WELT Wissen_2015_8

FUTUR III
MEIN FREUND,
DER GEHWEG
VON BETH CATO
Emma stolperte, aber der Bürgersteig
fing sie auf. Kaum berührte
ihr abgemagerter Körper den Beton, da
gab das Pflaster nach wie die Schaumgummimatte,
auf der sie in der Schule
Purzelbäume geübt hatte. Wie lange
war das her?
»Oje! Tut mir schrecklich leid. Anscheinend
hat sich meine dritte Platte
um vier Millimeter angehoben. Hoffentlich
geht es Ihnen gut. Soll ich Hilfe
anfordern?« Die Stimme klang jung,
weiblich und irgendwie keck. Sie kam
aus dem Pflaster unter ihr.
Emma blieb liegen und keuchte; nicht
der Sturz hatte sie schockiert, sondern
die Worte. »Du bist … der Gehweg!
Und du hast gesprochen?« Ihre Stimme
krächzte, als wäre sie vom langen
Schweigen eingerostet. Die Fläche unter
ihr wurde wieder härter.
»Aber sicher! Ich bin Cy Anara, der
freundliche Gehweg. Ich wünsche einen
guten Morgen. Bitte verzeihen Sie
die Plattenanhebung während meiner
Offlinephase. Das wurde inzwischen
korrigiert. Benötigen Sie medizinische
Hilfe?«
Emma stützte sich auf und kroch
wieder auf die Knie. Tränen liefen ihr
über die Wangen. Es war so lange her,
dass sie eine menschliche Stimme gehört
hatte, und es war egal, dass die hier
von einem Computer kam. Sie schaute
sich um. Die Straße lag in Trümmern,
genau wie die übrige Stadt. Sie blickte
zu dem Gebäude, das ein Stück zurückversetzt
lag. Auf einem verkohlten
Schild konnte sie noch ein paar Buchstaben
entziffern: »OSPIT« und ein »L«.
Ein Krankenhaus! Das erklärte den intelligenten
Bürgersteig.
»Kannst du denn die Notfallhilfe rufen?«,
fragte sie.
»Aber natürlich!« Pause. »Oh weh.
Der Server meldet sich nicht. Aber ich
habe Ihre Anfrage im Ausgangsordner
gespeichert und werde sie bearbeiten,
sobald das Netzwerk wieder verfügbar
ist.«
»Es war einen Versuch wert. Wie …
wie lange warst du offline?«
»Meiner Systemuhr nach sieben Monate,
fünf Tage und drei Stunden. Das
ist lange. Im Durchschnitt bin ich drei
Stunden, neun Minuten offline.«
Vor sieben Monaten! Also hatte seit
dem Angriff niemand mehr diesen Weg
betreten.
»Ich bin wirklich allein«, flüsterte
Emma. Der letzte Mensch in dieser
Stadt, vielleicht der letzte im ganzen
Land, auf der ganzen Welt. Wen die Explosionen
verschont hatten, den hatte
das Virus umgebracht.
»Aber Sie sind nicht allein. Ich bleibe
online, und wir warten gemeinsam auf
die Notfallhilfe. Es kann nicht mehr lange
dauern, bis der Defekt behoben ist.«
Wie hatte der Gehwegcomputer den
elektromagnetischen Puls überstanden?
Bestimmt steckte er nicht in einem
faradayschen Käfig. Emma streichelte
das Pflaster. Es fühlte sich an wie
Beton, nur ein wenig nachgiebiger.
»Sprichst du immer mit Fremden?«
Sie kicherte hysterisch und dachte: Ich
unterhalte mich mit einem Bürgersteig!
»Für einen freundlichen Gehweg ist
niemand ein Fremder!«, erwiderte Cy.
»Ich diene als Begrüßer für das Hospital.
Pro Tag geleite ich im Durchschnitt
53 Insassen und 22 Stammgäste zu der
Anlage. Ich hoffe auch Sie als Stammgast
zu gewinnen.«
Das Gebäude war zur Hälfte niedergebrannt.
Eigentlich wollte Emma nachsehen,
ob es drinnen etwas zu hamstern
gab – Nahrung und Kleidung konnte sie
immer brauchen –, aber nun hockte sie
auf dem Gehweg, während ihr Körper
von leisem Schluchzen bebte.
»Ich … ich möchte gern ein Stammgast
werden. Kannst du mir etwas über
freundliche Gehwege erzählen? Wie
groß ist die Fläche, die du hier bedeckst?«
»Meine Sensoren verteilen sich über
zehn Gehwegplatten. Da Sie sich für
freundliche Gehwege interessieren,
könnte ich Ihnen per Mail eine Einführung
in unser System senden. Wir werden
Sie nur auf Ihren ausdrücklichen
Wunsch weiter über unsere Angebote
auf dem Laufenden halten!«
Zehn Platten. Emma hätte Cy nur zu
gern mit nach Hause genommen, aber
96 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · AUGUST 2015