Weihnachten 2008 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV
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handelte sich um einen Splitterschussbruch<br />
beider Knochen eines<br />
Unterschenkels. Die Blutung war<br />
ziemlich zur Ruhe gekommen, aber in<br />
der großen Wunde steckten Tuchfetzen.<br />
Es war daher nach dem Liegen<br />
im Frost nicht nur eine Lungenentzündung,<br />
sondern auch eine Tetanusinfektion<br />
möglich. Er bekam Tetanusserum,<br />
die Wunde wurde gereinigt,<br />
verbunden und ein gefensterter Gipsverband<br />
angelegt. Dann wurde die<br />
Waschküche gut geheizt, und nun<br />
blieb uns nur die Hoffnung, dass alles<br />
gut gehen würde. Wenn der Mann bei<br />
uns gestorben wäre, wäre es uns<br />
schlecht ergangen, denn die Russen<br />
hätten bestimmt geglaubt, dass wir<br />
ihn umgebracht hätten.<br />
Wir waren durch dieses Ereignis alle<br />
früh auf die Beine gekommen und hatten<br />
keine Zeit gehabt, an uns zu denken.<br />
Als es jetzt ans Frühstückbereiten<br />
ging, fiel uns die Wasserfrage wieder<br />
schwer auf die Seele. Da hatte jemand<br />
den rettenden Einfall, dass ja in dem<br />
großen Zentralheizungskessel eine<br />
Menge Wasser wäre! Alle sonstigen<br />
Sorgen waren vergessen, bald saßen<br />
wir beim dampfenden Kaffee um den<br />
Tisch. Wir hatten ziemlich viele Vorräte<br />
an Lebensmitteln im Vorratskeller, besonders<br />
Kartoffeln, Mehl, Gemüse-<br />
und Fruchtkonserven, auch Räucherwurst.<br />
Der Hausmeister hatte gerade<br />
kurz vorher ein Schwein geschlachtet<br />
und verteilte auch großzügig seine<br />
Vorräte. Man glaubt nicht, wie schnell<br />
sich die Gemüter, selbst in großer Gefahr,<br />
beruhigen, wenn ein heißer Kaffee<br />
und ein Stück belegtes Brot vor<br />
einem stehen.<br />
Das Frühstück war noch nicht beendet,<br />
als eine neue Gefahr drohte. Irgendwo<br />
schoss ein kleines Geschütz.<br />
Das war ungewöhnlich, denn bis dahin<br />
waren immer nur einzelne Gewehrschüsse<br />
gehört worden. Ich ging<br />
in den Korridor des Kellers und öffnete<br />
die zum Garten führende Tür, um<br />
besser hören zu können. Auf die Straße<br />
konnte man sich noch nicht wagen.<br />
In kürzeren Zeitabständen fielen<br />
immer aus der gleichen Richtung<br />
Schüsse, und was das Unheimliche<br />
dabei war, die Einschläge kamen immer<br />
näher. Nach kurzer Zeit wurde<br />
mir klar, dass der Schütze es auf unser<br />
Haus abgesehen hatte. Rechts<br />
und links von uns wurden abwechselnd<br />
in den Gärten die Baumkronen<br />
zerrissen. Der Gedanke, das Haus<br />
verlassen zu müssen, war niederschmetternd.<br />
Wo sollten wir bei dem<br />
immer noch herrschenden Frost mit<br />
den Kindern hin? Ich konnte nicht lange<br />
darüber nachdenken, als schon ein<br />
Schuss unseren Dachgiebel traf. Das<br />
ganze Haus wurde erschüttert, und<br />
ich lief eilig nach oben, um zu sehen,<br />
ob das Dach in Brand geraten wäre.<br />
Das war glücklicherweise nicht der<br />
Fall. Es war die Giebelwand eines<br />
Fremdenzimmers getroffen und ein<br />
fast quadratmetergroßes Mauerstück<br />
herausgerissen. Ziegel und Putz lagen<br />
über das ganze Zimmer verstreut, und<br />
aus beiden Fenstern war das Glas gesprungen.<br />
Aber es brannte nichts. Der<br />
Schaden war also gering und störte<br />
uns nicht im Keller.<br />
Merkwürdigerweise hörte das Schießen<br />
jetzt auf. Es machte den Eindruck,<br />
als ob der Schütze sich ein<br />
Vergnügen daraus gemacht hätte,<br />
ein Ziel zu treffen. Wir haben nie erfahren,<br />
ob es ein deutsches oder<br />
russisches Geschütz war. Einzelne<br />
deutsche Soldaten waren immer noch<br />
in der Umgebung verstreut und be-<br />
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