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WELT Wissen_2015_8

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zellen zu komplexen Geweben, etwa zu Augen- oder Hirnstrukturen.<br />

Bis vor Kurzem waren die genauen Mechanismen unbekannt,<br />

mit denen Zellen die auf sie einwirkenden mechanischen<br />

Kräfte in »Handlungsanweisungen« umsetzen. Doch<br />

in den zurückliegenden Jahren sind meine Mitarbeiter und<br />

ich auf Teile dieser Maschinerie gestoßen. Unsere Arbeiten<br />

zeigen, dass die Proteine YAP und TAZ einen molekularen<br />

Schalter bilden, der Kraftwirkungen an der Zelloberfläche registriert<br />

und in biochemische Signale übersetzt, welche an<br />

Gene im Zellkern übermittelt werden. Erfährt die Zelle beispielsweise<br />

eine Dehnung, verändern YAP und TAZ ihre Aktivität<br />

und schalten Erbanlagen ein, die das weitere Verhalten<br />

der Zelle bestimmen. Zusammen mit den Arbeiten anderer<br />

<strong>Wissen</strong>schaftler erlauben diese Erkenntnisse neue Einsichten<br />

darüber, wie sich die Embryonalentwicklung abspielt,<br />

wie Wundheilung funktioniert und wie der Körper ganz allgemein<br />

die Funktion seiner Gewebe aufrechterhält. Daraus<br />

ergeben sich neue Ansätze zur Krebsbehandlung und zur Organzüchtung<br />

im Labor.<br />

Vielerlei Gewalten<br />

Im lebenden Körper wirken zahlreiche mechanische Prozesse<br />

und Kräfte, von denen die meisten Menschen nur die offensichtlichsten<br />

kennen, vor allem das Pumpen des Herzens,<br />

die Kontraktion der Muskeln und den Blutfluss. Die makroskopischen<br />

Effekte der damit einhergehenden Kontraktionen<br />

und Dehnungen kennen Biologen schon lange. So fördert<br />

die mechanische Belastung der Knochen bei körperlicher<br />

Bewegung deren Mineralisierung und wirkt so der<br />

Osteoporose entgegen. Die periodische Ausweitung der Blutgefäße<br />

wiederum schützt vor Arteriosklerose.<br />

Physikalische Kräfte beeinflussen den Körper jedoch auch<br />

im mikroskopischen Maßstab und wirken auf jede seiner<br />

rund 100 Billionen Zellen ein. Diese Kräfte ergeben sich aus<br />

den Strukturen innerhalb der Körpergewebe. Jede Zelle besitzt<br />

ein inneres Gerüst, das Zytoskelett. Es besteht aus spezialisierten<br />

Proteinen, die wie Seile, Streben und Verankerungselemente<br />

funktionieren. Das Zytoskelett gibt dem Zellkern,<br />

den Organellen sowie der Zellmembran ihre Form.<br />

AUF EINEN BLICK<br />

SPIELBALL DER KRÄFTE<br />

1Jede Zelle des menschlichen Körpers ist mechanischen Kräften<br />

ausgesetzt, etwa Druck-, Zug-, oder Scherbelastungen. Diese<br />

können die weitere Entwicklung der Zelle ebenso stark beeinflussen<br />

wie die Erbanlagen.<br />

2Zellen, die im Gewebeverband Platz haben, teilen sich häufiger<br />

als solche, die eng aneinanderliegen. Dieser Mechanismus<br />

sorgt unter anderem für die Regeneration von Körpergewebe.<br />

3Ein zellulärer Schalter aus zwei Proteinen bildet das Bindeglied<br />

zwischen den mechanischen und biologischen Prozessen. Er<br />

kann darüber entscheiden, ob sich eine Zelle normal verhält oder<br />

einen gefährlichen Tumor hervorbringt.<br />

Menschliche neuronale Vorläuferzellen,<br />

die frei in einem<br />

Kulturgefäß schweben, bringen<br />

hier binnen weniger Tage<br />

die Anlage eines Auges hervor<br />

(von links nach rechts).<br />

YOSHIKI SASAI, RIKEN CENTER FOR DEVELOPMENTAL BIOLOGY<br />

Adhäsionsproteine auf der äußeren Membranoberfläche<br />

verbinden es mit der Außenwelt. Im Gewebeverband verankern<br />

sie die Zelle in einem Geflecht äußerer Filamentpro -<br />

te ine, der extrazellulären Matrix, die wiederum mit anderen<br />

Zellen in Kontakt steht.<br />

Das Zytoskelett und die extrazelluläre Matrix befinden<br />

sich in einer Art ständigem Gezerre miteinander. So kann<br />

eine Verformung der Matrix Adhäsionsproteine der Zelle<br />

nach außen ziehen. Ohne entgegengesetzt gerichtete Kraft<br />

würde das die Zelle dehnen. Letztere reagiert jedoch auf die<br />

Zugbelastung mit einer gleich starken Kontraktion und dem<br />

Umbau ihres Zytoskeletts. Dadurch bewahrt sie ihre Gestalt.<br />

Dieser dynamische Prozess erlaubt es der Zelle, sich an wechselnde<br />

mechanische Einflüsse anzupassen und gegebenenfalls<br />

auch ihre Form zu ändern.<br />

Schon in den 1970er Jahren bemerkten <strong>Wissen</strong>schaftler,<br />

dass mechanische Einwirkungen auf das Zytoskelett und die<br />

extrazelluläre Matrix eine sehr große Bedeutung für die Zellteilung<br />

haben. Donald Ingber vom Wyss Institute for Biologically<br />

Inspired Engineering an der Harvard University (USA)<br />

und Fiona Watt vom King’s College London (England) haben<br />

Methoden entwickelt, um die Form von Zellen gezielt zu verändern.<br />

Dazu befestigen sie diese an unterschiedlich stark<br />

klebenden Flecken aus Proteinen der extrazellulären Matrix,<br />

die auf gläserne Objektträger aufgedruckt werden. Interessanterweise<br />

teilen sich die Zellen nur dann, wenn großflächiger<br />

Adhäsionskontakt es ihnen ermöglicht, sich auszustrecken<br />

und abzuflachen. Finden die gleichen Zellen nur punktförmigen<br />

Adhäsionskontakt, runden sie sich ab, teilen sich<br />

nicht mehr und aktivieren genetische Programme, die sie<br />

entweder ausreifen (differenzieren) lassen oder den programmierten<br />

Zelltod einleiten.<br />

Diese Beobachtungen erregten großes Aufsehen in der<br />

Forschergemeinde. Doch sie ergeben kein vollständiges Bild.<br />

Denn wenn mechanische Kräfte über die Reproduktion und<br />

Differenzierung von Zellen bestimmen, dann müssen sie irgendwie<br />

den Zellkern beeinflussen und die Aktivität der dort<br />

vorhandenen Erbanlagen verändern. Welche Prozesse sind<br />

dafür verantwortlich? Wie wird Zellmechanik in veränderte<br />

Genaktivität übersetzt? Diese Fragen weckten das Interesse<br />

von mir und meinen Kollegen an der Università degli Studi<br />

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · AUGUST <strong>2015</strong>

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