Jahresbericht 2009 Tartaruga
Jahresbericht 2009 Tartaruga
Jahresbericht 2009 Tartaruga
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<strong>Jahresbericht</strong> <strong>2009</strong><br />
<strong>Tartaruga</strong><br />
Kriseninterventionsstelle<br />
Für Jugendliche
Vorwort und Rückblick<br />
Das Jahr <strong>2009</strong> war für die tartaruga eines,<br />
in dem es nach den beiden vorangegangenen<br />
Krisenjahren (Personalreduktionen<br />
und -änderungen aufgrund des<br />
Fehlens von entsprechenden Rahmenbedingungen<br />
durch die DVO) wesentlich um<br />
den weiteren Wiederaufbau sowie um die<br />
Stabilisierung des Leistungsangebots<br />
durch die nunmehrigen Teammitglieder<br />
ging.<br />
In der Herbstklausur der hauptamtlichen<br />
MitarbeiterInnen konkretisierten wir die<br />
geltenden Grundsätze der Einrichtung zu<br />
wesentlichen Handlungsaspekten, insbesondere<br />
zu Zieldefinition und -überprüfung<br />
(wesentlich im Zusammenhang mit der<br />
Aufenthaltsdauer stehend), Zuständigkeiten<br />
intern und extern, sowie Krisenbetreuung<br />
in Kombination mit sozialpädagogischer<br />
Alltagsbetreuung. Ebenso<br />
konnten wir das „interne Zusammenspiel“<br />
aller MitarbeiterInnen hinsichtlich der Zuständigkeiten<br />
weiterentwickeln; wesentliche<br />
Basis dafür waren (und dies sind sie<br />
auch weiterhin) die Dienstübergaben sowie<br />
die Teamsitzungen und Supervisionen<br />
in unterschiedlicher Zusammensetzung.<br />
Erfreulicherweise wurde im letzten Jahr<br />
seitens der zuständigen Fachabteilung<br />
des Landes ein wesentlicher Schritt für<br />
eine Krisenlösung für die steiermärkischen<br />
Kriseninterventionsstellen gesetzt: Ergänzend<br />
zu den Richtlinien der DVO aus<br />
2005 wurde mit den Trägern eine Zusatzsondervereinbarung<br />
abgeschlossen, wodurch<br />
die für den Betrieb solcher Einrichtungen<br />
nötige Personalkapazität auch<br />
grundsätzlich finanziert werden kann. Für<br />
die freien MitarbeiterInnen der tartaruga<br />
bedeutete dies zum einen eine wesentliche<br />
finanzielle und arbeitsrechtliche Verbesserung,<br />
da diese somit ab Mitte des<br />
Jahres angestellt werden konnten, zum<br />
anderen tragen sie seither als „pädagogische<br />
MitarbeiterInnen“ zur Umsetzung des<br />
Angebots für Jugendliche in Krisensituationen<br />
bei.<br />
2<br />
Besonders freue ich mich über zwei<br />
Anerkennungen unterschiedlicher Art für<br />
die tartaruga: Der Lions Club Graz<br />
Panthera ermöglichte durch eine großzügige<br />
Spende den Ankauf einiger größerer<br />
Freizeit-/Sportgeräte. Und für den von der<br />
Kinder- und Jugendanwaltschaft Steiermark<br />
und dem Kinderbüro Steiermark<br />
vergebenen TrauDi!-Preis <strong>2009</strong> unter dem<br />
Motto „Recht auf Schutz vor Gewalt“<br />
wurde u.a. die tartaruga nominiert.<br />
In diesem Sinne danke ich auch allen MitarbeiterInnen<br />
der tartaruga für ihr tolles<br />
Engagement sowie ihre Lust und Freude,<br />
in dieser Kriseninterventionsstelle zu arbeiten.<br />
Und mit ihnen freue ich mich darüber,<br />
dass wir Anfang März 2010 die<br />
1000ste stationäre Betreuung seit der<br />
Eröffnung der tartaruga im Jahr 1994<br />
beginnen konnten.<br />
Der vorliegende <strong>Jahresbericht</strong> gibt neben<br />
einem Überblick über die Grundzüge des<br />
Angebots der tartaruga eine zusammenfassende<br />
Auswertung der statistischen<br />
Daten der Beratungen und stationären<br />
Betreuungen aus dem Jahr <strong>2009</strong>. Schwerpunktmäßig<br />
gehen wir in der Folge der<br />
Frage nach, ob es einen Unterschied in<br />
der Betreuung von Jugendlichen mit und<br />
ohne Migrationshintergrund gibt. Eine Beschreibung<br />
der Zuständigkeiten der MitarbeiterInnen<br />
sowie ein Ausblick auf das<br />
neue Arbeitsjahr runden den Bericht ab.<br />
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin und lieber<br />
Leser, dass Sie auf den folgenden<br />
Seiten einige für Sie interessante Informationen<br />
über die Arbeit der tartaruga entdecken.<br />
Und für die nächsten Monate und<br />
Jahre freue ich mich auf eine engagierte<br />
und wirkungsvolle Zusammenarbeit für die<br />
Jugendlichen und deren Bezugspersonen.<br />
Mag. a Regina Enzenhofer<br />
Leiterin
Angebot und Arbeitsweise -<br />
Ausgewählte Daten aus <strong>2009</strong><br />
Fakten zur tartaruga<br />
- kostenlose Beratung für Jugendliche<br />
und deren Bezugspersonen, telefonisch<br />
und ambulant; Möglichkeit zur<br />
Anonymität<br />
- Krisenintervention<br />
- unbürokratische Soforthilfe<br />
- stationäre Betreuung<br />
- Möglichkeit zur Anonymität bei stationärem<br />
Aufenthalt gegenüber dem Jugendamt<br />
in den ersten fünf Tagen<br />
- Nachbetreuung in Form von<br />
ambulanter Beratung<br />
- zentrale Lage und dadurch gute<br />
Erreichbarkeit<br />
- 24-Stunden-Erreichbarkeit an<br />
365 Tagen im Jahr<br />
3<br />
Angebot und Arbeitsweise -<br />
Ausgewählte Daten aus <strong>2009</strong><br />
(Quelldaten aus <strong>2009</strong>)<br />
Durch die zentrale Lage und das umfangreiche Hilfsangebot ist die tartaruga aus Graz nicht<br />
mehr wegzudenken. Sie bietet Schutz und zeitlichen Schonraum für weitere Abklärung und<br />
zur Perspektivenentwicklung. Als Zielgruppe gelten Jugendliche im Alter von 13 bis 18<br />
Jahren beiderlei Geschlechts, die sich in einer akuten Krisensituation befinden:<br />
- mit Konflikten im familiären Bereich,<br />
mit Eltern, Stiefeltern, …<br />
- mit Konflikten in der Schule, am Arbeitsplatz,<br />
in zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen, meist in Wechselwirkung<br />
mit einem defizitären Elternhaus<br />
Es kommen jedoch auch Jugendliche zu<br />
uns, die:<br />
- wegen sexueller Ausbeutung, physischer<br />
oder psychischer Misshandlung<br />
nicht mehr in ihrem Umfeld bleiben<br />
wollen oder<br />
- über zu wenig Ressourcen verfügen,<br />
um mit ihrer aktuellen Lebenssituation<br />
zu recht zu kommen und die daher als<br />
gefährdet einzustufen sind.<br />
Jugendliche mit<br />
stationärer<br />
Aufnahme<br />
telefonische und<br />
ambulante<br />
Aufnahmeanfragen<br />
Jugendliche und<br />
Erwachsene in<br />
ambulanter<br />
Beratung<br />
Jugendliche und<br />
Erwachsene in<br />
telefonischer<br />
Beratung<br />
79<br />
341<br />
264<br />
126
Stationäre Betreuung<br />
• Von<br />
Jänner bis Dezember gab es im<br />
Durchschnitt gerechnet eine Vollauslastung.<br />
Im Handlungsalltag bedeutete dies,<br />
dass zeitweise auch die beiden Notbetten<br />
belegt waren und somit immer wieder<br />
nicht einmal eine kurzzeitige Aufnahme<br />
möglich gewesen war.<br />
4<br />
In der stationären Betreuung wurden im<br />
Jahr <strong>2009</strong> insgesamt 79 Jugendliche aufgenommen.<br />
Davon handelte es sich bei<br />
neun Jugendlichen um eine Wiederaufnahme,<br />
d.h. sie wurden vorher bereits von<br />
uns stationär betreut.<br />
• Einer<br />
• Die<br />
jeweilige Anzahl der Aufnahmen pro<br />
Monat hat im letzten Jahr zwischen 4 und<br />
9 Jugendlichen pro Monat variiert.<br />
der Hauptgründe für eine Aufnahme<br />
in der tartaruga lag <strong>2009</strong> vor allem in<br />
Konflikten im familiären Umfeld oder stand<br />
in Wechselbeziehung zu diesem (71%<br />
Familienkonflikt, 29% Wohnungsnot/Enge,<br />
27% körperliche Gewalt/Familie, 18%<br />
Kontrolle/Strenge).<br />
• 15% fallen in die Kategorie „Sonstiges“.<br />
Davon wurde etwa die Hälfte der<br />
aufgenommenen Jugendlichen aus einer<br />
Wohngemeinschaft (WG) wegen vorübergehender<br />
Untragbarkeit suspendiert.<br />
Das Ziel einer Unterbringung bei uns ist<br />
dann zumeist eine 'Auszeit' von bzw. für<br />
die WG im Sinne einer Deeskalation in<br />
der Gruppe. Zudem soll der/die Jugendliche<br />
die Zeit nutzen, um seine/ihre<br />
aktuelle Situation zu überdenken, damit<br />
eine weitere Betreuung in der WG<br />
realistisch und effizient werden<br />
• Andere Gründe waren u.a. Schwangerschaft<br />
der Jugendlichen, unbegleiteter<br />
minderjähriger Jugendlicher, der aus<br />
Polen von zu Hause weggelaufen war und<br />
von der Polizei in Graz aufgegriffen wurde,<br />
etc.
• Rund<br />
• Über<br />
drei Viertel der <strong>2009</strong> aufgenommenen<br />
Jugendlichen kamen direkt aus<br />
einem familiären System in die<br />
tartaruga. Knapp ein Fünftel der<br />
Mädchen und Burschen war vorher<br />
bereits fremd untergebracht. Fast ein<br />
Zehntel kam direkt von der Straße,<br />
Freunden oder Notschlafstellen zu uns.<br />
drei Viertel der Jugendlichen<br />
wurden bereits bei der Aufnahme vom<br />
Jugendamt betreut. Knapp die Hälfte<br />
nahm eine JWF-Maßnahme, wie Lernbetreuung<br />
oder Erziehungshilfe in<br />
Anspruch. 15% der aufgenommenen<br />
Jugendlichen waren in psychotherapeutischer<br />
Behandlung. Nur 15% aller<br />
Mädchen und Burschen hatten zum<br />
Zeitpunkt der Aufnahme keine Unterstützung<br />
durch professionelle HelferInnen.<br />
Prinzipien zu Aufnahme und stationärer Betreuung<br />
- grundsätzliche Voraussetzung: Freiwilligkeit<br />
der/des Jugendlichen sowie die Bereitschaft<br />
an ihrer/seiner Situation etwas<br />
zu ändern<br />
- Aufnahmen rund um die Uhr möglich,<br />
ausführliches Aufnahmegespräch<br />
- Aufnahmealter 13-18 Jahre<br />
- Aufnahme nur mit Zustimmung des zuständigen<br />
Obsorgeträgers, i.d.R. Eltern(teil)<br />
- Platz für acht Jugendliche (davon zwei<br />
Notplätze)<br />
- Aufenthaltsdauer bis zu 8 Wochen (bei<br />
besonderen Gründen mit Verlängerungsmöglichkeit)<br />
- Prinzipien der Begleitung und Unterstützung:<br />
der/die Jugendliche ist selbstverantwortlich<br />
für die gesetzten Schritte der<br />
Veränderung bzw. Lösung der Situation,<br />
auf Transparenz im Handlungsablauf wird<br />
geachtet<br />
- grundsätzliche Ziele einer Aufnahme:<br />
Schutz und Schonraum (räumlich, zeitlich),<br />
Krisenintervention und Krisenbegleitung<br />
auf Zeit, Abklärung und Perspektivenentwicklung<br />
mit allen Beteiligten<br />
5<br />
- BezugsbetreuerIn sorgt für die Kontinuität<br />
des Abklärungs- und Betreuungsverlaufs<br />
- sozialpädagogische Betreuung sowie Anleitung<br />
und Begleitung in der Alltagsbewältigung<br />
- Einforderung einer Tagesstruktur (Schulbesuch,<br />
Arbeit, Kurs etc.) und Austausch mit<br />
den Zuständigen, Unterstützung bei diesbezüglicher<br />
Suche<br />
- begleitete Freizeitaktivitäten in Haus und<br />
Garten, gelegentlich auch außer Haus<br />
- Teilnahme an bzw. Durchführung von Familiengesprächen<br />
- Vernetzung mit anderen zuständigen HelferInnen<br />
(ErziehunghelferIn, TherapeutIn, ArbeitsberaterIn,<br />
…)<br />
- enge Zusammenarbeit mit den SozialarbeiterInnen<br />
des Jugendamtes sowie den<br />
AmtspsychologInnen<br />
- spätestens am fünften Aufenthaltstag Information<br />
an das zuständige Jugendamt;<br />
dieses klärt mit dem Obsorgeträger sowie<br />
amtsintern eine längere stationäre Betreuung,<br />
der tartaruga wird für vorübergehende<br />
Zeit die 'Pflege und Erziehung' übertragen
• <strong>2009</strong><br />
wurden circa gleich viel Mädchen (49%)<br />
wie Burschen (51%) stationär aufgenommen.<br />
Notbett oder Fixbett?<br />
In der tartaruga gibt es, wie oben bereits<br />
erwähnt, Platz für acht Jugendliche. Davon<br />
können sechs in einem Fixbett mit einer maximalen<br />
Aufenthaltsdauer von acht Wochen<br />
untergebracht werden und zwei in einem<br />
Notbett.<br />
Der Unterschied liegt in der Aufenthaltsdauer<br />
und im Betreuungsumfang.<br />
• Rund<br />
6<br />
die Hälfte der Jugendlichen wurde<br />
<strong>2009</strong> über das Jugendamt an uns vermittelt.<br />
27% waren SelbstmelderInnen und erhielten<br />
die Information über die tartaruga von<br />
SchulpsychologInnen, andere Beratungseinrichtungen,<br />
ehemalige tartaruga BewohnerInnen<br />
oder aus dem Telefonbuch. Die<br />
restlichen 24% kamen über die Polizei,<br />
Krankenhäuser, Schulen, Streetwork und<br />
WGs zu uns.<br />
• Ein<br />
Großteil der Jugendlichen (60%) wurde<br />
<strong>2009</strong> bis zu vier Wochen stationär betreut.<br />
21% aller aufgenommenen Jugendlichen<br />
blieben bis zu weiteren vier Wochen im<br />
Haus. Bei etwa einem Fünftel (19%) aller<br />
Mädchen und Burschen wurde der Aufenthalt<br />
über die maximal vorgesehenen acht<br />
Wochen hinaus verlängert, da der Einzug in<br />
eine andere Betreuungseinrichtung erst zu<br />
einem späteren Zeitpunkt möglich war.<br />
Bei einem Notplatz kann der/die Jugendliche<br />
bis zu fünf Werktage (exkl. Wochenende und<br />
Feiertage) aufgenommen werden.<br />
Dabei wird vom tartaruga-Team die sozialpädagogische<br />
Alltagsbetreuung übernommen,<br />
für die Abklärung der Situation sowie bei Bedarf<br />
die Veranlassung einer weiteren Unterbringungsmöglichkeit<br />
ist der/die SozialarbeiterIn<br />
zuständig.
• <strong>2009</strong><br />
stammte ungefähr die Hälfte<br />
der Jugendlichen aus Graz (51%),<br />
danach folgten die Bezirke Graz-<br />
Umgebung (14%) und Bruck an der<br />
Mur (10%).<br />
Wie sich die Wohn- bzw. Betreuungssituation<br />
nach einem<br />
Aufenthalt in der tartaruga gestaltet,<br />
ist sehr unterschiedlich.<br />
• <strong>2009</strong><br />
wurden rund zwei Fünftel aller<br />
stationär aufgenommenen Jugendlichen<br />
außerhalb familiärer Strukturen untergebracht<br />
(WG, Mobil betreutes Wohnen,<br />
…). 44% aller Jugendlichen gingen<br />
zurück ins familiäre Bezugssystem. 15%<br />
der Mädchen und Burschen fanden nach<br />
der tartaruga Unterschlupf im Schlupfhaus<br />
oder bei Freunden.<br />
• Bei<br />
90% der stationär aufgenommenen<br />
Jugendlichen wurden nach Einschätzung der<br />
MitarbeiterInnen der tartaruga die gemeinsam<br />
gesetzten Ziele erreicht. Als Grund für das<br />
Nicht-Erreichen der Ziele fehlte es vor allem<br />
an der anhaltenden Motivation der/des<br />
Jugendlichen, welche die Grundvoraussetzung<br />
für eine Betreuung in der tartaruga<br />
darstellt. In einigen Fällen war eine massive<br />
Suchtproblematik, schwere psychische Störung,<br />
oder massive Gewaltausübung Grund für<br />
die vorzeitige Entlassung aus der stationären<br />
Betreuung. Einige von ihnen wurden ambulant<br />
weiter betreut.<br />
7
Beratungen<br />
Neben der stationären Aufnahme und<br />
Betreuung bietet die tartaruga auch ein<br />
umfassendes Beratungsangebot:<br />
- telefonisch und ambulant<br />
24 Stunden an 365 Tagen im Jahr<br />
- anonym und kostenlos für Jugendliche<br />
und ihre Bezugspersonen<br />
<strong>2009</strong> wurden insgesamt 390<br />
Jugendliche und Erwachsene<br />
vom tartaruga-Team beraten.<br />
• Die<br />
Palette der Beratungen reicht von einmaligen,<br />
wie beispielsweise Auskünfte über<br />
rechtliche Belange oder Infoweitergabe von<br />
Unterstützungsangeboten, bis hin zu mehrmaligen,<br />
intensiven Gesprächen am Telefon<br />
oder direkt bei uns im Haus.<br />
8
Schwerpunktthema:<br />
Jugendliche mit<br />
Migrationshintergrund<br />
Gibt es wirklich Unterschiede bei den<br />
Problematiken und den darauf aufbauenden<br />
Betreuungen im Vergleich mit jenen von<br />
Jugendlichen österreichischer Herkunft?<br />
Seit jeher wird von den stationär betreuten<br />
Jugendlichen bei der Aufnahme u.a. die<br />
Staatsbürgerschaft erhoben; der Anteil<br />
nicht österreichischer Jugendlicher lag in<br />
den letzten Jahren zwischen rund einem<br />
Sechstel und rund einem Viertel.<br />
Allerdings schienen damit die eingebürgerten<br />
Jugendlichen nicht auf, bei deren<br />
Familien aber (scheinbar) ebenfalls Aspekte<br />
der Kultur sowie der Traditionen<br />
ihres Herkunftslandes wesentliche Bedeutung<br />
in der Lebensgestaltung der Familie<br />
haben. Und bezüglich des Aufwachsens<br />
von Kindern und Jugendlichen haben die<br />
von den Eltern gelebten Traditionen, welche<br />
sich u.a. im Sinne von Werthaltungen,<br />
Erziehungszielen usw. äußern, bedeutenden<br />
Einfluss auf deren Entwicklung sowie<br />
die jeweils aktuelle Familiensituation.<br />
Deshalb erweiterten wir unsere statistischen<br />
Auswertungen um jene eines vor-<br />
9<br />
handenen Migrationshintergrundes. 1 Das<br />
Ergebnis für <strong>2009</strong> lässt sich aus der unterer<br />
Grafik ersehen.<br />
Der Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
(also sie selbst oder deren<br />
Eltern sind MigrantInnen, AsylwerberInnen,<br />
Asylberechtigte, subsidiär Schutzberechtigte<br />
oder Drittstaatsangehörige) 2 lag<br />
bei den stationär betreuten damit im Jahr<br />
<strong>2009</strong> bei insgesamt einem Drittel. Von<br />
diesen sind knapp drei Viertel österreichische<br />
StaatsbürgerInnen und viele von<br />
ihnen wurden in Österreich geboren oder<br />
leben seit dem Kleinkind- / Volksschulalter<br />
im Land. Dieses Drittel ist rund doppelt so<br />
hoch wie der Gesamtanteil an Personen<br />
mit Migrationshintergrund in Österreich,<br />
knapp zweieinhalb mal so hoch wie in<br />
Graz und rund fünfeinhalb mal so hoch<br />
wie in der Steiermark. 3<br />
Auffallend ist, dass von den <strong>2009</strong> aufgenommenen<br />
Grazer Jugendlichen knapp<br />
die Hälfte, von jenen aus den Bezirken<br />
rund ein Fünftel der Jugendlichen einen<br />
Migrationshintergrund haben.<br />
Recht schnell kann man sich hier eine<br />
Reihe von Fragen stellen: Warum ist der<br />
Anteil überdurchschnittlich 4 bzw. so hoch?<br />
1 „Als Personen mit Migrationshintergrund werden<br />
Menschen bezeichnet, deren Eltern im Ausland geboren<br />
wurden. Es wird zwischen Migrant/innen der ersten<br />
Generation (Personen, die selbst im Ausland geboren<br />
wurden) und in Zuwanderer/innen der zweiten Generation<br />
(Kinder von zugewanderten Personen, die aber selbst im<br />
Inland zur Welt gekommen sind) unterschieden“<br />
2<br />
(Österreichischer Integrationsfond<br />
www.integrationsfonds.at/wissen/glossar).<br />
Einige wenige Jugendliche waren aufgegriffene, zuhause<br />
abgängig gemeldete Jugendliche aus dem Ausland, welche<br />
über das Jugendamt bzw. die Polizei so lange in der<br />
tartaruga untergebracht waren, bis sie von ihren Eltern<br />
wieder abgeholt wurden.<br />
3 vgl. ORFSteiermark 4.3.2010 sowie Statistik Austria:<br />
www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/index.<br />
html<br />
4 Da es mit der Statistik <strong>2009</strong> erstmals entsprechende Zahlen<br />
gibt für die tartaruga sollte zumindest noch ein weiteres<br />
Jahr abgewartet werden, um statistische Signifikanzberechnungen<br />
zu machen. Dies gilt auch für weitere<br />
Auswertungen im Zusammenhang mit dem Schwerpunktthema.
Hängt dieser damit zusammen, dass der<br />
soziale Status vieler Familien mit Migrationshintergrund<br />
niedriger ist als jener der<br />
durchschnittlichen österreichischen Familie?<br />
Oder sind es Jugendliche einiger einzelner<br />
Herkunftsländer, welche besonders<br />
häufig Leistungen des Staates in<br />
Anspruch nehmen?<br />
Liegt dies daran,<br />
dass sie nicht die<br />
Voraussetzungen<br />
(Deutschkenntnisse,<br />
Schulbildung,<br />
Ausbildung, …) für<br />
eine erfolgreiche<br />
Integration mitbringen,<br />
oder diese am<br />
fehlenden Engagement<br />
der Personen<br />
mit Migrationshintergrund<br />
oder an den<br />
nicht ausreichenden<br />
staatlichen Rahmenbedingungen<br />
scheitert?<br />
Werden Jugendwohlfahrtsunterstützungen<br />
/ .<br />
-maßnahmen erst zu<br />
einem späteren Zeitpunkt<br />
angefragt / angeboten<br />
bzw. eingesetzt? Wenn ja,<br />
liegt dies daran, dass den<br />
Eltern der Zugang zum Sozialsystem<br />
grundsätzlich<br />
oder zu diesem Teilbereich<br />
(Jugendwohlfahrt) fehlt, oder<br />
wird dieser nicht in Anspruch genommen,<br />
da es eine Schande wäre, es nicht alleine<br />
zu schaffen bzw. sich mit Familienproblemen<br />
nach außen zu wenden? Und wird<br />
dementsprechend das jeweilige Jugendamt<br />
erst dann in Anspruch genommen -<br />
gezwungener maßen, wenn die Kinder in<br />
jugendlichem Alter sind und selbst initiativ<br />
werden – unabhängig davon, ob es sich in<br />
ihrer Wahrnehmung bereits um eine langjährige<br />
Problematik handelt oder eine, die<br />
wesentlich bedingt ist durch den Eintritt<br />
der Pubertät und die verstärkte Identitätssuche<br />
/-findung? - Die Fragen ließen sich<br />
fortsetzen …<br />
Als einfaches Überblicksergebnis aus der<br />
statistischen Auswertung bezüglich der<br />
aufgenommenen Jugendlichen lässt sich<br />
zusammenfassen, dass die Jugendlichen<br />
10<br />
ohne Migrationshintergrund tendenziell<br />
häufiger bereits früher einmal oder zum<br />
Aufnahmezeitpunkt bereits über längere<br />
Zeit durch das Jugendamt betreut bzw.<br />
eine<br />
Jugendwohlfahrtsunterstützung<br />
erhalten hatten oder in Psychotherapie<br />
waren. Ähnliches, im Verhältnis aber<br />
etwas deutlicher, gilt auch für bereits<br />
frühere Fremdunterbringungen.<br />
Bezüglich Wohn- und Betreuungskontext<br />
kamen Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />
verhältnismäßig häufiger direkt aus<br />
dem Familienverband und seltener aus<br />
einer stationären Einrichtung der Jugendwohlfahrt.<br />
Bezüglich der Problematiken des Aufwachsens<br />
und der jeweils aktuellen<br />
Situation, welche die Jugendlichen mit<br />
Migrationshintergrund schildern, unterscheiden<br />
sich diese in weiten Zügen nicht<br />
von jenen, welche uns Jugendliche ohne<br />
Migrationshintergrund schildern:
• Es geht um erlebte Gewalt oder<br />
Androhung von Gewalt.<br />
• Sie fühlen sich unverstanden, vernachlässigt<br />
oder als die Außenseiter<br />
in der Familie.<br />
• Sie bekommen ihrer Meinung nach zu<br />
wenig finanzielle Zuwendungen durch<br />
die Eltern (da diese nicht wollen oder<br />
nicht mehr geben können) für (Marken-)Mode,<br />
PC, Taschengeld usw.<br />
• Es gibt (zu) häufige und (zu) heftige<br />
Konflikte mit Eltern bezüglich Ausgangszeiten,<br />
Freunden, Partnerbeziehung<br />
etc. oder aufgrund zu hoher<br />
Erwartungen bezüglich Schule /<br />
Ausbildung.<br />
• Hinsichtlich der Familienstruktur gibt<br />
es sowohl jene, die mit beiden<br />
Elternteilen leben, als auch jene mit<br />
alleinerziehendem Elternteil, mit<br />
einem Stiefelternteil oder solche, die<br />
in Patchworkfamilien leben.<br />
• Auch bei den Wohnverhältnissen gibt<br />
es eine große Bandbreite: von sehr<br />
beengt bis sehr großzügig.<br />
Ein Thema wird von manchen Jugendlichen<br />
mit Migrationshintergrund aber<br />
zusätzlich geschildert:<br />
Ihre Eltern seien nicht bereit, sich voll in<br />
Österreich zu integrieren, und auch sie<br />
selbst dürften sich nicht vollständig integrieren;<br />
und deshalb sei alles Mögliche<br />
(Freundschaften, Beziehungen zum anderen<br />
Geschlecht, das Ausgehen, Interessen,<br />
Ausbildung etc.) „unehrenhaft“, nicht<br />
erlaubt, nicht nötig usw. Zusammengefasst<br />
wird diese Problematik üblicherweise<br />
recht schnell als „Kulturkonflikt“ bezeichnet,<br />
wenngleich die so bezeichnete These<br />
in der Fachliteratur und von den Fachstellen<br />
der Migrationsarbeit mittlerweile stark<br />
kritisiert wird. 5<br />
5 Die Kulturkonfliktthese geht vom kollektiven Stereotyp<br />
„kultureller Andersartigkeit“ aus, außer Acht bleiben dabei<br />
aber Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen,<br />
strukturelle und politische Probleme, die Subjektorientierung<br />
mit den jeweils persönlichen Ressourcen und<br />
Bewältigungsstrategien, die tatsächliche Auseinandersetzung<br />
mit den konkurrierenden Konzepten kollektiver<br />
Identitätskonstruktion bzw. unterschiedlicher Sozialräume<br />
(vgl. z.B. Heinrich Böll Bildungskommission, Reinke 2002,<br />
Mannitz 2005, Juhasz / Mey2003).<br />
11<br />
Bei den einen zahlenmäßigen Überblick<br />
gebenden Statistikkategorien der tartaruga<br />
bezüglich der Aufnahmeanlässe und<br />
der Themenbereiche während der folgenden<br />
stationären Betreuung wird „Kulturkonflikt“<br />
als eine Möglichkeit von mehr als<br />
zwanzig geführt. Im Jahr <strong>2009</strong> wurde dieser<br />
Punkt von minimalen drei bzw. sechs<br />
Prozent der Jugendlichen angegeben<br />
bzw. von den MitarbeiterInnen u.a. als<br />
solcher zusammengefasst, aber in jedem<br />
Fall in Kombination mit Familienkonflikt<br />
und anderen Kategorien, wie z.B. Schul-/<br />
Arbeitsplatzprobleme, Kontrolle / Strenge,<br />
körperliche Gewalt, Weglaufen, Sucht,<br />
psychische Probleme. Bei den anderen<br />
Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
waren die Aufnahmeanlässe und Themenbereiche<br />
während der Betreuung ähnlich<br />
breit gestreut wie bei jenen ohne<br />
Migrationshintergrund.<br />
Damit wird auch über diese Zahlen offensichtlich,<br />
dass es bei den Betreuungen in<br />
der tartaruga ganz wesentlich in jedem<br />
Fall, egal welcher Herkunft die Jugendlichen<br />
und deren Familien sind, darum<br />
geht, die gesamte Lebenssituation der /<br />
des Jugendlichen und seiner Familie zu<br />
erfassen: Zum einen bei der stationären<br />
Aufnahme (oder eben „nur“, da in der Situation<br />
ausreichend, ambulanten Beratung),<br />
zum anderen während der anschließenden<br />
kurz- bis mittelfristigen Betreuung.<br />
Wichtig ist es, die Sichtweisen zur bestehenden<br />
Problematik zu besprechen, die<br />
jeweils persönlichen Ressourcen sowie<br />
die emotionale Beziehung zwischen Jugendlicher<br />
/ Jugendlichem und Eltern und<br />
Geschwistern zu erfassen, die (sozial)-<br />
ökonomischen Lebensbedingungen (Einkommen,<br />
Wohnverhältnisse, …) zu erheben,<br />
Werthaltungen, Erziehungs-/ (nahe)<br />
Lebensziele der Eltern sowie der Jugendlichen<br />
zu erfragen und über adäquate Erziehungsmittel<br />
zu reden, immer wieder<br />
auch bezüglich der (Hinter-)Gründe der<br />
Migration / Flucht nach Österreich nachzufragen,<br />
Ressourcen Außenstehender zu<br />
erheben usw.<br />
Die oben beschriebenen Schilderungen<br />
der Jugendlichen zu den erlebten Konflikten<br />
werden von den Eltern oft bestätigt,<br />
manchmal aber auch anders wahrgenommen;<br />
und oftmals bekommen in den<br />
folgenden Gesprächen weitere Aspekte
wesentliche Bedeutung für das grundlegende<br />
Verständnis der Familien- und Lebenssituation<br />
der Jugendlichen:<br />
• Die Eltern (oder nur ein Elternteil) kamen,<br />
teilweise zuerst ohne die restlichen<br />
Familienmitglieder, ursprünglich<br />
nicht freiwillig / geplant nach Österreich,<br />
sondern verließen ihr Herkunftsland<br />
aufgrund von Verfolgung, Krieg,<br />
wirtschaftlichen Gründen usw. In Österreich<br />
arbeiten sie oftmals in ausbildungs-<br />
oder interessensfremden<br />
Berufen, um die finanzielle Existenzsicherung<br />
für die Familie so halbwegs<br />
gewährleisten zu können; oder sie<br />
schafften es bisher nicht, eine fixe Arbeit<br />
zu finden. Damit ihre Kinder eine<br />
finanziell bessere Lebensgrundlage als<br />
Erwachsene haben können, sind die<br />
Erwartungen an sie bezüglich Schul-<br />
oder Ausbildung deshalb besonders<br />
hoch.<br />
• Die Jugendlichen wissen nur selten gut<br />
Bescheid über die Hintergründe der<br />
Migration ihrer Eltern: Sie haben nie<br />
ausführlich nachgefragt, die Eltern haben<br />
von sich aus ihre Kinder nicht ausreichend<br />
informiert.<br />
• Aufgrund des fehlenden Wissens und /<br />
oder Verständnisses für die Gegebenheiten<br />
in Österreich, oder auch der Befürchtung<br />
von „Gefahren“ für die<br />
eigenen Kinder, fließen die (früheren)<br />
Traditionen des Heimatlandes, welche<br />
den Eltern ja noch bekannt sind, oft besonders<br />
einengend in die Erziehung<br />
ein. Vor allem für Jugendliche werden<br />
aufgrund ihrer Orientierung an der<br />
„peer-group“ die Diskrepanz zwischen<br />
diesen Vorgaben und anderen (Lebens-)Möglichkeiten<br />
besonders spürbar.<br />
• Ältere Geschwister haben oftmals eine<br />
bedeutende „moralische“ und erzieherische<br />
Funktion übernommen (beauftragt<br />
von den Eltern oder<br />
selbstgewählt), was von den Jugendlichen<br />
vor allem dann, wenn diese einschränkend<br />
im Sinne der Eltern oder<br />
von Traditionen des Herkunftslandes<br />
handeln, nur schwer auszuhalten ist.<br />
• Viele Eltern mit Migrationshintergrund<br />
empfinden es, aufgrund von Üblichkeiten<br />
in ihrem Herkunftsland, aber auch<br />
12<br />
aufgrund der Selbstwahrnehmung, es<br />
nicht geschafft zu haben, als Schande,<br />
dass der Staat, vertreten durch das Jugendamt<br />
oder eine beauftragte Einrichtung<br />
(in unserem Fall die tartaruga),<br />
sich in ihre Erziehungskompetenz einmischt<br />
oder kontrolliert etc.; oder sie<br />
machen ihren Kindern Vorwürfe, sich<br />
an Außenstehende gewendet zu haben,<br />
und / oder setzen sie unter Druck (teilweise<br />
auch der erweiterte Familienverband),<br />
Aussagen, z.B. bezüglich<br />
Gewalt, zurück zu ziehen oder möglichst<br />
schnell wieder nach Hause oder<br />
in den erweiterten Familienverband zurück<br />
zu kehren.<br />
• Die psychische Befindlichkeit von<br />
unbegleiteten Minderjährigen ist, aufgrund<br />
von fehlender Gewissheit, wie es<br />
den Familienmitgliedern geht, instabil.<br />
• Und bei manchen Jugendlichen (oder<br />
ganzen Familien) geht es um posttraumatische<br />
Belastungen nach Kriegserlebnissen,<br />
Flucht etc.<br />
Damit komme ich zurück zur Ausgangsfrage,<br />
ob es wirklich Unterschiede bei den<br />
Problematiken und den darauf aufbauenden<br />
Betreuungen von Jugendlichen mit<br />
und ohne Migrationshintergrund gibt. Ich<br />
kann sie nicht mit ja oder nein beantworten,<br />
sondern mit: in Einzelfällen ja, in anderen<br />
nein, nicht wesentlich.
Denn Migrationshintergrund an sich ist<br />
nicht das Problematische in einer Lebensbiographie,<br />
weder bei Erwachsenen noch<br />
bei Minderjährigen. Flucht und Migration<br />
bringen zwar immer gravierende Veränderungen<br />
in der psychosozialen Entwicklung,<br />
in der Existenz von Menschen mit<br />
sich, aber Veränderungen sind grundsätzlich<br />
konstruktiv bewältigbar. Und klar ist<br />
auch, dass es auch bei den Lebensbiographien<br />
der Jugendlichen mit österreichischer<br />
Herkunft riesige Spannweiten in den<br />
Rahmenbedingungen des Aufwachsens<br />
(Familiengröße, -einkommen, Wohnort<br />
(wechsel) etc.) sowie bei den Entwicklungspotentialen<br />
der Jugendlichen selbst<br />
gibt.<br />
In diesem Sinne geht es bei der Krisenbetreuung<br />
in der tartaruga bei allen Jugendlichen<br />
zum einen um „prozessuale<br />
Diagnostik“ - in Zusammenarbeit aller zuständigen<br />
HelferInnen erfolgt mit dem /<br />
der Jugendlichen und seiner Familie (bei<br />
Bedarf für das ausreichende Sprachverständnis<br />
übersetzt durch eine/n DolmetscherIn!)<br />
eine umfassende Abklärung der<br />
Gesamtsituation, und zum anderen erfolgt<br />
darauf aufbauend eine dem Wohl des /<br />
der Jugendlichen adäquate Perspektivenentwicklung<br />
inklusive der Entscheidung<br />
über die nächsten anstehenden Schritte.<br />
Dies ist immer wieder eine Herausforderung<br />
und ein klarer Auftrag für uns MitarbeiterInnen,<br />
sich den Befürchtungen und<br />
Vorurteilen, dem Fremden, den bereits<br />
bekannten oder den unbekannten Grundannahmen<br />
etc. von Eltern zu stellen und<br />
diese als Mutter und Vater ihres Sohnes /<br />
ihrer Tochter zu „erreichen“:<br />
Sie, die sie grundsätzlich Gutes für dessen<br />
/ deren Entwicklung wollen, die es<br />
aber so anders machen (würden), als es<br />
ihre Tochter / ihr Sohn oder die tartaruga<br />
als Schutz- und Hilfeeinrichtung für Jugendliche<br />
oder das Jugendamt als öffentlicher<br />
Vertreter der Förderung / Einhaltung<br />
des Kindeswohls für passend halten. Oder<br />
die, denen es oft so schwer fällt, ihrer<br />
Tochter / ihrem Sohn „ihren“ ihr / ihm eigenen<br />
Weg gehen zu lassen, sie los zu<br />
lassen, damit die nächsten Schritte der<br />
Verselbstständigung möglich werden. Und<br />
jene Eltern, bei deren Tochter oder Sohn<br />
es ganz klar darum geht, sie / ihn zu<br />
schützen, vor dem Drängen (gleich) zu-<br />
13<br />
rück „nach Hause“ zu kommen, vor dem<br />
psychischen Druck, ihnen - den Eltern -<br />
dies nicht anzutun, vor der wiederholten<br />
Gewalt, welcher Art auch immer.<br />
Die einen müssen konfrontiert werden mit<br />
ihrem inadäquaten und letztendlich schädigenden<br />
Verhalten, die anderen müssen<br />
entlastet werden in ihrer Grundannahme,<br />
für alles, was ihr Sohn / ihre Tochter tut,<br />
verantwortlich zu sein, oder gestärkt werden<br />
hinsichtlich eines wachsenden Vertrauens<br />
in seine / ihre Entwicklungsfähigkeiten<br />
und -wünsche.<br />
Mit Eltern (und auch Jugendlichen) mit<br />
Migrationshintergrund gilt es oft auch zu<br />
besprechen, inwiefern sich die Lebensweise<br />
in Österreich, wo sie nun mit (einem<br />
Teil) ihrer Familie leben, in welcher Hinsicht<br />
von den Üblichkeiten ihres Herkunftslandes<br />
unterscheidet, und inwiefern<br />
dies einen (indirekten) Einfluss auf die<br />
vorhandene Problematik haben könnte.<br />
Und immer wieder geht es auch um ein<br />
Vermitteln in einem Generationenkonflikt<br />
und um die Entwicklung der Möglichkeit,<br />
trotz unterschiedlicher Meinungen den<br />
Blick von dem, was nicht da ist, auch darauf<br />
zu richten, was vorhanden ist. 6<br />
Diese Aspekte gelten klarerweise ganz<br />
wesentlich auch für die Arbeit mit den Jugendlichen.<br />
Für sie geht es auch in dieser<br />
Lebensphase – aber bewusster als in ihrer<br />
Kindheit - um die Weiterentwicklung ihrer<br />
Identität als möglichst gutem Baustein für<br />
das künftige Erwachsenenleben.<br />
Und konkret in der Krisensituation /-zeit, in<br />
der und weshalb sie stationär in der tartaruga<br />
betreut werden, bedarf es ausreichend<br />
Zeit, Wissen, Verständnis,<br />
Konfrontation, Unterstützung, Schutz etc.<br />
von für sie wichtigen und zuständigen<br />
Erwachsenen (Eltern, HelferInnen diverser<br />
Einrichtungen, LehrerInnen / AusbildnerInnen<br />
etc.) und von der Gesellschaft /<br />
Politik / Jugendwohlfahrt. - Dies gilt für<br />
Jugendliche mit UND ohne Migrationshintergrund.<br />
6 Es ist aber immer wieder notwendig, dass nicht um jeden<br />
Preis eine familieninterne Lösung angestrebt wird. Eine<br />
Fremdunterbringung von Jugendlichen in einer Wohngemeinschaft,<br />
einem Heim etc., welche vor der Aufnahme in<br />
der Familie gewohnt hatten, wurde im Jahr <strong>2009</strong> bei<br />
Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in<br />
ähnlichem Ausmaß entschieden.
Das <strong>Tartaruga</strong>-Team<br />
In der tartaruga werden die Jugendlichen<br />
und deren Bezugspersonen von einem<br />
multiprofessionellen Team mit folgenden<br />
Ausbildungen betreut: Sozialpädagogik /<br />
Erziehungswissenschaft, Heilpädagogik,<br />
Jugend- und Freizeitpädagogik, psychotherapeutisches<br />
Propädeutikum, Outdoor<br />
Training, Kunst- und Gestaltungstherapie,<br />
Gestaltberatung, Psychologie, Sozialarbeit,<br />
Jugendarbeit, Lehramt für HS.<br />
Hauptamtliche MitarbeiterInnen:<br />
Die Tätigkeit der hauptamtlichen MitarbeiterInnen<br />
fällt in die Zeit von 7.30 bis 22.00<br />
(Montag bis Freitag), je eine/r übernimmt<br />
anschließend in der Nacht, an Feiertagen<br />
und Wochenenden die Rufbereitschaft,<br />
bei Bedarf kommt er / sie zu einem Kriseneinsatz<br />
ins Haus.<br />
14<br />
v.l.n.r.:<br />
Maviengin Banu, DSA<br />
Griessl Othmar<br />
Enzenhofer Regina, Mag. a (Leiterin)<br />
Exner Michaela, Mag. a<br />
Tatter Karin, Mag. a (seit 11/09)<br />
Ofner Michael (seit 11/09)<br />
Pirchegger Elias<br />
(Zivildiener seit 10/09)<br />
Nicht am Bild:<br />
Kreindl Gabriele (Haushälterin)<br />
Pichler Michael<br />
(Praktikant 9/09-11/09)<br />
Weinhappl Daniela, Mag. a<br />
(unbezahlter Urlaub)<br />
Mitarbeit <strong>2009</strong> beendet:<br />
Bachler Barbara<br />
Niederl Sandra<br />
Gruber Stefan BEd
Inhaltlich liegt die Zuständigkeit bei den<br />
Beratungen, den Aufnahmen, anfallender<br />
Krisenintervention, dem Führen von Telefonaten,<br />
der Übernahme von Bezugsbetreuungen<br />
von Jugendlichen (inkl. Familiengespräche,<br />
Kontakte zu Schule, Arbeitsstelle<br />
etc.), der sozial- und freizeitpädagogischen<br />
Alltagsbetreuung, der Vernetzung<br />
mit HelferInnen etc.<br />
Weiters erledigen sie die notwendigen<br />
Organisations- und Verwaltungstätigkeiten<br />
(Hausinstandhaltung, Öffentlichkeitsarbeit,<br />
15<br />
Berichtswesen, Statistik, Finanzabrechnung,<br />
Einkauf, PraktikantInnenbetreuung<br />
usw.).<br />
Für diese Tätigkeiten gibt es Unterstützung<br />
durch eine Haushälterin und eine<br />
Verwaltungsfachkraft.
Pädagogische MitarbeiterInnen:<br />
Die pädagogischen MitarbeiterInnen<br />
übernehmen die Nacht-, Wochenend-,<br />
Feiertags- und Vertretungsdienste. Ihre<br />
Zuständigkeit liegt vorwiegend bei Erstberatungen,<br />
anfallender Krisenintervention,<br />
dem Führen von Telefonaten und der sozial-<br />
und freizeitpädagogischen Alltagsbetreuung.<br />
Damit ist die Erreichbarkeit der tartaruga rund um die Uhr an allen Tagen des Jahres gegeben.<br />
Im Beratungs- und Betreuungsdienst sind jeweils ein bis zwei MitarbeiterInnen. Zusätzlich<br />
können Termine mit und Begleitungen von Jugendlichen intern und extern vereinbart<br />
werden. Um den ausreichenden Infofluss in den Betreuungen und die notwendigen Reflexionen<br />
gewährleisten zu können, gibt es regelmäßige Dienstübergaben, Teamsitzungen und<br />
Supervisionen, für die Weiterentwicklung der Einrichtung finden zusätzlich Klausuren statt.<br />
Durch die Teilnahme an Fortbildungen werden ergänzend fachliche Aspekte der MitarbeiterInnen<br />
eingebracht.<br />
16<br />
v.l.n.r. :<br />
Harjung Gernot<br />
Mahrer Kim, Bakk.<br />
Horneck Markus, Mag.(FH)<br />
Rottenbiller Martina (Verwaltung)<br />
Russheim Birgit, Mag. a<br />
Andreas Lißberger<br />
Moser Walther<br />
Mitarbeit <strong>2009</strong> beendet:<br />
Tatzl Katharina, Mag. a
Zum Abschluss ein konkreter<br />
Ausblick auf 2010<br />
Dass sich die tartaruga, so wie alle anderen<br />
Einrichtungen und Träger auch, den<br />
Anforderungen aufgrund der Bedürfnislagen<br />
der einzelnen Hilfesuchenden laufend<br />
stellen und im Sinne eines hohen Qualitätsmanagements<br />
ihre Fachlichkeit und<br />
Professionalität auch weiter im Blick haben<br />
muss, ist auch für 2010 klar.<br />
In diesem Sinne gibt es für die Mitarbeiter-<br />
Innen einen weitreichenden Arbeitsauftrag:<br />
• Konkretisierung und Weiterentwicklung<br />
des Handlungsverständnisses<br />
aller MitarbeiterInnen im Sinne der<br />
geforderten Professionalität, insbesondere<br />
hinsichtlich Beratung und<br />
Diagnostik sowie psychiatrischer<br />
Störungen – dazu werden vor allem<br />
Teamsitzungen und -supervisionen,<br />
(interne) Fortbildungen und Arbeitsgruppen<br />
zu diesen und anderen<br />
Schwerpunktthemen sowie Klausuren,<br />
eventuell mit Exkursion in ein<br />
anderes Kriseninterventionszentrum,<br />
stattfinden.<br />
• Vernetzungstreffen mit spezialisierten<br />
oder das Angebot der tartaruga<br />
ergänzenden Einrichtungen (z.B.<br />
Kinderschutzzentrum, Drogenberatungsstelle,<br />
Pasch, Schlupfhaus,<br />
Mafalda) sowie mit jenen Jugendämtern<br />
/ Grazer Sozialräumen, die<br />
am häufigsten für betreute Jugendliche<br />
zuständig sind – damit grundsätzliche<br />
Fragen der Zusammenarbeit<br />
im Vorhinein besprochen werden und<br />
die relevanten Informationen bezüglich<br />
Angebot, Arbeitsweise etc.<br />
bekannt sind, um in konkreten Fällen<br />
möglichst effizient für und mit den<br />
Jugendlichen und deren Bezugspersonen<br />
arbeiten zu können.<br />
• Adaptierung von Kellerräumlichkeiten<br />
– um mit zwei multifunktionalen<br />
Freizeiträumen bessere Möglichkeiten<br />
in der Alltagsbetreuung, vor allem in<br />
der kalten Jahreszeit, zur Verfügung<br />
17<br />
zu haben, sowie Beginn der grundlegenden<br />
Sanierung einiger Teile des<br />
Hauses nach sechzehn Betriebsjahren.<br />
• Arbeitsgespräche zur bedarfsorientierten<br />
Erweiterung und Flexibilisierung<br />
des Angebots für Jugendliche<br />
(und deren Bezugspersonen) in<br />
Krisensituationen – als mögliche<br />
Basis für erweiterte Vernetzungen<br />
und Synergien bereits vorhandener<br />
Einrichtungen / Angebote sowie Entscheidungen<br />
der öffentlichen Hand für<br />
die Neuinstallierung von Hilfemöglichkeiten<br />
für Minderjährige.<br />
• Teilnahme an und Initiierung von<br />
Gesprächen mit anderen Jugendwohlfahrtseinrichtungen<br />
sowie mit der<br />
zuständigen Fachabteilung des<br />
Landes Steiermark hinsichtlich einer<br />
Klarstellung und damit auf allen<br />
beteiligten Ebenen Ressourcen schonenden<br />
Verbesserung der äußeren<br />
Rahmenbedingungen – damit die<br />
tartaruga den Auftrag, wie dieser für<br />
eine Kriseninterventionsstelle für<br />
Jugendliche in der DVO definiert ist,<br />
möglichst zielführend umsetzen kann.<br />
• Und vielleicht: Eine Tagung zu brennenden<br />
Themen der Jugendwohlfahrt<br />
und ein Fest anlässlich der 1000sten<br />
stationären Aufnahme seit der Eröffnung<br />
der tartaruga im Jahr 1994.<br />
Impressum:<br />
Artikel verfasst von:<br />
Mag. a Regina Enzenhofer,<br />
Mag. a Michaela Exner<br />
Layout:<br />
Andreas Lißberger<br />
F.d.I.v.:<br />
Mag. a Regina Enzenhofer
Tel. 050 7900 3200<br />
Täglich von 0 – 24 Uhr<br />
Ungergasse 23, 8020 Graz<br />
tartaruga@jaw.or.at<br />
www.jaw.or.at