Weihnachten 2008 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV
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Glück, ohne Gefecht von der Stadt<br />
abgesetzt.<br />
Die Russen kommen. In der Bahnhofstraße<br />
stand ein verlassener Panzerwagen.<br />
Dort trafen wir auf einige<br />
Mädchen und Schwestern des Dorotheenhauses,<br />
die sich uns anschlossen.<br />
Wir waren froh, Hilfe bei dem<br />
Schlittenziehen zu bekommen. So<br />
gelangten wir zu meinem Privathaus,<br />
das an der Gabelung von Bahnhof-<br />
und Kaiserstraße liegt. Die neu hinzugekommenen<br />
Schwestern warnten<br />
uns dringend davor, weiterzugehen,<br />
weil die Russen schon von der anderen<br />
Seite in die Stadt eindrangen. So<br />
blieb nichts anderes übrig, als in mein<br />
Haus einzuziehen. Da wir mit Beschuss<br />
der Stadt rechnen mussten,<br />
wagten wir nicht, unsere Wohnung<br />
zu belegen, sondern zogen in die<br />
großen Kellerräume, in denen der<br />
Hausmeister mit seiner Familie zurückgeblieben<br />
war. Alle halfen uns<br />
mit herzlicher Bereitwilligkeit. Die Küche<br />
war als der einzige, ständig<br />
warme Raum für die Kinder ausgeräumt.<br />
Auf den Fußboden legten wir<br />
Decken und Matratzen, die wie von<br />
unserer Wohnung herunterholten. Eine<br />
Treppe führte vom Keller direkt<br />
dorthin. In der zweiten Etage befanden<br />
sich meine Praxisräume, und<br />
den Rest bewohnte seit Jahren die<br />
mit uns sehr befreundete Pfarrerswitwe.<br />
Sie hatte sich nicht auf den<br />
Bahnhof getraut und schloss sich<br />
nun auch uns im Keller an. Bald lagen<br />
alle Kinder, noch etwas verwirrt<br />
von den für sie so interessanten Erlebnissen<br />
des ereignisreichen Tages,<br />
nebeneinander und rühmten ihre<br />
Heldentaten. Auf dem Herd, der außer<br />
Gas auch Kohlenfeuerung hatte,<br />
brodelten große Töpfe mit Suppe<br />
und Wasser für Kaffee, den wir alle<br />
sehr nötig hatten. Trotz der Angst vor<br />
dem, was nun kommen würde, waren<br />
alle bald nach dem Kaffeegenuss<br />
in guter Stimmung. Wir riefen das<br />
Dorotheenhaus an, um uns nach einigen<br />
erwachsenen Patienten zu erkundigen,<br />
die wir auf den Schlitten<br />
nicht hatten mitnehmen können. Bei<br />
ihnen waren der dortige Hausmeister,<br />
einige Schwestern und einige Frauen<br />
verblieben. Auch sie befanden sich<br />
im Luftschutzkeller und waren noch<br />
in guter Stimmung, denn Lebensmittel<br />
waren dort reichlich vorhanden.<br />
Bei uns waren die übermüdeten Kinder<br />
bald eingeschlafen, wir Erwachsenen<br />
saßen angezogen um sie herum<br />
und berieten leise, was wir nun<br />
machen sollten. Vielleicht könnten wir<br />
am nächsten Morgen in das Dorotheenhaus<br />
zurückziehen, denn die<br />
Verpflegung und Behandlung so vieler<br />
Kinder schien hier für längere Zeit<br />
unmöglich. Das Dorotheenhaus war<br />
ein Rot-Kreuz-Krankenhaus mit DRK-<br />
Schwestern. Wir hofften, dass die<br />
Russen dies internationale Zeichen<br />
achten und uns vielleicht unbehelligt<br />
lassen würden. – Wie sehr sollten wir<br />
uns getäuscht haben!<br />
Inzwischen hörten wir immer einzelne<br />
Schüsse. Jedesmal wurde es dann<br />
ganz still, und jeder saß in banger Erwartung<br />
da. Die Kinder träumten ahnungslos<br />
von ihrer Schlittenfahrt.<br />
Plötzlich ging das elektrische Licht<br />
aus, und die kleine Gasflamme, auf<br />
der ein Wasserkessel brodelte, verlöschte.<br />
Auch der nicht ganz dichte<br />
Wasserhahn hörte auf zu tropfen. Der<br />
Oberbürgermeister hatte „vorsorglich“<br />
vor seiner Flucht den Befehl gegeben,<br />
Licht, Gas und Wasser abzustellen,<br />
obwohl er wusste, dass nicht einmal<br />
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