WELT Wissen_2015_8
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MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN<br />
Das Sandhäufchen aus dem Bild<br />
S. 67, in immer stärkerer Vergrößerung<br />
betrachtet. Man sieht<br />
nicht nur Linien durch einzelne<br />
Dreiecke verlaufen, die unter weiter<br />
rieselndem Sand wieder<br />
verschwinden, sondern erkennt<br />
auch, dass scheinbar einheitlich<br />
gefärbte Dreiecke in Wirklichkeit<br />
aus einem Karomuster unterschiedlich<br />
gefärbter Gitterpunkte<br />
bestehen.<br />
WESLEY PEGDEN, CARNEGIE MELLON UNIVERSITY<br />
Was steckt dahinter, wenn man ausdrücklich<br />
Chaos bestellt und eine geordnete<br />
Struktur geliefert bekommt?<br />
Das Bildungsgesetz für das Sandhäufchen<br />
ist so einfach, dass es doch nicht<br />
so schwer sein könnte, der Struktur auf<br />
die Schliche zu kommen – dachte man<br />
zunächst. Aber mehrere Forscher, darunter<br />
vor allem Lionel Levine und<br />
Charles Smart von der Cornell University,<br />
Wesley Pegden von der Carnegie<br />
Mellon University und Anne Fey von<br />
der Technischen Universität Delft (Niederlande),<br />
mussten viel Mühe und raffinierte<br />
mathematische Werkzeuge einsetzen,<br />
um zumindest zu einer Teillösung<br />
zu gelangen.<br />
Niemand würde sich darüber wundern,<br />
dass ein echtes Sandhäufchen, entstanden<br />
durch Berieselung an einem<br />
einzigen Punkt, eine kreisförmige Fläche<br />
bedeckt; es ist ja keine Raumrichtung<br />
bevorzugt. Das theoretische Sandhäufchen<br />
dagegen hat zwei ausgeprägte<br />
Vorzugsrichtungen, nämlich die, an denen<br />
die Schreibtische im Wahnsinnsamt<br />
ausgerichtet sind. Man sollte daher erwarten,<br />
dass sich der Wahnsinn entlang<br />
einer geraden Schreibtischreihe schneller<br />
ausbreitet als in der Diagonalen,<br />
die er im Zickzack durchlaufen müsste.<br />
Gleichwohl nähert sich auch das theoretische<br />
Sandhäufchen zunehmend der<br />
Kreisform an. Wie kann das sein?<br />
Eine Verallgemeinerung bringt uns<br />
der Lösung dieses Rätsels näher. Man<br />
braucht die Sachbearbeiter nicht unbedingt<br />
an die Knotenpunkte eines Gitters<br />
mit quadratischen Maschen zu setzen;<br />
andere regelmäßige Anordnungen<br />
liefern Bilder, die in den Einzelheiten<br />
geringfügig anders aussehen, aber einen<br />
bemerkenswert ähnlichen Gesamteindruck<br />
liefern (Bilder S. 68/69).<br />
Die numerischen Mathematiker sind<br />
mit einer ganz ähnlichen Situation konfrontiert:<br />
Eigentlich ist ihr Forschungsobjekt<br />
ein Kontinuum, zum Beispiel<br />
eine Funktion, die an jedem Punkt der<br />
Ebene einen Wert hat. Sie berechnen die<br />
Funktion jedoch nur – näherungsweise<br />
– für gewisse Stellvertreterwerte,<br />
etwa an den Knotenpunkten eines Gitters<br />
mit quadratischen Maschen. Damit<br />
führen sie unweigerlich gewisse Vorzugsrichtungen<br />
in ihr genähertes System<br />
ein, die das ursprüngliche nicht<br />
hatte. Bemerkenswerterweise richtet<br />
das meistens keinen Schaden an. Für<br />
ein Problem, das eine kreisförmige Lösung<br />
hat, findet auch eine numerische<br />
Berechnung, die an einem solchen Gitter<br />
hängt, eine annähernd kreisförmige<br />
Näherungslösung – wenn das Gitter<br />
feinmaschig genug ist.<br />
Sandhäufchen-Grenzwert<br />
Levine, Pegden und ihre Fachkollegen<br />
standen nun vor dem umgekehrten Problem.<br />
Ihr Sandhäufchen lebt ja eigentlich<br />
auf einer Gitterstruktur; aber nun<br />
wollten sie es so uminterpretieren, als<br />
ob es auf einem Kontinuum existiere.<br />
Dieser Schritt drängte sich sogar geradezu<br />
auf. Denn sie hatten beobachtet,<br />
dass die Gestalt ihres Sandhäufchens<br />
sich mit zunehmender Körnerzahl immer<br />
mehr einer gewissen »endgültigen<br />
Form« nähert. Das Bild auf S. 67 gibt<br />
davon schon einen guten Eindruck.<br />
Nur darf man sich nicht vorstellen,<br />
dass das Sandhäufchen mit der Zeit<br />
eine stabile Struktur annimmt. Vielmehr<br />
wächst es immer weiter, solange<br />
neuer Sand herniederrieselt, und während<br />
dieses Anwachsens werden auch<br />
alle Strukturen im Inneren größer und<br />
wandern entsprechend nach außen.<br />
Die von Sand bedeckte, annähernd<br />
kreisförmige Fläche wächst proportional<br />
zur Anzahl n der Sandkörner und<br />
ihr Radius sowie alle Längen innerhalb<br />
der Struktur proportional zur Wurzel<br />
aus n.<br />
Mit anderen Worten: Will man ein<br />
sich allmählich stabilisierendes Bild sehen,<br />
so muss man an der Kamera, die<br />
das ganze Geriesel betrachtet, während<br />
des Prozesses die Bildgröße mit einem<br />
Faktor proportional zu √n verkleinern<br />
(»herauszoomen«). Dabei schnurrt aus<br />
Sicht der Kamera das Gitter immer weiter<br />
zusammen. Nicht die Anzahl der<br />
Körner auf einem bestimmten Gitterpunkt<br />
strebt einem gewissen Grenzwert<br />
zu, sondern die Anzahl der Körner<br />
an jedem Bildpunkt der Kamera.<br />
In einer gewissen Umgebung jedes<br />
Bildpunkts der Kamera, um genau zu<br />
sein. Denn da die Körnerzahl nur in Gitterpunkten<br />
überhaupt existiert, muss<br />
man über die Gitterpunkte in der Umgebung<br />
jedes Bildpunkts mitteln, um<br />
überhaupt einen Wert zu erhalten –<br />
aber nicht zu sehr, sonst wird das Bild<br />
unscharf. Diese heikle Balance will in<br />
mathematischen Termen ausgedrückt<br />
werden, was einen erheblichen theoretischen<br />
Apparat erfordert. Zu allem<br />
Überfluss ist die Mittelung schon deshalb<br />
erforderlich, weil gewisse einheitlich<br />
aussehende Unterstrukturen sich<br />
bei genauem Hinsehen als aus ver<br />
70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · AUGUST <strong>2015</strong>