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Zusammenhalten – Zukunft gewinnen - Herden Studienreisen Berlin

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Um dies zu verdeutlichen: Extreme<br />

Formen sozialer Benachteiligung und<br />

Ausgrenzung, wie sie in US-amerikanischen<br />

Ghettos und französischen Banlieus,<br />

ansatzweise aber auch in den benachteiligten<br />

Wohngebieten deutscher<br />

Städte vorliegen, können dazu führen,<br />

dass sich die alltägliche Lebensführung<br />

auf ein Überleben im Hier und Jetzt reduziert.<br />

Anstrengungen, sich aus der<br />

vorgefundenen Lage, etwa durch Bildungsaufstiege,<br />

zu befreien, treten<br />

dann erst gar nicht in den Blick oder<br />

stellen sich subjektiv von vornherein als<br />

aussichtslos dar. Deshalb sind die Erfolgsaussichten<br />

einer gerechtigkeitsorientierten<br />

Bildungspolitik und Pädagogik<br />

dann besser, wenn es – durch Wirtschafts-,<br />

Arbeitsmarkt-, Steuer- und<br />

Sozialpolitik sowie tarifliche Festlegungen<br />

– gelingt, soziale Ungleichheiten<br />

der Lebensbedingungen insgesamt zu<br />

reduzieren und allen Gesellschaftsmitgliedern<br />

Zugang zu Existenz sichernder<br />

und Sinn stiftender Arbeit, sozialer Sicherheit<br />

und kultureller Teilhabe zu ermöglichen.<br />

Zugleich gilt, dass sich die<br />

negativen Auswirkungen verbleibender<br />

Bildungsungleichheiten dann reduzieren,<br />

wenn der Abstand zwischen Privilegien<br />

und Benachteiligungen geringer<br />

ausfällt.<br />

Entsprechend lässt sich zeigen, dass erfolgreiche<br />

Prozesse der Bildungsreform<br />

in gesamtgesellschaftliche Reformprozesse<br />

eingebettet waren: Die schulische<br />

Bildungsbenachteiligung von Mädchen<br />

konnte nur überwunden werden, weil<br />

der bis dahin einflussreiche Glaube,<br />

Frauen seien intellektuell weniger begabt<br />

als Männer, in Frage gestellt wurde.<br />

Parallel dazu wurde das Recht von<br />

Frauen auf eigenständige Erwerbsarbeit<br />

durchgesetzt. In ihrer instruktiven<br />

Analyse des finnischen Bildungssystems<br />

zeigt Gundel Schümer, dass die Durchsetzung<br />

einer am Ziel gleicher Erfolgschancen<br />

aller sozialen Gruppen ausgerichteten<br />

Bildungspolitik und Pädagogik<br />

ohne die »Verankerung des<br />

Gleichheitsprinzips in der Religion, der<br />

Kultur und der Sozialpolitik« nicht<br />

möglich ist.<br />

8<br />

BEFÄHIGUNGSGERECHTIGKEIT<br />

STATT CHANCENGLEICHHEIT<br />

Dass die deutsche Bildungslandschaft<br />

in Bewegung geraten und die etablierten<br />

Strukturen umstritten sind, hat<br />

mehrere Ursachen. So geht die Bereitschaft<br />

der Bildungsbenachteiligten zurück,<br />

ihre Benachteiligung als unveränderliches<br />

soziales Schicksal zu akzeptieren.<br />

Zudem unternehmen auch<br />

bildungsferne Familien erhebliche Anstrengungen,<br />

um für ihre Kinder das<br />

Abstellgleis Hauptschule zu vermeiden.<br />

Aber nicht zuletzt in Folge der ökonomisch-funktionalistischen<br />

Forderung<br />

nach einer verbesserten Ausstattung<br />

des »Humankapitals« <strong>gewinnen</strong> auf<br />

Chancengleichheit ausgerichtete Appelle<br />

erneut an Bedeutung. Forderungen<br />

nach Chancengleichheit in der Bildung<br />

übersehen aber eine Voraussetzung:<br />

Chancengleichheit ist nur dann eine zureichende<br />

Bestimmung sozialer Gerechtigkeit,<br />

wenn auch die unteren Plätze in<br />

den sozialen Hierarchien noch als zumutbar<br />

gelten können. Denn nur dann,<br />

wenn auch den unteren sozialen Klassen<br />

bzw. Schichten eine angemessene<br />

Lebensführung ermöglicht wird, ist es<br />

überhaupt akzeptabel, diejenigen, die<br />

in der Schule – aus welchen Gründen<br />

auch immer – zu den Verlierern im<br />

Wettbewerb gehören, auf entsprechende<br />

Positionen zu verweisen. Der Maßstab<br />

»Chancengleichheit« ist folglich<br />

unter gegenwärtigen Bedingungen auch<br />

problematisch. Denn die Verweisung<br />

auf soziale Positionen, die durch Armut<br />

und soziale Ausgrenzung gekennzeichnet<br />

sind, ist auch dann nicht akzeptabel,<br />

wenn sie chancengerecht erfolgt.<br />

Zudem bewirkt bloße Bildungsgleichheit<br />

unter Bedingungen erheblicher gesellschaftlicher<br />

Ungleichheiten nichts<br />

anderes, als dass in den Konkurrenzkämpfen<br />

um anstrebenswerte Positionen<br />

herkunftsbedingte Merkmale an<br />

Bedeutung <strong>gewinnen</strong>.<br />

Es ist deshalb unzureichend, sich allein<br />

am Ziel der Herstellung von Chancengleichheit<br />

durch eine begabungsgerechte<br />

Bildung zu orientieren. Denn schulische<br />

Bildung verfügt nur über begrenzte<br />

Möglichkeiten, die vorschulisch sozial<br />

hergestellten und sich in außerschulischen<br />

Bildungsprozessen sozial verfestigenden<br />

individuellen »Begabungs«<br />

unterschiede wirksam auszugleichen.<br />

Anstrengungen, dies durch den Ausbau<br />

einer qualitativ hochwertigen vor- und<br />

außerschulischen Bildung sowie durch<br />

integrative Ganztagsschulen anzustreben,<br />

sind gleichwohl dringend erforderlich.<br />

Generell gilt: Je gerechter eine Gesellschaft<br />

insgesamt ist, umso gerechter<br />

kann auch ihr Bildungssystem sein.<br />

Und je geringer die sozialen Ungleichheiten<br />

in einer Gesellschaft insgesamt<br />

ausgeprägt sind, umso weniger gravierend<br />

sind Unterschiede, die durch<br />

Bildungs(miss)erfolge verursacht werden.<br />

Anzustreben ist deshalb nicht<br />

nur tatsächliche Chancengerechtigkeit<br />

im Bildungssystem, sondern eine Gesellschaft,<br />

in welcher der Abstand<br />

zwischen den Lebensbedingungen und<br />

Lebenschancen der Privilegierten und<br />

denjenigen der Benachteiligten erheblich<br />

verringert ist.<br />

Dieser Beitrag stellt die gekürzte und<br />

bearbeitete Fassung eines Textes dar, der<br />

in dem Kulturmagazin für Migration und<br />

Partizipation nah & fern (Nr. 46/2010)<br />

erschienen ist. Der Abdruck erfolgt mit<br />

freundlicher Genehmigung des von Loeper<br />

Literaturverlags, Karlsruhe.<br />

Literatur:<br />

– OECD (2009): Bildung auf einen Blick<br />

2009. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

(im Internet unter www.oecd.org)<br />

– Schümer, Gundel (2009): Chancengleichheit<br />

im finnischen Bildungssystem,<br />

in: Die Deutsche Schule, H. 1, S. 47-59<br />

■ Prof. Dr. habil. Albert Scherr lehrt<br />

Soziologie an der Pädagogischen Hochschule<br />

Freiburg.<br />

Arbeitsschwerpunkte: Aspekte soziologischer<br />

Theorie, Theorien der Sozialen Arbeit,<br />

Migration-Diskriminierung-Rassismus-<br />

Rechtsextremismus, qualitativ-empirische<br />

Bildungsforschung und Bildungstheorie,<br />

Jugendforschung.<br />

■ Kontakt:<br />

scherr@ph-freiburg.de

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