sein<br />

dunkelbraunes Gesicht, zerklüftet wie die Berge seiner Heimat, verriet keinerlei Neugier, seine<br />

hellgrauen, lebhaften Augen aber lagen auf der Lauer. Eine halbe Stunde lang unterhielten sie sich<br />

ausführlich über das Wetter, vor allem über den Mistral von voriger Woche, und über die Weinpreise —<br />

das beste Zeichen, dass Katchourian André für einen ernsthaften Kunden hielt. Einen, der „nur mal<br />

hören wollte“, hätte er kurz und sachlich abgefertigt.<br />

André kannte die händlerischen Gepflogenheiten genau und wusste, dass er seine Ungeduld bezwingen<br />

und zunächst über gleichgültige Dinge reden musste. Am liebsten wäre er mit der Tür ins Haus gefallen<br />

und hätte gefragt, ob eine für ihn brauchbare Karre vorrätig sei und was sie koste. Aber dann würde ihn<br />

der Alte für schlecht erzogen und für einen noch schlechteren Kaufmann halten. Endlich waren sie beim<br />

Thema. Der Alte wurde noch ruhiger, seine Worte kamen noch langsamer, noch überlegter, denn jetzt<br />

begann das große Spiel. Handeln war für ihn das schönste und aufregendste Spiel der Welt! Und<br />

Katchourian spielte mit Ausdauer und Leidenschaft.<br />

„Du hast Glück“, sagte er gedehnt, „es sind ein paar Wagen da. Erstklassig natürlich! Für dich wie<br />

geschaffen.“<br />

„Kann ich mal sehen?“<br />

Der Alte nickte, erhob sich gemächlich und schloss die Werkstatt auf. André musterte sorgfältig die<br />

Auswahl. Unter den acht Karren, die teils schon hergerichtet, teils noch reparaturbedürftig<br />

herumstanden, fand er zwei, die seinen Wünschen entsprachen: große Ladefläche und dennoch leicht,<br />

mit Gummibereifung. Der größere gefiel ihm besonders gut. Eingehend prüfte er Federn und Bereifung,<br />

nahm die Deichsel in die Hände und schob den Wagen hin und her. Sehr gut! Lief wunderbar leicht. Er<br />

ließ die Deichsel fahren, setzte ein verächtliches Gesicht auf und sagte: „Tinnef! Wertloses Gerümpel!“<br />

Katchourian zuckte gleichmütig die Schultern, im Herzen sehr zufrieden, dass André das Spiel richtig<br />

einleitete.<br />

„Was soll dieses wurmstichige Möbel<br />

kosten?“ meinte André beiläufig.<br />

„Zweihundert Franken!“ Der Alte war<br />

seelenruhig.<br />

„Zwei. . . ?“ André lachte schallend und<br />

schlug sich vor Vergnügen auf die<br />

Schenkel. „Hab‘ ich recht gehört?<br />

Zweihundert? Hahaha! Hör mal,<br />

Katchourian, ich geb‘ dir freiwillig zehn,<br />

weil du‘s bist. Eigentlich solltest du froh<br />

sein, wenn ich dir den elenden Krempel<br />

da kostenlos fortschaffe!“<br />

Statt einer Antwort ging der Alte zur<br />

Tür.<br />

André sprang zurück zum Wagen, bückte sich, rüttelte an den Federn, bis der ganze Wagen wackelte<br />

und — natürlich — leise quietschte. „Hier!“ rief er, scheinbar aufgebracht. „Hör dir bloß an, wie diese<br />

rostigen, brüchigen Federn schreien!! Auf welchem Schrotthaufen hast du die aufgelesen?“<br />

Er schoss hoch und wies mit großartiger Empörung auf das Rad. „Und dieses Vollgummizeugs da,<br />

vollkommen bröckelig und porös! Schieb den Karren bis zur nächsten Straßenecke, und das Zeug bricht<br />

auseinander wie Zunder! — Ich will dir was sagen: Ich geb‘ dir zwanzig, weil du ein alter Freund<br />

meines Vaters bist und aus demselben Dorf stammst wie er. Aber keinen Sou mehr, nicht einen<br />

einzigen!“ Er verschränkte die Arme, reckte das Kinn in die Luft und stand da wie eingerammt. Seine<br />

Entschlossenheit war härter als Granit. Selbstverständlich waren die Federn nicht rostig, sondern fast<br />

neu, ebenso wie die Reifen.<br />

„Soso!“ machte der Alte, innerlich hocherfreut, denn das Spiel schien spannend zu werden. Er hatte sich<br />

in André nicht getäuscht: der Junge würde ihm einen heißen Kampf liefern.<br />

„Und ich sage: hundertneunzig! Ein Preis unter Brüdern! Ich will dir großzügig entgegenkommen, ich<br />

will dir helfen! Sicher willst du ein Geschäft eröffnen, denn du bist ein strebsamer Junge, aber du wirst<br />

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nicht viel Geld haben. Gut! In Ordnung, der alte Katchourian hilft. Hundertneunzig, billiger könnte ich<br />

sie meinem eigenen Sohn nicht lassen. Natürlich“ — er breitete die Arme aus und schnitt ein Gesicht, so<br />

kläglich wie ein Säugling, dem man den Schnuller fortgenommen hat —‚ „mein Verdienst ist hin! Einen<br />

einzigen Franken weniger, und ich setze zu!“<br />

So ging das geschlagene drei Stunden weiter. Viermal tat André so, als ob er gehen wollte, und ging<br />

doch nicht; elfmal machte er sein allerletztes Angebot. Für neunzig Franken bekam er die Karre<br />

schließlich, jammernd und wehklagend, an einen solchen Halsabschneider wie Katchourian geraten zu<br />

sein. Der Alte haderte mit seinem traurigen Geschick, einen so schönen Wagen weit unter<br />

Selbstkostenpreis verschleudern zu müssen. Kaum aber war der Händedruck vollzogen, da strahlten<br />

beide zufrieden. André weil er den Preis unter hundert hatte drücken können; Katchourian, weil es ein<br />

selten schönes Spiel gewesen war. Außerdem hatte er noch fünfzig Franken verdient.<br />

Als André in die Zwiebelstraße einbog, war es halb elf. Schon längst saß niemand mehr vor der Haustür;<br />

alle Fenster waren dunkel, denn in der Zwiebelstraße ging man früh zu Bett. Er war froh, dass ihm<br />

niemand begegnete und dass er keine Fragen zu beantworten brauchte. Leise schlich er in sein Zimmer.<br />

Als er Licht machte, sah er den Trennungsstrich auf dem Boden und in der Ecke Maurices Strohsack.<br />

„Diese Dummköpfe!“ murmelte er erbost, nahm einen Lappen und wischte den Strich aus. „Der soll<br />

jetzt schlafen, wo er will, nur nicht bei mir. Der Oberdummkopf, der gemeine! Gut, dass es so<br />

gekommen ist. Die hinderten mich ja bloß, waren ein Klotz am Bein für mich. Allein komm‘ ich<br />

jedenfalls viel besser voran. Verräter, ha! Ich hab‘ jedenfalls mein Geld!“<br />

Am nächsten Morgen ging er leise die Treppe hinunter und versuchte, sich an Madame Achmeds Küche<br />

vorbeizudrücken. Doch es war viel leichter, aus einem Gefängnis auszubrechen als ungesehen an<br />

Madame vorbeizukommen! Sie schoss herbei wie ein Polyp. „Wo ist Sasu?“ kreischte sie. „Wo ist der<br />

Lümmel, dieser Palotti? Oh, meine teuerste Katze, mein Liebling!“ Sie fasste André beim Rockzipfel<br />

und zerrte ihn zornig hin und her.<br />

Der Junge beteuerte, dass es Sasu gut gehe und dass sie bestimmt bald wieder da sein werde. Kaum hatte<br />

sich die Frau ein wenig beruhigt, da kam die erwartete peinliche Frage: „Warum bist du allein<br />

zurückgekommen? Wo sind die andern? Habt ihr euch gezankt?“<br />

André drehte und wand sich wie ein Aal. Schließlich musste er zugeben, dass etwas vorgefallen sei, aber<br />

was, das wollte er nicht sagen, riss sich los und rannte hinaus. Auf der Straße lief er Frau Quinquaille in<br />

die Arme.<br />

„He, André! Wo ist Pipin? Wo sind die andern? Bist du allein zurückgekommen?“<br />

„Ich hab‘ keine Zeit!“ rief André und lief weiter. Frau Wassilie und Frau Palotti, die seine Stimme<br />

erkannt hatten, eilten an die Tür und stellten dieselben Fragen. André winkte ab und begann zu rennen.<br />

Alle Fenster öffneten sich, fragende, verwunderte Gesichter schauten ihn an, es war das reinste<br />

Spießrutenlaufen. „Scheußlich, verflixt!“ schimpfte er vor sich hin. „Ich werd‘ mir ‘n anderes Zimmer<br />

nehmen.“<br />

Auf der Cannebière besuchte er seinen Stand. Eben hatte er seinem Vertreter guten Tag gesagt und<br />

erkundigte sich, wie das Geschäft in seiner Abwesenheit gewesen war, als er auch dort die peinlichen<br />

Fragen hörte.<br />

„Das geht dich nichts an!“ erwiderte er unwirsch und ging zum Rathaus, die Konzession zu beantragen.<br />

Dort musste er ein Formular ausfüllen, dann sagte man ihm, er solle in einer Woche wiederkommen.<br />

Anschließend trabte er zur Markthalle, wo er sich ebenfalls anmelden musste. Auf dem Rückweg — es<br />

war inzwischen halb zwölf - besuchte er eine winzige Garküche am Alten Hafen, wo er gelegentlich zu<br />

Mittag aß. Der Inhaber begrüßte ihn freudig und fragte sogleich nach René, der hier Stammkunde war.<br />

André antwortete ausweichend und so brummig, dass man ihn bald in Frieden ließ. Lustlos kaute er an<br />

seinem ölgebackenen Thunfisch herum und dachte: ich muss mir ein anderes Esslokal suchen. Zu blöd,<br />

alles kann ich aufgeben wegen dieser Dummköpfe. Aber es hilft nichts, ich will keinen von denen mehr<br />

sehen. Verräter, ha! Dass ich nicht lache! Ich hab‘ nichts Böses getan, ich wollte nur mein Geld. Und<br />

daran haben sie mich hindern wollen, wie sie mich schon immer behindert haben. Ich will aber<br />

vorankommen!<br />

Kurz vor zwölf Uhr übernahm er seinen Schuhputzstand wieder und rechnete mit seinem Vertreter ab.<br />

Die Cannebière lag verlassen in der mittäglichen Hitze. André trug seinen Armsessel in den Schatten<br />

und setzte sich. Unwillkürlich schaute er nach den Jungen aus, die sich um diese Zeit bei ihm zu treffen<br />

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pflegten. Filou mit Stinker, René im benzinduftenden Overall, Pipin mit einem Packen Zeitungen über<br />

dem Arm. Ja, und Maurice mit Skizzenblock und Farbkasten. „Unsinn!“ murmelte er ärgerlich. „Ich<br />

will sie gar nicht mehr sehen!“ Aber es war langweilig und ungemütlich, so ganz allein.<br />

Er war froh, als der Betrieb wieder losging, die tote Zeit überstanden war. Eifrig warf er sich in den<br />

immer stärker werdenden Strom der Passanten und fischte nach Kunden. Doch die Arbeit machte ihn<br />

nicht glücklicher, trotz aller Emsigkeit fühlte er sich unbehaglich; seine überrumpelnde Forschheit<br />

wirkte gequält, seine Redensarten klangen falsch und hohl. Kein Wunder, dass das Geschäft schlecht<br />

war, dadurch wurde seine Laune nur noch übler. In den Pausen zwang er sich, an den künftigen<br />

Blumenhandel zu denken, doch immer wieder sprangen seine Gedanken ab. Er konnte nicht denken, nur<br />

fühlen: ein stetiges, dumpfes Ziehen, eine Art Trauer, die ihn manchmal schwer atmen ließ.<br />

Als es dunkel wurde, ging er nicht nach Hause, sondern lief planlos der Corniche, der Strandstraße<br />

entlang und stieg sogar, staksig und langsam, den Karmelberg hinauf. Er hatte Angst vor der<br />

Zwiebelstraße, ohne es sich einzugestehen. Sehr spät, gegen elf Uhr, machte er sich auf den Heimweg.<br />

Die Zwiebelstraße war finster und still. Nur noch wenige<br />

Schritte waren es bis zu Achmeds Haus, da rief eine<br />

Stimme: „Er kommt!“, und hinter einer Hausecke stürzte<br />

ein Rudel Menschen hervor und versperrte ihm den Weg.<br />

Alle Bewohner der Straße hatten ihm aufgelauert: Seppes<br />

und Tistas Eltern, Oma, Achmeds, Quinquailles, Wassilies<br />

und noch viele andere. Ein Stück abseits stand schnaufend<br />

und fauchend der alte Gregoriades. Männer und Frauen<br />

hielten André fest, redeten in erregtem Durcheinander auf<br />

ihn ein und forderten genaue Auskunft.<br />

André musste erzählen, ob er wollte oder nicht. Wenn er<br />

stockte, schüttelte eine kräftige Faust die Worte aus ihm<br />

heraus. Worüber er mit Redensarten hinweggehen wollte,<br />

das klärten eindringliche Fragen; was er verschwieg, das<br />

ließ sich in Gedanken ergänzen. Je länger er sprach, desto<br />

stiller wurden die Leute. Endlich wussten sie genug und<br />

ließen ihn los.<br />

Als er am nächsten Morgen die Treppe hinunterging, schoss<br />

ihm abermals wie ein Polyp Madame Achmed in den Weg.<br />

„Sie! Am Fünfzehnten ist für Sie der Erste, haben Sie mich<br />

verstanden?“<br />

„Selbstverständlich“, erwiderte er, so kühl und spitz er konnte. „Ich hegte ohnehin die Absicht, mir ein<br />

anständiges Zimmer zu suchen!“<br />

„Sie!“ fauchte Madame und stemmte die Arme in die gutgepolsterten Seiten, aber André war schon zur<br />

Tür hinaus.<br />

„’Sie’ sagt sie zu mir!“ knurrte er. „Ha, als wenn sie mich damit treffen könnte! Es passte mir von<br />

Anfang an nicht, dass sie mich schlankweg duzte.“<br />

Im stillen aber ärgerte er sich doch. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er schlecht geschlafen, er war<br />

matt und zerstreut. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er keine Lust zu arbeiten. Doch er musste, die<br />

Stammkunden wollten bedient sein. Als erster erschien Dr. Roland und erkundigte sich, während André<br />

sein Schuhwerk bearbeitete, nach Maurice. Er brauche noch ein Aquarell, sagte er. Maurice solle mal zu<br />

ihm kommen. André versprach, es auszurichten, und atmete erleichtert auf, als der junge Arzt ging.<br />

Schon der nächste Kunde erinnerte ihn von neuem: Rechtsanwalt Delattre. André war so zerfahren, dass<br />

er mehrmals die Bürste verlor.<br />

Pünktlich fünf Minuten vor neun erschien wie üblich Monsieur Faidherbe, Mitinhaber eines großen und<br />

angesehenen Handelshauses. Während André am Boden hockte und den Lappen wirbeln ließ, kam ihm<br />

ein Gedanke. „Verzeihen Sie, Monsieur, darf ich Sie etwas fragen?“<br />

„Bitte!“<br />

„Kennen Sie einen gewissen — hm — Monsieur Baharoff?“<br />

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Faidherbe machte eine Bewegung, als wische er Schmutz von seinen weißen, gepflegten Händen.<br />

„Kennen ist zuviel gesagt. Immerhin: der Mann ist ebenfalls an der Börse zu finden.“ Er sprach langsam<br />

und leidenschaftslos.<br />

„Würden Sie — würden Sie mit ihm ein Geschäft machen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe?“<br />

Faidherbe musterte den aufgeregten Jungen mit einem leicht spöttischen Blick. „Wir sind ein seriöses<br />

Unternehmen“, sagte er, und als er merkte, dass André ihn nicht verstanden hatte, fügte er hinzu:<br />

„Ein Kaufmann hat etwas sehr viel Wertvolleres zu verlieren als Geld: seinen guten Ruf — guten<br />

Morgen, André!“ Der schlanke, elegant gekleidete Mann stieg gelassen die Stufen zur Börse empor.<br />

André blickte hinter ihm her und schnitt ein ausgesprochen dummes Gesicht. „Was sehr viel<br />

Wertvolleres ?“ Er sah sich selbst plötzlich bei der Beratung am Strand, sah die Jungen um sich herum,<br />

hörte Wortfetzen. Das dumpfe Gefühl in ihm wurde stärker. Dann riss er sich zusammen und straffte<br />

sich. „Der hat gut reden! Was nützt einem der beste Ruf, wenn man kein Geld hat?“<br />

In der Abenddämmerung ging er nach Hause. Die Leute von der Zwiebelstraße saßen vor ihren<br />

Haustüren und unterhielten sich. André grüßte sie, doch niemand grüßte zurück. Sie starrten an ihm<br />

vorbei, als ob er unsichtbar wäre.<br />

Am nächsten Morgen fühlte er sich noch elender als am Tag vorher. Die Verachtung, die ihm von allen<br />

Seiten entgegenschlug, verwundete ihn; das ständige Alleinsein war öde und bedrückend. Es gab keine<br />

Freude mehr; keine Freude an der Arbeit, keine Vorfreude auf ein Zusammensein mit den Jungen in der<br />

Mittagspause oder nach Feierabend. Selbst der Gedanke an die erfolgreiche Zukunft war ihm<br />

widerwärtig. In der Pause versuchte er zu lesen, doch jede Zeile erinnerte ihn an Maurice. Der würde<br />

ihm nie wieder helfen, würde ihm keinen Atlas kaufen und nicht mit ihm zur Bibliothek gehen. Er<br />

steckte das Buch fort und versuchte zu schlafen. Auch das ging nicht. „Wird vorübergehen“, suchte er<br />

sich selbst zu beruhigen, „in ein paar Tagen ist alles vergessen.“<br />

Am Spätnachmittag stand mit einemmal sein Vater vor ihm, in Arbeitskleidern, so wie er von der Fabrik<br />

gekommen war.<br />

„Ich wollte mal sehen, wie es dir geht! Du warst so lange nicht zu Hause.“<br />

André begrüßte ihn überschwänglich; glücklich, endlich einen Menschen zu haben, der ihn noch leiden<br />

mochte und mit dem er reden konnte. Er sprudelte die Worte nur so hervor, lachte krampfig und<br />

strampelte erregt mit Händen und Füßen.<br />

Jäh stockte er. Beinahe hätte er von seinem Geld erzählt. Voller Stolz und Besitzerfreude wollte er<br />

gerade von seinem Karren berichten und von seinem Aufstieg zum Blumenhändler. Mit einem Schlag<br />

wurde ihm klar: das konnte er ihm nicht erzählen! Vater würde nie einem Schuft helfen und sich<br />

dadurch mitschuldig machen, würde niemals Vertrauen missbrauchen, wie er. Mit schreckhafter<br />

Deutlichkeit sah er plötzlich, was er vorher nicht sehen wollte. Alles, was er sich zu seiner<br />

Rechtfertigung eingeredet hatte, alle die hübsch zurechtgelegten Gründe waren verflogen wie Nebel.<br />

Nichts mehr, wohinter er sich verkriechen konnte; krass und eindeutig war das Unrecht übriggeblieben.<br />

Er schwieg bestürzt und blickte zu Boden. Vater, der ihn von Kind an zu absoluter Ehrlichkeit<br />

angehalten hatte, würde tief enttäuscht sein und ihn nie mehr sehen wollen, wenn...<br />

Dann war er ganz allein!<br />

„Was ist denn? Erzähl doch weiter!“<br />

Doch André brachte kein Wort über die Lippen, keine Ausrede fiel ihm ein, er war wie gelähmt. Der alte<br />

Mann fragte ihn besorgt und eindringlich, was ihm fehle. André schüttelte den Kopf und wich seinen<br />

Augen aus.<br />

„Hast du was angestellt, sag mal?“<br />

„Nein, nein!“ stotterte André. „Wieso, weshalb soll ich . . ..“<br />

„Ich meine nur, weil du auf einmal so merkwürdig bist. Aber ich weiß ja: du tust nichts Böses, du bist<br />

ein anständiger Junge, nicht wahr?“<br />

André nickte mir hochrotem Kopf. Sein Vater blickte ihn forschend an. Er fühlte, dass irgend etwas<br />

nicht stimmte, fragte jedoch nicht weiter, weil er wusste, dass es viele Dinge gibt, die man allein tragen<br />

muss, bei denen nicht einmal ein Vater helfen kann. „Komm Sonntag mal raus! Ich werde Elise sagen,<br />

sie soll einen Kuchen backen.“<br />

Er gab André die Hand und ging davon. Der blaue Arbeitsanzug schlotterte um seinen dürren Körper,<br />

der krumme Rücken wölbte sich, die viel zu langen Arme schlenkerten ein wenig müde. Doch der graue<br />

Kopf hob sich aufrecht und frei. Am liebsten wäre André hinter ihm hergelaufen und hätte sich wie<br />

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früher, wenn er sich beim Spiel die Knie zerschunden hatte, heulend an ihn geklammert, um sich von der<br />

rissigen Hand streicheln und trösten zu lassen.<br />

Kaputte Knie heilen, dachte er, kaputtes Vertrauen nicht. Das Geld im Brustbeutel drückte ihn mit<br />

Zentnerschwere. Ich werde alles rückgängig machen, jaja, das muss ich tun! Ich werde das Geld<br />

zurückschicken, ich kann das elende Geld nicht mehr sehen! Wenn man es doch ungeschehen machen<br />

könnte! Aber das ist — das ist unmöglich. Leider. Ich wollte vorwärtskommen, Erfolg haben um jeden<br />

Preis! Jetzt hab‘ ich Geld, Erfolg und keine Freunde mehr. Und keine Ruhe mehr. Und alle verachten<br />

mich.<br />

Der Preis ist zu hoch! Faidherbe hatte recht: der gute Ruf ist mehr. Alles hin, alles zum Teufel!<br />

Er stand neben seinem Armsessel und blickte in das Gewühl, ohne etwas zu sehen. Reue quälte ihn.<br />

Hätte ich doch . . . wäre ich doch nicht. . .! Allein und unbeachtet saß er am Abend auf Gregoriades‘<br />

Ladentreppe und grübelte. Der Kummer wühlte in ihm, die Einsamkeit machte ihn krank.<br />

Am nächsten Morgen war es nur noch schlimmer. Er konnte es kaum abwarten, bis er seine<br />

Stammkunden bedient hatte. Kurz nach neun packte er seinen Kram zusammen und lief zu Katchourian<br />

und zum Rathaus, machte Kauf und Konzessionsantrag rückgängig. Auf dem Heimweg fühlte er sich ein<br />

wenig erleichtert.<br />

Da fasste ihn jemand am Arm und hielt ihn fest. Punaise, schon am hellen Vormittag betrunken!<br />

„He! W-wohin denn so eilig? Na, w-wieder zurück? Hupsassa!“ Er schwankte und stützte sich schwer<br />

auf den Jungen. „Hat — hat euch der schäbige Lump r-rausgeschmissen? M-mich schmeißt er immer<br />

raus! Jawoll!“<br />

André versuchte sich zu befreien, doch Punaise packte um so fester zu.<br />

„Komm, geh mit! Spendier mal ‘nem alten Freund ‘ne Lage! Komm, bloß ‘n Liter Roten! Oder ‘n hhalbes<br />

Liter, nur ‘n Schluck! Komm, sei kein Frosch!“<br />

„Ich denke nicht dran! Lassen Sie mich gefälligst los!“ André befreite sich mit einem Ruck und rannte<br />

weg.<br />

Den restlichen Vormittag überstand er trübselig neben seinem Sessel. Zum Kundenfang fehlte ihm<br />

jeglicher Schwung. Kam freiwillig ein Kunde, machte er sich lustlos und stumm an die Arbeit. Gegen<br />

fünf Uhr nachmittags, als er schon fest entschlossen war, nach Nordafrika auszuwandern, um nur<br />

keinem von seinen früheren Freunden mehr begegnen zu müssen, durchzuckte ihn ein ganz anderer<br />

Gedanke. Er reckte sich wie eine Zaunlatte, sein Gesicht wurde gespannt und konzentriert.<br />

Punaise!<br />

Er schlug sich vor den Kopf. Ich hätte ihn ausfragen sollen! Der weiß doch irgendwas. Irgendwas!<br />

Mit einmal war er quicklebendig. Hastig packte er seine Sachen zusammen, obgleich noch längst nicht<br />

Feierabend war, und brachte sie, wie üblich, dem Portier der Börse zur Aufbewahrung. Dann rannte er<br />

los, so schnell seine Plattfüße und das Gewühl es zuließen. Es ist zwar ein Unding, dachte er unterwegs,<br />

in den zahllosen Kneipen jemand zu suchen. Quasi gewissermaßen dasselbe, wie in einem Heuhaufen<br />

nach einer Stecknadel zu stöbern, aber dennoch!<br />

Er ging systematisch und gründlich vor. In der ersten halben Stunde durchsuchte er achtzehn Kneipen, in<br />

der nächsten halben Stunde brachte er es auf einundzwanzig.<br />

Die dreiundfünfzigste war die „Bar Saadi“ und lag mitten im Araberviertel, dort fand er ihn. Punaise<br />

lehnte in einer Ecke, den Kopf weit im Nacken, und schnarchte. André weckte ihn und grinste ihn<br />

freundlich an.<br />

„Na, ausgeschlafen, altes Spundloch?“<br />

„Wo kommst du denn her?“ erkundigte sich der Mann gähnend.<br />

„Zufällig hier reingeschneit quasi gewissermaßen. Ich verspürte ein wenig Durst. Sie trinken doch wohl<br />

ein Gläschen mit, wie? Heute morgen war ich ein wenig grob, nicht wahr? Nehmen Sie mir‘s bitte nicht<br />

übel, ich war geschäftlich unterwegs. Wir trinken einen Versöhnungsschluck!“<br />

„Red nicht so lange, lass ‘n Eimer Roten kommen!“<br />

Der Kerl ist unangenehm nüchtern! Wird allerhand Geld kosten, bis ich ihn vernehmungsfähig habe,<br />

dachte André während er die Bestellung aufgab.<br />

Der Wirt brachte eine Flasche und zwei Gläser und schenkte ein.<br />

„Sehr zum Wohle!“ André verbeugte sich im Sitzen. Punaise brummte, goss das Glas in einem Zug<br />

runter und füllte sofort nach. Der Junge bekam Stielaugen.<br />

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Als die zweite Flasche zu Ende ging, spielte André beschwipst, klopfte Punaise vertraulich auf die<br />

Schulter und duzte ihn. Geschickt leitete er zum Thema über, indem er den Wein lobte.<br />

„Ah, da hättest du mal meinen Wein trinken sollen, den ich früher beim Grafen gezogen habe!<br />

Unterschied wie Tag und Nacht! Na, vorbei, vorbei! — Prost!“<br />

André bohrte und fragte weiter. Punaise antwortete zunächst widerwillig, offenbar sprach er nicht gern<br />

über seine Tätigkeit auf St. Augustin. Allmählich aber geriet er in Erregung, und das hatte André<br />

erreichen wollen. Nun brauchte er das Gespräch nur noch vorsichtig zu lenken. Schließlich war auch das<br />

nicht mehr nötig: Punaise erzählte hemmungslos.<br />

Die dritte Flasche war noch nicht leer, da wusste André, dass Punaise die Reben abgeholzt hatte.<br />

Baharoff hatte ihn auf hinterlistige Weise dazu gezwungen, und zwar so: Jedes Mal, wenn Punaise nach<br />

Marseille kam, um eine Ladung Wein zu verkaufen, machte sich Grimard an ihn heran und bot ihm viel<br />

Geld für ein Fünfzig-Liter-Fässchen St. Augustiner. Eines Tages ließ Punaise sich überreden, füllte<br />

heimlich ein Fässchen ab und verkaufte es ihm.<br />

Nun hatte der Mann ihn in der Hand. Mit der Drohung, er werde ihn beim Grafen anzeigen, erpresste<br />

Grimard immer neue und immer größere Lieferungen. Punaise, dem die Sache unheimlich wurde, suchte<br />

sich dadurch aus der Schlinge zu ziehen, dass er sich beim Grafen durch ständige Trunkenheit und<br />

Nachlässigkeit so unbeliebt machte, dass man ihn entlassen musste. Kündigen wollte er nicht; niemand<br />

— vor allem seine Familie nicht — hätte verstanden, warum er eine so gute Stelle aufgab.<br />

Doch so leicht konnte man Baharoff nicht entwischen. Jede neue Stelle, die Punaise annahm, verlor er<br />

bald darauf wieder, weil Baharoff seinen Arbeitgeber „aufklärte“ über seine fortgesetzten<br />

Unterschlagungen, die er auf St. Augustin begangen hatte.<br />

Schließlich stellte ihn niemand mehr ein, seine Familie geriet in große Not. Da endlich erschien<br />

Baharoff persönlich und versprach ihm eine neue Stelle, wenn er die Reben des Grafen abholzte; wenn<br />

nicht, wolle er ihn ins Gefängnis bringen.<br />

Drei Nächte lang hackte er die Stöcke ab, die er früher sorgsam und liebevoll gepflegt hatte. Die Zeugen,<br />

die ihn in Marseille gesehen haben wollten, hatte Baharoff bestochen.<br />

André zahlte und schleppte den Betrunkenen nach Hause. Mühselig bugsierte er ihn die Treppe hinauf<br />

und legte ihn auf Maurices Bett, schloss die Tür ab und legte den Schlüssel unter sein Kopfkissen. Vor<br />

lauter Aufregung konnte er kein Auge schließen, Punaise dagegen schlief wie ein Klotz.<br />

Kaum wurde es hell, da sprang der Junge aus dem Bett, wusch sich und zog sich an. Noch einmal<br />

überdachte er seinen Plan, den er gestern Abend in Windeseile entwickelt hatte. Ja, er war richtig, er<br />

hielt allen Überlegungen stand. Er weckte Punaise.<br />

„Los, stehen Sie auf! In einer halben Stunde geht unser Zug!“<br />

„He? Ha? Was für ‘n Zug?“<br />

„Nach Villeneuve! Sie werden dem Grafen dasselbe erzählen, was Sie mir gestern Abend erzählt<br />

haben.“<br />

„Ich? Was hab‘ ich denn erzählt?“<br />

„Eine ganze Menge höchst interessanter Dinge! Falls Sie aber keine Lust haben sollten, mit mir zu<br />

verreisen, werde ich schnurstracks zur Polizei gehen und Sie anzeigen! Tun Sie jedoch, was ich<br />

verlange, bleibt die Polizei aus dem Spiel, das verspreche ich Ihnen.“<br />

Punaise fluchte wie ein Türke, doch als André ihm nochmals versprach, dass ihm nichts geschehen<br />

werde, folgte er ihm zum Bahnhof.<br />

Es war halb eins, als sie vor der Tür des Gartenhäuschens standen und André die Klingel zog.<br />

Graf Franz und die Jungen hatten sich gerade zum Mittagessen niedergesetzt, da schellte es. Gaston<br />

öffnete. Verblüfft schaute er zwischen André und Punaise hin und her, dann winkte er stumm und führte<br />

sie ins Wohnzimmer.<br />

„Bi-bitte mehrmals um Entschuldigung, dass ich wiedergekommen bin“, stotterte André; seine Augen<br />

irrten im Zimmer umher, „es ist nicht meinetwegen, sondern in Behuf des Schlosses: Punaise möchte<br />

was erzählen!“<br />

„Möchte ist gut!“ brummte der Mann, der sich vor Verlegenheit und Scham nicht zu lassen wusste.<br />

„Aber jetzt ist alles egal“, fuhr er nach einem tiefen Atemzug fort.<br />

„So?“ Der Graf sprang auf und zeigte auf die beiden Sessel am Rauchtisch. „ Setzen Sie sich bitte<br />

dorthin! Ich bin sofort wieder da!“<br />

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Als er wenige Minuten später zurückkam, zog er ein Kabel hinter sich her und stellte ein Mikrophon vor<br />

Punaise auf den Tisch.<br />

„Nun?“<br />

Stockend und ohne Zusammenhang begann Punaise zu erzählen, André musste ihm auf die Sprünge<br />

helfen. Allmählich fasste er sich; beschönigte nichts und verschwieg nichts, seine Beichte war<br />

rückhaltlos und vollständig.<br />

Niemand unterbrach ihn, alle hörten gespannt zu. Als er geendet hatte, stand er auf und fragte leise:<br />

„Kann ich jetzt gehen?“ André erhob sich ebenfalls. „Ich habe ihm versprochen, dass er nicht angezeigt<br />

wird!“<br />

„In Ordnung!“ Der Graf schaute unbewegt geradeaus. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild, das<br />

er sich oft ausgemalt hatte: er hisste auf dem Turm wieder die Fahne, die seit Jahrhunderten über St.<br />

Augustin geflattert hatte! Jetzt war es bald soweit!<br />

„Ich wollte noch sagen, Herr Graf“, fuhr Punaise bedrückt fort, „es tut mir furchtbar leid, dass ich,<br />

ausgerechnet ich die Reben . . .“ Er machte eine hilflose Bewegung mit der Schulter und ging hinaus.<br />

Keiner achtete auf ihn, alle schauten den Grafen an, dessen Gesicht sich nun langsam rötete.<br />

André hatte unterdessen den Brustbeutel hervorgenommen und fünf Hundertfrankenscheine auf den<br />

Tisch gelegt. „Hier! Ich will das Geld nicht, es — es macht mich krank!“<br />

Ausgerechnet in diesem Moment platzte René die Geduld. Er hatte wie alle andern den Grafen<br />

angeschaut und darauf gewartet, dass irgend etwas erfolgte, ein Freudenschrei oder ein Ausruf. Als aber<br />

nichts Derartiges geschah, der Graf nur mit rotem Kopf vor sich hin lächelte, da konnte er sich nicht<br />

länger beherrschen und ballerte: „Mann, jetzt fliegt er aber raus! Hochkantig! Ich bin der friedlichste<br />

Mensch, den...“<br />

„Ich geh‘ schon!“ sagte André mit bebender Stimme. „Mich braucht keiner ‘rauszuwerfen!“<br />

„Ach, du doch nicht, du Pfeifenkopf!“ Doch André war schon unterwegs.<br />

Pipin sprang auf und hielt ihn an. „Du siehst schlecht aus“, sagte er lächelnd. Er sprach leise und ganz<br />

ohne Anlauf, seine Stimme sang vor lauter Herzlichkeit noch mehr als sonst. „Vielleicht solltest du mal<br />

was essen? Ich gehe doch wohl kaum fehl in der Annahme, dass du Hunger hast, wie? Du ahnst nicht,<br />

was es heute gibt: Kalbsbraten mit Preiselbeeren! Doch quasi gewissermaßen dein weitaus zweitliebstes<br />

Leibgericht, oder? Filou ist bereits fort, dir einen Teller zu holen.“<br />

André zog die Augenbrauen bis unter den Haaransatz und staunte, als hätte er einen Marsmenschen vor<br />

sich. Grinsend wuchtete sich Filou in die Höhe und walzte in die Küche.<br />

„Na, komm schon, du alberne Bohnenstange!“ fuhr Pipin munter fort.<br />

„Geniert sich wie ‘ne Zicke am Strick!“ brummte René, rollte heran wie ein Preisboxer und verpasste<br />

André einen wuchtigen linken Geraden.<br />

„Au! — Bin — bin ich denn kein Verräter mehr?“<br />

„Haste sonst noch ‘ne kluge Frage?“ meinte René, reichte ihm die Hand und drückte so fest zu, dass<br />

André zum zweitenmal „Au!“ schrie.<br />

„Nein, André!“ sagte Maurice und reichte ihm ebenfalls die Hand. „Jeder macht mal ‘n Fehler, du hast<br />

deinen wiedergutgemacht und sicher was dabei gelernt. — Schön, dass du wieder da bist! Du hast uns<br />

richtig gefehlt.“<br />

Filou, der eben mit dem Besteck hereinkam, bubbelte: „Wenn der Teufel dich ‘n Bein stellt, fällste hin.<br />

Aber du darf s nich liegenbleiben!“<br />

„Sie haben die Scharte glänzend ausgewetzt!“ sagte der Graf und schüttelte André lange die Hand.<br />

„Und das Geld stecken Sie nur schnell wieder ein, es gehört Ihnen jetzt wirklich!“<br />

André blinzelte nervös, seine Lippen zuckten. „Ja, wie? Was? Ich...“<br />

Er kam so schnell nicht mit.<br />

„Setz dich, du Rübe!“ brummte René und schubste ihn rauh, aber herzlich auf einen Stuhl.<br />

„Erzähl mal, wie du das mit Punaise gedreht hast, Mensch!“ Kurz und knapp berichtete André; dann<br />

wurde endlich gegessen. Obgleich sein Lieblingsgericht vor ihm stand, brachte er keinen Bissen über die<br />

Lippen. Die Aufregung der letzten Tage wirkte sich aus, ihm wurde entsetzlich übel, seine Hände<br />

zitterten, und in den Ohren rauschte und dröhnte es. Die Jungen packten ihn auf die Couch und deckten<br />

ihn zu, denn er fror trotz der Hitze. Wenige Minuten später schlief er tief und fest. Zum erstenmal seit<br />

vier Tagen war sein Gesicht zufrieden und entspannt.<br />

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„Was haben Sie jetzt vor?“ fragte Maurice. „Jetzt können Sie den alten Gauner doch rauswerfen, nicht<br />

wahr?“<br />

Der Graf antwortete nicht sogleich, nickte nur und stocherte geistesabwesend in seinem Essen herum,<br />

was ihm einen verweisenden Blick von Pipin eintrug. „Klar, Baharoff ist geliefert! Der Beweis ist ja<br />

wohl ausreichend für jedes Gericht. Ich möchte am liebsten gleich zu ihm, ich möchte ihn am liebsten<br />

noch heute an die Luft setzen, aber das wird kaum gehen!“<br />

„Wieso?“<br />

„Ich habe nicht genug Geld! Keine Zehntausend.“<br />

„Ich denke, Sie hatten das Geld vor zwei Jahren schon zusammen?“<br />

„Ganz recht! Aber das geliehene Geld habe ich natürlich zurückgegeben, und mein eigenes steckt fast<br />

ganz im Betrieb.“<br />

„Sie kriegen mein Sparbuch! Heben Sie alles ab!“<br />

„Vielen Dank, Gaston! Jean-Baptiste wird mir seine Ersparnisse ebenfalls leihen, aber . . .“<br />

„Selbstverständlich geben wir alle unser Geld zurück!“<br />

„Auf keinen Fall! Sehr liebenswürdig, Maurice, doch davon wird der Kohl nicht fett, behalten Sie nur<br />

Ihr Geld. Ich werde gleich versuchen, mir etwas zu leihen, doch ob ich genügend zusammenbekomme,<br />

ist fraglich.“<br />

Sofort nach dem Essen ging er in sein winziges Arbeitszimmer und führte mehrere lange<br />

Telefongespräche. Dann setzte er sich in den schwarzen Buick und fuhr davon. Gaston und die Jungen<br />

ließen sich vor der Haustür im Schatten nieder und warteten auf Jean-Baptiste. André schlief immer<br />

noch.<br />

Der Alte kam, um wie üblich seine Mittagspause beim Grafen zu verbringen. Die Jungen erzählten ihm,<br />

was vorgefallen war. Kaum hatte er sich ein wenig beruhigt, da schlich er auf Zehenspitzen ins Haus —<br />

Gaston hinterher. Beide kamen mit ihren Sparbüchern zurück. René fuhr sie mit Spinne zur Bank nach<br />

St. Tropez. Eine knappe Stunde später waren sie wieder da.<br />

Durch Spinnes Getöse erwachte André und kam heraus. „Hört mal, ich hab‘ einen Kohldampf, welcher<br />

nicht von Pappe ist“, sagte er und gähnte.<br />

„Muss auch nich Pappe essen!“ meinte Tista vorwurfsvoll.<br />

„Nee, das musst du auch nicht“, stimmte Pipin feixend zu. „Komm mit, ich geb‘ dir was anderes. —<br />

Willst du auch was, Tista?“<br />

„I-jaha! Gebatenen Fisch!“<br />

„Hab‘ ich nicht! Maurice hat doch heute nichts gefangen!“ Der Maler war nämlich an den Tagen vorher<br />

mit Gummiflossen, Tauchbrille und Harpune auf Unterwasserjagd gewesen, und sogar mit Erfolg! René<br />

behauptete hinterher, die Fische hätten vor Lachen nicht wegschwimmen können, als sie Maurices O-<br />

Beine sahen; Maurice hätte sie mit der Hand gefangen und nachträglich auf die Harpune gespießt. Tista<br />

aber trug jeden Mittag stolz und hungrig einen Zwei- oder Dreipfünder in die Küche.<br />

Gegen sechs Uhr kam der Graf zurück, Jean-Baptiste und Gaston übergaben ihm sogleich ihr Geld.<br />

„Wieviel?“ fragte Maurice lakonisch.<br />

„Knapp vier! Ich habe einen Bankkredit bekommen. Bekannte haben mir was geliehen, dazu die<br />

Ersparnisse der beiden. Mitzuzählen wäre noch der Betrag für die vernichteten Reben — denn die muss<br />

er ja ersetzen. Also noch rund tausend. Meine Freunde sind alarmiert und wollen sehen, was sie in den<br />

nächsten Tagen zusammenkriegen, doch mehr als zweitausend erwarte ich von dieser Seite nicht. Ich<br />

habe noch erhebliche Guthaben bei Kunden, aber ich kann mich nicht restlos verausgaben, ich brauche<br />

schließlich Betriebskapital!“ Der junge Mann machte ein sorgenvolles Gesicht. „Im Höchstfalle<br />

komme ich also auf siebentausend.“<br />

„Rest dreitausend!“ André wiegte seinen Wasserkopf. „Schwere Menge Holz!“<br />

Ein Wagen kam heran und hielt. Rechtsanwalt Delattre stieg aus und rief erstaunt: „Was machen Sie<br />

denn hier, André? Ich habe Sie heute morgen vermisst!“<br />

André verbeugte sich. Dass man ihn vermisste, ging ihm runter wie Honig.<br />

Eine halbe Stunde besprach der Graf mit Delattre den vorbereiteten Kaufvertrag, dann ließen sie sich<br />

durch Jean-Baptiste bei Baharoff anmelden. Begleitet von den guten Wünschen aller, machten sie sich<br />

auf den Weg. „Wenn er pampig wird, rufen Sie mich! Den heb‘ ich aus den Textilien!“ knurrte René<br />

und trommelte mit den Fäusten auf seine Brust wie ein Gorilla.<br />

Kaum waren die Männer fort, da sagte Maurice: „Gaston, habt ihr ‘ne Fahne? Ich meine, ‘ne gräfliche?“<br />

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„Klar! Mit ‘nem schwarzen Löwen im roten Feld!“<br />

„Holen Sie das Ding! Wird sofort gehisst! Die Regierungsübernahme muss schließlich gefeiert werden!“<br />

Das Stichwort „feiern“ zündete augenblicklich. Nichts lieber als das! Ameisenhafte Geschäftigkeit brach<br />

aus: Gaston, René und Seppe schleppten alle überflüssigen Möbel aus dem Wohnzimmer hinaus und<br />

einen zweiten Tisch hinein. Stellten zwölf Stühle drum herum. Seppe übernahm das Tischdecken, Filou<br />

schmierte Unmengen Brote, Pipin richtete eifrig leckere Gabelbissen an, Tista wirkte mit demselben<br />

Eifer als Verkehrshindernis. Maurice malte ein großes Schild:<br />

„Herzlich willkommen!“ Und darunter: „Es lebe Graf Franz der einundzwanzigste!“ Dann holte er<br />

einen Hammer, Nägel und eine Leiter, um das Schild über der Türe anzubringen; schlug erst auf seinen<br />

Daumen und dann auf die Nägel. Die drei Neufundländer lagen in der Ecke und betrachteten den<br />

Aufruhr mit philosophischer Ruhe.<br />

„Gastong, ham Se kein Akkordijon?“ fragte Filou.<br />

„Nee, aber ‘ne Trompete!“<br />

„Ho, Trompete allein is schlecht!“<br />

„Ich hol‘ ein Akkordeon!“ versprach Gaston, setzte sich in den Wagen, fuhr ins Dorf und kam mit einer<br />

wunderschönen Ziehharmonika wieder.<br />

Um Viertel vor neun war alles fix und fertig. Gaston hatte seine Feiertagslivree angezogen, die Jungen<br />

sich so festlich wie möglich gemacht. Sie standen vor der Tür und stritten sich über die<br />

Begrüßungsmusik. Gaston kannte fast nur Opern- und Operettenstücke, Filou fast nur Schlager und<br />

Volkslieder. Das heißt: es gab doch so einige Überschneidungen. So kannte der Schwarze zum Beispiel<br />

den Brautmarsch aus „Lohengrin“, aber der wurde allgemein als unpassend empfunden. Gaston dagegen<br />

erinnerte sich an den Schlager, der „Eselsserenade“ hieß — das war noch unpassender! Schließlich<br />

einigten sie sich auf den Marsch „Alte Kameraden“.<br />

„Sie kommen!“ hieß es da auch schon.<br />

Filou zählte aufgeregt bis drei, dann schmetterten sie los. Seppes Gitarre war natürlich kaum zu hören,<br />

aber er glänzte vor Begeisterung. Filous Fettmassen wabbelten, seine Finger tanzten über die Tasten; am<br />

liebsten hätte er vor Begeisterung gebrüllt. Gaston blies, dass die Halsadern hervorquollen, und nicht<br />

immer richtig, aber das machte nichts aus. René schlug auf einem leeren Benzinfass den Takt. Der Graf<br />

schaute auf die Kapelle, auf das Schild und auf die Fahne und hatte vollauf zu tun, die Fassung zu<br />

bewahren. Rührung und Freude machten ihn richtig schwindelig.<br />

Kaum war der Marsch zu Ende, da fragte Maurice wie aus der Pistole geschossen: „Wie war‘s? Was hat<br />

der alte Gauner gesagt?“<br />

„Das Gesicht hättet ihr sehen müssen ! Zuerst versuchte er natürlich alle möglichen Faxen, aber<br />

schließlich hat er doch unterschrieben. Was blieb ihm auch anderes übrig?“<br />

„Na, prima, Mensch! Jetzt haben Sie Ihren Schuppen ja wieder!“ röhrte René und schlug dem Grafen<br />

derb auf die Schulter. Das war so seine Art, Glückwünsche auszusprechen. Alle drängten sich um den<br />

neuen Besitzer von St. Augustin, strahlten, lachten und juchhuten und zerrten ihn ins Wohnzimmer.<br />

Jean-Baptiste kam atemlos herbeigelaufen und streckte dem Grafen beide Hände entgegen. „Lieber<br />

Franz! Der schönste Tag meines Lebens!“ sagte er mit ergriffenem Bibbern. „Ich habe gekündigt!“<br />

Maurice hielt eine schöne Rede und ließ alle auf das Wohl des Grafen trinken. Monsieur Delattre hielt<br />

eine Rede, und wieder wurde getrunken. Jean-Baptiste hielt eine Rede, und der Graf hielt eine Rede, und<br />

jedes Mal wurde getrunken. Und da entdeckte Filou seinen Mut und wollte auch eine Rede halten. Er<br />

stand auf und öffnete schon den Mund, da schlug Seppe ihn mit der flachen Hand in die Kniekehle, so<br />

dass er wie vom Blitz getroffen auf den Stuhl zurückplumpste. Tista redete die ganze Zeit und warf<br />

schon zum zweitenmal seine Limonade um. Es war wunderbar!<br />

„Und nun?“ fragte Maurice. „Wann zieht Baharoff aus?“<br />

„Nicht eher, bis das Geld restlos bezahlt ist! Wir werden tüchtig arbeiten müssen. Ich müsste den Betrieb<br />

vergrößern, noch ein paar Leute einstellen.“ Der Graf blickte die Jungen der Reihe nach an.<br />

„Könnten Sie nicht“, begann André und räusperte sich, „könnten sie nicht einen Reisevertreter<br />

gebrauchen? Mit Wagen und Chauffeur sogar? Beides strebsame junge Leute! Wir würden zunächst auf<br />

jegliche Provision verzichten, bis der alte Gauner raus ist, nicht wahr, René?“<br />

„Wie? Was? Ich? Mit dir? Was ‘ne Zumutung! — Na klar, wir arbeiten fürs Essen, bis Baharoff raus ist!<br />

Ich wollte mich sowieso verändern.“<br />

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„Gut! Versuchen Sie ‘s mal! Eigentlich eine prächtige Idee! Wenn Sie tüchtig sind, könnten Sie viel<br />

Geld verdienen. — Später brauchte ich auch einen Koch, Pipin! Haben Sie keine Lust zu bleiben?“<br />

„Ist gemacht!“ Der Gelbe zeigte grinsend die Backenzähne.<br />

„Brauchen Sie nicht noch einen Lehrling, Herr Graf?“<br />

„Sie wollen doch nicht etwa umsatteln, Maurice?“<br />

„Nein, Seppe möchte gern was Vernünftiges lernen! Hat sehr geschickte Finger!“ Seppe nickte eifrig.<br />

„Einverstanden! Wie ich meinen Werkstattleiter kenne, wird Seppe was lernen! Und Sie bleiben<br />

selbstverständlich auch, Maurice. Zu essen haben wir immer, und zu malen gibt es ja hier reichlich.“<br />

Filou schniefte und zog einen Flunsch. „Alle bleim se hier, bloß ich muss weck, Mann! Weng Oma!“<br />

„Zum Trost dürfen Sie sich einen von den beiden Junghunden aussuchen!“<br />

„Wirklich?“ Der Graf nickte ihm lächelnd zu. Filou sprang auf, lief in die Ecke und kam mit Castor auf<br />

dem Arm zurück. „Is der nich schön? Guck mal, wie der guckt! Genau wie Stinker!“<br />

„Diesmal aber rasserein! Gehen Sie häufig mit ihm an die See, Filou! Neufundländer schwimmen sehr<br />

gern.“<br />

„Jeden Tach!“ versprach der Schwarze, setzte den Hund auf<br />

den Boden und tobte seine Freude mit Hilfe der<br />

Ziehharmonika aus. Sein Lieblingslied ertönte, voll weicher<br />

Schwermut und strömender Wärme. Von so belebten Händen<br />

war das einfache Instrument noch nie gespielt worden. Filou<br />

vergaß seine Umgebung und verlor sich in die Musik. Seine<br />

Augen waren zur Decke gekehrt und sahen nichts, sein Kopf<br />

rollte von einer Seite auf die andere, seine Körperbewegungen<br />

waren Töne, seine Atemzüge Rhythmen.<br />

Nach dem letzten Ton erwachte er, seufzte fett und alltäglich<br />

und blickte sich erstaunt um.<br />

„Bravo!“ rief der Graf und klatschte begeistert. „Bravo!“ riefen auch die andern und machten ein<br />

schreckliches Getöse. Selbst Jean-Baptiste schlug die langen weißen Hände zusammen und sagte in<br />

einem fort: „Ganz außerordentlich! Ganz außerordentlich!“ Alle tranken dem Schwarzen zu, der vor<br />

lauter Verlegenheit sein Glas in einem Zug leerte. Seppe stand auf, winkte Tista und stellte sich neben<br />

Filou. „Los, ‚Quel mazzolin di fiori’!“<br />

Sie spielten die Einleitungstakte, dann begannen die Palottis zu singen.<br />

„Hätte ich nie gedacht, dass diese Jungen ...“ murmelte Jean-Baptiste, „nie!“<br />

Später, als alle schon einen kleinen Schwips hatten, beugte sich Gaston zu Maurice hinüber und fragte:<br />

„Sagen Sie mal, Sie wohnen tatsächlich in der Zwiebelstraße?“<br />

„Ja, warum nicht?“<br />

„Ach, nur so!“ Er zögerte einen Moment. „Ich kenne da jemanden, weiß allerdings nicht, ob er noch<br />

lebt. Ist schon lange her, seit . . .“ Er stockte wieder. Maurice hatte den Eindruck, als habe der Mann<br />

etwas auf dem Herzen.<br />

„Wer ist es denn? Vielleicht kennen wir ihn?“<br />

Gaston gab sich einen Ruck. „Pylades Gregoriades!“<br />

„Na klar kennen wir den!“ ballerte René, der mitgehört hatte. „Monsieur Pill, ganz alter Freund von uns!<br />

Sollen wir ‘n Gruß bestellen?“<br />

„Nein, nein, lassen Sie nur“, erwiderte Gaston hastig. „Er wird sich meiner nicht mehr entsinnen.“<br />

Gregoriades? Gregoriades? Maurice schaute den Mann aufmerksam an. Der war ihm doch von<br />

vornherein aufgefallen! Die Figur, der runde Schädel, die buschigen Augenbrauen. Und Marseiller<br />

Dialekt. Linkshänder! — Na, dachte er, na! Ist doch nicht möglich! Ausgeschlossen! In Gedanken malte<br />

er Gaston einen Schnurrbart an, und da war die Sache völlig klar.<br />

Verflixt und zugenäht! Verflixt, was ‘n Ding!<br />

Maurice wartete einen Moment, dann blickte er Gaston fest in die Augen und sagte: „Gustave! Ihr Vater<br />

würde außer sich sein vor Freude, wenn Sie nach Hause kämen!“<br />

Der Chauffeur zuckte zusammen und wurde blass.<br />

„Gustave?“ fragte der Graf. „Er heißt doch Gaston!“<br />

„Nein, Herr Graf! Ich bin Gustave Gregoriades. Ich habe Sie und Ihren Vater beschwindelt, jahrelang.“<br />

Und dann erzählte er seine Geschichte, berichtete von seinen Streichen und schließlich vom Raub der<br />

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väterlichen Kasse. „Ich bin nicht weit gekommen damit. In Nimes wurde mir alles gestohlen. Ich wagte<br />

mich nicht mehr nach Hause und schlug mich kümmerlich durch. Eines Tages las mich Ihr Vater auf,<br />

Herr Graf. Er ahnte, dass ich was ausgefressen hatte, aber er hat nie gefragt. Er vertraute mir und machte<br />

mich zu seinem Chauffeur. Ich glaube, ich habe ihn auch nie enttäuscht; ich war so dankbar, dass er mir<br />

eine Chance gegeben hatte. Wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre!“<br />

„Ich denke, Sie wurden erschossen?“ platzte Seppe heraus.<br />

„Was? Ich?“<br />

„Ja“, sagte Maurice, „Ihr Vater hält Sie für tot. Er bekam aus Nimes Nachricht von der Polizei, Sie<br />

wären beim Überfall auf die Sparkasse erschossen worden.“<br />

„Schrecklich! Ich als Räuber erschossen! Da hat mein Vater aber was . . . Das war ich natürlich nicht,<br />

wahrscheinlich der, der meine Brieftasche gestohlen hat. Aber nun — nun kann ich doch erst recht nicht<br />

mehr nach Hause!“<br />

„Quatsch! Tun Sie das dem Alten nicht an! Wir sollten ihm ‘ne Zeichnung mitbringen von Ihrem Grab.<br />

Er kann sich nämlich nicht beruhigen, dass Sie komischer Paradiesvogel nicht mehr vorhanden sind.<br />

Aber so, Mann! — Das müssen wir dem Pill schonend beibringen, Kinders! Der kippt uns aus den<br />

Pantinen!“<br />

„Gustave!“ Zum erstenmal sagte der Graf Gustave! „Wir fahren morgen früh alle zusammen nach<br />

Marseille, und ich werde Ihren Vater vorbereiten, einverstanden?“<br />

„Ja, ja, bitte! Ja! — Sie sind mir nicht böse, Herr Graf?“<br />

„Unsinn! Als Gustave sind Sie mir genauso lieb wie als Gaston. Prost, verlorener Sohn!“<br />

René sorgte dafür, dass keinerlei trübe Gedanken aufkamen. Er schlug Gustave auf die Schulter und<br />

brüllte: „Prost, Kollege! Mensch, die Welt ist doch ‘n kleiner Hühnerstall, überall trifft man die<br />

komischen Hühner aus der Zwiebelstraße. Komm, trink, Mensch! Dein Alter — ich sag‘ jetzt du zu dir,<br />

denn du bist ja mein Nachbar — also dein Alter fällt uns hundertmal um den Hals, wenn wir dich<br />

mitbringen. Ich kenne doch meinen Freund Pill!“<br />

Das Fest wurde noch ausgesprochen rauschend. Den dicksten Rausch hatte Jean-Baptiste, weil er sich so<br />

sehr freute. Er nahm schließlich sogar Seppes Gitarre und begann zu singen, woraufhin die drei<br />

Neufundländer geschlossen das Lokal verließen. „Die hams gut!“ seufzte Filou hinter ihnen her.<br />

Ende<br />

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