WELT Wissen_2015_8

MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
In einem Großraumbüro stehen viele
Schreibtische nebeneinander in einer
sehr langen Reihe; an jedem sitzt ein
Sachbearbeiter und brütet dumpf über
irgendwelchen Akten, die vor ihm liegen.
Ab und zu kommt der Chef herein,
knallt dem Mann, der genau in der Mitte
sitzt, eine Akte auf den Tisch und
geht wieder.
Auf Grund eines speziellen Seelenzustands
fühlt sich jeder Sachbearbeiter
außer Stande, einen Vorgang zu bearbeiten.
Schlimmer noch: Sowie sich auf
seinem Schreibtisch mehr als zwei Akten
stapeln, erleidet er einen Anfall von
Überlastungswahn. Panikartig wirft er
dem Nachbarn zur Rechten und zur Linken
je eine Akte hin, womit er seine eigene
Arbeitslast von – zum Beispiel –
drei Akten auf eine abgesenkt hat.
Wenn aber der Nachbar schon vorher
an der Belastungsgrenze von zwei Akten
lebte, löst der Wahnsinnsakt seines
Kollegen bei ihm einen entsprechenden
Anfall aus. Daraufhin wirft er ihm nicht
nur die soeben empfangene Akte zurück,
sondern belastet auch seinen Kollegen
zur anderen Seite. Gesetzt den
Fall, jeder Sachbearbeiter wäre bereits
mit zwei Akten eingedeckt gewesen, so
löst eine einzige zusätzliche Akte eine
Welle von Wahnanfällen aus, die sich
durch das ganze Amt ausbreitet und
auch über den ursprünglichen Auslöser
hinwegschwappt. Denn der hat ja von
beiden Seiten seine abgeworfene Akte
zurückbekommen und sieht sich daher
in derselben Notlage wie zuvor.
Gut, dass das Amt in einem alten
Wasserschloss untergebracht ist. Der
Rechtsaußen unter den Sachbearbeitern
wirft zwar wie jeder andere bei einem
Wahnanfall je eine Akte nach
rechts und links, aber rechts von ihm
ist kein Kollege mehr, sondern nur ein
Fenster und dahinter der Wassergraben,
in welchem die Akte ihre endgültige
Erledigung findet. Entsprechendes
gilt für den Kollegen zur äußersten Linken.
Man stelle sich nur vor, es gäbe keine
Stelle, an der eine Akte aus dem System
verschwinden könnte, zum Beispiel
weil die Schreibtische im Kreis
angeordnet sind! Der Wahn würde kein
Ende nehmen.
Aber auch so lebt das Amt ständig
am Rand der Katastrophe. In den vielen
Jahren seines Bestehens sind die armen
Beamten mit so viel Arbeit eingedeckt
worden, dass sie alle die gerade
noch erträglichen zwei Akten auf dem
Tisch haben – bis auf einen. Das ist derjenige,
mit dessen Panikakt die letzte
Welle endete, weil seine beiden Nachbarn
nur je eine Akte auf dem Tisch
hatten. Jede neu eintreffende Akte – die
nicht gerade diesen Glücklichen trifft –
löst wieder eine Lawine aus, die erst
dann zum Stillstand kommt, wenn
mindestens eine Akte im Graben verschwunden
und das System daraufhin
zu einem prekären Gleichgewicht zurückgekehrt
ist.
Akten in Sandkorngröße
Natürlich gibt es ein solches Amt nicht;
noch nicht einmal annähernd. Vielmehr
dient das »Wahnsinnsamt«
(»crazy office«) als Modell für ein Systemverhalten,
das unter dem Namen
»selbstorganisierte Kritizität« große
Beachtung gefunden hat (Spektrum
der Wissenschaft 3/1991, S. 62). Die
zahlreichen Komponenten eines solchen
Systems üben auf ihre jeweils
nächsten Nachbarn Wirkungen aus, auf
deren Einzelheiten es nicht besonders
ankommt; in ihrer Gesamtheit steuern
sie das System jedoch regelmäßig nicht
Sandhäufchen mit Gitterpunkten
an den Ecken
eines Dreiecksgitters
(links, jeder Gitterpunkt
hat sechs Nachbarn),
eines Bienenwabenmusters
(Mitte, drei Nachbarn)
und an der Aufteilung der
Ebene in gleichseitige
Dreiecke und Sechsecke
im Wechsel (rechts, vier
Nachbarn). Erst wenn ein
Sandturm so viele Kör-
ner enthält, wie er Nachbarn
hat, kippt er über,
indem er an jeden Nachbarn
ein Korn abwirft.
WESLEY PEGDEN, CARNEGIE MELLON UNIVERSITY
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auf ein stabiles Gleichgewicht hin, sondern
auf einen so genannten kritischen
Zustand, hart am Rand des Wahnsinns
sozusagen.
In einem solchen Zustand löst jede
Störung eine Lawine von Reaktionen
aus: meistens eine kleine, in seltenen
Fällen jedoch eine, die das ganze System
erfasst. Per Bak und Kan Chen, die
Schöpfer dieses Konzepts, machen damit
unter anderem plausibel, warum
Erdbeben in allen Größenordnungen
von harmlos bis katastrophal vorkommen,
und können mit ihrem Modell sogar
deren Häufigkeitsverteilung reproduzieren.
Die klassische Realisierung der selbstorganisierten
Kritizität ist jedoch weitaus
harmloser: Sandhäufchen. Lässt
man lauter Sandkörner auf dieselbe
Stelle rieseln, so bildet sich ein Kegel,
dessen Neigungswinkel sich genau auf
den kritischen Wert einstellt. Ist der
Haufen an irgendeiner Stelle flacher,
bleiben die nächsten Sandkörner dort
einfach liegen; ist er steiler, so bringt irgendwann
ein Korn die Flanke ins Rutschen,
und die mehr oder weniger große
Lawine dauert an, bis der kritische
Neigungswinkel wieder erreicht ist.
Was hat nun das Wahnsinnsamt mit
einem Sandhäufchen zu tun? Das ist
nicht offensichtlich, selbst wenn wir
jede Akte in Gedanken auf Sandkorn­
68 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · AUGUST 2015