phantast14
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Inhaltsverzeichnis<br />
Artikel<br />
„Cyberpunk ist tot“ 7<br />
William Gibsons Neuromancer 16<br />
Ridley Scotts Blade Runner – visuelle Blaupause für den Cyberpunk 24<br />
Cyberpunk in Deutschland – Die Sehnsucht nach der Heimat 36<br />
Shadowrun: Cyberpunk meets Fantasy 43<br />
Ein Blick hinter die Kulissen von Fieberglasträume 66<br />
Coming soon: Cyberpunk 2077 75<br />
Ergo Proxy – Mystischer Cyberpunk 78<br />
Zeromancer: Sex, Drugs und Cyberpunk 84<br />
Interviews<br />
mit Frank Hebben 51<br />
mit Francis Knight 99<br />
mit Marko Djurdjevic 112<br />
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Rezensionen<br />
Burning Chrome, William Gibson 21<br />
Songs of Revolution, Emma Trevayne 33<br />
Nachtbrenner, Myra Çakan 40<br />
Maschinenkinder, Frank Hebben 60<br />
A Song Called Youth, John Shirley 71<br />
Total Recall (2012), Film 91<br />
The Diamond Age, Neal Stephenson 94<br />
Weg ins Nichts, Francis Knight 105<br />
Sky Doll, Alessandro Barbucci und Barbara Canepa 109<br />
HUMANEMY, Hörspiel 123<br />
Psycho-Pass 2, Anime 128<br />
Skinned, Robin Wasserman 132<br />
Cyberpunk, Billy Idol 135<br />
Kurzgeschichten<br />
„Nacht in Neo Tokyo“ von Jeremy Iskandar 138<br />
„Haus aus rotem Licht“ von Judith Madera 156<br />
Impressum 164<br />
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Vorwort<br />
Liebe PHANTAST-Leser,<br />
wer aufmerksam unsere bisherigen<br />
Ausgaben gelesen hat, wird<br />
vielleicht bemerkt haben, dass<br />
ich ein gewisses Genre immer<br />
wieder in verschiedenen Themen<br />
unterbringe: den Cyberpunk.<br />
Schon als der PHANTAST nur<br />
eine Idee war, stand für mich<br />
fest, dass ich irgendwann eine<br />
Ausgabe zum Thema Cyberpunk<br />
machen muss. Und da wären wir<br />
nun. In vierzehn Ausgaben ist<br />
viel passiert, viele Redakteure<br />
sind nicht mehr dabei, viele sind<br />
dazugekommen und manche<br />
mischen je nach Thema mit.<br />
Mit dem Cyberpunk stand ich<br />
anfangs relativ alleine da, wobei<br />
unsere SF-Jungs sicher hätten<br />
etwas beitragen können. Aber<br />
„etwas“ war nicht genug. Und es<br />
gab viele Themen, für die sich<br />
mehr Leute fanden, die vielleicht<br />
auch mehr Leser fanden, denn<br />
seien wir ehrlich, Cyberpunk ist<br />
nach wie vor ein Nischengenre.<br />
Als ich mit der dreizehnten Ausgabe<br />
erstmals das Layout für den<br />
PHANTAST gemacht habe, war<br />
mir klar, dass die nächste Ausgabe<br />
ein Herzblutthema behandeln<br />
muss. DAS Herzblutthema.<br />
Ich saß mit einem schiefen Grinsen<br />
vor dem PC und dachte mir:<br />
„Sollen wir das machen? Interessiert<br />
das 2015 noch jemanden?<br />
Ach scheiße, wir machen das<br />
einfach!“<br />
Dann schrieb ich Jeremy Iskandar<br />
an, mit dem ich vor einigen<br />
Jahren eine Cyberpunkstory geschrieben<br />
hatte, und fragte ihn,<br />
ob ich erstens seine Story „Nacht<br />
in Neo Tokyo“ verwenden könne<br />
und zweitens, ob er sich mit Artikeln<br />
beteiligt. Jeremy war<br />
schnell Feuer und Flamme und<br />
meine Zweifel waren weg, denn<br />
Cyberpunk muss einfach sein.<br />
Als nächstes schrieb ich Christian<br />
Günther an, der immerhin die<br />
Domain www.cyberpunk.de besitzt<br />
und zwei Romane sowie<br />
diverse Kurzgeschichten im Genre<br />
verfasst hat. Von ihm stammen<br />
die Illustrationen dieser<br />
Ausgabe und das Cover hat er<br />
eigens für uns gebastelt.<br />
Über Christian erfuhr dann<br />
André Skora von unserem Cyberpunk-PHANTAST<br />
und schon<br />
war aus der befürchteten Zwei-<br />
Redakteure-Show eine kleine<br />
cyberpunkverrückte Gruppe geworden.<br />
Letztlich konnten dann auch<br />
unsere geschätzten Kolleginnen<br />
Eva Bergschneider und Almut<br />
Oetjen etwas mit dem Thema<br />
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anfangen und meine anfänglichen<br />
Zweifel, dass ich diese<br />
PHANTAST-Ausgabe nicht gefüllt<br />
bekomme, verkehrten sich<br />
ins Gegenteil.<br />
Nun ist sie so umfangreich wie<br />
keine Ausgabe zuvor geworden<br />
und trotzdem kommt es mir vor,<br />
als hätte ich nicht einmal zehn<br />
Prozent von dem unterbringen<br />
können, was ich eigentlich unterbringen<br />
wollte. Beispielsweise<br />
die Bridge-Trilogie von William<br />
Gibson, die nach einem großen<br />
Artikel schrie, aber zu Gunsten<br />
der Vielfalt (und aus Zeitmangel)<br />
rausgefallen ist. Daher möchte<br />
ich sie Euch an dieser Stelle ans<br />
Herz legen (aktuell ist eine Gesamtausgabe<br />
mit dem Titel Idoru-<br />
Trilogie erhältlich)!<br />
Cyberpunk ist einfach mein<br />
Herzblutthema und ich hoffe, es<br />
ist uns gelungen, eine gute Mischung<br />
für Genreliebhaber und<br />
Neueinsteiger zu kreieren. Mir<br />
ist durch diese Ausgabe zumindest<br />
klar geworden, dass der<br />
Cyberpunk noch lange nicht so<br />
tot ist, wie mancher behauptet!<br />
Wie gehabt würden wir uns über<br />
Feedback freuen, einfach eine<br />
Mail an madera@literatopia.de –<br />
vielleicht erscheint Ihr dann in<br />
der nächsten Ausgabe ;)<br />
Viel Spaß beim Lesen wünscht<br />
Euch<br />
- Judith<br />
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Der Illustrator: Christian Günther<br />
Nach ausgiebigen Phasen der Wildwest-<br />
und Detektiv-Leidenschaft<br />
siegte schließlich die Faszination<br />
von Science Fiction & Fantasy, die<br />
bis heute anhält. Als begeisterter<br />
Rollenspieler schrieb ich schon bald<br />
jede Menge Abenteuer und Storys,<br />
während ich meist als Spielleiter<br />
agierte und die Spielergruppen die<br />
von mir erdachten Geschichten<br />
durchleben ließ. Mehrere dieser<br />
Abenteuer fanden ihren Weg hin zu<br />
Zeitschriftenveröffentlichungen und<br />
schließlich entstanden erste Kurzgeschichten,<br />
die beständig Zuwachs<br />
bekamen.<br />
Mein erster Roman under the<br />
black rainbow wurde im Jahr 2003<br />
vollendet und erschien in einen kleinen<br />
halbprofessionellen Verlag. In<br />
den folgenden Jahren entstanden<br />
weitere Kurzgeschichten sowie mein<br />
zweiter Roman Rost, der als Hardcover<br />
erschien. Inzwischen habe ich<br />
beide Romane überarbeitet und biete<br />
sie per BOD und über amazon als<br />
Taschenbücher bzw. eBooks an.<br />
fertiggestellt, die erste Reisen in den<br />
Reichen von Faar erlauben.<br />
Meine Illustrationen erstelle ich mit<br />
unterschiedlichen Techniken. Skizzen<br />
entstehen auf Papier, werden<br />
dann gescannt. Farbliche Bearbeitung<br />
und sonstige Ausgestaltung<br />
erfolgen dann digital in Photoshop<br />
und Illustrator. Ich habe keine Ausbildung<br />
in dieser Richtung genossen,<br />
sondern mir alles im „Learning<br />
by doing“-Verfahren beigebracht.<br />
Zurzeit absolviere ich aber mit Begeisterung<br />
Zeichenkurse an der<br />
Volkshochschule, um einige Basics,<br />
insbesondere in der Darstellung von<br />
Menschen, zu erlernen.<br />
Danach hatte ich erst einmal genug<br />
von dystopischen, cyberpunkigen<br />
Settings und begann, eine eigene<br />
Fantasy-Welt zu erschaffen.<br />
Diese Welt befindet sich derzeit noch<br />
immer im Entstehen, ich habe bereits<br />
einige Kurzgeschichten dazu<br />
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„Cyberpunk ist tot“<br />
Leitartikel von Judith Madera<br />
Wenn die Frage nach meinen<br />
Lieblingsgenres aufkommt und<br />
ich, wie aus der Pistole geschossen,<br />
antworte „Cyberpunk (!)“,<br />
kommen grob zusammengefasst<br />
drei unterschiedliche Reaktionen:<br />
„Hä? Was ist das denn?“,<br />
„Ja man, Cyberpunk ist geil!“<br />
und „Pfff, Cyberpunk ist tot!“.<br />
Dieser Artikel richtet sich vor<br />
allem an Leute, die die dreckigneonfarbenen<br />
Dystopien (noch)<br />
nicht kennen, und an all jene, die<br />
(teilweise zu Recht) behaupten,<br />
dass der Cyberpunk im 21. Jahrhundert<br />
überholt und tot ist.<br />
Hä? Was ist das denn?<br />
Cyberpunk gehört zu den dystopischen<br />
Strömungen der Science<br />
Fiction und stellt mitunter die<br />
dreckigste und gleichzeitig bunteste<br />
Variante dar. Zu Recht wird<br />
er von vielen als Film noir der SF<br />
bezeichnet, da seine Weltsicht<br />
trotz aller Begeisterung für die<br />
technologischen Möglichkeiten<br />
pessimistisch und zynisch ist.<br />
Was das (Sub-)Genre vor allem<br />
auszeichnet, ist der starke Kontrast<br />
zwischen High-Tech und<br />
Low-Life, Reichtum und Armut,<br />
Cyberspace und Realität.<br />
Diese Kontraste finden sich auch<br />
in der Sprache wieder, die zwischen<br />
technologischer Metaphorik<br />
und derber Gossensprache<br />
changiert.<br />
Typische Cyberpunkhelden sind<br />
die Verlierer der Zukunft, abgewrackte<br />
Hacker, gescheiterte<br />
Rebellen, depressive Cops und<br />
Privatdetektive, Prostituierte,<br />
Fahrradkuriere, Bandenmitglieder,<br />
Junkies oder reiche Kids, die<br />
nach dem „echten“ Leben suchen<br />
und ordentlich eins auf die Fresse<br />
kriegen. Sie haben Ecken und<br />
Kanten und sind meistens ziemlich<br />
egoistisch – und trotzdem<br />
mag man sie irgendwie. Weil sie<br />
anders sind. Und weil sie im<br />
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Rahmen ihrer erschreckend realistischen<br />
Zukunft authentisch<br />
sind und selbst die derbsten<br />
Egozentriker irgendwann einen<br />
Funken Anstand in sich finden.<br />
Cyberpunk als Begriff wurde in<br />
den 1980ern geprägt, um Werke<br />
wie Blade Runner und Neuromancer<br />
zu beschreiben, die bis<br />
heute als reinste Ausprägungen<br />
des Genres gelten. Das Internet<br />
war damals noch eine vage Vorstellung,<br />
von der die meisten<br />
Laien nichts ahnten, und trotzdem<br />
wurde es von William Gibson<br />
als weltumspannendes Netz<br />
beschrieben, das eine zweite,<br />
virtuelle Realität erzeugt. In Neuromancer<br />
sprach Gibson noch von<br />
der Matrix (Neal Stephenson<br />
sprach in Snow Crash vom Metaverse),<br />
wir sagen Internet oder<br />
World Wide Web, und heute<br />
scheint der einzige Unterschied<br />
darin zu bestehen, dass wir unsere<br />
Gehirne (noch) nicht direkt<br />
mit dem Netz verbinden können.<br />
Die Verbesserung und Veränderung<br />
des menschlichen Körpers<br />
durch mechanische Komponenten<br />
ist ein weiteres zentrales<br />
Thema des Genres. Da werden<br />
nicht nur verlorene Gliedmaßen<br />
durch hoch entwickelte Prothesen<br />
ersetzt, sondern der menschliche<br />
Körper auch durch spezielle<br />
Linsen mit Aufzeichnungsfunktion,<br />
ausfahrbare Waffen<br />
unter der Haut oder durch Implantate<br />
für einen direkten Zugang<br />
zum Cyberspace erweitert.<br />
Teilweise wird gar der ganze<br />
Körper durch eine Cyborgvariante<br />
ausgetauscht, wobei sich<br />
dann die Frage nach dem Wesen<br />
des Menschen stellt. Ebenso wie<br />
bei Künstlichen Intelligenzen, die<br />
oftmals als handelnde Figuren<br />
im Cyberpunk auftreten.<br />
Kreuzung in Shibuya, Tokyo (Guwashi / cc-by-2.0): Für William Gibson sind<br />
asiatische Großstädte Cyberpunk pur.<br />
Auch die zunehmende Urbanisierung,<br />
die im Cyberpunk die<br />
Ausmaße gigantischer Städte mit<br />
weitläufigem Sprawl annimmt,<br />
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wurde damals vorhergesehen. In<br />
der Tat beobachten wir heute<br />
eine regelrechte Landflucht,<br />
während die Einwohnerzahlen in<br />
den Städten explodieren und<br />
Wohnraum immer schwerer zu<br />
bezahlen ist.<br />
Insbesondere in China ist diese<br />
extreme Urbanisierung zu erkennen,<br />
inklusive Folgeschäden<br />
wie hoher Luftverschmutzung.<br />
In Peking gehören Mundschutz<br />
und Luftfilter zum Alltag. Insofern<br />
ist der Cyberpunk auch heute<br />
noch aktuell, da die düsteren<br />
Szenarien sich stückchenweise<br />
aus der Fiktion in die Wirklichkeit<br />
verschieben.<br />
Gleichzeitig wirkt der klassische<br />
Cyberpunk aus heutiger Sicht<br />
ziemlich retro, da er die technologische<br />
Entwicklung zwar in<br />
groben Zügen vorhergesehen<br />
hat, aber in vielen Details nicht<br />
vorhersehen konnte. Auch wenn<br />
es bereits Armprothesen gibt, die<br />
man mit Gedanken steuern kann,<br />
wird es noch lange dauern, bis<br />
der Mensch direkt ins Netz einsteigt,<br />
wenn das überhaupt möglich<br />
ist. Andererseits sind Computer<br />
so schnell so klein geworden,<br />
dass das Deck, das Case in<br />
Neuromancer benutzt, wie ein<br />
klobiges, altmodisches Ding auf<br />
uns wirkt.<br />
Cyberpunk ist tot<br />
Wenn man den Cyberpunk in<br />
der Boomzeit der Achtziger<br />
meint, kann man diese Aussage<br />
durchaus unterschreiben, wobei<br />
das nicht bedeutet, dass die Romane<br />
und Filme dieser Zeit nicht<br />
mehr aktuell und lesens-<br />
/sehenswert sind. Aber auch<br />
Genreliebhaber müssen erkennen,<br />
dass wir inzwischen in einer<br />
Zeit leben, die in einigen Cyberpunkromanen<br />
beschrieben wurde.<br />
Die Literatur wurde von der<br />
Realität eingeholt. Cyberpunk,<br />
wie er damals geschrieben wurde,<br />
kann man heute nicht mehr<br />
schreiben, denn das Genre lebte<br />
vor allem davon, aktuelle Entwicklungen<br />
in ein düsteres Zukunftsszenario<br />
zu verkehren und<br />
auf dem Drahtseil zwischen<br />
Technologieverherrlichung und -<br />
kritik zu balancieren.<br />
Und genau das muss Cyberpunk<br />
von heute tun: die Technologien<br />
unserer Zeit weiterdenken und<br />
daraus eine schmutzige Dystopie<br />
kreieren, die unsere Möglichkeiten<br />
spiegelt und die Gefahren<br />
einer Weiterentwicklung aufzeigt.<br />
Eine gehörige Prise Punk<br />
gehört natürlich dazu – etwas,<br />
das vielen Werken, die in der<br />
Boomzeit dem Cyberpunk, quasi<br />
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als Verkaufsetikett, zugeordnet<br />
wurden, fehlt. Zu nennen wäre<br />
hier Greg Bears Blutmusik. Der<br />
Roman greift durchaus Themen<br />
des Cyberpunk auf (und wurde<br />
später unter anderem als Biopunk<br />
bezeichnet), allerdings<br />
unterscheidet sich der Erzählstil<br />
doch sehr vom Genrejargon. Diese<br />
Etikettierung hat mitunter<br />
dazu beigetragen, dass der frische<br />
Wind des Cyberpunk sich<br />
zu einer schalen Brise abschwächte<br />
…<br />
Cyberpunk lebt<br />
Während sich Genregrößen wie<br />
William Gibson, der inzwischen<br />
realitätsnahe Cyberthriller<br />
schreibt, vom Cyberpunk entfernt<br />
haben, gibt es nach wie vor<br />
Autoren, die den Cyberpunk<br />
lieben und ihn mit altbekannten<br />
Elementen und frischen Ideen<br />
am Leben erhalten. Deutsche<br />
Kleinverlage wie Wurdack oder<br />
Begedia haben spannende Anthologien<br />
zum Thema veröffentlicht,<br />
und Autoren wie Francis<br />
Knight nutzen den Cyberpunk<br />
als Setting für dreckige Fantasy<br />
(siehe Seiten 99 und 105).<br />
Themen, die früher dem Cyberpunk<br />
zugeordnet wurden, treten<br />
inzwischen verstärkt in Jugenddystopien<br />
in Erscheinung, die<br />
sprachlich zahmer und inhaltlich<br />
emotionaler daherkommen.<br />
Trotzdem gibt es auch unter<br />
ihnen einige wenige, die man<br />
dem Cyberpunk zuordnen kann,<br />
wie beispielsweise die Wired-<br />
Trilogie von Robin Wasserman<br />
oder Songs of Revolution von<br />
Emma Trevayne (siehe Rezensionen<br />
in dieser Ausgabe).<br />
In den vergangenen dreißig Jahren<br />
hat sich der Cyberpunk zudem<br />
vom dreckig schillernden<br />
SF-Genre zum Mainstream-<br />
Element gewandelt. Moderne SF-<br />
Filme bedienen sich bei Cyberpunkelementen<br />
und setzen die<br />
Bilder der frühen Romane auf<br />
der Leinwand um. Die Neuverfilmung<br />
von Total Recall aus dem<br />
Jahr 2012 macht aus dem kultigen<br />
Marsabenteuer eine actiongeladene<br />
Cyberpunkversion<br />
(siehe Seite 91). In Cloud Atlas<br />
erinnert das zukünftige Neo Seoul<br />
stark an eine Cyberpunk-<br />
Megacity, und die Geschichte der<br />
geklonten Somni, die nicht als<br />
Mensch, sondern als Besitz gilt,<br />
weist diverse Genreelemente auf.<br />
Auch Elysium lässt sich dem Cyberpunk<br />
zuordnen, wobei sich<br />
hier die reiche Oberschicht nicht<br />
in einen hell erleuchteten Stadtkern<br />
zurückgezogen, sondern<br />
sich gleich eine eigene kleine<br />
Welt im All erschaffen hat. Protagonist<br />
Max Da Costa wird im<br />
Laufe der Geschichte mit einem<br />
Gehirnimplantat und einem<br />
Exoskelett ausgestattet, womit er<br />
seine Gegner gründlich aufmischt,<br />
während Elysium mit<br />
Hilfe eines Hackerangriffs gestürzt<br />
werden soll.<br />
In den kommenden Jahren könnte<br />
uns zudem die lang erwartete<br />
Verfilmung von Neuromancer<br />
erwarten. Die Rechte sind gesichert,<br />
und Regisseur Vincenzo<br />
Natali behauptet, das Drehbuch<br />
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sei längst fertig. Trotzdem wird<br />
noch nicht gedreht, es mangelt<br />
offenbar am Geld. Es ist fraglich,<br />
ob Vincenzo Natali die richtige<br />
Wahl für dieses Projekt ist, denn<br />
auch wenn Cube durchaus interessant<br />
und unterhaltsam war,<br />
war Splice beispielsweise ein inhaltliches<br />
und visuelles Desaster.<br />
Die Verzögerungen lassen nichts<br />
Gutes ahnen, aber wer weiß, vielleicht<br />
werden Genrefans demnächst<br />
mit einem Cyberpunkspektakel<br />
der besonderen Art<br />
überrascht?<br />
Die Poesie des Cyberspace<br />
Bei einem Wort wie „poetisch“<br />
werden sich bei einigen Genrefans<br />
die Fußnägel aufrollen,<br />
allerdings ist Cyberpunk auch<br />
genau das: Poesie. Cyberspace-<br />
Poesie. Auch wenn der Inhalt<br />
oftmals düster und schmutzig<br />
ist, zeichnen sich gute Cyberpunkgeschichten<br />
durch ihre präzise<br />
und dem Inhalt angepasste<br />
Sprache aus. Als bestes Beispiel<br />
dient hier der oft zitierte erste<br />
Satz aus Neuromancer: „The sky<br />
above the port was the color of television,<br />
tuned to a dead channel.“<br />
Die Umgebung wird mit technischen<br />
Begriffen umgeschrieben,<br />
der Himmel ist nicht einfach<br />
grau, sondern hat die Farbe eines<br />
toten Fernsehkanals. Noch deutlicher<br />
wird der lyrische Aspekt<br />
des Cyberpunk, als Case nach<br />
langer Zeit endlich wieder in den<br />
Cyberspace eintritt: „Wie ein Origami-Trick<br />
in flüssigem Neon entfaltete<br />
sich seine distanzlose Heimat<br />
(…) Und irgendwo er, lachend, in<br />
einer weiß getünchten Dachkammer,<br />
die fernen Finger zärtlich auf dem<br />
Deck, das Gesicht mit Freudentränen<br />
überströmt.“<br />
Im Gegensatz zu den meisten<br />
anderen Dystopien besitzt der<br />
Cyberpunk eine zweite, leuchtende<br />
Seite, die zwischen aller<br />
Düsternis pure Begeisterung<br />
verströmt. Die Zukunft, die im<br />
Cyberpunk gezeichnet wird, ist<br />
nicht erstrebenswert, dennoch<br />
wirkt sie nicht so abstoßend wie<br />
ihre meisten Vettern. Zudem<br />
haben viele Cyberpunkgeschichten<br />
eine ausgeprägte philosophische<br />
Komponente und zeigen in<br />
ihren stillen Momenten eine große<br />
Nachdenklichkeit/Traurigkeit.<br />
Übrigens finden die weltverändernden<br />
Ereignisse im Cyberpunk<br />
oftmals beiläufig statt,<br />
sodass sich am Ende ein ganz<br />
neuer Blickwinkel eröffnet. So<br />
wird aus dem oberflächlichen<br />
Pulp überraschend komplexe<br />
Literatur.<br />
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Starke Ladys<br />
Obwohl Cyberpunk tendenziell<br />
eher von Männern gelesen wird<br />
und weibliche Charaktere in Illustrationen<br />
(und Filmen) oftmals<br />
klischeehaft vollbusig und<br />
knapp bekleidet dargestellt werden,<br />
lebt der Cyberpunk auch<br />
von starken Frauen, die nicht<br />
gerettet werden müssen und sich<br />
in ihrer tristen Welt durchsetzen<br />
können.<br />
Allen voran Molly aus Neuromancer,<br />
eine Auftragskillerin<br />
mit diversen Modifikationen wie<br />
Linsen mit Restlichtverstärker<br />
und versteckten Klingen unter<br />
den Fingernägeln. Sie soll den<br />
Hacker Case im Auge behalten.<br />
Zwischen den beiden entwickelt<br />
sich eine seltsame Freundschaft<br />
inklusive Sex, bei dem Molly die<br />
Initiative ergreift. Sie wirkt<br />
selbstbewusst und abgebrüht,<br />
hat im Leben viel durchgemacht<br />
und ihre Konsequenzen daraus<br />
gezogen. Doch Molly hat auch<br />
eine sensible Seite und erzählt<br />
Case beispielsweise von ihrer<br />
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einstigen Liebe Johnny, bei der es<br />
sich offensichtlich um den Protagonisten<br />
aus Johnny Mnemonic<br />
handelt (im Kinofilm wurde<br />
Molly in Jane umbenannt und<br />
charakterlich stark verändert).<br />
Nach Molly folgten diverse weitere<br />
Damen, die um ihren Platz<br />
in der Welt kämpfen und den<br />
Männern in nichts nachstehen.<br />
Sie sind gleichgestellt und arbeiten<br />
als Polizisten, Bodyguards,<br />
Computerspezialisten oder betätigen<br />
sich illegal als Hacker und<br />
Auftragskiller. Eine Genderdiskussion<br />
gibt es im Cyberpunk<br />
nicht, denn die Ähnlichkeiten<br />
und Unterschiede zwischen<br />
Mann und Frau sind kein Thema<br />
dieser Zukunftsvisionen – hier<br />
muss jeder selbst sehen, wo er<br />
bleibt, und im täglichen Kampf<br />
im urbanen Dschungel zählt<br />
nicht, was du bist, sondern wer<br />
du bist.<br />
Auch Major Motoko Kusanagi<br />
aus Ghost in the Shell ist eine starke<br />
Heldin, die die Spezialeinheit<br />
Sektion 9 leitet und sowohl im<br />
Nahkampf als auch bei Hackerangriffen<br />
eine gute Figur macht.<br />
Sie ist ein recht unnahbarer Charakter<br />
mit einem Cyborgkörper<br />
und denkt viel über die Frage<br />
nach, wie menschlich sie selbst<br />
noch ist. Im Manga ist Major<br />
Kusanagi etwas emotionaler,<br />
zuweilen auch aggressiv, während<br />
im Kinofilm ihre nachdenkliche<br />
Seite stärker betont wurde.<br />
Akane Tsunemori aus Psycho-<br />
Pass ist dagegen eine eher untypische<br />
Cyberpunkheldin – zwar<br />
ist sie auf ihre Art taff, hat sich<br />
aber eine gewisse Unschuld und<br />
feminine Emotionalität bewahrt.<br />
Während die meisten Cyberpunkprotagonisten<br />
längst von<br />
jedwedem Glauben abgefallen<br />
sind, glaubt Akane an die Gerechtigkeit.<br />
Ihre anfängliche Naivität<br />
wandelt sich im Verlauf<br />
der Serie zu einer zwar ernüchterten,<br />
aber weiterhin positiven<br />
Weltsicht.<br />
Anime und Manga<br />
Während der Cyberpunk in der<br />
Literatur immer wieder totgesagt<br />
wird, entwickelte sich in Fernost<br />
ein beliebtes Animegenre daraus.<br />
Den Anfang dieser Entwicklung<br />
stellt die Animeadaption des<br />
Erfolgsmangas Akira (1982) dar,<br />
der visuell begeisterte und mit<br />
seinen stimmungsvollen Zeichnungen<br />
deutlich besser als damalige<br />
Cyberpunkfilme aussah.<br />
Die Protagonisten sind Jugendliche,<br />
die der Konsumgesellschaft<br />
überdrüssig sind und mit ihren<br />
Motorrädern auf der Suche nach<br />
Krawall Neo-Tokyo durchstreifen.<br />
Als einer von ihnen über-<br />
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Copyright by PSYCHO-PASS Committee / KAZÉ<br />
sinnliche Fähigkeiten erhält,<br />
werden Ereignisse in Gang gesetzt,<br />
die das Leben aller Bewohner<br />
der Stadt nachhaltig verändern<br />
werden.<br />
Was anfangs noch reiner Cyberpunk<br />
ist, entwickelt sich zu einem<br />
phantastischen Animespektakel,<br />
über dessen Sinn man besser<br />
nicht zu viel nachdenkt. Aus<br />
westlicher Sicht wirkt das Ende<br />
ziemlich abgedreht, dennoch ist<br />
und bleibt Akira einer der ersten<br />
und besten Cyberpunkanimes.<br />
Was Neuromancer in der Literatur<br />
ist, ist Ghost in the Shell (1995) im<br />
Anime. Die Kinoadaption des<br />
gleichnamigen Mangas besticht<br />
durch eine grandiose, düstere<br />
Optik sowie einen perfekten Mix<br />
aus gut durchdachter Story, brutaler<br />
Action und nachdenklichen<br />
Szenen. In der Zukunft von Ghost<br />
in the Shell ist es möglich, seinen<br />
Geist in einen Cyborgkörper<br />
transferieren zu lassen, welcher<br />
zwar widerstandsfähig, aber<br />
auch anfällig für Hackerangriffe<br />
ist. Die Grenzen zwischen<br />
Mensch und Maschine verwischen,<br />
während die Zukunft in<br />
atemberaubend tristen Bildern<br />
entsteht. Auch der zweite Film<br />
Innocence (2004) begeisterte, während<br />
die Serie Stand Alone Complex<br />
und ihre beiden Nachfolger<br />
weder optisch noch inhaltlich die<br />
Klasse der Filme erreichten. Die<br />
Zeichnungen sind gröber, und<br />
der rote Faden zwischen den<br />
Folgen fehlt meistens. Trotzdem<br />
handelt es sich um unterhaltsame<br />
Serien, die das Ghost in the<br />
Shell-Universum ausbauen und<br />
Cyberpunkfans Nahrung bieten.<br />
Auch Animeserien wie Texhnolyze<br />
(siehe PHANTAST #6) und<br />
Ergo Proxy (siehe Seite 78) werden<br />
dem Cyberpunk zugeordnet,<br />
wobei beide eher Dystopien mit<br />
Cyberpunkelementen sind und<br />
in der zweiten Hälfte jeweils<br />
recht abgedreht bis phantastisch<br />
wirken.<br />
Mit Psycho-Pass (2012) beweist<br />
Production I.G., die bereits für<br />
Ghost in the Shell verantwortlich<br />
zeichneten, dass Cyberpunk<br />
auch in den 2010ern aktuell ist.<br />
Klassische Genreelemente werden<br />
auf die Entwicklungen unserer<br />
Zeit aufgebaut, wodurch die<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
14
_______________________________________________________________________________________________<br />
Technologie in Psycho-Pass oftmals<br />
unsichtbar erscheint. Inhaltlich<br />
dreht sich alles um das sogenannte<br />
Sybil System, ein gigantisches<br />
Computersystem, das<br />
die psychische Verfassung der<br />
Menschen überwacht und potentielle<br />
Verbrecher eliminiert bevor<br />
sie ein Verbrechen begehen können.<br />
Im Laufe der Serie werden<br />
die Schwachstellen des Systems<br />
aufgedeckt, während man sich<br />
an der stilvoll inszenierten Cyberpunkvision<br />
kaum satt sehen<br />
kann.<br />
Die Mangaadaption der Light-<br />
Novel-Reihe No. 6 kann ebenfalls<br />
dem Cyberpunk zugeordnet<br />
werden, auch wenn hier die Beziehung<br />
zwischen zwei jungen<br />
Männern aus unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Schichten in<br />
Zentrum steht. Shion stammt aus<br />
der perfekten Stadt No. 6, während<br />
Nezumi außerhalb im<br />
Dreck lebt und die Schattenseiten<br />
der Stadt kennengelernt hat.<br />
Wichtige Handlungselemente<br />
sind die gentechnische Veränderung<br />
von Lebewesen sowie<br />
skrupellose Experimente mit<br />
jenen, die gegen das System aufbegehrt<br />
haben. No. 6 stellt mit<br />
seinem jungen Protagonistenpaar,<br />
dessen Verhältnis zwischen<br />
Freundschaft und Liebe changiert,<br />
eine interessante Version<br />
von Cyberpunk für Jugendliche<br />
dar.<br />
Neo Seoul in Cloud Atlas (Copyright by Warner Home Video / Warner Bros. Entertainment Inc.)<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
15
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William Gibsons Neuromancer<br />
Persönliche Eindrücke von Christian Günther, André Skora, Judith Madera und Frank Hebben<br />
The sky above the port was the color<br />
of television, tuned to a dead channel.<br />
Bei einem PHANTAST zum<br />
Thema Cyberpunk darf William<br />
Gibsons Neuromancer nicht fehlen.<br />
Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet,<br />
gilt der erste Roman<br />
der Sprawl-Trilogie bis heute als<br />
die erste und reinste Verkörperung<br />
des Cyberpunk. Auch für<br />
uns war Neuromancer die Einstiegsdroge,<br />
und statt euch die x-<br />
te Rezension zu präsentieren,<br />
wollen wir mit euch lieber unsere<br />
ganz persönlichen Eindrücke<br />
teilen:<br />
Christian Günther<br />
Beim ersten Lesen (auf Englisch)<br />
muss ich so 15, 16 gewesen sein.<br />
Geprägt von Rollenspielen und<br />
70er-Jahre-SF-Filmen. Fasziniert<br />
von der TV-Serie Max Headroom<br />
und Blade Runner.<br />
Damals habe ich das Buch nicht<br />
wirklich verstanden, dennoch<br />
gab es viele Szenen, die deutliche<br />
Spuren in meinem Gedächtnis<br />
hinterlassen haben. Da ich vorher<br />
eher von Autoren wie Stephen<br />
King geprägt war, faszinierte<br />
mich die knappe, präzise<br />
Sprache von Gibson, die mit so<br />
wenigen Worten so klare Bilder<br />
vermitteln konnte. Und das tut<br />
sie bis heute.<br />
Als ich das Buch gerade eben aus<br />
dem Regal zog, fiel mir das<br />
Skript eines Referats für den<br />
Englisch-Unterricht in die Hände,<br />
in dem ich das Buch vorgestellt<br />
habe – vor etwa 25 Jahren.<br />
Ich wollte also schon damals<br />
andere an der Faszination teilhaben<br />
lassen. Mit mäßigem Erfolg,<br />
wenn ich mich richtig erinnere.<br />
Dieser Roman hat für mich bis<br />
heute einen besonderen Status.<br />
Sein faszinierender Stil, die<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
16
_______________________________________________________________________________________________<br />
glaubhafte Zukunftswelt mit<br />
ihren zahllosen Details. Der erste<br />
Satz meines momentan entstehenden<br />
Fantasy-Romans trägt<br />
dieser Faszination Rechnung und<br />
ist als Hommage zu verstehen:<br />
„Der Himmel über der Küste hatte<br />
die Farbe von flüssigem Blei.“<br />
André Skora<br />
Es war Anfang der 1990er. Ich<br />
befand mich auf der FeenCon,<br />
einer Pen-&-Paper-Rollenspiel-<br />
Convention, welche jährlich in<br />
Bonn-Bad Godesberg ihre Pforten<br />
öffnet.<br />
Gerade hatten wir, mein Spielrunde<br />
und ich, erfolgreich einige<br />
Runden Space Hulk gezockt und<br />
waren immer noch ganz von<br />
unserem Erfolg geflasht. So<br />
machten wir tapferen Space Marines<br />
uns auf den Weg in den<br />
Verkaufsbereich der Con. Dort<br />
stöberten wir in Kisten, Regalen<br />
und wühlten uns durch Boxen.<br />
Nach einigen Minuten hielt ein<br />
Mitspieler Neuromancer von William<br />
Gibson in Händen und fing<br />
an, mir dieses Werk schmackhaft<br />
zu machen.<br />
Kurzentschlossen wanderte der<br />
Roman in meinen Besitz und<br />
wurde spät nachts, nach der<br />
Con-Heimkehr, noch angefangen.<br />
Innerhalb weniger Stunden<br />
war ich dann, trotz Schlafmangel,<br />
durchgepflügt und hatte den<br />
bis dato für mich besten Roman<br />
gelesen.<br />
So machte ich mich am kommenden<br />
Montag direkt auf den<br />
Weg in den örtlichen Buchladen,<br />
um mir Biochips und Mona Lisa<br />
Overdrive zu organisieren.<br />
Die Trilogie war beziehungsweise<br />
ist für mich als Cyberpunk-<br />
Fan eines der Werke schlechthin.<br />
Wobei: Es war auch direkt der<br />
Einstieg ins Genre, welches mich<br />
bis heute, über zwanzig Jahre<br />
später, immer noch begleitet,<br />
siehe dazu auch Fieberglasträume.<br />
Judith Madera<br />
Neuromancer ist eines der wenigen<br />
Bücher, das ich mehrmals<br />
und sowohl in der Originalversion<br />
als auch in der Übersetzung<br />
(von 1987, besser als die neue!)<br />
gelesen habe. Kurz nach der<br />
Jahrtausendwende habe ich den<br />
Cyberpunk für mich entdeckt<br />
und Neuromancer von meinem<br />
damaligen Freund (inzwischen<br />
Mann ;) ) geschenkt bekommen,<br />
nicht ahnend, was für ein überwältigendes<br />
und krasses Leseerlebnis<br />
mich erwartet.<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
17
_______________________________________________________________________________________________<br />
Bereits der kurze Prolog, eine<br />
Szene, in der Case in den Cyberspace<br />
eintaucht, faszinierte mich,<br />
ebenso wie die düstere Stimmung<br />
der ersten Kapitel, in denen<br />
Case sich selbst bemitleidet.<br />
Einen so abgefuckten Protagonisten<br />
hatte ich bis dato nicht kennengelernt,<br />
und trotz seiner offensichtlichen<br />
Fehler war mir der<br />
abgewrackte Hacker, der sich die<br />
Neuronen verbrannt hatte, irgendwie<br />
ziemlich sympathisch.<br />
Wie Case schlidderte ich in die<br />
verrückte Story hinein, hing mit<br />
ihm in düsteren Bars herum,<br />
lernte die unglaublich taffe Molly<br />
und den zwielichtigen Armitage<br />
kennen und stürzte in ein<br />
Cyberspaceabenteuer, das mich<br />
wie niemals zuvor begeisterte.<br />
Auch wenn mein Verständnis<br />
der Geschichte etwa zehn bis<br />
zwanzig Seiten hinterherhinkte.<br />
In manchen Kapiteln wusste ich<br />
nicht einmal, was gerade abgeht,<br />
nur um einige Seiten später ein<br />
kleines Aha-Erlebnis zu haben.<br />
Dieses Gefühl zwischen „woar,<br />
ist das geil“ und „hääää?“ zog<br />
sich durch den ganzen Roman,<br />
bis sich der Titel offenbarte und<br />
mir die Kinnlade herunterfiel.<br />
Boooom – plötzlich sah ich Neuromancer<br />
in einem ganz neuen<br />
Licht.<br />
Selten war ich so aufgeregt nach<br />
einem Buch, so begeistert und<br />
hungrig nach mehr. Ich musste<br />
es gleich nochmal lesen, und<br />
kurz vor dem Abitur habe ich es<br />
im Englischkurs vorgestellt. Der<br />
perfekte Anlass, um endlich die<br />
Originalversion zu lesen, was<br />
ganz schön hart war, da sich<br />
Gibsons temporeicher Stil mit<br />
schnödem Schulenglisch nicht so<br />
leicht verstehen lässt.<br />
Mein Vortrag war trotzdem gut,<br />
was sogar mein arroganter Englischlehrer<br />
zugeben musste. Allerdings<br />
bekam ich trotzdem eine<br />
schlechte Note. Begründung:<br />
Neuromancer sei kein bedeutender<br />
Roman (Hallo? Geht’s<br />
noch?), und obendrein sei Science<br />
Fiction keine richtige Literatur.<br />
Böse Killerphrase. Mir war’s<br />
egal. Meine Mitschüler fanden es<br />
cool. Einer hat sich sogar das<br />
Buch gekauft. Mission erfüllt.<br />
Frank Hebben<br />
Meine erste ‚Begegnung‘, wohl<br />
besser: mein erster, schillernder<br />
‚Drogentrip‘, den mir der Neuromancer<br />
auf dem Schwarzmarkt<br />
vertickt hat, war die deutsche<br />
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18
_______________________________________________________________________________________________<br />
Comic-Adaption: Schwer Metall<br />
SPEZIAL2 – Yeah! – erschienen in<br />
1990. Von Tom de Haven &<br />
Bruce Jensen. Mit einem Nachwort<br />
von William Gibson. Umfasst<br />
den ersten ‚Run‘ bis zum<br />
Telefon. *ring, ring*. Und das ist<br />
es! Jedes Bild eine regenbogenbunte<br />
Chinalampe, an deren<br />
Glühbirne, innen, zischend der<br />
Falter festbrennt.<br />
Dialoge wie: „Hey Case! Hab<br />
gestern dein Mädchen gesehen. –<br />
Mädchen, ich hab keins.“ Pure<br />
Wortessenz, aus seinem Buch<br />
herausdestilliert, das bis heute<br />
das Genre dominiert. Immer<br />
noch ‚visionär‘ durch seine bildhafte<br />
Sprache, durch sozialkritische<br />
Themen, die nichts an Aktualität<br />
verloren haben …<br />
Gibson schreibt im Nachwort des<br />
Comics: „Nicht nur sieht ihre<br />
Vision ziemlich genauso aus wie<br />
das, was ich 1983 in meinem<br />
Kopf sah, es bewegt sich auch so.<br />
Es ist wahrscheinlich unmöglich,<br />
genau zu vermitteln, was ich<br />
damit meine, aber ihre Graphic<br />
Novel läuft richtig.“ Und hier<br />
will ich meinen Finger in die<br />
Wunde legen, denn erst danach<br />
habe ich seine drei Bücher gelesen<br />
– und war vom Meisterwerk<br />
enttäuscht. Warum? Weil es eben<br />
genau diesen Drive, den Gibson<br />
so lobt, verliert! Nach dem Diebstahl<br />
der Dixie-Flatrate, wird es –<br />
ich war 16 (?), als ich seine Bücher<br />
las und seitdem auch nicht<br />
mehr – ruhiger, philosophischer,<br />
wenn ich mich recht entsinne;<br />
und eben auch langweiliger. Irgendwann<br />
im Weltraum. Am<br />
Strand.<br />
Vage erinnere ich mich, dass im<br />
zweiten oder dritten Buch ein<br />
neuer ‚Run‘ an einer einsamen<br />
Telefonzelle, weit draußen in der<br />
Wüste, geplant wird und hatte<br />
mich schon auf die Äktschion<br />
gefreut, aber: Pustekuchen!<br />
Nichts dergleichen. Zwischendurch<br />
eine KI, die ein Künstler<br />
ist. Und dieser geile Titel: Mona<br />
Lisa Overdrive. Mehr ist über die<br />
Jahre bei mir nicht hängengeblieben,<br />
bloß dieser erste Drogentrip,<br />
den Gibson, soweit ich<br />
weiß, von einer Kurzgeschichte<br />
zum Roman gestreckt hat, und<br />
das merkt man auch – bin aber<br />
immer noch voll drauf!<br />
»Cyberspace war die letzte Grenze.<br />
Das grelle, verwobene Gitternetz der<br />
Daten in den größten Computernetzwerken<br />
der Welt wartete nur<br />
darauf, geplündert zu werden.«<br />
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Burning Chrome<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Autor: William Gibson<br />
Verlag: Heyne (2015)<br />
Genre: Cyberpunk<br />
eBook (epub)<br />
28 Seiten; 0,99 EUR<br />
ISBN: 978-3-641-16902-2<br />
(Cyberspace: eBook (epub)<br />
circa 200 Seiten; 5,99 EUR<br />
ISBN: 978-3-641-11638-5)<br />
„Es war heiß in der Nacht, als wir<br />
Chrom verbrannten.“<br />
Bevor Case in Neuromancer sich<br />
die Neuronen verbrannte, machten<br />
sich die Hacker Bobby Quine<br />
und Automatic Jack daran, einen<br />
der dicksten Fische der Schattenwirtschaft<br />
zu vernichten:<br />
Chrome. Sie sieht aus wie ein<br />
Mädchen, ist aber eine skrupellose<br />
und vor allem unermesslich<br />
reiche Puffmutter. Und Geld ist<br />
nun einmal das Problem von<br />
Bobby und Jack, denn die beiden<br />
kommen gerade so über die<br />
Runden. Mit fast dreißig gelten<br />
sie als zu alt fürs Hacken, über<br />
Bobby wird gar gemunkelt, er<br />
habe seinen Biss verloren.<br />
Da lernt er Rikki kennen, ein<br />
heißes Mädchen um die 20, das<br />
davon träumt, SimStim-Star zu<br />
werden. Sie ist Bobbys neuer<br />
Glücksbringer, sein Leuchtfeuer,<br />
das ihm den Weg zur Vernichtung<br />
Chromes weisen wird.<br />
Auch Jack mag Rikki, und im<br />
Gegensatz zu Bobby, der sie abgöttisch<br />
liebt und sich keine Gedanken<br />
um ihre Wünsche macht,<br />
sorgt er dafür, dass sie notfalls<br />
verschwinden kann. Falls er und<br />
Bobby die Verbrennung verkacken<br />
...<br />
„Wir räumten Glasfaserleitungen<br />
mit der kybernetischen Entsprechung<br />
eines Martinhorns frei.“<br />
„Burning Chrome“ ist 1982 im<br />
Omni-Magazin und später in<br />
Deutschland in der Sammlung<br />
Cyberspace erschienen. Inzwischen<br />
sind die darin enthaltenen<br />
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21
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Kurzgeschichten von William<br />
Gibson als eShorts bei Heyne<br />
erhältlich, sodass man sich die<br />
Werke einzeln zulegen kann (oder<br />
die komplette eVersion von<br />
Cyberspace).<br />
„Burning Chrome“ gehört zu<br />
den Cyberpunkstorys, die man<br />
unbedingt gelesen haben sollte,<br />
und stellt gleichzeitig einen<br />
wunderbaren Einstieg ins Genre<br />
dar. Auf knapp dreißig Seiten<br />
entfaltet sich ein verrücktes Cyberspaceabenteuer<br />
mit zwei derben<br />
Protagonisten, die man irgendwie<br />
sympathisch findet,<br />
auch wenn es sich um zwei abgewrackte<br />
Kriminelle handelt.<br />
Die beiden sind ein Team, und<br />
die Arbeitsteilung ist klar: „Bobby<br />
ist Software, Jack Hardware; Bobby<br />
traktiert die Konsole, Jack treibt die<br />
netten Kleinigkeiten auf, mit denen<br />
man am Ball bleibt.“<br />
Die Konsole bzw. der Matrix-<br />
Simulator ist ein sogenannter<br />
Ono-Sendai VII, der von Jack<br />
mehrmals umgebaut wurde.<br />
Heute würde man schnöde von<br />
einem umgebauten PC oder auch<br />
einem Mac sprechen. Und man<br />
würde kein diskettenähnliches<br />
Programm mehr in einen Schlitz<br />
schieben, sondern einen USB<br />
nutzen oder sich das Programm<br />
aus dem Netz laden. Abgesehen<br />
davon liest sich „Burning Chrome“<br />
immer noch aktuell, denn<br />
dass Hacker Konten leerräumen,<br />
ist Alltag geworden.<br />
Bobby und Jack haben es ausgerechnet<br />
auf das größte Miststück<br />
ihres Reviers abgesehen, eine<br />
knallharte Lady, die die beiden<br />
eiskalt beseitigen würde. Also<br />
können sie Chrome nicht einfach<br />
ein bisschen was von ihrer Kohle<br />
klauen, sondern müssen sie<br />
komplett verbrennen.<br />
„Ich kam mir vor wie ein Punk, der<br />
loszieht, um sich ein Springmesser<br />
zu kaufen, und mit einer kleinen<br />
Neutronenbombe nach Hause<br />
kommt.“<br />
Während uns die Hardware heute<br />
eher veraltet erscheint, ist der<br />
Cyberspace aus „Burning Chrome“<br />
immer noch Fiktion. Die<br />
Matrix (quasi das Internet) ist<br />
eine „abstrakte Darstellung der<br />
Beziehungen zwischen Datensystemen“<br />
bzw. eine „elektronische<br />
Konsenshalluzination“, die es<br />
den Benutzern ermöglicht, über<br />
das weltweite Netz zu interagieren.<br />
Gibson beschreibt diese virtuelle<br />
Welt sehr plastisch mit geometrischen<br />
Formen und Strukturen,<br />
sodass aus einfachen Befehlsketten<br />
eine gewisse Action entsteht.<br />
Man kann gut nachvollziehen,<br />
was Bobby und Jack bei ihrem<br />
Hackerangriff tun, wobei sich<br />
„Burning Chrome“ für Leute, die<br />
sich so gar nicht mit Soft- und<br />
Hardware auskennen, sicherlich<br />
schwierig liest. Auch wer die<br />
Achtziger nicht miterlebt oder<br />
sich nicht näher mit ihnen beschäftigt<br />
hat, wird so manches<br />
Mal die Stirn runzeln, denn die<br />
futuristische Technologie basiert<br />
auf einer gedachten Weiterentwicklung<br />
der Möglichkeiten der<br />
Achtziger und erscheint daher<br />
relativ retro.<br />
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„Schwarzes Eis. Bloß nicht daran<br />
denken … Schwarzes Eis gehört zu<br />
den Mythen des Geschäfts. Eis, das<br />
tötet. Illegal, aber sind wir das nicht<br />
alle?“<br />
Die Sprache changiert zwischen<br />
Slang und kreativen metaphorischen<br />
Beschreibungen. William<br />
Gibson hat das Talent, in einem<br />
einzigen Satz die tiefere Wahrheit<br />
einer ganzen Geschichte zu<br />
verdichten.<br />
„Burning Chrome“ weist zudem<br />
eine äußerst gelungene Erzählstruktur<br />
auf, denn es werden<br />
zwei Geschichten parallel erzählt:<br />
der Ablauf des Hackerangriffs<br />
auf Chrome und die Vorbereitungen<br />
für diesen Angriff.<br />
Die Story wird aus Jacks Sicht<br />
erzählt, der abwechselnd beschreibt,<br />
was sich im Cyberspace<br />
abspielt und was er alles im Vorfeld<br />
erledigen musste, damit die<br />
Aktion eine Aussicht auf Erfolg<br />
hat. Dabei schweift er auch hin<br />
und wieder ab und erzählt, wie<br />
Bobby Rikki aufgegabelt hat. Bis<br />
zum Schluss kommt dabei keine<br />
Langeweile auf, auch wenn eigentlich<br />
nicht viel passiert. Die<br />
Beschreibungen der zukünftigen<br />
Welt (die unserer Gegenwart<br />
teilweise sehr ähnlich ist) sind so<br />
gekonnt und eindringlich, dass<br />
man unbedingt mehr darüber<br />
erfahren will – und natürlich, ob<br />
Bobby und Jack der Coup ihres<br />
Lebens gelingt oder ob Chrome<br />
ihnen für ihre Dreistigkeit den<br />
Arsch aufreißen wird.<br />
Fazit<br />
„Burning Chrome“ muss man als<br />
Cyberpunkfan einfach gelesen<br />
haben, denn die Kurzgeschichte<br />
stellt quasi die kleine Version<br />
von Neuromancer dar. Zudem<br />
eignet sich die Story perfekt für<br />
Neueinsteiger, die wissen wollen,<br />
was Cyberpunk ist und ob er<br />
ihnen gefällt.<br />
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Ridley Scotts Blade Runner – visuelle Blaupause für den Cyberpunk<br />
Ein Artikel von Jeremy Iskandar<br />
Wir nehmen unser Leben hin,<br />
ohne an unserer Menschlichkeit<br />
zu zweifeln. Was aber, wenn<br />
wir keine Menschen wären?<br />
Nicht geboren, sondern konstruiert?<br />
Könnten wir trotzdem<br />
menschlich sein?<br />
Im Science-Fiction-Klassiker<br />
Blade Runner wird die Hauptfigur<br />
des Filmes in einer Szene<br />
genau mit dieser existentialistischen<br />
Fragestellung konfrontiert.<br />
Nur leider gestaltet sich<br />
die Antwort schwieriger als<br />
eingangs gedacht. Und der<br />
Zweifel, der uns zuvor als die<br />
glorreiche Errungenschaft unseres<br />
Denkens vorkam, wird<br />
qualvoller Motor einer düsteren<br />
und gefährlichen Welt, in der<br />
nichts so ist, wie es scheint.<br />
1982 erschuf der britische Film-<br />
Regisseur Ridley Scott mit Blade<br />
Runner einen Meilenstein unter<br />
den Science-Fiction-Filmen. Obwohl<br />
er bei seinem Erscheinen<br />
weder von der Kritik gepriesen<br />
wurde noch an den Kinokassen<br />
große Erfolge verbuchen konnte,<br />
gilt Blade Runner heute als<br />
filmisches Meisterwerk und hat<br />
über die Jahre hinweg einen<br />
regelrechten Kultstatus erlangt.<br />
Zu verdanken hat der Film dies<br />
unter anderem seinem einzigartigen<br />
Produktionsdesign und<br />
seiner damit einhergehenden<br />
bildgewaltigen und detailreichen<br />
visuellen Stilistik. Für das<br />
Cyberpunk-Genre ist Blade Runner<br />
deshalb ein prägendes Element<br />
gewesen, vor allem in Bezug<br />
auf seine visuelle Ästhetik.<br />
Ridley Scotts Blade Runner basiert<br />
inhaltlich auf dem 1968<br />
erschienenen Science-Fiction-<br />
Roman Do Androids Dream of<br />
Electric Sheep? des visionären<br />
Science-Fiction-Autors Philip K.<br />
Dick, dessen Romane und<br />
Kurzgeschichten seit den Achtzigerjahren<br />
als Vorbild für viele<br />
bekannte Science-Fiction-Filme<br />
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dienten. Der Erfolg des Films<br />
führte in der Publikationsgeschichte<br />
der Romanvorlage sogar<br />
dazu, dass neuere Auflagen<br />
seither unter dem Titel Blade<br />
Runner firmieren. Genau wie<br />
seine Vorlage ist auch der Film<br />
ein enorm vielschichtiges Werk,<br />
in dessen Zentrum Dicks zentrale<br />
Fragestellung „Was ist der<br />
Mensch? Was zeichnet ihn aus?“<br />
steht.<br />
Rick Deckard, gespielt von Harrison<br />
Ford, ist ein sogenannter<br />
„Blade Runner“, Mitglied einer<br />
speziellen Polizeitruppe, die im<br />
Los Angeles des Jahres 2019<br />
illegal eingewanderte Replikanten<br />
jagt und zur Strecke bringt.<br />
Bei diesen handelt es sich um<br />
künstliche Menschen, die äußerlich<br />
in nichts von einem echten<br />
Menschen zu unterscheiden<br />
sind. Sie sind allerdings weitaus<br />
stärker, schneller und ausdauernder,<br />
als ein Mensch es sein<br />
könnte, sind ihrem Vorbild also<br />
physisch überlegen, obwohl sie<br />
in der Gesellschaft der Zukunft<br />
die Rolle der Sklaven erfüllen.<br />
Eine Gruppe aus vier Replikanten<br />
unter der Führung des sowohl<br />
geistig als auch körperlich<br />
beeindruckenden Roy Batty<br />
kommt mit einem gekaperten<br />
Raumschiff aus den Kolonien,<br />
die im Film als ein glücklicher<br />
Ort neuer Hoffnung angepriesen<br />
werden, zur Erde. Dort gedenken<br />
sie ihren Schöpfer zu<br />
finden, um von ihm das Recht<br />
auf mehr Leben zu fordern,<br />
wurde ihnen doch aus Sicherheitsgründen<br />
eine festgelegte<br />
Lebenszeit von nur wenigen<br />
Jahren implementiert. Dies führt<br />
die Replikanten zur Tyrell Corporation,<br />
einem gewaltigen<br />
Konzern, dessen Firmenzentrale,<br />
einer eigenen kleinen Stadt<br />
gleichend, über den anderen<br />
Gebäuden von Los Angeles<br />
thront. Deren Gründer, Eldon<br />
Tyrell, zeichnet für die Erschaffung<br />
der Replikanten verantwortlich.<br />
Bei seinen Nachforschungen<br />
trifft deshalb auch Deckard mit<br />
Tyrell zusammen. Mittels eines<br />
Testverfahrens, das Fragen beinhaltet,<br />
die auf die Emotionalität<br />
des Befragten abzielen, ist es<br />
Deckard möglich, Replikanten<br />
von wahren Menschen zu unterscheiden.<br />
Als er den Test auf<br />
Bitten Tyrells zuerst an einem<br />
Menschen, der jungen Rachael,<br />
ausprobiert, stellt sich heraus,<br />
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dass auch sie in Wahrheit ein<br />
Replikant ist, sich dieser Tatsache<br />
allerdings überhaupt nicht<br />
bewusst war. Künstlich induzierte<br />
Erinnerungen haben ihr<br />
das Selbstbewusstsein eines<br />
wirklichen Menschen verliehen,<br />
dessen Identität sich darauf<br />
gründet, dass er über eine eigene<br />
Vergangenheit verfügt.<br />
Nachdem Deckard ihr wahres<br />
Wesen offenbart hat, sucht sie<br />
ihn in seinem kleinen Apartment<br />
auf, um ihn mit dieser<br />
Erkenntnis, die sie vorerst noch<br />
für falsch hält, zu konfrontieren.<br />
Es kommt schließlich zur<br />
Schlüsselszene des Filmes, in<br />
der Rachael Deckard fragt, ob er<br />
sich selbst jemals dem Test unterzogen<br />
habe. Der Film spielt<br />
damit bewusst mit der Frage, ob<br />
Deckard nicht sogar selbst ein<br />
Replikant ist. Tatsächlich deuten<br />
einige Hinweise im Film genau<br />
auf diese Tatsache hin. Obwohl<br />
die Frage nach Deckards eigener<br />
Identität letztlich offen bleibt,<br />
zeigt sich doch in den Gemeinsamkeiten<br />
zu den Replikanten<br />
der eigentliche Wesenskern des<br />
Films: Dicks Frage, was der<br />
Mensch denn überhaupt sei und<br />
wodurch er sich auszeichne.<br />
Auch Deckard lebt in seinen –<br />
vielleicht künstlichen – Erinnerungen,<br />
ist Getriebener seiner –<br />
vielleicht künstlichen – Vergangenheit,<br />
ist auf der Suche nach<br />
seinem eigenen Selbst. In dieser<br />
Hinsicht unterscheidet er sich in<br />
nichts von den Replikanten, die<br />
er jagt. Als Folge wirken die<br />
Motive und Handlungen der<br />
Replikanten im Film noch<br />
menschlicher. Ist es überhaupt<br />
von Bedeutung, dass sie künstlich<br />
und nicht natürlich sind?<br />
Sind sie deshalb weniger<br />
Mensch als der wirkliche<br />
Mensch, oder, andersherum<br />
gefragt, ist der wahre Mensch<br />
tatsächlich nur deshalb Mensch,<br />
weil er natürlichen Ursprungs<br />
ist? Die Beantwortung dieser<br />
zentralen Fragestellung lässt der<br />
Film in seinem zunehmend undurchsichtigen<br />
und von zahllosen<br />
Motiven philosophischer,<br />
religiöser und psychologischer<br />
Art gespickten Verlauf bewusst<br />
offen, sodass er auch als – zuweilen<br />
etwas langatmige – Jagd<br />
Deckards nach den Replikanten<br />
konsumiert werden kann.<br />
Da der Film, wie bereits erwähnt,<br />
auf einer philosophi-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
26
_______________________________________________________________________________________________<br />
schen, theologischen und psychologischen<br />
Ebene arbeitet, ist<br />
es im Prinzip unmöglich, alle<br />
seine Facetten in einem einzigen<br />
Artikel behandeln zu wollen, ist<br />
er doch sogar bereits Gegenstand<br />
zahlreicher wissenschaftlicher<br />
Abschlussarbeiten und<br />
filmtheoretischer Abhandlungen<br />
gewesen (siehe zum Beispiel:<br />
Theoretische und filmanalytische<br />
Aspekte in Ridley Scotts<br />
Blade Runner von Johannes Sievert<br />
oder Ridley Scotts Blade<br />
Runner von Frank Schnelle). Im<br />
Folgenden liegt der Fokus deshalb<br />
besonders auf der Bedeutung<br />
der visuellen Gestaltung<br />
des Films für das Genre des Cyberpunk<br />
und auf dem Aspekt<br />
des Dualismus von Natürlichem<br />
und Künstlichem.<br />
In Blade Runner ist das Los Angeles<br />
des Jahres 2019 ein urbaner<br />
Moloch, ein Schmelztiegel<br />
der Kulturen, in Zwielicht getaucht<br />
und von einem steten<br />
Regen heimgesucht. Bildgewaltig<br />
und detailreich wird die Megastadt<br />
im Film inszeniert. Sie<br />
verkörpert damit das Konzept<br />
des „Sprawl“, das sein literarisches<br />
Äquivalent in William<br />
Gibsons Debüt-Roman Neuromancer<br />
findet, einem der maßgeblichen<br />
Werke der Cyberpunk-Bewegung<br />
der Achtzigerjahre.<br />
Darin ist Sprawl die Bezeichnung<br />
für eine riesige urbane<br />
Agglomeration, die sich<br />
durch gewaltige Gebäudekomplexe,<br />
eine enorm dichte Bebauung,<br />
hohe Kriminalität, ein eigenes<br />
Mikroklima und die Verschmelzung<br />
zahlreicher urbaner<br />
Kulturen auszeichnet.<br />
Die High-Tech-Errungenschaften<br />
dieser zukünftigen Stadt<br />
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haben das Leben der Menschen<br />
allerdings nicht wirklich verbessert,<br />
sondern eher ärmer gemacht.<br />
Die Stadt dient nicht<br />
mehr den Bedürfnissen des<br />
Menschen, sondern folgt ihren<br />
ganz eigenen Regeln, denen sich<br />
der Mensch in seinem Kampf<br />
ums Dasein untergeordnet hat.<br />
Auch ist sie bei Weitem kein<br />
makelloses Zukunftsutopia,<br />
sondern krankt vielmehr am<br />
Alter ihrer Eingeweide, die wie<br />
ein Krebsgeschwür dahinwuchern<br />
und zum städteplanerischen<br />
Alptraum verkommen<br />
sind.<br />
Ein ganz ähnliches Konzept<br />
verfolgt Ridley Scott mit der<br />
Darstellung seines Los Angeles<br />
in Blade Runner. In Anlehnung<br />
an asiatische Großstädte zeichnet<br />
Scott das Bild eines überbevölkerten,<br />
chaotischen und<br />
zwielichtigen Ortes, an dem es<br />
ewig Nacht zu sein scheint.<br />
Derart hoch haben sich die Gebäude<br />
aufgetürmt, dass nur<br />
noch selten natürliches Tageslicht<br />
in ihre Straßen dringt. Allgegenwärtig<br />
fällt der Regen.<br />
Zahllose Subkulturen fristen in<br />
diesen Häuserschluchten ihr<br />
Dasein, die Sprachenvielfalt ist<br />
Legion, und es hat sich aus ihr<br />
sogar eine eigene Art der Stadtsprache<br />
entwickelt, eine Lingua<br />
franca der Bewohner dieses düsteren<br />
Ortes.<br />
Hierbei versteht es Ridley Scott<br />
meisterhaft, das zukünftige Los<br />
Angeles als eine Stadt zu inszenieren,<br />
die zwar über zukünftige<br />
High Tech wie Schwebefahrzeuge<br />
und autarke Gebäudekomplexe<br />
verfügt, letztlich aber<br />
auf einem alten Gemäuer steht,<br />
einem Schatten ihrer Vergangenheit.<br />
Erreicht wurde dies auf<br />
visueller Ebene durch die Technik<br />
des sogenannten „retrofitting“.<br />
Bei diesem Vorgehen im<br />
Produktionsdesign des Filmes<br />
wurden den Fassaden der modernen<br />
Gebäudestrukturen in<br />
liebevoller Kleinstarbeit zahlreiche<br />
Details hinzugefügt: alte<br />
Wärmeaustauscher, Aufbauten,<br />
Windräder, Verbindungsrohre,<br />
Silos usw. Dies erzeugt ein eindrucksvolles<br />
Bild einer Stadt,<br />
deren verschiedene zeitliche<br />
Ausprägungen gleichzeitig präsent<br />
sind.<br />
Scott hielt es für unwahrscheinlich,<br />
dass die gewaltigen Gebäudekomplexe<br />
völlig eingerissen<br />
würden, um neuen Platz zu<br />
machen. Wahrscheinlicher sei<br />
es, dass man immer nur wieder<br />
Ausbesserungen vornehmen<br />
würde, einzelne Teile ergänzt<br />
oder ausgetauscht würden. Ein<br />
urbanes Flickenwerk gewaltigen<br />
Ausmaßes. Dieses Konzept trägt<br />
wesentlich zu dem düsteren<br />
Charme bei, den die Stadt bei<br />
Blade Runner verströmt und der<br />
seitdem hartnäckig in den Darstellungen<br />
der urbanen Orte<br />
nachfolgender Cyberpunk-<br />
Werke, seien es nun Bücher,<br />
Filme oder Videospiele, seinen<br />
Niederschlag gefunden hat.<br />
Im Bereich der Lichtgestaltung<br />
setzt Blade Runner auf starke,<br />
überzeichnete Kontraste. Der<br />
Tradition des Film Noir folgend,<br />
nutzt Ridley Scott die gestochen<br />
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scharfen Scheinwerferkegel dahingleitender<br />
Werbezeppeline,<br />
Suchscheinwerfer vorüberfliegender<br />
Polizeifahrzeuge und<br />
das schimmernde Licht haushoher<br />
Neonreklamen, um die<br />
Dunkelheit des Sprawl zu<br />
durchstoßen und starke Kontraste<br />
aus Licht und Schatten zu<br />
schaffen. Dieses Konzept verfolgt<br />
der Film auch in den Szenen<br />
innerhalb der Gebäude konsequent<br />
weiter, wenn einzelne<br />
Lichtstrahlen mit Brettern zugenagelte<br />
Fenster oder Risse in<br />
den Wänden durchstoßen, um<br />
die Dunkelheit dahinter förmlich<br />
zu zerschneiden. Natürliches<br />
Licht wird damit weitestgehend<br />
vermieden, die Künstlichkeit<br />
der Stadtkulisse betont<br />
und ihr zwielichtiger Charakter<br />
gezeichnet.<br />
mehr oder weniger Getriebene,<br />
sowohl Deckard als auch die<br />
von ihm gejagten Replikanten.<br />
Die zwielichtige, von stetem<br />
Regen beherrschte, chaotische,<br />
ausufernde Stadt repräsentiert<br />
damit das zerrüttete, ins Ungewisse<br />
gestürzte Seelenleben der<br />
Filmfiguren, das nirgendwo<br />
verortet scheint.<br />
Mit der Straße als zentralem Ort<br />
des Geschehens wird in Blade<br />
Runner ein weiteres typisches<br />
Cyberpunk-Merkmal illustriert.<br />
Auf ihr herrscht ein Chaos aus<br />
wildgewordener Technisierung<br />
und einem undurchsichtigen<br />
Gefüge kultureller Versatzstücke.<br />
Sie ist gleichzeitig Ort der<br />
Gewalt, der Sünde und eine<br />
Metapher für den gnadenlosen<br />
kapitalistischen Fortschritt, der<br />
den Menschen längst überholt<br />
hat. Zwei der drei Replikanten-<br />
Tötungen, die Deckard im Film<br />
vollzieht, spielen auf der Straße.<br />
In einer Szene versucht eine<br />
Straßengang Teile von Deckards<br />
Wagen zu klauen, was die allgegenwärtige<br />
Kriminalität verdeutlicht.<br />
Die Straßenszenen sind stets<br />
von einem Sammelsurium aus<br />
Fahrzeugen und einem buntgemischten<br />
Menschenschlag belebt,<br />
die sich visuell dem sich<br />
zeitlich überlagernden Konzept<br />
der Stadt anpassen. Das dermaßen<br />
suggerierte Chaos wird<br />
In Blade Runner ist die Stadt<br />
nämlich nicht nur Kulisse für<br />
die Handlungen, die sich in ihr<br />
abspielen, sondern auch visuelle<br />
Darstellung des Innenlebens der<br />
Protagonisten. Sie alle sind<br />
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über die Tonspur, die sich zahlreicher<br />
Offscreen-Töne und<br />
nicht zuzuordnender Geräuschquellen<br />
bedient, zusätzlich verstärkt.<br />
Gewaltige Neonreklamen<br />
und am Himmel entlangziehende<br />
Werbezeppeline illuminieren<br />
die Straßen mit ihrem Licht und<br />
beschallen sie ohne Unterlass.<br />
Auf der anderen Seite sind sie<br />
trotz all dieser Fülle, dieser<br />
Reizüberflutung Orte der Einsamkeit.<br />
So verkriecht sich Pris,<br />
eine der Replikanten, in einer<br />
Szene in einem Haufen Müll vor<br />
einem verwahrlosten Häusereingang,<br />
einsam und allein wirkend.<br />
Und auch der Gendesigner<br />
Sebastian, den die Replikanten<br />
aufsuchen, um über ihn zu<br />
Eldon Tyrell zu gelangen, lebt<br />
einsam und zurückgezogen in<br />
einem leer stehenden, verwahrlosten<br />
und düsteren Gebäude,<br />
einzig umgeben von den künstlichen<br />
Geschöpfen, die er selbst<br />
geschaffen hat. Die Straße ist<br />
auch der Ort des Geschäfts. Auf<br />
der Straße geht Deckard seinem<br />
Geschäft nach, befragt, stößt<br />
Drohungen aus und feilscht.<br />
Letztlich ist die Straße ein zwielichtiger,<br />
rauer und dreckiger<br />
Ort.<br />
Die düstere Ästhetik des Films<br />
hat das Cyberpunk-Genre geprägt.<br />
Angefangen bei den detailreich<br />
ersonnenen Alltagsgegenständen,<br />
wie Regenschirmen<br />
mit leuchtenden Stäben, bis hin<br />
zu der Art der Kleidung, die die<br />
zahlreichen Statisten im Film<br />
tragen und die mit einem Sammelsurium<br />
an Versatzstücken<br />
aus allen Subkulturen und Accessoires<br />
ausgestattet ist, ist diese<br />
visuelle Ästhetik in den<br />
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_______________________________________________________________________________________________<br />
nachkommenden Cyberpunk-<br />
Werken und in der Science-<br />
Fiction im Allgemeinen oft kopiert<br />
worden. Dabei übt wie<br />
auch in der Inszenierung der<br />
Stadt der Hauch des Alten, der<br />
mit der futuristischen Technologie<br />
verschmilzt, einen unwiderstehlichen<br />
Reiz aus, so als wäre<br />
die dem Menschen innewohnende<br />
Sehnsucht nach der Vergangenheit<br />
in den Objekten, die<br />
wir nutzen und die uns umgeben,<br />
gefangen. Sie sind gezeichnet,<br />
mit Gebrauchsspuren versehen,<br />
schmutzig und teils sogar<br />
verwahrlost – ein für das Cyberpunk-Genre<br />
absolut typisches<br />
Bild.<br />
Die Frage, welche Bedeutung<br />
dem Unterschied zwischen etwas<br />
Natürlichem und etwas<br />
Künstlichem zukommt, ist nicht<br />
nur im Film eine zentrale, sondern<br />
auch im Cyberpunk-Genre<br />
an sich. Der natürliche, biologische<br />
Körper des Menschen wird<br />
hier oft als schwach und rückständig<br />
gezeichnet, getrieben<br />
von seinen primitiven Bedürfnissen.<br />
In Neuromancer gilt er<br />
den mit dem Cyberspace verbundenen<br />
Hackern gar als Gefängnis,<br />
als ein Kerker des Fleisches<br />
– beschränkt, langsam und<br />
träge.<br />
Oft spielen deshalb im Cyberpunk<br />
technologische Erweiterungen<br />
des Körpers eine Rolle.<br />
Zumeist treten sie in Form von<br />
Implantaten auf, die dem<br />
menschlichen Körper zu mehr<br />
Leistungsfähigkeit verhelfen<br />
sollen. Der natürliche Körper<br />
wird damit zu einer Cyborg-<br />
Gestalt, der starre Dualismus<br />
zwischen Natürlichem und<br />
Künstlichem durchbrochen und<br />
aufgehoben in der wahrhaftigen<br />
Verschmelzung von Mensch<br />
und Technologie. In Blade Runner<br />
spielen zwar solche futuristischen<br />
Implantate keine Rolle,<br />
aber mit der Verschränkung von<br />
natürlichem und künstlichem<br />
Menschen wird auch hier der<br />
Dualismus aufgehoben und<br />
letztlich für nichtig erklärt. Und<br />
in der Überlegenheit der Replikanten<br />
gegenüber dem Menschen<br />
zeigt sich die Unzulänglichkeit<br />
des menschlichen Körpers.<br />
Sein ethischer Wert ist nahezu<br />
zur Bedeutungslosigkeit<br />
verkommen, weshalb er zu einer<br />
austauschbaren Ware geworden<br />
ist.<br />
Abschließend ist zu sagen, dass<br />
der Film trotz seines mittlerweile<br />
fortgeschrittenen Alters nichts<br />
von seiner inhaltlichen und visuellen<br />
Faszination eingebüßt<br />
hat.<br />
Seine düstere visuelle Ästhetik,<br />
seine philosophischen Fragestellungen<br />
und die gekonnte Verschmelzung<br />
aus Film Noir und<br />
dystopischer Science-Fiction<br />
haben ihn zu einem zentralen<br />
Werk des Cyberpunk der Achtzigerjahre<br />
gemacht, das seinen<br />
Einfluss im Laufe der Zeit auch<br />
weit über das Genre hinaus<br />
ausgeübt hat.<br />
Bildmaterial: Copyright by moviescreencaps.com<br />
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Songs of Revolution<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Autor: Emma Trevayne<br />
Übersetzer: Ulrike Nolte<br />
Verlag: Lübbe one (2015)<br />
Genre: Dystopie / Cyberpunk /<br />
Jugendbuch<br />
Gebundene Ausgabe<br />
445 Seiten, 15,99 EUR<br />
ISBN: 978-3-8466-0018-4<br />
Anthem verkauft als „Akku”<br />
sein Leben, um seine Geschwister<br />
durchzubringen und die<br />
akustischen Medikamente für<br />
seinen dahinsiechenden Vater<br />
bezahlen zu können. Wie fast alle<br />
Erwachsenen ist auch Anthem<br />
süchtig – nach Musik, die ihn in<br />
einen Rauschzustand versetzt<br />
und das Alltagsgrau erstickt.<br />
Ursprünglich wurde codierte<br />
Musik als Schmerzmittel verwendet,<br />
doch dann entdeckte der<br />
Konzern, wie er sich die Menschen<br />
mit Hilfe von Musik gefügig<br />
machen konnte. Irgendwann<br />
enden fast alle wie Anthems Vater:<br />
als suchtzerfressene, lebende<br />
Leichen.<br />
Anthem fügt sich öffentlich in<br />
diesen Kreislauf, doch er bewahrt<br />
ein Geheimnis: Mit seinem<br />
besten Freund und drei anderen<br />
jungen Menschen macht er mit<br />
selbst gebastelten Instrumenten<br />
richtige Musik. Ein Vergehen, für<br />
das er hart bestraft werden könnte,<br />
doch die Musik ist Anthems<br />
große Hoffnung – und bald auch<br />
Ausdruck seiner Wut auf den<br />
Konzern …<br />
Songs of Revolution ist erfrischend<br />
anders als die meisten Jugenddystopien<br />
und setzt die originelle<br />
Idee, Musik als bewusstseinsverändernde<br />
Droge – und damit<br />
als Kontrollinstrument – einzusetzen,<br />
gekonnt um. Im zukünftigen<br />
New York gehört es zur<br />
Bürgerpflicht, abends feiern zu<br />
gehen und sich dem Rausch zu<br />
ergeben, damit man das System<br />
auf keinen Fall in Frage stellt.<br />
Wer nicht regelmäßig Musik<br />
konsumiert, bekommt Besuch<br />
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von den Sicherheitsbehörden,<br />
denn selbstverständlich wird<br />
jeder überwacht. Um den Menschen<br />
zumindest ein bisschen<br />
Hoffnung zu geben (und sie damit<br />
noch besser zu kontrollieren),<br />
hat der Konzern Bibliotheken<br />
eingerichtet, in denen die<br />
Erinnerungs-Chips von Verstorbenen<br />
aufbewahrt werden, deren<br />
Aufzeichnungen man sich jederzeit<br />
ansehen kann (natürlich zensiert).<br />
Anthem ist zu Beginn des Romans<br />
stark musikabhängig und<br />
verbringt seine Abende im Club<br />
eines Kumpels, während er tagsüber<br />
seine Energie für das System<br />
opfert. Da nahezu alle Energiequellen<br />
weggebrochen sind,<br />
nutzt der Konzern Menschen wie<br />
Anthem zur Energiegewinnung.<br />
Mit jedem Tag an der Dränage<br />
verkürzt sich sein Leben, doch<br />
das nimmt Anthem in Kauf, um<br />
seinen jüngeren Geschwistern<br />
ein einigermaßen gutes Leben<br />
bieten zu können. Seine geheime<br />
Band ist einer der wenigen<br />
Lichtblicke in seinem Leben –<br />
ebenso wie Haven, ein Mädchen<br />
aus der Oberschicht, das den<br />
Konzern ebenfalls verachtet und<br />
Anthem offensichtlich Gefühle<br />
entgegenbringt. Doch er geht<br />
nicht darauf ein, da er sich als<br />
„Akku“ minderwertig vorkommt<br />
und Haven nicht damit belasten<br />
will, dass er jung sterben wird.<br />
Emma Trevayne ist es wunderbar<br />
gelungen, Musik in ihrem<br />
Roman effektvoll und emotional<br />
zu beschreiben, sodass man das<br />
Gefühl hat, sie tatsächlich zu<br />
hören. Man spürt durchweg die<br />
unbändige Liebe zur Musik,<br />
gleichzeitig ist sie in Songs of Revolution<br />
etwas Gefährliches. Eine<br />
Droge oder sogar ein Tötungsmittel/Bestrafungsmittel.<br />
Denn<br />
es gibt akustische Sequenzen, die<br />
das Gehör eines Menschen auslöschen<br />
können. Die sogenannten<br />
„Ex-Sonics“ sind damit gebrandmarkt<br />
und können nicht<br />
mehr am normalen gesellschaftlichen<br />
Leben teilnehmen. Die<br />
Kontrolle durch den Konzern ist<br />
allgegenwärtig und scheinbar<br />
perfekt. Und genau diese scheinbare<br />
Unverwundbarkeit machen<br />
sich Anthem und seine Band zu<br />
Nutze, als sie beschließen, illegale<br />
Konzerte zu geben.<br />
Die Charaktere in Songs of Revolution<br />
sind im Rahmen ihrer Welt<br />
sehr authentisch, allen voran<br />
Anthem, der zwischen Erschöpfung,<br />
verzweifelter Liebe und<br />
aggressivem Zorn schwankt. Er<br />
macht sich viele Gedanken um<br />
seine Familie und Haven, ist<br />
durch sie erpressbar, doch es fällt<br />
ihm im Laufe des Romans immer<br />
schwerer, ruhig zu bleiben und<br />
den braven, süchtigen Bürger zu<br />
mimen.<br />
Was seine Liebe zu Haven betrifft,<br />
legt er sich selbst Steine in<br />
den Weg. Sie eröffnet ihm genug<br />
Chancen, doch Anthem zweifelt<br />
und glaubt, nicht gut genug für<br />
sie zu sein. Mit seinem besten<br />
Freund Scope hatte Anthem früher<br />
eine Beziehung, deren Feuer<br />
noch nicht ganz erloschen ist.<br />
Dabei erscheint es ganz selbst-<br />
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verständlich, dass Anthem mit<br />
einem Mann zusammen war und<br />
nun in eine Frau verliebt ist. Zu<br />
beiden Menschen kann man seine<br />
Gefühle gut nachvollziehen,<br />
und es ist schade, dass einer der<br />
beiden enttäuscht wird.<br />
Songs of Revolution zeigt, wie Cyberpunk<br />
als Jugendbuch im 21.<br />
Jahrhundert aussehen kann,<br />
denn Emma Trevayne hat das<br />
derbe Grundgefühl des Genres<br />
sowie die starken Kontraste verinnerlicht.<br />
Viele kreative Ideen, wie beispielsweise<br />
Implantate in der<br />
Haut, die durch akustische Reize<br />
aufleuchten und ihre Farbe<br />
wechseln, oder auch Chrome-<br />
Tätowierungen und Glasfaserhaarschmuck<br />
machen Anthems<br />
triste Welt bunt, exzentrisch und<br />
ein bisschen cyberpunkig.<br />
Auch dass Großkonzerne die<br />
herrschende Macht darstellen, ist<br />
ein typisches Cyberpunkthema,<br />
wobei in Songs of Revolution ein<br />
Megakonzern die diktierende<br />
Regierung darstellt. Er dient als<br />
Feindbild, gegen das sich die<br />
jungen Protagonisten auflehnen.<br />
Leider fällt die Führung des<br />
Konzerns mit ihrem Machtstreben<br />
sehr eindimensional aus.<br />
Lediglich die einfachen Mitarbeiter<br />
zeigen etwas Tiefe, während<br />
die Befehlsgebenden eher klischeehaft<br />
rüberkommen. Obwohl<br />
die Autorin, vor allem in<br />
der zweiten Hälfte, mit vielen<br />
Überraschungen aufwartet,<br />
kommt sie nicht ohne die gängigen<br />
Jugendbuchklischees aus.<br />
Zudem trüben die sehr traurigen<br />
Entwicklungen zum Ende hin<br />
den Lesespaß, da einige davon<br />
unnötig und erzwungen dramatisch<br />
erscheinen. Nichtsdestotrotz<br />
bleibt der Roman mitreißend<br />
und einmalig.<br />
Fazit<br />
Songs of Revolution ist eine wahnsinnig<br />
leidenschaftliche und kreative<br />
Dystopie, in der (codierte)<br />
Musik als Droge und Kontrollinstrument<br />
eingesetzt wird.<br />
Emma Trevayne begeistert ihre<br />
Leser vor allem mit ihrem authentischen<br />
Protagonisten Anthem,<br />
der viel ertragen muss,<br />
Fehler macht und aus ihnen<br />
lernt.<br />
Viele originelle Ideen machen die<br />
düstere Zukunftsvision zu einem<br />
erfrischenden Leseerlebnis, das<br />
mitreißt und hungrig auf mehr<br />
macht.<br />
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Cyberpunk in Deutschland – Die Sehnsucht nach der Heimat<br />
Ein Artikel von Christian Günther<br />
Eine ganz persönliche Reise durch<br />
die Jahre, in denen der Cyberpunk<br />
nach Deutschland kam.<br />
Atomic Avenue war der Titel einer<br />
umfangreichen Sammlung<br />
amerikanischer Cyberpunk-<br />
Kurzgeschichten, die für mich<br />
den ersten Kontakt mit dem<br />
Genre darstellte. Das war 1990.<br />
Dieser Band aus dem Heyne-<br />
Verlag bot neben den Geschichten<br />
auch Illustrationen von H. R.<br />
Giger, diverse sekundärliterarische<br />
Artikel sowie eine Bibliographie<br />
der bedeutendsten Cyberpunk-Romane.<br />
Selbst eine<br />
„Playlist“ mit zum Genre passender<br />
Musik fehlte nicht. Von<br />
den Herausgebern wurde der<br />
Begriff sehr eng gefasst, die Zeit<br />
des Cyberpunk auf die Jahre<br />
zwischen 1977 und 1986 festgelegt,<br />
alles danach nur noch als<br />
Derivat der eigentlichen Strömung<br />
des Cyberpunk gesehen.<br />
Ebenso wurden bei den Geschichten<br />
ausschließlich USamerikanische<br />
Autoren berücksichtigt.<br />
Sicher hat sich der Cyberpunk<br />
im Laufe der folgenden Jahre<br />
gewandelt, häufig wurden seine<br />
Motive als Versatzstücke in<br />
Kombination mit anderen Genres<br />
verwendet, bis viele seiner<br />
Themen später in der Alltagswelt<br />
der Realität aufgingen,<br />
sozusagen von der Wirklichkeit<br />
eingeholt wurden.<br />
Dennoch gab es immer wieder<br />
Autoren, die ihre Liebe zum<br />
Genre sehr deutlich ins Zentrum<br />
ihrer Werke gestellt haben. So<br />
entwickelte sich seit Anfang der<br />
neunziger Jahre auch in<br />
Deutschland eine zwar sehr<br />
kleine, aber dennoch bemerkenswerte<br />
Zahl von Werken, die<br />
sich mal mehr, mal weniger der<br />
Themen des Cyberpunk bedien-<br />
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ten. Einige dieser Titel möchte<br />
ich hier vorstellen, sicher ist die<br />
Auswahl sehr persönlich und<br />
nicht vollständig, bietet aber<br />
vielleicht dem einen oder anderen<br />
einige Bücher, die einen näheren<br />
Blick wert sind.<br />
Wenn es um Cyberpunk in<br />
Deutschland geht, kommt man<br />
an Shadowrun nicht vorbei. Das<br />
Rollenspiel, das bereits Anfang<br />
der neunziger Jahre erschien,<br />
war ursprünglich für den nordamerikanischen<br />
Markt konzipiert<br />
und präsentierte hauptsächlich<br />
Schauplätze auf dem<br />
Gebiet der heutigen USA. Kurz<br />
nach Erscheinen der deutschen<br />
Übersetzung ergänzte die umtriebige<br />
deutsche Redaktion bei<br />
Fantasy Productions den Shadowrun-Kosmos<br />
um den Band<br />
Deutschland in den Schatten, mit<br />
dessen Hilfe ein detailliertes<br />
Bild des ehemaligen Deutschland<br />
um das Jahr 2055 entstehen<br />
konnte.<br />
Die ersten Cyberpunk-Romane<br />
mit Schauplätzen in Deutschland<br />
stammten in der Folge<br />
ebenfalls aus dem Verlag Fantasy<br />
Productions und schilderten<br />
die Welt von Shadowrun.<br />
Jedoch war dies von Haus aus<br />
eine knallbunte Action-Kulisse,<br />
mit Trollen, Orks und Elfen,<br />
Magie und Schamanismus. Dieser<br />
Hintergrund entsprach nicht<br />
den klassischen Bildern des Cyberpunk,<br />
wie sie von den Romanen<br />
eines William Gibson<br />
oder den unvergesslichen Bildern<br />
aus Blade Runner geprägt<br />
wurde. Somit waren die Cyberpunk-Anteile<br />
in diesen Geschichten<br />
nur ein Teilaspekt.<br />
Der Kampf von Underdogs gegen<br />
übermächtige Konzerne, die<br />
Benutzung fortschrittlicher<br />
Computertechnik, die düsteren<br />
Straßen und glitzernden Paläste<br />
aus den Fugen geratener Städte<br />
– typische Motive des Cyberpunk,<br />
ergänzt um Metamenschen<br />
und Magie.<br />
Auch ein inzwischen bekannter<br />
Fantasyautor wie Markus Heitz<br />
verdiente sich hier seine ersten<br />
Sporen. Bis zum Jahr 2008 erschienen<br />
regelmäßig neue Romane<br />
aus der Welt von Shadowrun.<br />
Doch auch jenseits der Rollenspielwelt<br />
beschäftigten sich<br />
deutsche Autoren mit der nahen<br />
Zukunft.<br />
Der bekannte SF-Autor Markus<br />
Hammerschmitt veröffentlichte<br />
1997 im Suhrkamp-Verlag seinen<br />
Kurzroman Wind – Schau-<br />
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platz ist eine Windinsel im Meer<br />
nahe Emden. Dieses Setting ist<br />
durchaus vergleichbar mit heutigen<br />
Windparks, allerdings<br />
kombiniert er es mit den romantischen<br />
Motiven des einsamen<br />
Leuchtturmwächters. Aber auch<br />
hier: die Protagonisten als kleine<br />
Rädchen im Getriebe der großen<br />
Konzerne.<br />
Der Ariadne Verlag, ein Hamburger<br />
Verlag, der sich auf<br />
Frauenliteratur spezialisiert hat,<br />
brachte in den 2000er Jahren in<br />
der Reihe „Social Fantasies“<br />
zahlreiche Titel der sozialkritischen<br />
SF heraus. Neben Übersetzungen<br />
bekannter Genre-<br />
Autoren wie John Shirley oder<br />
Ursula K. Le Guin setzte man<br />
dabei auch auf deutsche Autoren.<br />
Bekanntestes Beispiel der<br />
Reihe ist die Hamburger Autorin<br />
Myra Çakan, die mit ihrem<br />
Roman When The Music’s Over<br />
eine der ersten in Deutschland<br />
angesiedelten Cyberpunk-<br />
Geschichten erzählt. Darauf<br />
folgte im Jahr 2001 der zweite<br />
Roman der Autorin, Downtown<br />
Blues.<br />
Weitere Titel aus der „Social<br />
Fantasies“-Reihe sind Digitale<br />
Tänzer von Hartwig Hilgenstein<br />
und Kalter Frühling von Florian<br />
Nelle, spannende Berlin-<br />
Dystopien, die ihre lebendigen<br />
Settings mit Krimi-Handlungen<br />
verbinden. Sie nutzten ihre in<br />
der nahen Zukunft angesiedelten<br />
Schauplätze, um eine an den<br />
klassischen Noir-Krimi erinnernde<br />
Handlung zu erzählen,<br />
die einen beträchtlichen Teil<br />
ihrer Faszination aus der Verknüpfung<br />
dieser Elemente mit<br />
„typisch Deutschem“ ziehen, so<br />
beispielsweise Mietskasernen in<br />
Berlin, die inzwischen unter<br />
einer Betonkuppel liegen.<br />
„Wer keinen Netz-Zugang hat, ist<br />
unterprivilegiert und lebt fleischlich<br />
in den Straßen Berlins unter<br />
dem Kunsthimmel oder in Vororten<br />
mit Beton-Überbauung.“ Hartwig<br />
Hilgenstein, Digitale Tänzer<br />
Im Jahr 2003 brachte ich selbst<br />
meinen Beitrag zum Thema<br />
„Cyberpunk in Deutschland“<br />
heraus, meinen Erstlingsroman<br />
under the black rainbow. Eine wilde<br />
Geschichte, die ich mit der<br />
Motivation schrieb, all das, was<br />
ich schon immer mal in einem<br />
Cyberpunk-Roman lesen wollte,<br />
unterzubringen. Und, was mir<br />
ebenso wichtig war, die Handlung<br />
an Schauplätzen in<br />
Deutschland anzusiedeln. Das<br />
Ergebnis ist wild und bunt, damals<br />
habe ich die handwerkli-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
38
_______________________________________________________________________________________________<br />
chen Unzulänglichkeiten noch<br />
als roh und ursprünglich, eben<br />
„Punk“, zu verkaufen versucht.<br />
Auch geht das Setting über den<br />
Cyberpunk hinaus in den Bereich<br />
der Dystopie, so wie bei<br />
vielen neueren Werken des<br />
Genres, wobei dieser Übergang<br />
sicher fließend ist. Doch die<br />
Faszination, die aus der Verbindung<br />
bekannter Orte mit Motiven<br />
des Cyberpunk erwächst,<br />
hat mich nie losgelassen. Ebenso<br />
wie eine der spannendsten Fragen,<br />
die sich Leser und Autoren<br />
immer wieder stellen: Wie<br />
könnte meine Heimat in der<br />
Zukunft aussehen?<br />
Habe ich mich bislang nur auf<br />
Romane konzentriert, so möchte<br />
ich den Bereich der Kurzgeschichten<br />
natürlich nicht unerwähnt<br />
lassen, immerhin ist diese<br />
kondensierte Form der Erzählung<br />
ein zur knappen Sprache<br />
des Cyberpunk hervorragend<br />
passendes Vehikel. In den vergangenen<br />
Jahren haben sich<br />
einige Autoren aus dem deutschen<br />
Sprachraum aufgemacht,<br />
dem totgesagten Genre neues<br />
Leben einzuhauchen, stellvertretend<br />
seien hier Frank Hebben<br />
und Thorsten Küper erwähnt,<br />
die der Welt des Cyberpunk<br />
zahlreiche neue Geschichten<br />
hinzugefügt haben. Die Sammlungen<br />
Fieberglasträume und<br />
Tiefraumphasen zeugen von der<br />
Vielfalt an Cyberpunk-Stories,<br />
die jene Festlegung aus Atomic<br />
Avenue, die das Ende des Genres<br />
im Jahr 1986 verortet hat, eindrucksvoll<br />
widerlegen. Man<br />
muss lediglich auf Kabelverbindungen<br />
und Röhrenmonitore<br />
verzichten – die Essenz lebt weiter.<br />
Atomic Avenue – Michael Nagula<br />
(Hrsg.) – Heyne Verlag, 1990 –<br />
ISBN 3453042875<br />
Wind – Marcus Hammerschmidt –<br />
Suhrkamp Verlag, 1997 – ISBN<br />
3518392786<br />
Digitale Tänzer – Hartwig Hilgenstein<br />
– Ariadne/Argument Verlag,<br />
1998 – ISBN 3886199347<br />
Kalter Frühling – Florian Nelle –<br />
Ariadne/Argument Verlag, 1998 –<br />
ISBN 3886199320<br />
When The Music’s Over – Myra<br />
Çakan – Ariadne/Argument Verlag,<br />
1999 – ISBN 3886199452<br />
Downtown Blues – Myra Çakan –<br />
Ariadne/Argument Verlag, 2001 –<br />
ISBN 3886199657<br />
under the black rainbow – Christian<br />
Günther – Erstveröffentlichung<br />
2003, Neuauflage bei BOD, 2010 –<br />
ISBN 9783839132609<br />
Fieberglasträume – Frank Hebben,<br />
André Skora (Hrsg.) – Begedia Verlag<br />
2013 – ISBN 9783943795400<br />
Tiefraumphasen – André Skora, Armin<br />
Rößler, Frank Hebben (Hrsg.) –<br />
Begedia Verlag 2014 – ISBN<br />
9783957770066<br />
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39
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Nachtbrenner<br />
Eine Rezension von André Skora<br />
Autorin: Myra Çakan<br />
Verlag: Edition Phantasia (2012)<br />
Genre: Cyberpunk<br />
Hardcover<br />
Limitierte Edition<br />
264 Seiten, 45,00 EUR<br />
ISBN: 978-3-924959-86-9<br />
(Taschenbuch: 14,90 EUR<br />
eBook 6,99 EUR)<br />
Myra Çakan dürfte den meisten<br />
Lesern durch ihre Bücher Downtown<br />
Blues und When the Music‘s<br />
over sowie durch einige Hörspielumsetzungen<br />
ein Begriff<br />
sein. Dieses limitierte Hardcover<br />
enthält dreizehn Kurzgeschichten<br />
aus der Tastatur der Autorin.<br />
Das Ganze ist auch als Taschenbuch<br />
und eBook erhältlich! –<br />
Somit ist die Limitierte Edition<br />
nicht Pflicht.<br />
Zum Inhalt<br />
Nachfolgend werde ich auf die<br />
einzelnen Storys eingehen, um so<br />
einen kleinen Einblick ins Buch<br />
zu geben und zu zeigen, worum<br />
es jeweils geht. Das Vorwort, das<br />
einen kurzen Abriss über Musik,<br />
Literatur und Entwicklung gibt,<br />
kommt von Joachim Körber.<br />
„Zufällige Weggefährten“ eröffnet<br />
das Buch. Die Story handelt<br />
von der Leere in einer trostlosen<br />
Zukunft, wobei sie generationsübergreifend<br />
darlegt, dass man<br />
Träume verfolgen sollte und<br />
welche Kraft von Geschichten<br />
ausgeht. Das Ganze gepaart mit<br />
Rock’n‘Roll und man erfährt den<br />
Blues!<br />
Mit „Echtzeit“ geht es weiter.<br />
Hier gibt es einen ungeschminkten<br />
Einblick in den Alltag eines<br />
Roadrunners (Kurierfahrer für<br />
heiße Ware). Dabei werden Abhängigkeiten,<br />
Techniken und der<br />
ganz normale Wahnsinn beleuchtet.<br />
Und dabei gibt’s auf die<br />
Fresse.<br />
Außenmissionen und der anstehende,<br />
zur Belohnung ausge-<br />
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40
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sprochene Landgang bringen<br />
jede Menge Risiken mit sich. In<br />
„Fremde Schatten“ wird auf das<br />
Endresultat ein Blick geworfen.<br />
Man erfährt, wozu der Mensch<br />
in unvorhersehbaren Situationen<br />
fähig ist.<br />
„Hinter der Biegung des Flusses<br />
…“ ist ein kleiner Abriss der Ereignisse<br />
und Illusionen aus Indianersicht.<br />
Als Nächstes folgt „Nachtbrenner“,<br />
die Story, der diese Sammlung<br />
ihren Namen verdankt.<br />
Hierbei handelt es sich um eine<br />
Geschichte, die ‚alte‘ Menschheitsträume<br />
verwirklicht, denn<br />
der Mars wurde besiedelt. Aber<br />
damit nicht genug: Wo Sonne<br />
scheint, muss es auch Schatten<br />
geben, und der ist hier der herrschende<br />
Krieg.<br />
In dieser Situation finden zwei<br />
Ungleiche als Paar zusammen<br />
und zeigen auf, wozu Liebe in<br />
einer ausweglosen Situation führen<br />
kann, und das ist mehr als<br />
Mut!<br />
Damit ist „Nachtbrenner“ aber<br />
noch nicht ‚erledigt‘, denn nun<br />
folgt die Story als Hörspielfassung.<br />
„Im Netz der Silberspinne“<br />
bringt dem Leser mehrere gescheiterte,<br />
süchtige Persönlichkeiten<br />
näher, die ihren Alltag<br />
abschwenken. Wobei einer dieser<br />
Freaks dem Ganzen mit einer<br />
Heldentat entkommen will.<br />
Weiter geht es mit Sportlern,<br />
Cops und jeder Menge anderer<br />
abgewrackter Gestalten. Wir<br />
werden in die Geschehnisse rund<br />
um ein Sportspiel im Jahre 2027<br />
hineingezogen und dürfen dem<br />
verworrenen Alltag der Stadt,<br />
dem „Downtown Blues“, folgen<br />
beziehungsweise lauschen.<br />
Seinerzeit war Natural Born Killers<br />
einer der Filme, die man gesehen<br />
haben sollte. So ist die Story<br />
„Wie Mickey und Mallory“<br />
ein VR-Erlebnisbericht durch<br />
einzelne Filmsequenzen, allerdings<br />
mit Änderungsoptionen.<br />
Der zukünftig besiedelte Mars<br />
dient als Hintergrundwelt für die<br />
nächste Story.<br />
„Callista“ ist eine kurze, schnelle<br />
und wandlungsfähige Beschattungsaktion,<br />
die mit Klischees<br />
spielt.<br />
In „Nachtschicht“ bekommt man<br />
den ganz normalen Wahnsinn<br />
zweier Cops um die Ohren gehauen.<br />
Besonders den Wahnsinn,<br />
den man erlebt, wenn man seine<br />
Nase in Angelegenheiten steckt,<br />
die eine Nummer zu groß sind,<br />
auch wenn man zu den Besten<br />
seiner Einheit zählt. Dazu kommen<br />
noch ein paar Verstrickungen,<br />
die erst auf den zweiten<br />
Blick auffallen, und schon wird<br />
die Luft für Neugierige noch<br />
dünner.<br />
Die Storysammlung wird durch<br />
„Das kalte Licht der Sterne“ beendet.<br />
Hier erlebt man, zwischen<br />
Realität und Wahnsinn, die letzten<br />
Tage, Stunden und Handlungen<br />
eines Astronauten auf<br />
einer verunglückten Raumstati-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
41
_______________________________________________________________________________________________<br />
on. Abschließend folgt eine<br />
Nachweisübersicht.<br />
Fazit<br />
Mit Nachtbrenner liefert Myra<br />
Çakan eine gut zusammengestellte<br />
Cyberpunk-Storysammlung<br />
ab. Man bekommt alles,<br />
was den Cyberpunk ausmacht,<br />
vom abgebrannten Junkie über<br />
korrupte Bullen bis zum rechtschaffenen<br />
Bürger.<br />
Die Charaktere zeichnen sich<br />
durch ihre Eigenständigkeit und<br />
durch ihre überraschenden<br />
Handlungen aus. Man hat<br />
schnell ein Bild der einzelnen<br />
Protagonisten und auch des Hintergrundes<br />
vor Augen und erhält<br />
so ein tolles Kopfkinoprogramm.<br />
Auch die Dialoge können größtenteils<br />
überzeugen, wagt Myra<br />
Çakan doch in den meisten Fällen,<br />
‚Straßenslang‘ zu verwenden.<br />
So wird der Leser noch<br />
schneller in die Storys hineingezogen.<br />
Nun möchte ich noch ein paar<br />
Worte zur Aufmachung dieser<br />
limitierten Edition verlieren: Das<br />
Hardcover, die Bindung und das<br />
verwendete Papier machen einen<br />
sehr hochwertigen Eindruck und<br />
fühlen sich in der Hand sehr gut<br />
an. Der Satz ist gelungen, sprich:<br />
Schriftart und Größe passen gut<br />
zusammen. Der Schutzumschlag<br />
fügt sich ins Gesamtbild ein,<br />
könnte aber etwas robuster sein.<br />
Zum Abschluss möchte ich noch<br />
zwei, drei Sachen erwähnen, die<br />
mir ein wenig negativ ins Auge<br />
gefallen sind: Zum einen gibt es<br />
textlich einige Wiederholungen,<br />
die sich durch die Storys ziehen,<br />
so zum Beispiel ist der Himmel<br />
meistens „smoggelb“. Leider<br />
sorgen einige wenige Textfehler<br />
für Lesestolperer. Das ist, in<br />
Hinblick darauf, dass es sich um<br />
eine limitierte Edition handelt,<br />
doch etwas ärgerlich. Auch bei<br />
der inneren Aufmachung hätte<br />
man sich noch einige Gedanken<br />
machen können.<br />
Alles in allem bin ich aber von<br />
den Storys und der Präsentation<br />
angetan und kann Nachtbrenner<br />
nur empfehlen! Alternativ auch<br />
als eBook oder Taschenbuch.<br />
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42
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Shadowrun – Cyberpunk meets Fantasy<br />
Ein Artikel von Jeremy Iskandar<br />
Shadowrun holt den Nervenkitzel<br />
an den heimischen Wohnzimmertisch.<br />
Wer in die Welt der<br />
Schatten abtaucht, braucht gute<br />
Nerven, Durchhaltevermögen<br />
und viel Fantasie. Es ist eine gefährliche<br />
Welt, die man dort betritt,<br />
aber sie verspricht auch eine<br />
Menge Spaß und Unterhaltung.<br />
Shadowrun kann als Hommage<br />
an die großen Werke des Achtzigerjahre-Cyberpunks<br />
und seine<br />
Wegbereiter aus der Science-<br />
Fiction der Sechziger und Siebziger<br />
gesehen werden.<br />
Kenner des Genres finden in der<br />
Welt von Shadowrun zahlreiche<br />
Bezüge zu Werken wie Gibsons<br />
Sprawl-Trilogie (bestehend aus<br />
den Romanen Neuromancer<br />
(1984), Count Zero (1986) und<br />
Mona Lisa Overdrive (1988)), Sterlings<br />
Islands in the Net (1988) oder<br />
Bears Blood Music (1985). Die<br />
Anleihen reichen sogar noch<br />
weiter in die Vergangenheit der<br />
Science-Fiction, wenn inhaltlich<br />
oder zumindest namentlich an<br />
Werke wie Brunners The Shockwave<br />
Rider (1975) oder gar<br />
Delanys Nova (1968) angeknüpft<br />
wird. Die in diesen Werken geschaffenen<br />
Elemente des Cyberpunk<br />
treffen bei Shadowrun auf<br />
klassische Merkmale der Fantasy,<br />
um einen einzigartigen<br />
Genre-Mix zu erzeugen, der<br />
maßgeblich zur enormen Popularität<br />
des Spiels innerhalb seines<br />
Genres beigetragen hat.<br />
Bei Shadowrun handelt es sich um<br />
ein so genanntes Pen-&-Paper-<br />
Rollenspiel, dessen erste Version<br />
im Jahre 1989 beim amerikanischen<br />
Spielehersteller FASA erschien.<br />
Mittlerweile läuft das<br />
Spiel in der 5. Edition und hat<br />
sich dabei von Edition zu Edition<br />
sowohl strukturell als auch inhaltlich<br />
weiterentwickelt. Während<br />
der Hintergrund der 1. Shadowrun-Edition<br />
in einer fiktiven<br />
Zukunft des Jahres 2050 angesie-<br />
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43
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delt ist, startet die aktuellste Edition<br />
des Spieles mit dem Jahr<br />
2075.<br />
Ein Rollenspiel ist ein System,<br />
das es mehreren Spielern ermöglicht,<br />
fiktive Charaktere zu verkörpern,<br />
die mit einem ebenso<br />
fiktiven Setting interagieren, um<br />
dabei im weitesten Sinne Abenteuer<br />
zu erleben. Die Grundlage<br />
dazu bietet eine erzählerische<br />
Darstellung der Handlung. Die<br />
Charaktere der Spieler sind ähnlich<br />
wie in einem Theaterstück<br />
Protagonisten einer Geschichte,<br />
deren Handlung allerdings nicht<br />
durch ein Drehbuch festgelegt<br />
ist, sondern sich wie im Improvisationstheater<br />
erst mit der Geschichte<br />
selbst entwickelt. Um<br />
der Geschichte eine gewisse<br />
Rahmenhandlung und Konsistenz<br />
zu verleihen, übernimmt<br />
einer der Spieler die Rolle des<br />
Spielleiters, der das Spiel anleitet<br />
und die Welt und ihre Reaktionen<br />
auf die Handlungen der<br />
Spielercharaktere beschreibt. Der<br />
Spielleiter übernimmt damit<br />
Shadowrun-Würfel Version 4E von Pegasus Spiele (Harley keen / CC BY-SA 3.0)<br />
auch die Rolle aller Nichtspielercharaktere,<br />
bei denen es sich<br />
um alle Protagonisten einer Geschichte<br />
handelt, mit denen die<br />
Charaktere der Spieler zusammentreffen.<br />
Um die Auswirkungen<br />
von Aktionen und Reaktionen<br />
in der Spielwelt zu ermitteln,<br />
dienen dem Spielleiter und den<br />
Spielern gewisse, zumeist auf<br />
Würfelwurf basierende Regelmechanismen.<br />
Die Welt, die Shadowrun zeichnet,<br />
ist die unsere in der nahen<br />
Zukunft. Sie trägt die für den<br />
Cyberpunk typischen dystopischen<br />
Züge. Einige Teile der<br />
Welt sind aufgrund von Umweltverschmutzung,<br />
Naturkatastrophen<br />
oder kriegerischen<br />
Konflikten unbewohnbar geworden,<br />
zahlreiche staatliche<br />
Strukturen sind zerbrochen oder<br />
haben zumindest an Einfluss<br />
verloren, während gewaltige<br />
Konzerne, in Shadowrun Megakonzerne<br />
genannt, ganze Wirtschaftssysteme<br />
diktieren und<br />
staatengleiche Macht und Kontrolle<br />
ausüben. Dabei ist Shadowrun,<br />
zumindest in seinen ers-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
44
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ten Versionen, von einer Erde<br />
ausgegangen, in der ein wirtschaftlich<br />
übermächtiges Japan<br />
die USA als Weltmacht abgelöst<br />
hat. Dieser Blickwinkel erklärt<br />
sich aus der Entstehungszeit des<br />
Spiels in den Achtzigerjahren, als<br />
das japanische Wirtschaftswachstum<br />
noch grenzenlos und<br />
unaufhaltsam schien. Die zweite<br />
Komponente, die Shadowrun bei<br />
der Zeichnung seiner Welt prägt,<br />
ist die Rückkehr der Magie auf<br />
unsere Erde. Ausgehend von der<br />
Systematik des Maya-Kalenders,<br />
ist die Zeitvorstellung in Shadowrun<br />
auf Zyklen aufgebaut, die<br />
jeweils ein Zeitalter bestimmen.<br />
Mit dem Ende der sogenannten<br />
5. Welt im Jahr 2011 begann in<br />
der Zeitrechnung von Shadowrun<br />
die 6. Welt, die die Rückkehr der<br />
Magie einläutete.<br />
Erklärt wird dies durch das ansteigende<br />
Mana-Niveau, welches<br />
der Welt zwar immanent ist, aber<br />
von Zeitalter zu Zeitalter in seiner<br />
Stärke variiert und deshalb –<br />
ähnlich wie klimatische Bedingungen<br />
die Entwicklung von<br />
Arten beeinflussen – die Nutzung<br />
von Magie einschränkt o-<br />
der verstärkt. So trifft man in<br />
Shadowrun nicht nur auf Hightech<br />
wie Nano- und Biotechnologie,<br />
Cyber-Implantate, eine vollsensorische<br />
Virtual Reality und<br />
gedankengesteuerte Fahrzeuge,<br />
sondern auch auf Magier, Geister,<br />
Drachen und andere, in der<br />
5. Welt zu Mythen erklärte Fabelwesen.<br />
Feste Charakterkonzepte gibt es<br />
in Shadowrun nicht, da es sich bei<br />
dem Regelwerk um ein recht<br />
offenes System handelt, aber<br />
dennoch lassen sich einige Archetypen<br />
ausmachen, die den<br />
Spielern als Rahmen zur Erschaffung<br />
ihres eigenen Charakters<br />
dienen. Ihnen allen ist gemein,<br />
dass sie sogenannte Shadowrunner<br />
sind – Berufskriminelle, die<br />
in den Schatten abseits des Systems<br />
leben und agieren, für<br />
zwielichtige Auftraggeber arbeiten,<br />
die aus den Konzernetagen,<br />
dem Militär, der Unterwelt oder<br />
den um Einfluss ringenden Regierungen<br />
stammen können. Sie<br />
sind im weitesten Sinne Söldner<br />
– Aktivposten, die auf keiner<br />
Gehaltsliste auftauchen und bei<br />
Bedarf auch fallen gelassen werden<br />
können. Das Leben der Shadowrunner<br />
ist demnach ein gefährliches,<br />
aber für gewöhnlich<br />
zahlt es sich aus. Immerhin riskieren<br />
Shadowrunner bei einem<br />
Großteil ihrer Aufträge (in der<br />
Terminologie von Shadowrun als<br />
Runs bezeichnet) ihr Leben. Ihre<br />
Missionsparameter umfassen<br />
Datenklau, Einbruch, Entfüh-<br />
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45
_______________________________________________________________________________________________<br />
rung, Schmuggel, Erpressung<br />
und in einigen Fällen sogar Auftragsmord.<br />
Das System Shadowrun ist letztlich<br />
aber dermaßen flexibel und<br />
offen angelegt, dass die Spieler<br />
einer Spielgruppe auch in die<br />
Rollen von Konzernagenten, Regierungsmitarbeitern,<br />
Rettungskräften,<br />
Privatdetektiven usw.<br />
schlüpfen können. Theoretisch<br />
ist es sogar denkbar, dass die<br />
einzelnen Spieler gänzlich unterschiedliche<br />
Rollen verkörpern.<br />
Systemimmanente Grenzen gibt<br />
es hier zumindest keine.<br />
Da die Welt von Shadowrun auf<br />
unserer eigenen basiert, auch<br />
wenn sie eine andere Entwicklung<br />
genommen hat, sind in Bezug<br />
auf das Setting und die Geschichte<br />
der Fantasie und dem<br />
Detailreichtum des Spieles im<br />
Prinzip keine Grenzen gesetzt. Es<br />
besteht die Möglichkeit, reale<br />
Ereignisse unserer Welt in Shadowrun<br />
zur Vorlage zu nehmen,<br />
oder aber rein fiktive Geschichten<br />
zu spinnen.<br />
Shadowrunner arbeiten meist in<br />
kleinen, ausgewogenen Teams,<br />
die alle wichtigen Bereiche ihrer<br />
Arbeit abdecken.<br />
Straßensamurai sind hierbei die<br />
Soldaten der Schatten. Sie sind<br />
unfassbar stark, übermenschlich<br />
schnell und in allen möglichen<br />
Waffenarten geschult. Ihr Körper<br />
wurde stark durch die Segnungen<br />
der modernen Bio- und Gentechnologie<br />
sowie mittels sogenannter<br />
Cyberware, künstlicher<br />
Implantate, verbessert und ist<br />
auf dem besten Wege, mehr Maschine<br />
als Mensch zu werden.<br />
Rigger und Hacker (in einigen<br />
Shadowrun-Editionen auch Decker<br />
genannt) sind die Technikexperten<br />
eines Shadowrunner-<br />
Teams. Das Spezialgebiet der<br />
Rigger umfasst hauptsächlich<br />
das Bedienen, Modifizieren und<br />
Warten von Fahrzeugen und<br />
Drohnen. Mittels Implantaten<br />
stellen sie eine direkte neurale<br />
Verbindung zu ihren Fahrzeugen<br />
her und ersetzen ihre eigenen<br />
Sinne durch die Sensoren der<br />
Maschinen. Per Gedankenbefehl<br />
übernehmen sie somit die Steuerung<br />
ihrer Fahrzeuge, dienen als<br />
überragende Fluchtfahrer für<br />
ihre Teamkollegen oder unterstützen<br />
diese mit Drohnen bei<br />
ihren Operationen.<br />
Hacker sind Computercracks, die<br />
über die nötigen Fähigkeiten und<br />
das Equipment verfügen, das<br />
globale, vollsensorische Computernetzwerk<br />
(in Shadowrun<br />
überwiegend als die Matrix bezeichnet),<br />
durch das der überwiegende<br />
Teil aller Informationen<br />
der Welt läuft, zu ihren<br />
Gunsten zu manipulieren.<br />
Die Matrix bei Shadowrun ist<br />
nach dem Vorbild des Cyberspace<br />
in Gibsons Neuromancer<br />
konzipiert und stellt eine umfassende<br />
virtuelle Realität dar, die<br />
von den Hackern mit allen Sinnen<br />
erfahren werden kann. Während<br />
die ersten drei Editionen<br />
des Rollenspiels noch von einer<br />
auf Kabelverbindungen und stationären<br />
Systemen geprägten<br />
Matrix ausgehen, hat sich in der<br />
4. Edition mit dem Einzug eines<br />
drahtlosen und mobilen Netz-<br />
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46
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werkes Shadowrun der mittlerweile<br />
rasch vorangeschrittenen<br />
realen Kommunikationstechnologie<br />
angepasst. Mit der AR, der<br />
Augmented Reality, welche als<br />
virtuelle Welt die normale<br />
Wahrnehmung ihrer Benutzer<br />
überlagert, beschritt Shadowrun<br />
dann auch den logischen Schritt<br />
für eine wahrhaft vernetzte Hintergrundwelt,<br />
die der mittlerweile<br />
vorhandenen Medienrealität<br />
gerecht wird.<br />
Der letzte der klassischen Archetypen<br />
innerhalb des Spielekonzepts<br />
ist der des Erwachten, wie<br />
ein jeder Bewohner der 6. Welt<br />
bezeichnet wird, der über magisches<br />
Potenzial verfügt. In der<br />
Welt von Shadowrun existieren<br />
hierbei zahlreiche magische Paradigmen,<br />
die sich zum überwiegenden<br />
Teil an realen Traditionen<br />
aus Religion und Mystik<br />
orientieren. Sowohl fernöstliche<br />
Lehren wie Shintoismus oder<br />
Buddhismus als auch Chaostheorie,<br />
germanische Glaubensvorstellungen,<br />
Christentum und<br />
Islam finden in der Welt von<br />
Shadowrun ihren Platz und haben<br />
dabei ihre ganz eigenen Auslegungen<br />
der Magie entwickelt,<br />
die das 6. Zeitalter bestimmt.<br />
Regeltechnisch kann man bei<br />
Shadowrun zwei Konzepte erwachter<br />
Charaktere unterscheiden.<br />
Der Magier ist ein Magiebegabter,<br />
der über die Fähigkeit verfügt,<br />
das Mana dergestalt zu<br />
manipulieren, dass Zaubersprüche<br />
wirksam sind, die verschiedene<br />
Effekte in der Realität hervorrufen.<br />
Er ist außerdem in der<br />
Lage, Geister zu beschwören und<br />
sie in seine Dienste zu binden.<br />
Von zentraler Bedeutung ist<br />
hierbei der Astralraum, eine Art<br />
Parallelwelt, die die physische<br />
Realität überlagert, aber nur von<br />
Wesenheiten wahrgenommen<br />
werden kann, die über die Fähigkeit<br />
der astralen Wahrnehmung<br />
verfügen. Beim Adepten<br />
handelt es sich um Erwachte,<br />
deren magische Begabung eher<br />
nach innen gerichtet ist und deren<br />
Kräfte sich auf ihren eigenen<br />
Körper beziehen. Genau wie jeder<br />
Magier einem bestimmten<br />
Paradigma folgt, das der Tradition<br />
der Kultur entspricht, in der<br />
er aufgewachsen ist oder innerhalb<br />
derer er ausgebildet wurde,<br />
beschreiten auch Adepten verschiedene<br />
Wege, je nachdem<br />
welche Kräfte sie beherrschen. So<br />
gibt es Adepten, die dem Weg<br />
des Kriegers folgen, aber eben<br />
auch solche, die als herausragende<br />
Künstler, Mediatoren oder<br />
Athleten tätig sind.<br />
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47
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Verschiedene Bücher (mittlerweile<br />
auch als PDF zum Download<br />
erhältlich) helfen Spielleiter<br />
und Spielern dabei, die Regeln<br />
und den Hintergrund des Spiels<br />
zu definieren.<br />
Die Bücher, die für das Spiel erhältlich<br />
sind, lassen sich grob in<br />
drei Kategorien unterteilen: Regelwerke,<br />
Quellenbücher und<br />
Abenteuerbände.<br />
Neben dem Grundregelwerk,<br />
das alle Regeln und Hintergründe<br />
enthält, um sofort mit dem<br />
Spiel starten zu können, zeichnet<br />
sich Shadowrun durch ein Baukastensystem<br />
aus, das einzelne<br />
Aspekte des Spiels (die Matrix,<br />
die Magie, Fahrzeuge und Waffen,<br />
Bio- und Cyberware usw.) in<br />
erweiternden Regelbüchern beleuchtet<br />
und ausbaut.<br />
Diese Regelwerke orientieren<br />
sich für gewöhnlich an den bereits<br />
beschriebenen Archetypen,<br />
obwohl letztlich alle Spieler von<br />
den Zusatzwerken profitieren<br />
können. Neben zusätzlichen Regeln,<br />
die dem Spiel einen größeren<br />
Detailreichtum bescheren<br />
sollen, führt jede dieser Publikationen<br />
auch neue Ausrüstungsgegenstände<br />
ein, wie Fahrzeuge,<br />
Waffen, Implantate oder magische<br />
Güter, die Spielleiter und<br />
Spieler zur Ausgestaltung ihres<br />
Spieles nutzen können.<br />
Bei den Quellenbüchern handelt<br />
es sich um mit Hintergrundmaterial<br />
versehene Publikationen,<br />
die die offizielle Shadowrun-<br />
Geschichtsschreibung vorantreiben<br />
und dabei einzelne, ausgewählte<br />
Bereiche der Shadowrun-<br />
Welt (bestimmte Regionen oder<br />
Ereignisse) vorstellen. Die Spielgruppen<br />
sind frei, diese offiziellen<br />
Informationen in ihre Spielwelt<br />
zu integrieren, sie nur teilweise<br />
zu übernehmen, sie abzuändern<br />
oder gänzlich wegzulassen.<br />
Sie dienen hauptsächlich der<br />
Inspiration für die Geschichten<br />
der Spielrunde.<br />
Abenteuerbände (auch Kampagnenbände<br />
genannt) bieten Spielleiter<br />
und Spielern komplett ausgearbeitete<br />
Geschichten oder<br />
zumindest deren Grundlagen<br />
mit allen relevanten Hintergrundinformationen,<br />
Kartenund<br />
Bildmaterial sowie Regelerläuterungen<br />
und den in der Geschichte<br />
auftauchenden Nichtspielercharakteren.<br />
Die Abenteuerbände<br />
beinhalten entweder<br />
Geschichten zu einem bestimmten<br />
Aspekt der Shadowrun-Welt<br />
oder spinnen die offizielle Geschichtsschreibung<br />
des Spiels<br />
weiter, die in Shadowrun auch als<br />
Metaplot bezeichnet wird und<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
48
_______________________________________________________________________________________________<br />
alle wichtigen, die Spielwelt<br />
stark beeinflussenden Ereignisse<br />
umfasst. Auch hier ist jede Spielgruppe<br />
allerdings frei, diese Informationen<br />
ganz nach eigenem<br />
Geschmack zu ignorieren oder<br />
zu verändern.<br />
Shadowrun ist ein Spiel ohne vorgeschriebene<br />
Spielerzahl. Bewährt<br />
hat sich allerdings in den<br />
meisten Fällen eine Gruppe aus<br />
fünf Spielern, von denen einer<br />
den Part des Spielleiters übernimmt.<br />
Denkbar sind jedoch<br />
auch gänzlich andere Gruppenkonstellationen,<br />
wobei größere<br />
Gruppen jedoch Gefahr laufen,<br />
das Ausspielen der einzelnen<br />
Spielercharaktere, das immerhin<br />
einen der größten Reize eines<br />
Rollenspiels darstellt, zu vernachlässigen.<br />
Möchte man einmal<br />
über den Tellerrand schauen<br />
und den heimischen Spieltisch<br />
verlassen, wird man schnell feststellen,<br />
dass es dort draußen<br />
zahlreiche Shadowrun-Spieler<br />
samt dazugehörenden Gruppen<br />
gibt und sich im Internet im Laufe<br />
der Jahre auch im deutschsprachigen<br />
Raum verschiedene<br />
Internet-Gemeinschaften zum<br />
Hobby Shadowrun gegründet<br />
haben. Die größte Community in<br />
Deutschland stellt der Shadowrun-Nexus<br />
dar, zu erreichen<br />
unter www.sr-nexus.de.<br />
Hier kann man sich mit anderen<br />
Shadowrun-Fans austauschen,<br />
Charakterkonzepte vorstellen,<br />
Regel- und Hintergrundfragen<br />
klären oder an den so genannten<br />
Forenruns teilnehmen, die das<br />
Rollenspiel Shadowrun als<br />
schreibbasierte Version ins Internet<br />
verlagern. Mittlerweile hat<br />
der Erfolg des Spieles dazu geführt,<br />
dass neben dem Rollenspiel<br />
Shadowrun auch Computerspiele,<br />
Kartenspiele und sogar<br />
Merchandising-Artikel zur Verfügung<br />
stehen, die entweder<br />
separat gespielt oder mit dem<br />
klassischen Rollenspiel verwoben<br />
werden können.<br />
Ein Abtauchen in die Schatten<br />
lohnt sich also. In diesem Sinne:<br />
„Halte dir den Rücken frei, spar<br />
Munition und lass dich nie mit<br />
Drachen ein“ (altes Shadowrunner-Sprichwort).<br />
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Interview mit Frank Hebben<br />
geführt von Eva Bergschneider<br />
„Ich habe letzten Monat die 40<br />
geknackt, ich darf über alles ablästern,<br />
was nach mir so kommen<br />
mag.“<br />
PHANTAST: Frank, wir haben<br />
2008 schon einmal ein Interview<br />
miteinander geführt. Damals<br />
hast Du mir erzählt, dass Dich<br />
Fantasy-Klötze wie Der Herr der<br />
Ringe langweilen und Du deshalb<br />
Kurzgeschichten bevorzugst<br />
und schreibst. Ist das immer<br />
noch der Stand der Dinge, oder<br />
hast Du inzwischen mal daran<br />
gedacht, einen Roman zu verfassen?<br />
Oder gar etwas ganz anderes?<br />
Frank Hebben: Tatsächlich breite<br />
ich mich gerade aus, was sich<br />
nicht allein auf mein aktuelles<br />
Kampfgewicht beschränkt, heul,<br />
sondern meine Texte sind tatsächlich<br />
größer geworden, im<br />
Sinne von: komplexer. Schwieriger.<br />
Josefson vom standard.at hat<br />
über mich geschrieben: „Denn<br />
trotz aller Begeisterung über Erzählungen<br />
wie ‚Kinder der großen<br />
Maschine‘ oder ‚Zeit der<br />
Asche #Rheingold‘ ist biomechanoider<br />
Wahnsinn nur an der<br />
Oberfläche das typische Hebben-<br />
Element; in Wirklichkeit ist es<br />
die erzählerische Reduktion aufs<br />
Wesentliche.“<br />
Darum geht es mir: jedes Wort<br />
an die richtige Stelle zu setzen.<br />
Oder, wie Christian Günther es<br />
so hübsch ausgedrückt hat:<br />
„Hebben feilt an jedem Wort, bis<br />
es weg ist.“ Daran arbeite ich<br />
hart: komplexe Handlungen runterzudestillieren,<br />
um maximale<br />
Wirkung beim Lesen zu erzielen.<br />
Wenn man den ganzen Ballast<br />
abwirft, hat man danach viel<br />
Platz für Details – das reicht<br />
zwar nicht für einen Roman, aber<br />
eine längere Erzählung kriege ich<br />
so hin.<br />
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51
_______________________________________________________________________________________________<br />
PHANTAST: Würdest Du sagen,<br />
dass Kurzgeschichten zu schreiben<br />
mehr Kreativität und Phantasie<br />
erfordert, weil der Autor<br />
von Kurzgeschichten sich ständig<br />
einen neuen Plot, ein anderes<br />
Szenario einfallen lassen muss,<br />
während der Roman-Autor eine<br />
Weile an einer Idee festhalten<br />
kann.<br />
Frank Hebben: Vor allem mehr<br />
Können. Kurzgeschichten, die<br />
eine Resonanz, einen Nachhall<br />
im Kopf erzeugen, sind selten –<br />
und schwer zu schreiben. Man<br />
kann es nicht erzwingen. Anders<br />
als bei einem Roman, bei dem<br />
man Plotstrukturen wie die Heldenreise<br />
oder den Drei- oder<br />
Fünfakter schamlos anwenden<br />
kann und bei denen auf den ersten<br />
dreißig, vierzig Seiten erst<br />
mal gar nicht viel passieren<br />
muss, leben (!) Kurzgeschichten<br />
von guten Protagonisten, die<br />
sofort fesseln, von einer genialen<br />
Idee – oder eben vom guten<br />
Schreibstil. Ich bastle derzeit an<br />
einer neuen Erzählung, die in der<br />
freien Natur spielt, genauer: Eine<br />
Frau stapft seitenlang durch den<br />
Wald. Interessant? Kommt drauf<br />
an! Das kann man eben mit gutem<br />
Stil hinkriegen, so eine Hintergrundspannung,<br />
eine ‚Tension‘<br />
mitaufbauen, die zwischen<br />
den Zeilen schwebt. Form<br />
follows function. Thematisch<br />
jetzt mehr so: Stalker, Picknick<br />
am Wegesrand. Alles noch recht<br />
wacklig, aber ich glaube, ich<br />
krieg’s hin.<br />
PHANTAST: Hast Du Schreibrituale?<br />
So etwas wie zu einer bestimmten<br />
Tages- oder Nachtzeit<br />
zu schreiben, eine passende Musik<br />
zur Szene zu hören. Oder<br />
schreibst Du ablenkungsfrei in<br />
vollkommener Klausur, allein,<br />
nur Du, Dein Schreibwerkzeug<br />
und die Story?<br />
Frank Hebben: Anders als meine<br />
Kollegen komponiere ich meine<br />
Texte: Ich nehme Beschreibungen,<br />
die Dialoge, die ich schon<br />
vorher aufgeschrieben habe, und<br />
niete sie zusammen. Ich führe<br />
immer ein Notizbuch mit mir, in<br />
das ich jeden Tag neue (Halb-)<br />
Sätze reinschreibe – an der Bushaltestelle,<br />
im Supermarkt.<br />
Überall. Und dann ins Dokument<br />
abtippe, das nach Szenen<br />
geordnet ist. Dafür brauche ich<br />
keine Extra-Software: Die losen<br />
Überschriften, die Suchfunktion<br />
reichen mir.<br />
PHANTAST: Das Vorwort zu<br />
Maschinenkinder hat Myra Ҫakan<br />
geschrieben und erwähnt, dass<br />
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52
_______________________________________________________________________________________________<br />
Du gern über Friedhöfe und<br />
durch verlassene Gemäuer<br />
streifst. Ist das ein Ausgleich für<br />
Dich zu den apokalyptischen<br />
Welten in Deinem Kopf? Oder<br />
dient es der Ideenfindung?<br />
Frank Hebben: Ha! Tatsächlich<br />
war ich letzte Woche noch auf<br />
dem Johannisfriedhof in Bielefeld,<br />
bewaffnet mit Kamera und<br />
Stativ, um die holden Grabstatuen<br />
zu fotografieren. Graues<br />
Wetter, leider. Wenn ich fotografiere,<br />
bin ich ‚ganz bei der Sache‘,<br />
ohne zu denken – anders beim<br />
Marsch durch den Teutoburger<br />
Wald: Da kommen die Ideen<br />
automatisch. Vielleicht auch zu<br />
viel Sauerstoff.<br />
PHANTAST: In Deinen Dark-<br />
Industrial- und Cyberpunk-<br />
Geschichten schickst Du zumeist<br />
gebrochene Figuren in verwüstete<br />
und menschenfeindliche Welten,<br />
in ein Abenteuer mit ungewissem,<br />
meist üblen Ende. Könntest<br />
Du trotzdem eine Welt nennen,<br />
in der Du gern mal einen<br />
Tag verbringen würdest? Oder<br />
eine Figur, in deren Haut (sofern<br />
vorhanden) Du mal schlüpfen<br />
würdest?<br />
Frank Hebben: Ich habe – als<br />
Kontrapunkt – den „Algorithmus<br />
des Meeres“ geschrieben:<br />
eine Dystopie, die, für mich, aber<br />
eine Utopie ist: eine Kommune<br />
aus schrägen Typen, die ein gemeinsames<br />
Schicksal teilen,<br />
künstlerisch oder handwerklich<br />
begabt sind, aufeinander achtgeben.<br />
Obwohl es kein fließendes<br />
Wasser gibt. Und alles verfällt.<br />
Da würde ich sehr gerne leben.<br />
Denke ich wohl.<br />
PHANTAST: Die Story<br />
„Schwarz-Weiß“ ist recht deutlich<br />
als Parabel zum Thema Rassismus<br />
erkennbar. Die Gründe<br />
für Rassismus sucht man ja oft in<br />
Emotionen wie Angst oder Neid.<br />
Nun hast du dieses Thema auf<br />
Roboter übertragen und bewusst<br />
darauf geachtet, ihnen keine<br />
Emotionen anzudichten. Sollte<br />
eine Message der Story sein, dass<br />
Rassismus einfach die Folge eines<br />
fehlerhaften Denkprozesses<br />
ist?<br />
Frank Hebben: Es gibt einen<br />
coolen Spruch hierzu: „Ich bin<br />
kein Rassist, ich hasse alle Menschen.“<br />
Das ist ehrlich. Warum?<br />
Weil es alle Menschen auf eine<br />
Linie setzt. Genauso könnte man<br />
sich bewusst machen, dass alle<br />
Menschen – oder eben Roboter<br />
als ihr Spiegelbild – körperlich<br />
und geistig soweit gleich sind,<br />
ohne jetzt die ehernen Menschenrechte<br />
daraus ableiten zu<br />
wollen – hier: „Die Abweichung<br />
lag an der hastig programmierten<br />
Konstruktionsmatrix, spielte<br />
aber für die Funktionalität der<br />
Roboter keine Rolle; ihr Innenleben,<br />
Lichtgehirn und Mechanik,<br />
war absolut identisch.“<br />
Somit, ja: Es ist ein fehlerhafter<br />
Denkprozess, der Gleiches verschieden<br />
macht. Oder, auch ein<br />
schönes Zitat: „Gesetzt den Fall,<br />
wir würden eines Morgens aufwachen<br />
und feststellen, dass<br />
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53
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plötzlich alle Menschen die gleiche<br />
Hautfarbe und den gleichen<br />
Glauben haben, wir hätten garantiert<br />
bis Mittag neue Vorurteile.<br />
[Georg Christoph Lichtenberg]<br />
Darum geht es in<br />
„Schwarz-Weiß“. Um wissenschaftliche<br />
Scheinargumente, die<br />
zur Katastrophe führen.<br />
PHANTAST: In „Elysian“ geht<br />
es darum, dass in einer Reality-<br />
TV-Spielshow Kandidaten Körperteile<br />
als Pfand setzen und<br />
amputieren lassen, wenn sie verlieren.<br />
2004 war das Format Reality-TV<br />
noch vergleichsweise<br />
neu, es hat sich mit den Jahren in<br />
die unterschiedlichsten Richtungen<br />
entwickelt. Warst Du damals<br />
schon der Meinung, dass diese<br />
Art von Shows immer bizarrere<br />
Formen annehmen werden? Und<br />
wie beurteilst Du diese Shows<br />
heute?<br />
Frank Hebben: Da sind der<br />
Phantasie wohl keine Grenzen<br />
gesetzt: Running Man, Die Tribute<br />
von Panem oder eben auch „Elysian“:<br />
„[..] für Geld tut jeder alles!<br />
Das sollten Sie am besten<br />
wissen, Schäfer. Das erleben Sie<br />
gleich hautnah … Machen Sie<br />
mich stolz.“ Ich kann mir diese<br />
Shows nicht angucken. Da ist zu<br />
viel Fremdschämen mit im Spiel<br />
bei mir. Finde sie auch langweilig.<br />
Habe auch gar keine Glotze<br />
mehr. Und das ist gut so.<br />
PHANTAST: „Schwarzfall“ ist<br />
die neueste Geschichte und die<br />
einzige, die nur in der Anthologie<br />
Maschinenkinder veröffentlicht<br />
wurde. Das Setting erinnert an<br />
Steampunk. Der Handlungszeitraum<br />
könnte das frühe 20. Jahrhundert<br />
sein, und in der Story<br />
wird die Tesla-Spule (zwar kein<br />
Dampf, aber trotzdem auch ein<br />
beliebtes Steampunk-Element)<br />
zum fast gottgleichen Fortschrittsmotor<br />
erhoben. Hast du<br />
Dich ein wenig vom Steampunk-<br />
Hype mitreißen lassen und diese<br />
literarische Richtung öfter eingeschlagen?<br />
Frank Hebben: Ein Wort: Teslapunk!<br />
Wobei alles mit *.punk<br />
cool klingt. Arbeite noch an einer<br />
Kartoffelpunk-Anthologie; es<br />
geht um Kartoffeln. Und nein,<br />
ich habe das Thema Steampunk<br />
für mich in der Geschichte „Kinder<br />
der großen Maschine“ bereits<br />
abgehandelt: eine Tour de Force<br />
durch die industrielle Revolution,<br />
mit Maschinenengeln, Zahnrädern,<br />
Webstühlen und Schafen.<br />
Ich liebe sie. Aber so richtig<br />
steampunkig ist die auch nicht.<br />
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_______________________________________________________________________________________________<br />
PHANTAST: Wir treffen in der<br />
Anthologie Maschinenkinder auf<br />
einige Mensch-Roboter-Hybride.<br />
Oder auf Menschen, die jegliche<br />
Menschlichkeit eingebüßt haben,<br />
beziehungsweise auf Maschinen,<br />
die menschlich erscheinen. Die<br />
Beschaffenheit der ‚Künstlichen<br />
Intelligenz‘ ist immer wieder<br />
Thema in Deinen Geschichten.<br />
Hältst Du es für möglich, dass<br />
KI-Systeme irgendwann eine Art<br />
emotionale Intelligenz haben,<br />
wie zum Beispiel der Automat in<br />
„Brause“?<br />
Frank Hebben: Haben wir doch<br />
schon: Siri! Also fast. Das liegt<br />
wohl daran, dass wir Menschlein<br />
alles empathisch aufladen müssen.<br />
Es gibt eine Doku: „Marsroboter<br />
– Totgesagte leben länger“;<br />
oder der US-Soldat, der geheult<br />
hat, weil seine Drohne abgestürzt<br />
ist.<br />
Das Problem beginnt, wenn<br />
Computer diese Schwachstelle,<br />
diesen menschlichen Exploit<br />
ausnutzen, um uns zu hacken:<br />
Ich bin süß; hab mich lieb!<br />
PHANTAST: Virtuelle Realitäten<br />
ziehen sich durch viele Deiner<br />
Geschichten, in Maschinenkinder<br />
beispielsweise in „Das<br />
Lichtwerk“ und „Machina“. Die<br />
Handlung in „Machina“ kann<br />
man fast schon auf unseren Alltag<br />
übertragen, denn wir sind<br />
inzwischen den ganzen Tag, in<br />
fast jeder Lebenslage online. Sag,<br />
Frank, wie viel Realität außerhalb<br />
des VR brauchen wir eigentlich<br />
noch?<br />
Frank Hebben: Keine. Und jede.<br />
Dadurch, dass ich Computerspiele<br />
wie The Vanishing of Ethan<br />
Carter anschaue, ja: Im Let’s Play<br />
– ich lasse zocken! – habe ich ein<br />
schärferes Auge für unsere Wirklichkeit<br />
gewonnen; die Steine am<br />
Boden, die Zigarette, weggeworfen,<br />
ein Stoppschild. Oder auch:<br />
Das Leben ist doof, aber die Grafik<br />
ist geil!<br />
Diese kleinen Details machen die<br />
Welt so real. Pars pro toto. Nicht<br />
nur in Büchern oder Spielen –<br />
auch ganz in echt. Dass die festgefügte<br />
Realität vielleicht gar<br />
nicht existieren muss, wissen wir<br />
von Philip K. Dick; und während<br />
die Wissenschaftler sich über zigdimensionale<br />
Hologramm-<br />
Universen zanken, schaue ich<br />
mir lieber die nächste Spiele-<br />
Folge auf YouTube an, gerne<br />
auch bei Gronkh.<br />
PHANTAST: Erinnerungen als<br />
gespeicherte Daten, abrufbar<br />
auch nach der Apokalypse, das<br />
ist ein Thema in „Côte Noir“.<br />
Auch das ist nicht mehr so weit<br />
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_______________________________________________________________________________________________<br />
hergeholt, denn wir vertrauen<br />
heute Tagebucheintragungen,<br />
Bilder, Videos, einfach alles, was<br />
unser Leben dokumentiert, dem<br />
Computer und dem Internet an.<br />
Was wird Deiner Meinung nach<br />
aus unserer Zeit in 500 Jahren<br />
noch erhalten sein? Alles oder<br />
viel weniger als aus der Vergangenheit,<br />
in der wichtige Daten<br />
und Ereignisse auf Schriftstücken<br />
festgehalten wurden, die zum<br />
Teil Jahrhunderte überdauert<br />
haben?<br />
Frank Hebben: Da könnte man<br />
jetzt trennen zwischen Wissenschaft<br />
– und Kunst, Letztere gerade:<br />
Bilder, Bücher, Filme, Musik,<br />
alles in seltsamer Dauerschleife,<br />
oszillierend zwischen<br />
den alten Epochen, ohne etwas<br />
wirklich Neues zu schaffen;<br />
schlimmstenfalls: Leuchtreklame<br />
mit sinnreichen Sprüchen für<br />
3000 Euro aufwärts – *schauder*.<br />
Hauptsache verkaufen! Achtzigerjahre,<br />
Neunzigerjahre, dann<br />
wieder die Sechziger. Und wieder<br />
von vorne. Wobei ich nicht<br />
so laut rumkrakeelen sollte, weil<br />
ich mit meinen Cyberpunk-<br />
Storys auch irgendwie knietief in<br />
den Achtzigern festhänge. Egal.<br />
Dieser ganze Plunder darf gerne<br />
unter einer meterdicken Schicht<br />
aus radioaktivem Wüstensand<br />
begraben liegen – das braucht<br />
kein Mensch! Und auch kein Affe<br />
mit Knochenkeule.<br />
Wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
werden, so hoffe ich, erhalten<br />
bleiben, vielleicht auf einem<br />
staubigen USB-Stick oder in einer<br />
uralten Datenbank, während<br />
die Zombies an den Scheiben<br />
kratzen. Und, so hoffe ich, auch<br />
ein vages Gefühl von Religion;<br />
dass man eben mehr ist als die<br />
Summe seiner Teile: das Staunen,<br />
die Sterne, der Kosmos. Gott.<br />
PHANTAST: Wir haben 2008<br />
auch über Deine Weltsicht gesprochen,<br />
und Du meintest, dass<br />
einem bei der Betrachtung der<br />
Menschheitsgeschichte sterbenselend<br />
zumute wird. Wenn Du<br />
heute in die Zeitung oder die<br />
Nachrichten schaust, wovon<br />
wird Dir schlecht? Und wie wird<br />
dies in Deine zukünftigen Geschichten<br />
einfließen?<br />
Frank Hebben: Ich bin Misanthrop;<br />
Pessimist. Ich glaube – und<br />
nein, ich kann es nicht beweisen<br />
– dass Menschen letztlich für<br />
ihren eigenen Vorteil handeln.<br />
Immer. Bei reinem Altruismus,<br />
bei Nächstenliebe bin ich also<br />
extrem skeptisch. Aber jeder, wie<br />
er will.<br />
PHANTAST: Eine Moral<br />
schimmert zwischen den Zeilen<br />
Deiner Geschichten stets hervor,<br />
doch oft auch eine politische<br />
Message. Wie der Aufruf zum<br />
Widerstand gegen die Tyrannei<br />
eines unmenschlichen, totalitären<br />
Systems, zum Beispiel in „Outage“<br />
oder auch „Krematorium“.<br />
Wie politisch darf oder sollte<br />
Cyberpunk aus Deiner Sicht<br />
sein?<br />
Frank Hebben: So politisch wie<br />
möglich! Ich habe heute die letzte<br />
Folge vom Mr. Robot gesehen:<br />
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_______________________________________________________________________________________________<br />
Das ist es! Little Brother ist es,<br />
und The Circle ist es – George<br />
Orwell würde sich im Grab umdrehen!<br />
Und er tut es sicher<br />
auch.<br />
PHANTAST: Cyberpunk-<br />
Geschichten sind naturgemäß<br />
mit einer Fülle futuristischer<br />
Technik durchsetzt: Maschinenmenschen,<br />
KIs, virtuelle Welten,<br />
Maschinenwelten. Jetzt mal ganz<br />
ehrlich, wie viel Prozent Nerd<br />
muss man sein, um Deine Geschichten<br />
zu verstehen? Und wie<br />
viel Prozent Nerd, sie zu schreiben?<br />
Frank Hebben: Ich bin weder<br />
Nerd noch Geek – und finde diese<br />
Begriffe mittlerweile recht<br />
albern, weil wir doch alle – zwei,<br />
drei Generationen – mit Computern<br />
aufgewachsen sind. Hipsterbrille<br />
auf, langer Bart? Oder<br />
ganz neu: geflochtene Haare bei<br />
Männern. ARGH! Hauptsache<br />
schlau aussehen. Oder schräg.<br />
Und im Hirnkasten flimmern<br />
dann doch die Logos von irgendwelchen<br />
Markenprodukten<br />
und die neue Soap auf RTL2 –<br />
„In leeren Höhlen haust das<br />
Grauen“ ist ein beliebter Spruch<br />
von meinem Vater.<br />
So sieht es dann wohl also aus<br />
bei dieser Generation Nerd: coole<br />
Haltung, keine Ahnung! Ich habe<br />
letzten Monat die 40 geknackt,<br />
ich darf über alles ablästern, was<br />
nach mir so kommen mag …<br />
Helfen Sie mir bitte über die<br />
Straße.<br />
In meinen Geschichten kommen<br />
die gängigen Cyberpunk-<br />
Themen vor, von VR-Helmen,<br />
Hackern und Graffiti runter bis<br />
zur Neonröhre – wobei Niklas<br />
Peinecke jetzt und hier aus dem<br />
Off rufen würde: „Das ist ‘ne<br />
Leuchtstoffröhre, Alter!“<br />
Also: schön retro alles. Gab es in<br />
den Achtzigern, gibt es auch bei<br />
mir. Da braucht man kein großes<br />
Vorwissen für. Kam sicher auch<br />
letztens noch in einem Hollywood-Blockbuster<br />
vor. Mir geht<br />
es mehr darum, diese Versatzstücke<br />
zu nehmen und daraus<br />
etwas ganz Neues zu schaffen:<br />
eine interessante Variation, die<br />
trotzdem anders ist. Und hoffentlich<br />
schön düster!<br />
PHANTAST: Deine Geschichten<br />
enden fast immer im Chaos, im<br />
Tod, in der Zerstörung. Hattest<br />
Du je das Bedürfnis, mal eine<br />
Geschichte zu schreiben, in der<br />
die Welt gerettet wird? Oder gibt<br />
es eine solche?<br />
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Frank Hebben: Im „Algorithmus“<br />
wird die Welt gerettet.<br />
Happy End. Gott sei Dank! Gut,<br />
auch nicht so wirklich.<br />
PHANTAST: Welche Bücher/Anthologien<br />
sind von Dir<br />
in letzter Zeit auf den Markt gekommen<br />
beziehungsweise kommen<br />
in nächster Zeit?<br />
Frank Hebben: Von mir nicht<br />
sehr viel. Wie gesagt: Ich komponiere<br />
meine Texte, und das<br />
dauert seine Zeit. Hier die aktuelle<br />
Liste:<br />
Prothesengötter (SF-Storys) (2008)<br />
Maschinenkinder (SF-Storys)<br />
(2012)<br />
Das Lied der Grammophonbäume<br />
(Storys, Phantastik) (2013)<br />
Oubliette (Gedichte) (2014)<br />
Der Algorithmus des Meeres (Erzählung)<br />
(2015)<br />
Nächstes Jahr kommt GAMER<br />
bei Begedia heraus, eine SF-<br />
Anthologie, bei der ich – als Mit-<br />
Herausgeber – wie gewohnt die<br />
Grafikredaktion übernommen<br />
habe. Darin ist auch eine Geschichte<br />
von mir enthalten. Es<br />
geht um Computerspiele, auch<br />
viel Retro mit dabei, und: Sie<br />
wird geil! Bitte einmal vormerken.<br />
Danke.<br />
Und vielen Dank für deine Fragen.<br />
PHANTAST: Ich danke für Deine<br />
konkreten Antworten. Es war<br />
mir wieder einmal ein Vergnügen.<br />
Autorenhomepage:<br />
www.schwarzfall.de<br />
Frank Hebben, 1975 in Neuss geboren. Neuromancer, Werbetexter; Technischer<br />
Redakteur (tekom) und Magister der Germanistik/Philosophie. Hat<br />
jahrelang in Düsseldorf zwischen Kunst und Chaos gehaust, lebt nun friedlich<br />
und frei in Bielefeld.<br />
Veröffentlichungen in der c’t, in NOVA, EXODUS, Space View, phantastisch!,<br />
ALIEN CONTACT und diversen Anthologien. Seine erste Story-Sammlung<br />
Prothesengötter ist 2008 bei Wurdack erschienen. Band 2, die Maschinenkinder,<br />
2012 im Shayol-Verlag. Seitdem auch für Begedia aktiv, sowohl als<br />
Herausgeber – Fieberglasträume. Tiefraumphasen – aber auch schriftstellerisch<br />
mit Das Lied der Grammophonbäume und Oubliette, zwei neuen Büchern,<br />
die mehr schwarzromantisch sind als elektrische Ekstase. Im September<br />
2015 dann meine erste, längere Erzählung: „Der Algorithmus des<br />
Meeres“.<br />
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Maschinenkinder<br />
Eine Rezension von Eva Bergschneider<br />
Autor: Frank Hebben<br />
Verlag: Shayol Verlag (2009)<br />
Genre: Science Fiction / Cyberpunk<br />
/ Kurzgeschichten<br />
Taschenbuch<br />
220 Seiten, 16,90 EUR<br />
ISBN: 978-3943279078<br />
Frank Hebben schreibt überwiegend<br />
Dark Industrial und Cyberpunk,<br />
gelegentlich auch<br />
Steampunk und Science-Fiction-<br />
Kurzgeschichten, die überwiegend<br />
in Magazinen wie c’t, NO-<br />
VA, Exodus, Space View und phantastisch!<br />
veröffentlicht werden.<br />
Verschiedene Anthologien bereicherte<br />
Frank Hebben mit seinen<br />
Storys oder fungierte als deren<br />
Herausgeber.<br />
Im Jahr 2008 veröffentlichte der<br />
Wurdack-Verlag seine erste eigene<br />
Story-Sammlung Prothesengötter,<br />
die in der Science-Fictionund<br />
Cyberpunk-Szene gefeiert<br />
wurde. So erhielten die Beiträge<br />
„Imperium Germanicum“, „Das<br />
Fest des Hammers ist der<br />
Schlag“ und „Memories“ Nominierungen<br />
für den Deutschen<br />
Science-Fiction Preis beziehungsweise<br />
den Deutschen<br />
Phantastik Preis.<br />
„Cȏte Noir“ ist eine Story aus<br />
Frank Hebbens hier besprochenem<br />
zweiten Kurzgeschichten-<br />
Band Maschinenkinder, der 2012<br />
vom Shayol-Verlag veröffentlicht<br />
wurde. Die Story wurde 2009<br />
gleichzeitig für den Kurd Laßwitz<br />
Preis, den Deutschen Science-Fiction<br />
Preis und den Deutschen<br />
Phantastik Preis nominiert.<br />
Inzwischen publizierte der<br />
Begedia-Verlag zwei weitere<br />
Anthologien des Autors, 2013<br />
Das Lied der Grammophonbäume<br />
und im September 2015 Der Algorithmus<br />
des Meeres.<br />
Maschinenkinder beschreibt, wie<br />
der Titel schon vermuten lässt,<br />
Welten und Lebensräume, in<br />
denen der Mensch mehr oder<br />
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weniger zur Maschine geworden<br />
ist beziehungsweise sich die Maschine<br />
nicht wesentlich vom<br />
Menschen unterscheidet. In diesem<br />
Spannungsfeld spielen sich<br />
düstere, verwirrende und zum<br />
Teil surreale Szenen ab, die mehr<br />
Fragen aufwerfen als beantworten.<br />
Wer nette, erheiternde und in<br />
sich abgeschlossene Geschichten<br />
bevorzugt, ist bei Frank Hebben<br />
definitiv an den falschen Autor<br />
geraten. Wer aber gern über den<br />
Tellerrand hinaus liest und sinniert,<br />
hinterfragt, Hypothesen<br />
verwirft und vielleicht erst auf<br />
den zweiten Blick versteht, dem<br />
sei die Lektüre des Autors schon<br />
an dieser Stelle wärmstens empfohlen.<br />
Auf was sich der Leser,<br />
der dieser Empfehlung folgt,<br />
einlässt, erfahrt ihr im Folgenden.<br />
In „Das Lichtwerk“ umgibt die<br />
Immernacht die jugendlichen<br />
Überlebenskünstler Paul und<br />
Lisa und den Veteranen Rhombus.<br />
Ihr Lebensraum befindet<br />
sich unter einer verdreckten,<br />
dunklen Glaskuppel. Tagsüber<br />
durchsucht Paul die Reste der<br />
Hafenstadt nach allem, was<br />
Rhombus für den Bau eines<br />
Lichtwerks gebrauchen kann.<br />
Denn des Nachts dringen Gefahren<br />
aus einer anderen Welt in die<br />
Immernacht, derer sie sich erwehren<br />
müssen. Doch wie konnte<br />
es so weit kommen?<br />
„Lichtwerk“ ist zunächst eine<br />
bodenständige postapokalyptische<br />
Cyberpunk-Story. Wir folgen<br />
den Protagonisten durch die<br />
Gefahren ihres Alltags und erfahren<br />
von Rhombus, wie diese<br />
Welt zu dem wurde, was sie ist.<br />
Zum Ende prägen diese Geschichte<br />
zunehmend surreal anmutende<br />
Szenen und Bilder, die<br />
das vom Leser zusammengesetzte<br />
Weltbild in Frage stellen.<br />
Vor dem „Schwarzfall“ kommen<br />
mit den Teslaspulen die industrielle<br />
Revolution und der Wandel<br />
zu einer Gesellschaft der Prothesenmenschen.<br />
Alles, was der<br />
Dame oder dem Herrn an ihrem<br />
oder seinem Körper missfällt,<br />
wird durch Prothesen ersetzt.<br />
Doch dann fällt der Strom aus,<br />
und die Annehmlichkeiten der<br />
Technik bleiben den Menschen<br />
monatelang versagt.<br />
Die Story „Schwarzfall“ lehnt<br />
sich deutlich an das Steampunk-<br />
Genre an, das sich gern der Tesla-Energie<br />
bedient und häufig im<br />
deutschen Kaiserreich spielt.<br />
Mittlerweile verwendet man allerdings<br />
auch den Begriff Tesla-<br />
Punk für Geschichten, die sich<br />
dieser Theorie bedienen. Frank<br />
Hebben zeichnet den Verfall einer<br />
von Technik abhängigen Gesellschaft.<br />
Und erzählt mit sarkastischem<br />
Unterton, was passiert,<br />
als scheinbar Rettung naht.<br />
Der junge Maurice lebt in seiner<br />
virtuellen Computerwelt „Machina“.<br />
Hier kann er kreativ sein,<br />
ist einfach er selbst. Seine<br />
Schwester Sophie zwingt ihn<br />
regelmäßig, in die reale Welt<br />
zurückzukehren. Bis eines Tages<br />
ein Unglück geschieht.<br />
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„Machina“ ist eine der emotionalsten<br />
Geschichten, denn der<br />
Leser kann die Wut und die<br />
Sehnsucht beider Charaktere<br />
nachempfinden. Ihr turning point<br />
verändert die Atmosphäre jedoch<br />
in unerwarteter Weise.<br />
Obwohl „Machina“ in der Form<br />
der Kurzgeschichte das genaue<br />
Gegenteil zu Tad Williams' opulenter<br />
Tetralogie zu sein scheint,<br />
erinnert sie an Orlandos Geschichte<br />
aus Otherland. „Machina“<br />
vermittelt eine ähnliche Gefühlsmischung<br />
aus Verträumtheit<br />
und Trauer.<br />
In „Elysian“ ist Cyrill Schäfer<br />
Quizmaster einer TV-Show, in<br />
der Kandidaten, die Geld brauchen,<br />
ihre Körperteile verwetten,<br />
um zu gewinnen. Wer eine Wettrunde<br />
verliert wird live amputiert.<br />
Ein Zwischenfall stört den<br />
üblichen Ablauf der Show empfindlich.<br />
„Elysian“ mag ein wenig an den<br />
Plot aus Die Tribute von Panem<br />
erinnern, entstand allerdings<br />
Jahre vor dem Bestseller von<br />
Suzanne Collins. Vielmehr stellt<br />
„Elysian“ einen satirischen Gegenentwurf<br />
zu einer Dystopie<br />
dar.<br />
Im Erscheinungsjahr 2004 ging in<br />
Deutschland gerade Big Brother<br />
in die fünfte Staffel, die Lebensbereiche<br />
„Arme“, „Normale“<br />
und „Reiche“ wurden für die<br />
Kandidaten eingerichtet. Heute<br />
sehen wir finanziell angeschlagenen<br />
Möchtegern-Promis beim<br />
Verzehr von Käfern zu. Es stellt<br />
sich damals wie heute die Frage,<br />
wie weit unsere TV-Landschaft<br />
noch von dem in „Elysian“ beschriebenen<br />
menschenverachtenden<br />
Szenario entfernt ist.<br />
In „Byte the Vampire“ lockt das<br />
Mädchen Popcorn Junkies an,<br />
die im Kopf I/O-Buchsen für den<br />
Eintritt in virtuelle Welten implantiert<br />
haben. Ihr Boss Raven<br />
missbraucht sie für einen speziellen,<br />
grausamen Trip.<br />
„Byte the Vampire“ ist die vielleicht<br />
typischste Cyberpunk-<br />
Story in der Anthologie Maschinenkinder.<br />
Bilder aus virtuellen<br />
Spielewelten treffen auf Drogenphantasien<br />
und in Neonlicht<br />
getauchte Asphaltwüsten. Lässigkeit<br />
zeichnet die Sprache aus.<br />
Trotz des düsteren Ambientes<br />
und Themas könnte es sich auch<br />
um eine flippige Coming-of-Age-<br />
Geschichte handeln.<br />
Der Atomkrieg hat ein Paradies<br />
zerstört, die Cȏte Azur hat sich<br />
in die „Cȏte Noir“ verwandelt.<br />
Migränegeplagt und mit rudimentärer<br />
Erinnerung rast Gabriel<br />
auf seinem Motorrad die Küstenstraßen<br />
Südfrankreichs entlang.<br />
Irgendwo in einem Labor oder<br />
auf einem Militärgelände befinden<br />
sich Datenträger mit seinen<br />
Erinnerungen und dem Schlüssel<br />
zu der Katastrophe.<br />
„Cȏte Noir“ spielt in einem typischen<br />
postapokalyptischen Setting,<br />
garniert mit ein wenig obskurer<br />
Religion und KI-<br />
Biotechnologie. Das Rätsel, wer<br />
Gabriel ist und wie es zu der<br />
Apokalypse kam, steht im Mittelpunkt.<br />
Die vergleichsweise<br />
lange Geschichte (36 Seiten) lockt<br />
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den Leser auf einige falsche<br />
Fährten, bevor sie auf das ernüchternde<br />
Finale zusteuert. Auf<br />
eine Ende, das zwar nicht vollkommen<br />
überrascht, aber trotzdem<br />
erschüttert.<br />
In „Schwarz-Weiß“ fertigen Fabriken<br />
auf einem Mond Roboter,<br />
die wiederum Kampfschiffe erbauen.<br />
Eine der Roboterfabriken<br />
produziert schwarze Roboter mit<br />
einem weißen Arm, eine andere<br />
weiße Roboter mit einem<br />
schwarzen Arm. Für die Funktionalität<br />
und Leistung des Roboters<br />
spielt die uneinheitliche<br />
Farbgebung keine Rolle.<br />
„Schwarz-Weiß“ ist eine eindrucksvolle<br />
Parabel zum Thema<br />
Rassismus. Sie beschreibt Ereignisketten<br />
und Konsequenzen, die<br />
den Leser überraschen, obwohl<br />
oder gerade weil sie vollkommen<br />
naheliegend und schlüssig sind.<br />
Eine einfach gehaltene, lineare<br />
Sprache unterstreicht die Unausweichlichkeit<br />
der Entwicklung.<br />
In „Outage“ ist für Singh, Bewohner<br />
einer Zukunftsstadt im<br />
Ruhrgebiet, der entscheidende<br />
Tag gekommen: „Ich sehe aus, wie<br />
ein verdammter Messias-Abklatsch.<br />
[...] Aber glaubt mir, ich bringe<br />
Euch nicht den Frieden.“ [S. 188]<br />
Setzt der Junkie die Revolution<br />
gegen ein System in Gang, das<br />
jeden Lebensbereich seiner Bürger<br />
kontrolliert?<br />
Ähnlich wie in „Byte the Vampire“<br />
spielt „Outage“ im Betondschungel<br />
einer typischen Cyberpunk-Metropole.<br />
Allgegenwärtig<br />
sind TV-Bildschirme, auf denen<br />
rund um die Uhr „Breaking<br />
News“ gesendet werden. Von<br />
einem Moment zum anderen<br />
fällt der Strom aus. Was sich tatsächlich<br />
im Dunkeln abspielt,<br />
wird erst ganz am Ende klar.<br />
Diese Geschichte haben drei Autoren<br />
geschrieben, neben Frank<br />
Hebben Thorsten Küper und<br />
Uwe Post. Das merkt man der<br />
Schreibe nicht an, denn die<br />
Handlung in „Outage“ wird von<br />
vier Ich-Erzählern geschildert,<br />
deren Rollen sicherlich auf die<br />
Autoren verteilt wurden.<br />
Die Verschiedenartigkeit der<br />
abwechselnd auftretenden Protagonisten<br />
wird schnell offensichtlich,<br />
ihre Motive bleiben<br />
zunächst rätselhaft. Bis zum<br />
spektakulären Showdown.<br />
Ein Wesensmerkmal der Literaturgattung<br />
Kurzgeschichte – die<br />
Schnelllebigkeit – steht in vielen<br />
von Frank Hebbens Geschichten<br />
in Maschinenkinder im Vordergrund.<br />
Man erfährt kaum etwas<br />
über die Vorgeschichte der Protagonisten.<br />
Oder darüber, wie<br />
ihre Lebenswelten, ob alternativ,<br />
virtuell oder im Weltraum, zu<br />
dem wurden, was sie sind.<br />
Es ist oft nur ein kurzer Blick,<br />
den der Leser auf die Szenerie<br />
wirft, doch der ist dafür umso<br />
intensiver. Ob in grellen Farben<br />
schillernd oder in dunkelste Tristesse<br />
getaucht, die Schauplätze,<br />
Handlungen und Emotionen<br />
erzeugen nachhaltige Bilder im<br />
Kopf des Lesers. Die Detailgenauigkeit<br />
der Beschreibungen<br />
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geht oft über das hinaus, was<br />
man als „angenehm lesbar“ bezeichnen<br />
möchte. Doch genau<br />
das verleiht diesen Storys ihren<br />
Kick, einen Tiefgang, den viele<br />
weitaus umfassendere Werke oft<br />
vermissen lassen.<br />
Ein häufiges Motiv der Geschichten<br />
ist die Einsamkeit der Protagonisten<br />
– Mensch, Maschine<br />
oder beides – in der technisierten<br />
Welt.<br />
Die Menschen sind ihrer<br />
Menschlichkeit beraubt, während<br />
die Maschinen Freude,<br />
Trauer, Verzweiflung und Wut<br />
empfinden, gar ein Gewissen<br />
haben. Sie kämpfen einen verzweifelten<br />
Kampf, den sie nicht<br />
gewinnen können. Sie begeben<br />
sich auf eine Queste, die allenfalls<br />
zu einer Verschnaufpause<br />
im Zerfallsprozess oder direkt<br />
ins Verderben führt. Ein unmittelbares<br />
oder zumindest langfristiges<br />
Systemversagen ist oft die<br />
Folge ihrer Aktionen, geschieht<br />
manchmal aber auch ohne jegliches<br />
Zutun.<br />
So vielfältig und ideenreich wie<br />
ihre Schauplätze und Figuren ist<br />
auch die Sprache, mit der die<br />
Geschichten erzählt werden. Von<br />
lakonisch-rudimentär über sarkastisch<br />
oder trashig bis hin zu<br />
überschwänglich bildhaft –<br />
Frank Hebben hat ein feines Gespür<br />
dafür, welche Stilelemente<br />
am wirkungsvollsten die Atmosphäre<br />
unterstreichen und prägen.<br />
Und so sind diese Kurzgeschichten<br />
in der Anthologie Maschinenkinder,<br />
genauso wie die der Prothesengötter,<br />
ungemein faszinierende<br />
Ausflüge in schrecklichschöne,<br />
düstere Cyberpunk-<br />
Welten und die Erlebnisse ihrer<br />
Bewohner. Wir begegnen Robotern<br />
und Maschinen mit Identifikationspotential<br />
und fast zur<br />
Unkenntlichkeit verfremdeten<br />
Menschen, die ihre Welt verändern<br />
– oder einfach nur Momentaufnahmen<br />
mit uns teilen.<br />
Sie alle haben etwas zu sagen,<br />
drängen uns ihre Botschaft jedoch<br />
nicht auf. Diese herauszufinden<br />
ist das Spannendste an<br />
den Geschichten der Maschinenkinder.<br />
Inhaltsübersicht:<br />
Seite 9: Vorwort<br />
Seit 11: Das Lichtwerk<br />
Seite 44: Schwarzfall<br />
Seite 55: Machina<br />
Seite 66: Elysian<br />
Seite 78: Krematorium<br />
Seize 89: Kinder der großen<br />
Maschine<br />
Seite 108: Byte the Vampire<br />
Seite 117: Highscore<br />
Seite 119: Cyst<br />
Seite 125: Cȏte Noir<br />
Seite 161: Muschelplanet<br />
Seite 165: Schwarz-Weiß<br />
Seite 180: Brause<br />
Seite 216: Outage<br />
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Ein Blick hinter die Kulissen von Fieberglasträume<br />
Ein Bericht von André Skora<br />
Fieberglasträume (FGT) ist eine<br />
erstmals im März 2013 auf der<br />
DortCon vorgestellte, im Begedia<br />
Verlag erschienene Cyberpunk-<br />
Anthologie, die fünfzehn Kurzgeschichten<br />
zwischen ihren Deckeln<br />
vereint und bei der jede<br />
Story mit einer entsprechenden<br />
Storygrafik versehen wurde. Wie<br />
es zu diesem Projekt kam und<br />
wie sich der Weg bis zur Veröffentlichung<br />
darstellte, soll an<br />
dieser Stelle näher beschrieben<br />
werden.<br />
Neuromancer-Trilogie (Sprawl-<br />
Trilogie) von William Gibson<br />
gab. Auf Nachfrage kam auch<br />
nur ein Schulterzucken, und somit<br />
war der angedachte Kauf<br />
schnell erledigt.<br />
Abends in gemütlicher Runde<br />
kamen wir auf die Thematik zu<br />
sprechen, und ich, naja, frei nach<br />
Schnauze, meinte: „Das kann<br />
doch nicht so schwierig sein,<br />
neuen Cyberpunk auf den Markt<br />
zu bringen ...“<br />
Ein paar Stunden später – mittlerweile<br />
war es Sonntag – machte<br />
ich mich dann frisch ans Werk.<br />
So wurde schnell ein kleines<br />
Konzept (Stichpunkte) zusammengetragen<br />
und gut war es.<br />
Das Team und der Verlag<br />
Die Idee<br />
Anfang März 2012 stand ich in<br />
Duisburg in einer Buchhandlung<br />
vor dem Science-Fiction-Regal<br />
und wollte mir cyberpunkigen<br />
Lesestoff zulegen. Leider musste<br />
ich feststellen, dass es nur die<br />
Voller Tatendrang und mit viel<br />
Selbstbewusstsein setzte ich mich<br />
also an mein Mailprogramm und<br />
versuchte einige mir bekannte<br />
Autoren, in diesem Falle Leute,<br />
die ich über viele Jahre durchs<br />
Pen-&-Paper-Rollenspiel und<br />
Convention-Besuche her kannte,<br />
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anzuschreiben. Ja, eine Neigung<br />
zu Shadowrun ist nicht abzustreiten,<br />
da ich seit ungefähr 1992 die<br />
weltweiten Schatten sicherer<br />
mache und den einen oder anderen<br />
Megakonzern schon in den<br />
Hinterhof * PIEP * …<br />
Schnell kamen damals die ersten<br />
Zusagen zurück, sodass ich anfing,<br />
auf Verlagssuche zu gehen.<br />
Zwar waren mir einige Großverlage<br />
und der ein oder andere<br />
RPG-Verlag ein Begriff. Schnell<br />
war aber klar, dass der Versuch<br />
bei einem großen Verlag unterzukommen,<br />
zum Scheitern verurteilt<br />
wäre; also ab ans Buchregal,<br />
mal die Verlage checken.<br />
Anschließend galt es noch eine<br />
Suchmaschine zu befragen.<br />
So fand ich schnell einen Verlag,<br />
welchen ich umgehend anschrieb.<br />
Zu meiner Verwunderung<br />
bekam ich sehr schnell eine<br />
Antwort und, nein, es war keine<br />
automatisch erstellte, sondern<br />
von einem realen Menschen aus<br />
Fleisch und Blut.<br />
Der Verlagsleiter bedankte sich,<br />
musste aber ablehnen, da Anthologien<br />
nicht mehr bei ihm erscheinen<br />
würden. Allerdings gab<br />
er mir den Tipp, dass ich es mal<br />
bei Harald Giersche und seinem<br />
Begedia Verlag probieren solle.<br />
Also schrieb ich Harald kurzerhand<br />
an und hatte nach ein paar<br />
Mails die Zusage, dass das Projekt<br />
wahnsinnig genug sei, um<br />
eine Chance zu bekommen.<br />
Als dies geklärt war, steckten der<br />
Verlag und ich ein wenig die<br />
Terrains ab und stellten fest, dass<br />
noch Autoren an Bord mussten.<br />
So stellte der Verlag den Kontakt<br />
zu Frank Hebben her.<br />
Frank zeigte direkt, dass wir Fieberglasträume<br />
auf einen höheren<br />
Level holen könnten; so beschlossen<br />
wir, uns die Herausgeberschaft<br />
zu teilen. Durch seine<br />
Zeit beim NOVA-Magazin konnte<br />
Frank noch seine Beziehungen<br />
zu einigen Illustratoren mit einbringen.<br />
Da man Beziehungen<br />
nicht nur pflegen, sondern auch<br />
nutzen sollte, beschlossen wir<br />
genau dies zu tun, denn schließlich<br />
lebt Cyberpunk auch viel<br />
vom visuellen Effekt. Ich für<br />
meinen Teil kümmerte mich<br />
dann weiterhin um die Autoren<br />
und sonstige benötigte Leute.<br />
Die Autoren<br />
Wie bereits erwähnt, gestaltete<br />
sich die Autorensuche einfach.<br />
Am Anfang konnten wir auf ein<br />
starkes Feld aus der Rollenspiel-<br />
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szene zurückgreifen. Um aber<br />
auch ein paar andere Aspekte<br />
berücksichtigt zu bekommen,<br />
klopften Frank und ich noch einige<br />
Autoren ab. So erhielten wir<br />
schlussendlich ein gutes Team.<br />
Hier gingen wir, im Nachhinein<br />
betrachtet, auch cyberpunkig<br />
vor, denn die Autoren erhielten<br />
das Konzept, wir dagegen die<br />
Zusage, und so ging es ans Werk<br />
– kein Storykonzept, kaum Hinweise,<br />
einfach freie Entfaltung!<br />
Da Freiheit herrschte, konnten<br />
sich tolle Ansätze entwickeln.<br />
Als Beispiel seien hier die Duo-<br />
Story von Frank Hebben und<br />
Christian Günther erwähnt, welche<br />
sich, durch die entgegengesetzte<br />
Sichtweise, erst richtig<br />
entfalten kann. Ein weiteres Beispiel<br />
ist die Verwendung von<br />
Technik, wie sie Thorsten Küper<br />
vorausschauend verwendete.<br />
Wie geschrieben, das sind Beispiele,<br />
denn ich kann heute noch,<br />
ohne Ausnahme, die Storys empfehlen<br />
und habe die ein oder<br />
andere Idee schon am Rollenspieltisch<br />
genutzt.<br />
Schlussendlich haben wir ein<br />
buntes Autorenteam, sowohl<br />
„alte Hasen“ als auch „Neulinge“,<br />
zwischen die Deckel bekommen,<br />
und das macht u. a.<br />
den Reiz an FGT aus.<br />
„Meinung sagen“ beschränkt,<br />
wobei: Einen der „Stifte“ konnte<br />
ich überzeugen ...<br />
Das Netz und seine Nutzung<br />
Ja, das weltweite Netz hat uns<br />
bei der Entstehung von FGT geholfen.<br />
Nicht nur, dass man einiges<br />
zu den Storys recherchieren<br />
konnte, nein, wir haben auch die<br />
ein oder andere Umfrage, wie<br />
zum Beispiel für die Covergestaltung,<br />
gestartet. Weiterhin wurde<br />
am Klappentext auch ein wenig<br />
durch die Crowd gebastelt.<br />
Aber die größte Hilfe, die das<br />
Netz parat hält, ist die Möglichkeit<br />
der schnellen Kommunikation.<br />
Diese wurde zwischen allen<br />
Beteiligten auch ausgiebig genutzt.<br />
Herausgeber schreiben viel ...<br />
Zu den Illustratoren<br />
Diese wurden durch Frank Hebben<br />
betreut, und so war meine<br />
Aufgabe in diesem Fall auf<br />
Die Kommunikation zwischen<br />
uns Herausgebern lief meist über<br />
Messenger ab. Wenn man die<br />
Texte die wir dort geschrieben<br />
haben, zusammentrüge und als<br />
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Buch veröffentlichte, könnten<br />
wir damit ohne Übertreibung an<br />
die 700 Buchseiten füllen.<br />
Daran kann man schon ablesen,<br />
dass es viel Diskussionsbedarf<br />
gab, aber wir sind immer zu einem<br />
Ergebnis gelangt, und das<br />
ging nur durch ein gewisses Maß<br />
an Kompromissbereitschaft.<br />
Du bist, wen Du kennst …<br />
So in etwa lautet ein altes Schatten-Sprichwort.<br />
Aber dies hat<br />
sich auch bei FGT bewiesen,<br />
denn es stand ja noch die Thematik<br />
von Lektorat und Korrektorat<br />
vor der Türe. Zum Glück konnten<br />
wir hier von dem einen oder<br />
anderen Kontakt – teils aus dem<br />
Team heraus, teils durch Teamkontakte<br />
– profitieren.<br />
Und diese Kontakte nutzten wir<br />
dann auch beim Vorwort,<br />
schließlich sollte das nicht irgendjemand<br />
tippen. Dank Peer<br />
Bieber konnten wir Rob Boyle,<br />
einen Shadowrunner allererster<br />
Stunde, gewinnen. Somit kam<br />
dann nochmals Teamnutzung ins<br />
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Spiel, denn Michael K. Iwoleit<br />
machte sich an die Übersetzung<br />
von Robs Text.<br />
Wie man sieht: Prüfe deine Mitwirkenden<br />
dreimal, denn sie<br />
verbergen Talente!<br />
Der Feinschliff<br />
Am Ende eines solchen Projektes<br />
steht natürlich der Feinschliff.<br />
Hier gab es lange Nächte und<br />
kurze Tage, weil wir Fieberglasträume<br />
pünktlich zur DortCon<br />
präsentieren wollten und somit<br />
einen Drucktermin einhalten<br />
mussten. Nun hieß es, die Storys<br />
zu setzen, die Grafiken einzufügen,<br />
das Vorwort entsprechend<br />
zu platzieren – und die Vitae<br />
mussten selbstverständlich auch<br />
mit rein. All das wurde dann hin<br />
und her geprüft, geändert und<br />
angepasst, bis wir zufrieden waren.<br />
Pünktlich und mit vielen neuen<br />
Erfahrungen konnten wir Fieberglasträume<br />
auf der DortCon 2013<br />
mit Live-Lesungen von Thorsten<br />
Küper und Niklas Peinecke präsentieren.<br />
Bei Interesse kann man<br />
sich dazu auf YouTube einiges<br />
ansehen.<br />
Der Werbetrailer<br />
Thorsten Küpers Lesung<br />
Niklas Peineckes Lesung<br />
Wenn ich so zurückblicke, muss<br />
ich mir selbst eingestehen, dass<br />
ich mich ein wenig wundere, wie<br />
wir das Projekt so gut gestemmt<br />
haben. Natürlich haben wir auch<br />
während der Umsetzung dazugelernt<br />
und haben dies bei unseren<br />
neuen Projekten mit einfließen<br />
lassen. So zum Beispiel bei<br />
Tiefraumphasen, einer Scifi-<br />
Anthologie.<br />
Allerdings möchte ich an dieser<br />
Stelle auch dazu aufrufen, wenn<br />
jemand eine gute Idee mit sich<br />
herumschleppt, sich ans Werk zu<br />
machen; es gibt genügend Verlage,<br />
die nur auf geniale Ideen<br />
warten und die sich nicht scheuen,<br />
etwas auf die Beine zu stellen.<br />
Mit einer guten Idee, einiger<br />
Überzeugungskraft und natürlich<br />
dem richtigem Feuer wird<br />
das dann auch was!<br />
Ansonsten bleibt mir noch zu<br />
sagen: Auch an dieser Stelle einen<br />
Dank ans ganze FGT-Team,<br />
ohne Euch wäre das damals<br />
nicht machbar gewesen.<br />
Und natürlich: LEST MEHR CY-<br />
BERPUNK!<br />
Bildquellen:<br />
Seite 67: Santana Raus<br />
Seite 68: Volker Konrad<br />
Seite 69: Jessica May Dean<br />
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A Song Called Youth<br />
Eine Rezension von Almut Oetjen<br />
Autor: John Shirley<br />
Verlag: Prime Books (2012)<br />
Genre: Cyberpunk / Dystopie<br />
Gebundene Ausgabe<br />
728 Seiten, circa 25,00 EUR<br />
ISBN: 978-1607013303<br />
(eBook ab 6,20 EUR)<br />
In einer nahen Zukunft herrscht<br />
Krieg zwischen Russland und<br />
den Bündnisstaaten der NATO.<br />
In Russland ist es rechten Hardlinern<br />
gelungen, die Demokratisierungsbestrebungen<br />
zu beenden.<br />
Neo-Sowjets sind in Westeuropa<br />
eingedrungen, das in<br />
einem verheerenden konventionellen<br />
Krieg teilweise verwüstet<br />
wurde. Die NATO hat für den<br />
Bereich hinter den Fronten das<br />
größte internationale Privatpolizei-Unternehmen<br />
unter Vertrag<br />
genommen und als Polizeitruppe<br />
eingesetzt, um die Anarchie zu<br />
bekämpfen.<br />
Dieses Unternehmen, die Zweite<br />
Allianz (Second Alliance, SA), ist<br />
eine beängstigende und mächtige<br />
Schutzorganisation mit eigenen<br />
Zielen. Sie besteht aus Neofaschisten<br />
des 21. Jahrhunderts,<br />
hat Teile der USA, Europas und<br />
die Raumkolonie FirStep besetzt<br />
und strebt im Geheimen die<br />
Weltherrschaft an. In einem Internierungslager<br />
im französischen<br />
Lyon hat sie eine abscheuliche<br />
Versuchsanordnung mit<br />
rigider Rassentrennung in Pferchen<br />
und unglaublichem Leid<br />
für die Opfer eingerichtet. Am<br />
Ende herauskommen soll die<br />
Auslöschung aller minderwertigen<br />
Rassen und deren Ersetzung<br />
durch eine Unterrasse von Arbeitern,<br />
die nicht klüger als Hunde<br />
oder Pferde sein sollen, kenntnisreiche<br />
Idioten für niedere technische<br />
Tätigkeiten.<br />
Eine Gruppe von Außenseitern<br />
und Freiheitskämpfern bildet<br />
eine Widerstandsorganisation,<br />
den Neuen Widerstand, und<br />
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bekämpft das sich auf der Erde<br />
ausbreitende faschistische Regime.<br />
Eine düstere Vision Europas im<br />
Niedergang<br />
Shirleys Hauptwerk, die Trilogie<br />
A Song Called Youth, bestehend<br />
aus Eclipse (1985), Eclipse<br />
Penumbra (1988) und Eclipse<br />
Corona (1990), zählt zu den wichtigsten<br />
Werken des Cyberpunk.<br />
Die Bücher wurden 1990/1991<br />
bei Heyne in der Übersetzung<br />
von Peter Robert unter den Originaltiteln<br />
veröffentlicht.<br />
Shirley hat die ursprüngliche<br />
Trilogie überarbeitet und ein<br />
Upgrade aus der Zeit des Kalten<br />
Krieges in die des Millenniums<br />
durchgeführt. Statt im Jahr 2020<br />
beginnt die Geschichte im Jahr<br />
2029. Das Grobe des Ausgangsmaterials<br />
ist dabei erhalten geblieben,<br />
Shirley hat keine Hochglanzlackierung<br />
dieses Upgrades<br />
vorgenommen, das in den Jahren<br />
2000 (Band 1: Eclipse. Sonnenfinsternis<br />
und 2: Eclipse. Halbschatten)<br />
und 2001 (Band 3: Eclipse. Feuersturm)<br />
im Argument Verlag in<br />
deutscher Übersetzung veröffentlicht<br />
wurde. Roberts Übersetzung<br />
wurde mit der Neuausgabe<br />
abgeglichen und überarbeitet.<br />
Die letzte Veröffentlichung<br />
des Originals erfolgte in einem<br />
Sammelband bei Prime Books,<br />
ergänzt um eine Einführung und<br />
einen biografischen Beitrag.<br />
Shirley legt sehr viel Wert auf die<br />
Entwicklung plausibler Charaktere<br />
und Schauplätze. Heutige<br />
Leser mögen mitunter wenig<br />
Zugang haben zu den ideologischen<br />
Sprengkörpern, mit denen<br />
er sein Werk durchsetzt hat.<br />
Aber das wesentlich Interessantere<br />
sind ohnehin die Details.<br />
Gegenwart und Zukunft sind<br />
sich sehr nahe. Die Ausgangslage<br />
aus der Zeit des Kalten Krieges,<br />
wie Shirley sie in der ersten E-<br />
clipse-Veröffentlichung thematisierte,<br />
hat er unter Berücksichtigung<br />
von Entwicklungen aus der<br />
Zeit nach Auflösung der Sowjetunion<br />
modifiziert, Glasnost und<br />
Perestroika sind hier nur zwei<br />
bekannte Schlagworte. Dann hat<br />
er die Handlung in das Jahr 2029<br />
verlegt, den Brennpunkt von<br />
„Cyber“ auf „Punk“ verschoben<br />
und, wie es so schön heißt, die<br />
Hölle entfesselt.<br />
Die Zweite Allianz (Second Alliance,<br />
SA) bedient sich tradierter<br />
Mittel, wie der Unterwanderung,<br />
der Werbung, der wirtschaftlichen<br />
Einflussnahme, arbeitet mit<br />
Instrumenten des Terrorismus<br />
und verwendet den neuesten<br />
Stand verfügbarer Hochtechnologien<br />
zur Zielerreichung. Sie<br />
kauft die größte PR-Firma der<br />
Welt, „Weltsprech“, zur Programmierung<br />
der Öffentlichkeit.<br />
Hier ist natürlich „Neusprech“<br />
die Referenz, aus George Orwells<br />
Klassiker 1984. Und eine Entwicklung<br />
in der Zukunft ist es<br />
auch nicht wirklich.<br />
Die Zweite Allianz träumt von<br />
einer genetisch reinen Welt. Sie<br />
hat die bekannten Feindbilder:<br />
Künstler jenseits des Main-<br />
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streams, Drogenabhängige,<br />
Schwule, Farbige, Linke. Während<br />
die Masse der Menschen<br />
sich in dieser Welt einrichtet und<br />
sich von den herrschenden Medien<br />
beim Denken helfen lässt,<br />
rekrutiert sich aus den Reihen<br />
derer, die dem Feindbild der<br />
Zweiten Allianz entsprechen, der<br />
Neue Widerstand.<br />
Dieser nimmt seinen Ausgang in<br />
Paris unter Führung des früheren<br />
Mossad-Agenten Steinfeld<br />
und wird erweitert um Wissenschaftler,<br />
Ärzte und andere Menschen,<br />
die gegen die neuen Herren<br />
aufbegehren. Eher widerwillig<br />
gerät der ausgebrannte Retro-<br />
Rockmusiker Rickenharp in den<br />
Widerstand, zu dem auch der<br />
frühere Schriftsteller Jack Brendon<br />
Smoke und Dan „Stahlauge“<br />
Torrence, der im Widerstand erst<br />
politisiert wird, gehören.<br />
Das Paar Dan und Claire, er auf<br />
der Erde, sie auf der Station im<br />
All, bildet die Hauptachse in der<br />
Trilogie – die Achse des Guten?<br />
Die Liebe, der Wille, auch unter<br />
den gegebenen Bedingungen<br />
und der räumlichen Distanz aneinander<br />
festzuhalten, machen<br />
sie zu einer Art kosmologischer<br />
Kraft. An der Bedeutung beider<br />
ändert auch nichts, dass Claire<br />
Dan schreibt: „Wenn du Zeit<br />
hast, lebe einfach“ und er kurz<br />
darauf mit der Französin Bibisch<br />
ins Bett steigt.<br />
Ein Reiseführer in die Tiefenschichten<br />
des Menschseins<br />
Shirley bietet den Lesern eine<br />
ausgewogene Mischung von<br />
Material für den Kopf und den<br />
Bauch, die Actionszenen sind<br />
fein choreographiert. Er behauptet<br />
nicht nur, dass die Welt seines<br />
Romans gewalttätig sei, er zeigt<br />
es auch eindrücklich.<br />
Der Aufbau der Handlung hin<br />
zu einem gewalttätigen Konflikt<br />
ist nachvollziehbar, alles wirkt<br />
unausweichlich. Die Erzählperspektive<br />
ist die einer dritten Person,<br />
die sich an verschiedenen<br />
Schauplätzen auf der Erde und<br />
im Weltraum befindet und eine<br />
klare politische Haltung hat, die<br />
zuerst einmal antifaschistisch ist.<br />
In Shirleys Welt gibt es eigenartige<br />
technologische Entwicklungen:<br />
operativ entnommene<br />
menschliche Gehirne als Interfaces;<br />
Attack-and-Kill-Hirnkontrollinstrumente<br />
der Army; Hirnimplantate<br />
zur Verbesserung<br />
bestimmter Funktionen; Junkies<br />
lassen sich im Hollow Head destillierte<br />
Neurochemikalien in die<br />
Venen spritzen, wodurch Gedanken<br />
und Gefühle der ehemaligen<br />
Hirnträger wahrnehmbar<br />
werden; Sauger ermöglichen die<br />
Extraktion von Informationen<br />
aus dem Gehirn; Gangs überfallen<br />
in U-Bahnen Fahrgäste und<br />
entnehmen ihnen Organe für den<br />
Handel; es wird ein Grippevirus<br />
entwickelt, um die Menschen zu<br />
disziplinieren.<br />
In Shirleys Dystopie ist die Welt<br />
ein böser und dreckiger Ort. In<br />
ihr findet nicht einfach Gewalt<br />
statt, sie erscheint vielmehr als<br />
der natürliche Raum der Gewalt.<br />
Folgerichtig haben Shirleys Figu-<br />
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ren auch nur ein begrenztes<br />
Spektrum an Reaktionen. Zuerst<br />
wäre da die Gegengewalt zu<br />
nennen, um die Gewalt zu überwinden.<br />
Außerhalb dieser Welt<br />
lässt sich dieser Ansatz moralisch<br />
in Frage stellen. Innerhalb<br />
dieser Welt jedoch macht man<br />
sich auch mitschuldig, wenn<br />
man der Gewalt gegen Dritte nur<br />
als Zuschauer beiwohnt oder sie<br />
zivilisiert diskutiert.<br />
Es gibt im Wesentlichen vier<br />
Gruppen von Menschen in der<br />
Welt, wie Shirley sie beschreibt:<br />
die Täter, die Opfer, die Zuschauer,<br />
schließlich die, die etwas<br />
unternehmen, sich zur Wehr<br />
setzen gegen die Täter. Also die<br />
Menschen, die nichts zu verlieren<br />
haben und sich deshalb nicht<br />
in dem ihnen gegebenen Status<br />
quo einrichten wollen.<br />
Shirley lehnt die Option ab, die<br />
darin besteht, sich träge zurückzulehnen<br />
und den Dingen ihren<br />
Lauf zu lassen. Der böse Wolf<br />
wird die Schafe immer finden<br />
und in Stücke reißen. Auch wenn<br />
sie sich zu Hause verstecken.<br />
Die Struktur der Eclipse-Trilogie<br />
ist komplex, es gibt sehr viel Personal<br />
(mindestens zwei Dutzend<br />
Figuren, die sich in einem transparenten<br />
Beziehungsgefüge finden,<br />
teils und vorübergehend<br />
eine unklare Rolle in diesem Gefüge<br />
spielen oder aber eine eindeutige<br />
Rolle, die irgendwann<br />
gut vorbereitet und begründet<br />
wechselt) und viele Schauplätze,<br />
zwischen denen häufig gewechselt<br />
wird. Für seine Zukunftsvision<br />
bedient sich Shirley in der<br />
Historie. Institutionen aus der<br />
ersten Hälfte des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts, wie die Gestapo<br />
und Résistance, werden verbunden<br />
mit Institutionen der Nachkriegszeit,<br />
namentlich der<br />
NATO.<br />
Die Trilogie ist somit Ausdruck<br />
von Entwicklungen im Cyberpunk,<br />
die im frühen 21. Jahrhundert<br />
Gestalt annehmen als dunkle<br />
Seite kultureller Entwicklung:<br />
die Rückkehr beziehungsweise<br />
Ausbreitung faschistischer Bewegungen,<br />
wachsende rassistische<br />
Ressentiments, Widerstand<br />
gegen Immigration, Demagogen,<br />
die sich in diesem politischen<br />
Feld manipulativ betätigen. Ein<br />
weiteres Thema ist das Bestreben<br />
von Machteliten, über neue<br />
Technologien die Massen zu<br />
kontrollieren und zu steuern, das<br />
Anliegen von Medien, dergestalt<br />
in das Bewusstsein von Menschen<br />
einzudringen, dass sie darin<br />
ihre Vorstellungen von Realität<br />
implementieren können, um<br />
anschließend Vorteile daraus zu<br />
ziehen.<br />
Die Zukunft ist so intelligent in<br />
ein historisches Bezugssystem<br />
eingebettet, dass wir beim Lesen<br />
den Eindruck gewinnen können,<br />
diese Zukunft stehe direkt vor<br />
unserer Tür, weil uns vieles so<br />
bekannt vorkommt.<br />
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Coming soon: Cyberpunk 2077<br />
Eine Vorschau von Judith Madera<br />
Eine düstere, urbane Kulisse.<br />
Mittendrin eine wunderschöne<br />
Frau, in knappen, blutbesudelten<br />
Stoff gehüllt. Sie blickt in zahlreiche<br />
Gewehrmündungen, als ein<br />
Schuss fällt. Die Kugel fliegt in<br />
Slow Motion auf ihr Gesicht zu –<br />
und zerschellt an ihrer Wange.<br />
Es folgt ein regelrechter Kugelhagel,<br />
der an der Cyborglady<br />
wie Regentropfen zerplatzt. Sie<br />
kniet inmitten von Leichen, aus<br />
ihren Unterarmen ragen blutverschmierte<br />
Sicheln. Warum hat sie<br />
das getan?<br />
Der Trailer zum Rollenspiel Cyberpunk<br />
2077 lässt die Herzen<br />
von Genrefans höher schlagen,<br />
verspricht er doch einen hochtechnisierten<br />
Großstadtdschungel<br />
und reichlich blutige Action.<br />
Verantwortlich für den dystopischen<br />
Augenschmaus zeichnet<br />
das polnische Entwicklerstudio<br />
CD Projekt RED, die kürzlich<br />
The Witcher fertig gestellt haben.<br />
Laut Aussagen der Macher soll<br />
Cyberpunk 2077 wesentlich größer<br />
werden und spätestens 2077<br />
erscheinen (Scherz, geplant ist<br />
2017). Inhaltlich stützt sich das<br />
RPG auf die Pen-&-Paper-<br />
Vorlage Cyberpunk 2020 von<br />
Mike Pondsmith aus dem Jahr<br />
1988. Dessen Zukunft ist düster,<br />
die Gesellschaft degeneriert, die<br />
Straße der Schauplatz zahlloser<br />
Überlebenskämpfe. Der technologische<br />
Fortschritt verhilft den<br />
Reichen zu einem immerwährenden<br />
Rausch, doch er bringt<br />
genauso das Schlechteste im<br />
Menschen zum Vorschein.<br />
Zur Story<br />
Die Technik wurde auch der<br />
bildhübschen Massenmörderin<br />
zum Verhängnis. Zum Vergnü-<br />
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gen hat sie einen sogenannten<br />
„Brain Dance“-Chip genutzt, der<br />
dem User ein virtuelles Leben als<br />
Superstar, Sportlegende oder<br />
was auch immer man will erfüllt<br />
(eine Technologie ähnlich wie<br />
SimStim in Neuromancer). Die<br />
Dame aus dem Trailer wollte<br />
einfach nur berühmt sein, stattdessen<br />
findet sie sich umringt<br />
von einem Sondereinsatzkommando<br />
wieder. Sie hat einfach zu<br />
viel an sich herumpfuschen lassen,<br />
zu viele Upgrades, und nun<br />
ist der Brain-Dance-Chip durchgebrannt<br />
und hat sie zu einem<br />
„Psycho“ gemacht – damit ist sie<br />
auf dem besten Weg, ein fremdgesteuerter<br />
Cyborg zu werden …<br />
Schauplatz der Tragödie ist<br />
Night City, ein urbaner Dschungel,<br />
in dessen Wipfeln die Reichen<br />
im grellen Neonschein feiern,<br />
während es nach unten hin<br />
immer dunkler wird. Kaltes<br />
Kunstlicht flutet die grauen Straßenzüge,<br />
bunte Reklamen versuchen<br />
heller als die brennenden<br />
Mülltonnen zu strahlen. Die Regierung<br />
hat hier längst nichts<br />
mehr zu sagen, stattdessen teilen<br />
Großkonzerne die Stadt mit Hilfe<br />
ihrer Privatarmeen unter sich<br />
auf. Der Konkurrenzkampf hat<br />
sich in einen blutigen Krieg verwandelt,<br />
und die Masse bekommt<br />
davon kaum etwas mit,<br />
da sich die meisten mit Hilfe der<br />
Brain-Dance-Chips in wunderschönen<br />
Träumen verlieren.<br />
Für die Dame aus dem Trailer<br />
hätte das tödlich enden können,<br />
doch ein Polizist namens Hammerman<br />
rettet ihr das Leben und<br />
will sie für seine Einheit rekrutieren.<br />
Wohin das führt, ist allerdings<br />
noch nicht bekannt …<br />
Zum Spiel<br />
Cyberpunk 2077 richtet sich an ein<br />
erwachsenes Publikum, bietet als<br />
RPG mehrere Handlungsstränge,<br />
die nicht komplett linear aneinanderhängen,<br />
und soll wesentlich<br />
größer und komplexer als<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
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das Mammut-RPG The Witcher 3<br />
werden. Der Spieler kann sich<br />
außerdem in Night City frei bewegen<br />
und diverse Sidequests<br />
und Läden, die Upgrades für<br />
Waffen und Körper anbieten,<br />
entdecken.<br />
Es soll verschiedene Charakterklassen<br />
zur Auswahl geben, die<br />
sich eventuell an der Pen-&-<br />
Paper-Vorlage orientieren (Cop,<br />
Dealer, Konzerner, Netrunner,<br />
Nomade, Reporter, Rockstar,<br />
Solo, Tech sowie MediTech). Ansonsten<br />
gibt es bislang kaum<br />
Informationen, da die Entwickler<br />
noch mit The Witcher 3 beschäftigt<br />
waren. Allerdings wollen sie<br />
sich bald ganz auf Cyberpunk<br />
2077 konzentrieren und spätestens<br />
2017 konkretere Informationen<br />
(und hoffentlich bald darauf<br />
das fertige Spiel) liefern. Da<br />
bleibt nur zu hoffen, dass das<br />
Spiel auch umsetzen kann, was<br />
der Trailer verspricht (und dass<br />
es vor 2077 erscheint) – Potential<br />
ist jedenfalls genug vorhanden.<br />
www.cyberpunk.net<br />
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77
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Ergo Proxy – Mystischer Cyberpunk<br />
Ein Artikel von Judith Madera<br />
Nach einer globalen Katastrophe<br />
leben die letzten Menschen in<br />
Kuppelstädten wie Romdeau,<br />
umsorgt von ihren Autoreivs –<br />
Androiden, die als Arbeitskräfte<br />
oder auch berufliche/private<br />
Begleiter fungieren. Mensch und<br />
Maschine leben friedlich in einem<br />
diktatorischen System, das<br />
seine Bürger permanent überwacht.<br />
Doch die soziale Ordnung<br />
gerät ins Wanken, als immer<br />
mehr Autoreivs am Cogito-Virus<br />
erkranken und dadurch eine<br />
Seele und einen eigenen Willen<br />
erhalten. Viele von ihnen begehren<br />
plötzlich gegen das System<br />
auf und müssen eliminiert werden.<br />
Re-l ist die Enkelin des Regenten<br />
und soll als Inspektorin der Sicherheitsabteilung<br />
die Verbrechen<br />
infizierter Autoreivs untersuchen.<br />
Ihr zur Seite steht ihr<br />
persönlicher Autoreiv Iggy, der<br />
ihr als Bodyguard, Berater und<br />
Freund dient.<br />
Im Zuge ihrer Ermittlungen wird<br />
Re-l auf den Immigranten Vincent<br />
Law aufmerksam, der sich<br />
sehr bemüht, ein vollwertiger<br />
Bürger der Stadt zu werden.<br />
Doch in Vincent schlummert ein<br />
Geheimnis, das er konsequent<br />
verdrängt: Er ist ein sogenannter<br />
Proxy, ein dem Menschen überlegenes<br />
Wesen mit mysteriösen<br />
Kräften. Re-l will unbedingt<br />
mehr über die Proxys herausfinden,<br />
während Vincent nicht<br />
weiß, ob er sich überhaupt an<br />
sein früheres Leben erinnern will<br />
…<br />
Die Charaktere<br />
Re-l ist privilegiert aufgewachsen<br />
und erscheint in ihrer Position<br />
als Inspektorin hart und mürrisch.<br />
Der Autoreiv Iggy ist stets<br />
an ihrer Seite, ansonsten meidet<br />
sie jedoch soziale Kontakte. Ihr<br />
einziger Freund ist der junge<br />
Arzt Daedalus (der aufgrund<br />
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seines androgynen Aussehens<br />
und der hellen Synchronstimme<br />
zunächst für eine Frau gehalten<br />
wird).<br />
In den ersten Episoden scheint<br />
Re-l verwöhnt und gelangweilt,<br />
allerdings offenbart sie bald einen<br />
tiefsinnigen und klugen<br />
Charakter. Als sie das erste Mal<br />
mit einem Proxy in Kontakt<br />
kommt, verändert sich etwas in<br />
ihr und sie will unbedingt die<br />
Wahrheit über dieses Wesen herausfinden.<br />
Dabei wird schnell<br />
klar, dass Romdeau noch mehr<br />
düstere Geheimnisse bereithält.<br />
Re-l ist außerdem fasziniert von<br />
Vincent, der auf den ersten Blick<br />
angepasst, ruhig und unbeholfen<br />
erscheint und gleichzeitig ganz<br />
anders als die Bürger von<br />
Romdeau ist.<br />
kommt, schiebt er sie von sich<br />
und glaubt, das alles könne<br />
nichts mit ihm zu tun haben.<br />
Aus dem unsicheren und etwas<br />
tollpatschigen Vincent wird jedoch<br />
schnell ein sympathischer<br />
junger Mann, der viel Menschlichkeit<br />
zeigt und mit anderen<br />
rücksichtsvoll umgeht. Er akzeptiert<br />
sogar den Autoreiv Pino als<br />
lebendiges Wesen mit Herz und<br />
Verstand.<br />
Pino ist die dritte Protagonistin<br />
der Serie, ein mit dem Cogito-<br />
Virus infiziertes Androidenmädchen,<br />
das als Kindersatz herhalten<br />
musste. Sie schließt sich Vincent<br />
und Re-l bei deren Suche<br />
nach Antworten an.<br />
Als Autoreiv kann Pino mehr als<br />
gleichaltrige Menschenkinder<br />
und verfügt über diverse Zusatzfunktionen,<br />
allerdings verhält sie<br />
sich meist wie ein Grundschulkind,<br />
für das die triste Außenwelt<br />
ein großer Spielplatz ist. Sie<br />
schlüpft gerne in ein Hasenkostüm<br />
und ist äußerst wissbegierig.<br />
Dabei erfährt sie auch die Grenzen<br />
ihrer Programmierung, denn<br />
sie kann beispielsweise keine<br />
Vincent Law will unbedingt als<br />
Bürger anerkannt werden und<br />
ein ganz normales Leben führen.<br />
Dabei ist ihm nicht bewusst, dass<br />
er sich aus der Zeit vor Romdeau<br />
an nichts erinnert. Selbst als die<br />
Wahrheit allmählich ans Licht<br />
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79
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eigenen Bilder malen, sondern<br />
nur andere kopieren. Dafür kann<br />
sie jedoch sehr offen und herzlich<br />
lächeln.<br />
Romdeau<br />
Die Zukunft in Ergo Proxy ist<br />
kein typisches Cyberpunkszenario:<br />
Die Erde wurde größtenteils<br />
verwüstet, und nur in Kuppelstädten<br />
wie Romdeau ist ein<br />
Überleben überhaupt noch möglich.<br />
Die Stadt selbst wirkt hell<br />
und eintönig, ein blühender<br />
Schwarzmarkt und Computerkriminalität<br />
sind in dieser streng<br />
überwachten Umgebung nicht<br />
möglich. Die Regierung kontrolliert<br />
einfach alles und schreibt<br />
den Bürgern vor, wann es Zeit ist<br />
zu konsumieren und wann man<br />
zu Gunsten der Gemeinschaft<br />
verzichten soll.<br />
Ein ganz typisches Cyberpunkthema<br />
hingegen stellen die<br />
Autoreivs dar: In Romdeau<br />
scheint es mindestens so viele<br />
Autoreivs zu geben wie Menschen.<br />
Die Androiden sind in alle<br />
Lebensbereiche eingebunden, sei<br />
es als Dienstmädchen, Fabrikarbeiter<br />
oder gar als Ehepartner<br />
und Kind. Jeder Autoreiv wird<br />
den Bedürfnissen seines Besitzers<br />
angepasst und kann von<br />
diesem seinen Wünschen entsprechend<br />
umprogrammiert<br />
werden. Das Cogito-Virus führt<br />
jedoch zu einer Art Beseelung<br />
der Autoreivs, die fortan keine<br />
Maschinen mehr sind, sondern<br />
denkende und fühlende Wesen.<br />
Die Regierung merzt solche Fehlfunktionen<br />
aus, doch schnell<br />
stellt sich die Frage, mit welchem<br />
Recht sie das tut und ob das Cogito-Virus<br />
tatsächlich eine<br />
Krankheit oder eine natürliche<br />
Evolution der hochentwickelten<br />
Maschinen ist. Das Verhältnis<br />
zwischen Mensch und Maschine<br />
wird im Verlauf der Serie zu einem<br />
der zentralen Themen von<br />
Ergo Proxy und wird vor allem<br />
über Pino vielschichtig aufgearbeitet.<br />
Die Außenwelt<br />
Ihre Suche nach Antworten führt<br />
Vincent und Re-l in die triste und<br />
verseuchte Außenwelt. Unweit<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
80
_______________________________________________________________________________________________<br />
von Romdeau hat sich eine kleine<br />
Gruppe Abtrünniger niedergelassen,<br />
die gegen das System<br />
aufbegehrt haben.<br />
Inzwischen wollen jedoch die<br />
meisten von ihnen zurück unter<br />
die schützende Kuppel, denn<br />
außerhalb davon haben sie nichts<br />
außer ihrer vermeintlichen Freiheit,<br />
die in ihrer perspektivlosen<br />
Lebenssituation belanglos erscheint.<br />
Je weiter Re-l und Vincent in die<br />
äußere Welt vordringen, desto<br />
seltsamer erscheint einem die<br />
zukünftige Erde. Es gibt zwar<br />
noch andere Kuppelstädte, doch<br />
die meisten von ihnen sind verlassen.<br />
In einer sehr ländlich gehaltenen<br />
Kleinstadt beispielsweise<br />
verrichten die Maschinen weiter<br />
ihre Arbeit, während es schon<br />
lange keine Menschen mehr gibt,<br />
die sie umsorgen könnten.<br />
Trotzdem werden weiterhin<br />
Pflanzen gegossen, Straßen gekehrt<br />
und Zeitungen ausgetragen.<br />
Die grüne, menschenleere<br />
Stadt erzeugt ein beklemmendes<br />
Gefühl – und sie ist nur der erste<br />
von weiteren geisterhaften Orten.<br />
Gentechnologie<br />
Ein weiteres typisches Cyberpunkthema<br />
in Ergo Proxy ist die<br />
Gentechnologie, mit deren Hilfe<br />
die Bevölkerung von Romdeau<br />
reguliert wird. Menschen werden<br />
nicht mehr geboren, sondern<br />
designt. Kinder werden nicht<br />
gezeugt, sie werden einem auf<br />
Antrag zugeteilt. Wessen Antrag<br />
nicht bewilligt wird, der erhält<br />
einen Autoreiv als Kindersatz.<br />
Zwischen der Gentechnologie<br />
und den Proxys scheint ein enger<br />
Zusammenhang zu bestehen,<br />
doch es ist lange nicht klar, ob<br />
die mysteriösen Wesen gentechnisch<br />
erzeugt wurden oder eine<br />
natürliche Erscheinung sind. Da<br />
Proxys als unsterblich gelten, ist<br />
Romdeau bemüht, einen von<br />
ihnen zu fangen und zu untersuchen,<br />
um die menschliche Rasse<br />
robuster und vielleicht sogar<br />
unsterblich zu machen.<br />
Die Thematik wird im Verlauf<br />
der Serie zunehmend philosophischer,<br />
und bald fragt man<br />
sich, was in dieser tristen Zu-<br />
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_______________________________________________________________________________________________<br />
kunftsvision überhaupt noch<br />
natürlich ist und worin der Unterschied<br />
zwischen designten<br />
Menschen und denkenden/fühlenden<br />
Autoreivs besteht.<br />
Die Schöne und das Biest<br />
Ähnlich wie Texhnolyze wird<br />
Ergo Proxy mit zunehmender<br />
Episodenzahl tiefsinniger und<br />
verworrener. Anfangs ist noch<br />
eine klare Storyführung zu erkennen,<br />
doch dann wird die Serie<br />
sehr philosophisch und<br />
künstlerisch. Einzelne Episoden<br />
erscheinen gar ganz aus dem<br />
Rahmen gerissen, beinhalten<br />
aber wichtige Informationen<br />
über die Hintergründe der Geschichte.<br />
Zudem stellt sich immer<br />
mehr die Frage, wer und<br />
was Vincent genau ist und in<br />
welcher Beziehung Re-l zu ihm<br />
und den Proxys steht.<br />
Zwischen den beiden entwickelt<br />
sich eine seltsame Liebesgeschichte,<br />
in der Vincent offen zu<br />
seinen Gefühlen steht, während<br />
Re-l ihre verleugnet und darauf<br />
beharrt, Vincent zu töten, sobald<br />
sie ihre Antworten hat. Dem Zuschauer<br />
fällt es dabei schwer, Rels<br />
abweisende und oftmals<br />
kratzbürstige Art nachzuvollziehen.<br />
Sie ist zerrissen zwischen<br />
ihrer Faszination für Vincent und<br />
ihrer Angst vor dem, was in ihm<br />
schlummert. Auch wenn es den<br />
einen oder anderen Moment der<br />
Nähe gibt, erscheint das Verhältnis<br />
zwischen Vincent und Re-l<br />
lange Zeit unterkühlt und einseitig.<br />
Ein wenig erinnert ihre Beziehung<br />
an Die Schöne und das<br />
Biest, wobei hier oftmals nicht<br />
klar ist, wer welche Rolle einnimmt.<br />
Der Stil<br />
Ergo Proxy orientiert sich visuell<br />
am Stil eines Comics und arbeitet<br />
bewusst bestimmte Details heraus,<br />
während unwichtige Elemente<br />
unscharf und blass erscheinen.<br />
Es dominieren matte<br />
Grau- und Brauntöne, sodass<br />
Farben extrem auffallen, wie<br />
beispielsweise Re-ls blau geschminkte<br />
Augen, die orange<br />
Arbeitskleidung von Vincent<br />
oder auch Pinos violettes Haar.<br />
Auch dadurch unterscheidet sich<br />
Ergo Proxy von anderen Cyberpunkanimes,<br />
die mehr zwischen<br />
Dunkel und Bunt changieren.<br />
Die Serie enthält zudem diverse<br />
europäische Zeichenelemente,<br />
was dem westlichen Betrachter<br />
nicht unbedingt auffällt, da Ergo<br />
Proxy trotzdem noch ziemlich<br />
japanisch aussieht. Für den Genrefan<br />
sind die Unterschiede je-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
82
_______________________________________________________________________________________________<br />
doch offensichtlich, insbesondere<br />
was das Design der Charaktere<br />
betrifft. Vincent hat dabei auch<br />
optisch zwei Gesichter: Als braver<br />
Bürger hat er glattes Haar<br />
und lächelt verhalten, während<br />
er in der Außenwelt durchwühltes<br />
Haar und einen eher ernsten<br />
Gesichtsausdruck hat. Re-l hingegen<br />
lächelt selten, sie wirkt<br />
meist genervt und nachdenklich.<br />
Umso intensiver sind die Momente,<br />
in denen ein Lächeln ihre<br />
kalte Fassade aufbricht.<br />
Ergo Proxy ist 2008 auf DVD mit<br />
deutscher Synchronisation und<br />
sattem DTS-Sound erschienen.<br />
Die Bildqualität ist dem Format<br />
entsprechend für neuere TV-<br />
Geräte akzeptabel, der Sound<br />
hingegen brilliert mit einem<br />
schönen Volumen und Hintergrundeffekten.<br />
Inzwischen werden alle sechs<br />
Volumes der Serie als Komplettset<br />
für circa 79,95 € bei nipponart<br />
angeboten. Die limitierte Collector’s<br />
Edition mit schickem<br />
Schmuckkarton, Postkarten,<br />
Booklet und anderen Extras ist<br />
vergriffen, kann jedoch auf eBay<br />
erstanden werden. Bei der normalen<br />
Ausgabe gibt es zu jeder<br />
DVD lediglich ein Miniposter als<br />
Extra.<br />
Szenenbilder: Copyright by manglobe / GENEON / GENEON (USA) / WOWOW / SPVision<br />
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Zeromancer: Sex, Drugs und Cyberpunk<br />
Ein Artikel von Judith Madera<br />
Schillernde Synthies und harte<br />
Gitarren, schräge, düstere Texte,<br />
Melancholie, Gesellschaftskritik,<br />
Aggression und Romantik –<br />
kaum jemand verkörpert den<br />
dreckigen Sound des Cyberpunk<br />
so perfekt wie die norwegische<br />
Band Zeromancer. Wie unschwer<br />
zu erkennen ist, basiert der<br />
Bandname auf William Gibsons<br />
Neuromancer (und Less than Zero<br />
von Bret Easton Ellis).<br />
Bassist und Bandgründer Kim<br />
Ljung ist bekennender Cyberpunk-Fan,<br />
was sich in seinen<br />
tiefschürfenden, kritischen und<br />
oftmals nicht unbedingt leicht<br />
verständlichen Texten spiegelt.<br />
Vordergründig geht es oftmals<br />
um kaputte Liebe und negative<br />
Emotionen, doch zwischen den<br />
Zeilen schimmert als Ursache für<br />
die zwischenmenschliche Misere<br />
das moderne Leben hindurch,<br />
die Fokussierung auf das eigene<br />
Ego und das Gefühl, in unserer<br />
schnelllebigen Zeit etwas zu verpassen.<br />
Der (Liebes-)Schmerz bei<br />
Zeromancer entsteht überwiegend<br />
aus der emotionalen Abstumpfung<br />
und der Verlorenheit<br />
in einer Zeit, die den Menschen<br />
gnadenlos überrennt.<br />
Zwar spielen diverse Texte von<br />
Zeromancer auf typische Cyberpunkelemente<br />
an, doch was die<br />
Band vor allem auszeichnet, ist<br />
das Gefühl, das sie mit ihrem<br />
einzigartigen Sound heraufbeschwört.<br />
Eine Einordnung fällt<br />
relativ schwer, am treffendsten<br />
ist wohl die Bezeichnung Synth<br />
Rock, da zwischen den harten<br />
Gitarrenriffs stets klare Synthesizerklänge<br />
hindurchklingen, die<br />
an die Achtzigerjahre (und damit<br />
an den Ursprung des Cyberpunk)<br />
erinnern. Andere sprechen<br />
bei Zeromancer auch von „Industrial/Alternative<br />
Rock“ oder<br />
auch – abwertend – von „Emo<br />
Rock“, wegen der Fokussierung<br />
aufs Negative.<br />
In vielen Songs spürt man die<br />
Einsamkeit im Angesicht der<br />
rasanten technologischen Entwicklung,<br />
die zunehmend einer<br />
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Entmenschlichung gleicht, während<br />
sie ebenso neue Möglichkeiten<br />
eröffnet. Das Individuum<br />
bleibt dabei auf der Strecke, und<br />
in den grauen Schluchten des<br />
urbanen Molochs regieren Depression<br />
und Wut auf eine Welt,<br />
die ebenso cool wie kalt ist.<br />
Zeromancer bedienen sich dabei<br />
cyberpunktypisch außergewöhnlicher,<br />
teils technologischer Metaphern<br />
ebenso wie unschöner<br />
Kraftausdrücke und derber Gossensprache.<br />
Trotz vieler wiederkehrender<br />
Elemente, sowohl was<br />
Sound als auch Texte betrifft, ist<br />
jedes Album eine kleine, düstere<br />
Cyberpunkwelt für sich. Die außergewöhnliche<br />
Stimme von<br />
Leadsänger Alex Møklebust<br />
changiert dabei zwischen verzweifelt,<br />
aggressiv, verführerisch<br />
und wahnsinnig un d stellt eines<br />
der Wiedererkennungsmerkmale<br />
der Band dar. Møklebust setzt<br />
die verqueren Texte von Kim<br />
Ljung perfekt um, als würden sie<br />
seine eigenen dunklen Gedanken<br />
spiegeln.<br />
Flagellation Flagellation<br />
Take the pain of a modern nation<br />
Bereits mit ihrem Debüt Clone<br />
Your Lover griffen Zeromancer<br />
Motive des Cyberpunk auf und<br />
setzten sie, damals noch ungeschliffen,<br />
in einer verqueren Mischung<br />
aus kreativem Trash,<br />
Industrial und eingängigem<br />
Synth Rock um. Harte Gitarrenriffs<br />
treffen auf leicht technoide<br />
Rhythmen, melodische Passagen<br />
wechseln sich mit dissonantem<br />
Wahnsinn ab. Schon damals<br />
konnte man sich die Band wunderbar<br />
in düsteren Bars, wie sie<br />
Alex Møklebust (NRK P3 / CC BY-NC-SA 2.0)<br />
beispielsweise William Gibson in<br />
Neuromancer beschrieb, vorstellen,<br />
gleich einem tosenden Hintergrundrauschen,<br />
während Case<br />
sein geschädigtes Nervensystem<br />
betrauert.<br />
Clone Your Lover handelt von<br />
verschmähter Liebe, vom Abstumpfen<br />
der Gefühle, von der<br />
Verlorenheit des Individuums in<br />
der modernen Welt, inklusive<br />
Wut und (Auto-)Aggression.<br />
Songs wie „Clone Your Lover“<br />
und „Need You Like a Drug“<br />
klingen rotzig-frech und erinnern<br />
an cyberpunkigen Elektrorock,<br />
während „Something for<br />
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the Pain“ mit seinen coolen Gesangsparts<br />
wie ein Virus in die<br />
Gehörgänge kriecht.<br />
„House of Cards“ stellt die einzige<br />
Ballade des Albums dar,<br />
eine Tradition, die die kommenden<br />
Alben fortsetzen. Dabei<br />
handelt es sich um keinen klassischen<br />
Lovesong, sondern um<br />
eine melancholische, düstere<br />
Komposition über Selbstverleugnung<br />
und das Zerbrechen<br />
der Liebe/Freundschaft.<br />
We are nothing but Eurotrash<br />
We take Plastic and we take Cash<br />
We sell our hearts second class<br />
We slit our throats on tinted glass<br />
Während sich Clone Your Lover<br />
vor allem auf negative Emotionen<br />
stützte, treten beim zweiten<br />
Album, Eurotrash, die gesellschaftskritischen<br />
Aspekte deutlicher<br />
hervor. So handelt der titelgebende<br />
Song „Eurotrash“ beispielsweise<br />
vom Verfall der Werte<br />
und maßloser Vergnügungssucht,<br />
die im Gefühl, absolut<br />
alles haben zu können, gipfelt:<br />
The future is here / Dreams have no<br />
end / Everything must go. Doch<br />
der Rausch hat eine dunkle Seite,<br />
und während sich der industrialisierte<br />
Mensch alles nimmt, was<br />
er kriegen kann, verkauft er sich<br />
selbst und zerbricht in seiner<br />
Scheinwelt aus Glaspalästen und<br />
Neonglanz. Der Synthiesound<br />
klingt, als würde er schmerzhaft<br />
leicht durch eine hell erleuchtete<br />
Megacity hallen, und die Ironie<br />
des Textes spiegelt sich wunderbar<br />
in Møklebusts pseudofreudigem<br />
Gesang wieder.<br />
In „Doctor Online“ wird dieses<br />
Bild weiter auf die Spitze getrieben,<br />
und die Selbstbestimmung<br />
des Menschen endet in seiner<br />
absoluten Wertlosigkeit. Synthies<br />
und brachiale E-Gitarren ergänzen<br />
sich perfekt und kreieren<br />
einen finsteren, druckvollen<br />
Song. „Plasmatic“ hingegen<br />
überzeugt mit technoidem<br />
Rhythmus und schrägen Gesangparts.<br />
Die Ballade des Albums ist das<br />
düstere und endzeitlich klingende<br />
„Cupola“, das Motive aus<br />
„House of Cards“ aufgreift. Die<br />
leisen, melancholischen Töne, die<br />
nach einem deprimierten Blick<br />
über den Hafen von Chiba City<br />
klingen, werden von brutalen<br />
Gitarrenriffs und Schreien aufgebrochen,<br />
ehe diese sich im ungewohnt<br />
sanften Gesang auflösen.<br />
Kill your senses<br />
It can't be right<br />
Isn't it funny how it hurts<br />
Mit ZZYZX gaben sich Zeromancer<br />
plötzlich unerwartet<br />
poppig, und auch emotional beklemmende<br />
Balladen wie „Famous<br />
Last Words“ konnten nicht<br />
über die Schwäche des dritten<br />
Albums hinwegtäuschen. Zu<br />
belanglos und zahm klangen<br />
Zeromancer plötzlich, es mangelte<br />
schlicht an harten, dissonanten<br />
Passagen, die einen Kontrast zu<br />
den durchaus spannenden, elektronischen<br />
Melodien boten. Bei<br />
ZZYZX ist das Gefühl des Cyberpunk<br />
nahezu verloren gegangen,<br />
und auch der eingängige<br />
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Track „Blood Music“, offenbar<br />
angelehnt an Greg Bears gleichnamigen<br />
Roman, konnte daran<br />
nichts ändern. Nachdem ZZYZX<br />
scheiterte, vergingen sechs lange<br />
Jahre, in denen mancher Fan<br />
bereits befürchtete, die Band habe<br />
sich aufgelöst. Doch dann …<br />
Sinners International<br />
Hello<br />
You don't know the meaning of the<br />
word<br />
Pain<br />
… kehrten Zeromancer 2009 mit<br />
ihrem vierten Album Sinners<br />
International zu ihren Wurzeln<br />
zurück und begeisterten sowohl<br />
mit den Stärken der Anfangszeit<br />
als auch mit einer spürbaren Reifung.<br />
Endlich war Zeromancer<br />
wieder Cyberpunk pur. In der<br />
Singleauskopplung „Doppelgänger<br />
I Love You“ bringt die Band<br />
das Spiel mit den Gegensätzen,<br />
das Sound und Texte (und den<br />
Cyberpunk) auszeichnet, kurz<br />
und knapp auf den Punkt.<br />
Endlich funktioniert die einzigartige<br />
Symbiose aus melodischen<br />
Synthies und harten Gitarrenklängen<br />
wieder. Insbesondere<br />
„It Sounds Like Love (But It<br />
Looks Like Sex)“ ist ein herrlicher<br />
Auf-die-Fresse-Song, während<br />
„Fictional“ mit seinem kühlen<br />
Cyberspacesound begeistert.<br />
Nach wie vor stehen bei Zeromancer<br />
negative Emotionen sowie<br />
tiefe romantische Gefühle im<br />
Vordergrund, garniert mit Gesellschaftskritik<br />
und wirren Gedankengängen,<br />
die einzelne<br />
Songs über viele Jahre hinweg<br />
interessant gestalten. Hervorzuheben<br />
ist hier die schmerzlichleise<br />
Ballade „Ammonite“, die<br />
mit ihrem Wechselspiel aus melancholischer<br />
Ruhe und aggressiven<br />
Brüchen ganz in der Tradition<br />
ihrer Vorgänger steht und<br />
gleichzeitig eine neue Tiefe eröffnet.<br />
We are the Industrypeople<br />
Don't feel anything<br />
Choose your kin<br />
Rendezvous and let the chaos begin<br />
Bereits ein Jahr später knüpften<br />
Zeromancer mit The Death of Romance<br />
an ihre wiedergefundene<br />
Stärke an und ließen unter glatten<br />
Neonklängen die hässliche,<br />
dunkle Wahrheit wie Eiter austreten.<br />
Ausgerechnet der titelgebende<br />
Song „The Death of Romance“<br />
verblasst im Angesicht düsterer<br />
Tracks wie „Revenge Fuck“ und<br />
„The Pygmalion Effect“, wo gar<br />
der „Grand Prix of self destruction“<br />
besungen wird. The Death of<br />
Romance zeichnet sich gleichermaßen<br />
durch finstere Texte und<br />
harte Töne wie durch seine Eingängigkeit<br />
aus, denn nahezu<br />
jeder Song kriecht direkt in die<br />
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Gehörgänge und bleibt darin<br />
hängen.<br />
„Mint“ stellt die bislang romantischste<br />
Ballade von Zeromancer<br />
dar und geht mit dem wie eine<br />
Beschwörung wiederholten You<br />
are the only one … (who can erase<br />
this) direkt unter die Haut. Der<br />
Cyberpunk-Lovesong schlechthin,<br />
sofern man hier überhaupt<br />
von einem Lovesong sprechen<br />
kann.<br />
It’s not the end of the world<br />
It’s just another black hole<br />
Das 2013 erschienene sechste<br />
Album Bye Bye Borderline lässt<br />
derbe Songs weitgehend vermissen<br />
und setzt mehr auf gleichermaßen<br />
emotionale wie eingängige<br />
Klänge.<br />
In der CD-Hülle wird der legendäre<br />
erste Satz aus Neuromancer<br />
zitiert, womit Zeromancer<br />
nochmals ihre Nähe zum Cyberpunk<br />
unterstreichen: The sky<br />
above the port was the color of television,<br />
tuned to a dead channel. Da<br />
werden Erinnerungen wach, und<br />
wer Bye-Bye Borderline hört, spürt<br />
unweigerlich die Stimmung, die<br />
in den stillen Momenten des Cyberpunk<br />
aufkommt, beispielsweise<br />
in den ruhigen Szenen aus<br />
Ghost in the Shell.<br />
Stärker als zuvor stehen bei Zeromancer<br />
die zwischenmenschlichen<br />
Töne im Vordergrund, gescheiterte<br />
Liebe, aber auch verspielte<br />
Freundschaft und die<br />
vernichtende Kraft des Egoismus:<br />
Raise your glas / To pain and<br />
suffering / Let’s make a toast / To<br />
how much I hurt you / Let’s drink to<br />
that / And all sadness. Ähnlich wie<br />
in „Manoeuvres“, woraus das<br />
vorangegangene Zitat stammt,<br />
wird in den zehn Songs der<br />
Schmerz zelebriert, die Bitterkeit<br />
der Erkenntnis angenommen<br />
und subtil Kritik an der modernen<br />
Welt geübt, in der die<br />
menschliche Wärme in den eigenen<br />
Bedürfnissen erstickt.<br />
Die Synthies in „Weakness“ (und<br />
auch anderen Songs) erinnern an<br />
den Sound von New Order aus<br />
den Achtzigern, womit erneut<br />
der Bogen zur Entstehungszeit<br />
des Cyberpunk geschlagen wird.<br />
Zeromancer vermischen den<br />
experimentellen Sound des frühen<br />
Synthie Pop mit modernem<br />
Alternative Rock und Industrial<br />
und schaffen damit Klänge, die<br />
durchweg an grell erleuchtete<br />
Megastädte, das wuchernde<br />
Sprawl oder auch schillernde<br />
Cyberspacewelten erinnern.<br />
Die Ballade des Albums heißt<br />
„Montreal“ und erzeugt die<br />
Stimmung eines trüben Novembermorgens<br />
hinter einer dreckigen<br />
Glasscheibe.<br />
Kurz nach Bye-Bye Borderline ist<br />
übrigens ein Best-Of-Album<br />
(Something For The Pain) erschienen,<br />
welches allerdings nur bedingt<br />
die besten Songs von Zeromancer<br />
enthält. Es fehlen<br />
schlichtweg einige der herausragenden<br />
Stücke, und wer sich<br />
einmal in die Band verliebt hat,<br />
wird damit nicht satt.<br />
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Anspieltipps<br />
Clone Your Lover<br />
Something for the Pain<br />
House of Cards<br />
Doctor Online<br />
Plasmatic<br />
Cupola<br />
Famous Last Words<br />
Blood Music<br />
Sinners International<br />
Fictional<br />
Ammonite<br />
Industrypeople<br />
The Pygmalion Effect<br />
Mint<br />
Manoeuvres<br />
Lcyd<br />
Montreal<br />
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Total Recall<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Darsteller: Colin Farrell, Kate<br />
Beckinsale, Bryan Cranston, Jessica<br />
Biel<br />
Regisseur: Len Wiseman<br />
Format: Dolby Digital 1.5, PAL,<br />
Widescreen, 16:9 - 2.40:1<br />
Sprache: Japanisch, Deutsch ,<br />
Türkisch, Englisch<br />
Sony Pictures Home Entertainment<br />
(2012), Blu-ray, FSK 16, 130<br />
Minuten, circa 8,00 EUR<br />
Wie bereits der SF-Kultfilm Die<br />
totale Erinnerung – Total Recall<br />
mit Arnold Schwarzenegger<br />
basiert auch das Remake Total<br />
Recall von 2012 auf der Kurzgeschichte<br />
„Erinnerungen en gros“<br />
von Philip K. Dick – allerdings<br />
mit einigen Veränderungen, die<br />
aus dem düsteren Marsabenteuer<br />
eine effektvolle Cyberpunkversion<br />
werden lassen. Mancher<br />
spricht da von einem schlechten<br />
Abklatsch und dass Total Recall<br />
niemals an die frühere Umsetzung<br />
herankommen könne; allerdings<br />
wurden Story und Setting<br />
so stark verändert, dass<br />
man beide Filme nur schwer<br />
miteinander vergleichen kann.<br />
Total Recall interpretiert die Geschichte<br />
von Dick auf eine ganz<br />
neue Weise und bedient sich<br />
dabei der Bildästhetik von Blade<br />
Runner, inklusive wuchernder<br />
Architektur, Dauerregen und<br />
einer allgegenwärtigen Düsternis,<br />
die von leuchtenden Farben<br />
(hauptsächlich Rot) aufgebrochen<br />
wird.<br />
Nachdem der dritte Weltkrieg<br />
mit Chemiewaffen ausgetragen<br />
wurde, hat sich ein starkes Ungleichgewicht<br />
zwischen den<br />
letzten bewohnbaren Arealen<br />
entwickelt. In der United Federation<br />
of Britain (UFB) herrscht<br />
Wohlstand, während die Kolonie<br />
(das zukünftige Australien)<br />
einen finsteren Schmelztiegel<br />
verschiedenster Kulturen darstellt.<br />
Douglas Quaid, der von Colin<br />
Farrell gespielt wird, arbeitet in<br />
der UFB an Polizei-Androiden,<br />
kann sich jedoch nur eine kleine<br />
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Wohnung in der Kolonie leisten.<br />
Täglich pendelt er mit dem sogenannten<br />
„Fall“, einem gigantischen<br />
Aufzugsystem, das den<br />
Erdkern durchquert, von einer<br />
Seite der Erde zur anderen,<br />
während er abends sein Gehalt<br />
in Alkohol investiert.<br />
Quaid ist getrieben von dem<br />
Gefühl, dass sein Leben leer und<br />
bedeutungslos ist – und dass es<br />
einmal anders war. In seinen<br />
Träumen ist er ständig auf der<br />
Flucht, aber er tut dort etwas<br />
Sinnvolles. Etwas, woran es sich<br />
lohnt zu glauben. Seine Unzufriedenheit<br />
treibt ihn schließlich<br />
zu Rekall, wo ihm versprochen<br />
wird, ihm mittels künstlicher<br />
Erinnerungen ein ganz neues<br />
Leben zu schenken. Allerdings<br />
müsse er aufpassen, dass sich<br />
seine Wunscherinnerung nicht<br />
auf das reale Leben bezieht.<br />
Quaid entscheidet sich für das<br />
aufregende und unrealistische<br />
Szenario, ein Doppelagent zu<br />
sein.<br />
Kaum wird er an die Maschine,<br />
die seine neuen Erinnerungen<br />
implantieren soll, angeschlossen,<br />
bricht die Hölle los und ein<br />
Sonderkommando stürmt die<br />
Rekall-Niederlassung. Quaid<br />
entdeckt unglaubliche Fähigkeiten<br />
an sich und wird zum Gejagten.<br />
Anscheinend war er<br />
wirklich ein Agent, und seine<br />
Erinnerungen wurden bei Rekall<br />
aktiviert. Denn die Prozedur<br />
hatte noch gar nicht begonnen<br />
– oder etwa doch?<br />
Wie auch der Originalfilm beherrscht<br />
Total Recall das Spiel<br />
mit der Frage, ob irgendetwas<br />
ab dem Besuch bei Rekall wirklich<br />
passiert, geradezu meisterhaft.<br />
Als Quaid zum Gejagten<br />
wird, bleibt kaum Zeit, über<br />
diese Frage nachzudenken, doch<br />
später im Film wird sie sehr<br />
präsent. Seine Verfolger versuchen,<br />
ihm weiszumachen, dass<br />
er immer noch bei Rekall sei<br />
und dass er endlich aufwachen<br />
müsse. Quaid beginnt an der<br />
Echtheit seiner Erlebnisse zu<br />
zweifeln, doch letztlich entscheidet<br />
er sich dafür, weiterzumachen<br />
und dem Mysterium<br />
um seine Agentenvergangenheit<br />
auf den Grund zu gehen.<br />
Total Recall entwickelt sich zu<br />
einem Actionspektakel, das vor<br />
allem visuell überzeugt. Sowohl<br />
die düstere Kolonie als auch die<br />
scheinbar makellose Welt der<br />
UFB werden stimmungsvoll<br />
inszeniert und warten mit allerhand<br />
futuristischen und cyberpunkigen<br />
Details auf.<br />
So erinnert die Kolonie beispielsweise<br />
an eine überfüllte<br />
asiatische Metropole mit florierendem<br />
Schwarzmarkt und<br />
sündigen Vergnügungen, während<br />
die Menschen in der UFB<br />
ihre lichtdurchfluteten Straßen<br />
mit grünen Flecken schmücken,<br />
als hätte die Natur noch irgendeine<br />
Bedeutung. Spannend ist<br />
vor allem die Technologie der<br />
Zukunftsvision, in der Quaid<br />
sein Telefon als Implantat in der<br />
Hand trägt und mittels Druck<br />
auf eine Glasscheibe das passende<br />
Bild dazubekommt. In der<br />
Kolonie sind zudem leuchtende<br />
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Tätowierungen angesagt, und<br />
Schönheitsoperationen kennen<br />
kaum noch Grenzen, wie eine<br />
dreibusige Dame beweist (die<br />
gleichzeitig eine Hommage an<br />
Die totale Erinnerung darstellt).<br />
Die Polizeiarbeit wird währenddessen<br />
von speziell für den<br />
Kampf entwickelten Androiden<br />
übernommen, die zwar stark,<br />
aber noch nicht intelligent genug<br />
für einen Einsatz ohne<br />
menschliche Anführer sind. Was<br />
die wuchernde Architektur betrifft,<br />
geht Total Recall weiter als<br />
Blade Runner, denn die wie ein<br />
Irrgarten in einen dunkelgrauen<br />
Himmel wuchernden Betongebäude<br />
scheinen in der Luft zu<br />
hängen und sind mit allerhand<br />
Metallbrücken verbunden.<br />
der Welt entscheidend wären.<br />
Die beiden Frauen in Quaids<br />
Leben sind (cyberpunktypisch)<br />
taffe Ladys, bestens für den<br />
Kampf ausgebildet und natürlich<br />
verdammt attraktiv. Leider<br />
artet ihre Interaktion in einen an<br />
ein Eifersuchtsdrama erinnernden<br />
Catfight aus.<br />
Die Antagonisten sind recht<br />
stereotyp geraten, und das Ende<br />
könnte man glatt als kitschig<br />
bezeichnen. Dazu mangelt es<br />
Colin Farrell als Quaid an Ecken<br />
und Kanten, er wirkt schlichtweg<br />
zu smart und zu gefällig.<br />
Das bedeutet weniger, dass<br />
Farell keinen guten Job macht,<br />
vielmehr wurde seine Figur<br />
schwach ausgearbeitet, und so<br />
dient er mehr als Frauenschwarm<br />
denn als kantiger Cyberpunkheld.<br />
Wer nicht permanent Vergleiche<br />
mit der früheren Verfilmung<br />
zieht und Lust auf Daueraction<br />
in einem coolen Cyberpunksetting<br />
hat, wird mit Total Recall<br />
seine Freude haben. Zudem<br />
zeigt der Film eindrucksvoll,<br />
dass Cyberpunk nach wie vor<br />
ein aktuelles Thema ist, und<br />
stellt eine gelungene Mischung<br />
aus klassischen Genreelementen<br />
und frischen Ideen dar. Den<br />
Director’s Cut (der länger und<br />
damit empfehlenswert ist) auf<br />
Blu-ray kann man inzwischen<br />
recht günstig bekommen.<br />
Bei all der unterhaltsamen Action<br />
und den visuellen Highlights<br />
lässt Total Recall die inhaltliche<br />
und charakterliche<br />
Tiefe vermissen. Der Film ist<br />
eine durchgängige Hetzjagd, die<br />
kaum Raum für Nebencharaktere<br />
lässt, die für die Lebendigkeit<br />
Copyright by Sony Home Entertainment<br />
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The Diamond Age<br />
Eine Rezension von Almut Oetjen<br />
Autor: Neal Stephenson<br />
Verlag: Goldmann (2014)<br />
Genre: Post-Cyberpunk / Steampunk<br />
eBook (epub)<br />
559 Seiten, 8,49 EUR<br />
ISBN: 978-3-641-14682-5<br />
(es gibt diverse alte Taschenbuchausgaben)<br />
In einer zeitlich unbestimmten<br />
Zukunft erhält der neoviktorianische<br />
Nanotechniker<br />
John Percival Hackworth von<br />
dem Großindustriellen Lord<br />
Alexander Finkle-McGraw den<br />
Auftrag, für dessen vierjährige<br />
Enkelin Elizabeth die „Illustrierte<br />
Fibel für die junge Dame“ zu<br />
erstellen, ein interaktives Buch<br />
als Basis für die Erziehung des<br />
Mädchens. Es soll ein Substitut<br />
für sämtliche erzieherischen Institutionen<br />
sein, das Mädchen<br />
optimal auf seine Zukunft vorbereiten<br />
und es gleichzeitig mit<br />
einem rebellischen Geist ausstatten,<br />
der den Herrschenden von<br />
Nutzen sein kann.<br />
Hackworth erstellt jedoch nicht<br />
nur das gewünschte Unikat,<br />
sondern einen weiteren Band für<br />
seine Tochter. Dieser Band gerät<br />
in den Besitz eines Mädchens aus<br />
der Unterschicht, der vierjährigen<br />
Nell. Nell lernt mithilfe der<br />
Fibel, zu lesen, zu schreiben und<br />
ihr Äußeres sowie ihr Urteilsvermögen<br />
zu entwickeln.<br />
Little Nell und der digitale Erziehungsratgeber<br />
Wie könnten Medien der Zukunft<br />
aussehen, die der Bildung<br />
und Erziehung des Menschengeschlechts<br />
oder dessen Elite dienen<br />
sollen? Stephenson verbindet<br />
dieses alte Anliegen mit einem<br />
Szenario gesellschaftlicher<br />
Entwicklung, die getrieben ist<br />
durch Herstellung und Absicherung<br />
von Machtinteressen. Er<br />
arbeitet die Nanotechnologie<br />
nicht literarisch in Haarwaschmittel<br />
und Tomatenketchup ein,<br />
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sondern überträgt sie in den Sektor<br />
humanistischer Bildung und<br />
politisiert sie konsequent.Die<br />
gesellschaftlichen Folgewirkungen<br />
des Einsatzes nanotechnologischer<br />
Entwicklungen, namentlich<br />
im Erziehungsbereich, sind<br />
eins seiner Themen.<br />
Hierzu verwendet er drei Charaktere<br />
als Hauptfiguren: die<br />
kleine Nell mit der Fibel, John<br />
Percival Hackworth, den Entwickler<br />
der auf Smart-Paper verfassten<br />
Fibel, und Miranda, eine<br />
Schauspielerin, die die Texte der<br />
Figuren in dieser Fibel spricht<br />
und an der Schnittstelle die Verbindungsfigur<br />
für die Netzwerkbeziehung<br />
zu Nell ist. Zusammengefasst<br />
scheint die Fibel die<br />
Hauptfigur zu sein.<br />
The Diamond Age erzählt in zwei<br />
Handlungssträngen vom Niedergang<br />
John Percival Hackworths<br />
und vom Aufstieg Nells.<br />
Die beiden Stränge weisen Querverbindungen<br />
auf, bis sie nach<br />
rund zehn Jahren Handlungszeit<br />
von Stephenson auf ein Gleis<br />
gesetzt und gegeneinander auf<br />
Crashkurs geschickt werden.<br />
Stephenson kombiniert in seiner<br />
Erzählung eine Dickens’sche<br />
Geschichte vom Erwachsenwerden<br />
und gesellschaftlichen Aufstieg<br />
eines Kindes – man erinnere<br />
sich an Little Nell aus dem<br />
Dickens-Roman Der Raritätenladen<br />
(The Old Curiosity Shop) – mit<br />
einer Zukunftswelt, die durch<br />
Nanotechnologie bestimmt wird.<br />
Daraus ist keine der mittlerweile<br />
in beträchtlicher Anzahl existierenden<br />
Parallelweltgeschichten<br />
in viktorianischem Setting geworden,<br />
sondern eine Zukunftsgeschichte,<br />
in der Wertvorstellungen<br />
des 19. Jahrhunderts bestimmend<br />
sind und die Elemente<br />
des Steampunk enthält.<br />
Insoweit er Science Fiction erzählt<br />
und diese gesellschaftspolitisch<br />
verortet, handelt es sich bei<br />
The Diamond Age um Cyberpunk.<br />
(Teile der Rezeption sehen ihn<br />
als Nicht-Cyberpunk, andere als<br />
Post-Cyberpunk.) Wichtige Cyberpunk-Komponenten<br />
sind der<br />
Kollaps der Nationalstaaten und<br />
chirurgisch in den menschlichen<br />
Körper implantierte Technologien:<br />
Kameras, die die Größe von<br />
Mikroorganismen haben, Schusswaffen,<br />
die in den Schädel gearbeitet<br />
sind und über Gedanken<br />
gesteuert werden, phantaskopische<br />
Systeme auf der Retina,<br />
Soundsysteme im Trommelfell.<br />
Es gibt auch in das Rückenmark<br />
implantierte „telæstetics“, die<br />
jedoch nicht unproblematisch<br />
sind. Für Medienkonzerne arbeitende<br />
Hacker können sich Zugang<br />
zu ihnen verschaffen und<br />
Werbung in das periphere Sichtfeld,<br />
manchmal auch direkt auf<br />
die Fovea übertragen.<br />
Stephenson hat den Erzählstrang<br />
um die Fibel so konstruiert, dass<br />
er darin seine Gedanken über<br />
künstliche Intelligenz, die er<br />
auch Pseudo-Intelligenz nennt,<br />
die Unterscheidung zwischen<br />
künstlicher und menschlicher<br />
Intelligenz, insbesondere im<br />
ökonomischen Kontext, und über<br />
Turingmaschinen unterbringen<br />
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kann. Die Fibel ist aber nicht<br />
vollständig und ausschließlich<br />
eine Turingmaschine, wie sich<br />
bald zeigt, weil reale Menschen<br />
hinter den digitalen Konstrukten<br />
stehen.<br />
Weltenbau<br />
In The Diamond Age bildet nicht<br />
mehr Energie, sondern die Nanotechnologie<br />
den Blutkreislauf,<br />
ohne den Wirtschaftsleben nicht<br />
mehr möglich ist. Materie-<br />
Compiler sind die alles beherrschende<br />
und erzeugende Produktionstechnologie.<br />
Die Welt<br />
wird durch freie Märkte bestimmt.<br />
Diese Entwicklung wurde<br />
eingeleitet durch den global<br />
unbeschränkten elektronischen<br />
Transfer von Kapital und Informationen.<br />
Regierungen haben<br />
keinen Zugriff mehr auf Kapitalströme,<br />
die Steuererhebung ist<br />
eine bedeutungslose Restgröße<br />
im politischen Handeln.<br />
Von nennenswerter ökonomischer<br />
Bedeutung sind eigentlich<br />
nur Eigentumsrechte an den<br />
Bauplänen, den Produktionsinformationen<br />
für die Materie-<br />
Compiler, außerdem die Steuereinrichtungen<br />
für die Compiler<br />
und Fabriken für atomare Bausteine,<br />
schließlich die Feeder-<br />
Leitungen für die Versorgung<br />
der Compiler mit Material. Stephenson<br />
greift hier auch die in<br />
den 1990er-Jahren intensiv geführte<br />
Diskussion um Eigentumsrechte<br />
und freien Zugang<br />
bei Internettechnologien (besonders<br />
Software) auf.<br />
Die Welt von The Diamond Age<br />
wird in ihrer Struktur bestimmt<br />
durch Phyles, Stammeskulturen,<br />
die mitunter von Stephenson<br />
auch als Tribes bezeichnet werden.<br />
Sie haben Nationalstaaten<br />
ersetzt und grenzen sich gegeneinander<br />
ab durch vor allem ethnische<br />
Herkunft, Religion und<br />
einen Moralkodex.<br />
Die Phyles verhalten sich zueinander<br />
wie Nationalstaaten.<br />
Grundlage ihres friedlichen Zusammenlebens<br />
ist das „Common<br />
Economic Protocol“ (CEP). Dieses<br />
Protokoll ist eine rechtsverbindliche<br />
Vereinbarung, durch<br />
die Handlungen bis hin zum<br />
wirtschaftlich bewerteten Tötungsdelikt<br />
geregelt sind.<br />
Stephenson unterscheidet drei<br />
große Phyles: die Han-Chinesen,<br />
die Neo-Viktorianer und Nippon.<br />
Als möglicher vierter Phyle<br />
diskutiert wird Hindustan, wobei<br />
unklar ist, ob es sich um eine<br />
Ansammlung kleinerer Stämme<br />
handelt. Weiter gibt es hunderte<br />
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kleiner und weltpolitisch unbedeutender<br />
Phyles, darunter<br />
CryptNet und die Drummers.<br />
Während Neu-Atlantis und Nippon<br />
territorial nicht gebundene<br />
Konstrukte sind, die sich nach<br />
Bedarf dank vorhandener Technologien<br />
einfach neue Offshore-<br />
Inseln schaffen können, sind die<br />
meisten Chinesen territorial gebunden.<br />
Die Neo-Viktorianer, zu denen<br />
John Percival Hackworth gehört,<br />
sind eine wirtschaftsaristokratische<br />
Elite, deren Mitglieder sich<br />
Dividenden-Lords nennen. Sie<br />
sprechen einen gepflegten Dialekt,<br />
den sie dem viktorianischen<br />
Englisch entlehnt haben. Sie kontrollieren<br />
die Weltproduktion an<br />
Konsumgütern und Immobilien,<br />
befinden sich in wirtschaftlicher<br />
Konkurrenzbeziehung mit Nippon<br />
und betreiben Außenposten<br />
in der Küstenrepublik im Südchinesischen<br />
Meer, von wo aus<br />
sie den letzten Nationalstaat<br />
wirtschaftlich erschließen wollen,<br />
das Reich der Han-Chinesen.<br />
In Leasing-Parzellen, die in der<br />
Küstenrepublik bestehen, existiert<br />
eine ökonomische Unterschicht,<br />
die durch Alimentierung<br />
abgesichert und ruhig gestellt ist.<br />
Die Befriedigung von Grundbedürfnissen<br />
schließt jedoch Bildung<br />
und einen sozialen Aufstieg<br />
in einen der Stämme aus.<br />
Fazit<br />
Neal Stephensons vierter Roman,<br />
The Diamond Age, ist ein breit<br />
angelegtes Werk, dessen Lektüre<br />
eine hohe Aufmerksamkeit erfordert.<br />
Auf den ersten Blick<br />
wirkt er etwas verwirrend, viele<br />
neue beziehungsweise fremde<br />
Begriffe werden nicht erklärt und<br />
erst später im erzählerischen<br />
Zusammenhang deutlich. Der<br />
Autor entwirft eine feine Erziehungs-<br />
und Bildungsgeschichte,<br />
die in einer durch die Nanotechnologie<br />
geprägten Zukunft<br />
spielt. Neal Stephenson zu lesen<br />
bedeutet immer Arbeit, macht<br />
aber auch immer Spaß.<br />
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Interview mit Francis Knight<br />
geführt von Judith Madera<br />
PHANTAST: Hallo, Francis! In<br />
unserer aktuellen Ausgabe<br />
dreht sich alles um Cyberpunk –<br />
was verbindest Du persönlich<br />
mit dem Genre?<br />
Francis Knight: Ich glaube, am<br />
meisten verbinde ich damit den<br />
Gebrauch von Technik (jeglicher<br />
Art) und seine negativen Auswirkungen<br />
auf die gewöhnlich<br />
dystopische Gesellschaft.<br />
Was die Atmosphäre angeht,<br />
erinnert der Cyberpunk oft an<br />
den Film noir und die Kriminalliteratur.<br />
Hauptfiguren sind<br />
meist Einzelgänger oder auf<br />
eine andere Weise Außenseiter.<br />
So in der Art von Raymond<br />
Chandler trifft auf SF über die<br />
nahe Zukunft.<br />
PHANTAST: Welche Cyberpunkromane/-autoren<br />
hast Du<br />
gelesen? Und was / wer hat Dir<br />
am besten gefallen?<br />
Francis Knight: William Gibson,<br />
Phillip K. Dick, Richard K. Morgan<br />
und Charlie Stross kommen<br />
mir da in den Sinn – ich bewege<br />
mich als Leser in allen Genres,<br />
konzentriere mich also eher<br />
nicht auf ein einziges.<br />
Am meisten mag ich Phillip K.<br />
Dick. Ich liebe, wie er Erfindung<br />
oder Entwicklung X eine Gesellschaft<br />
verändern lässt, vor allem<br />
wie sie anfangs gut erscheinen<br />
kann und letztlich ungeahnte<br />
Auswirkungen zeitigt.<br />
PHANTAST: Die ersten Kapitel<br />
von Weg ins Nichts lesen sich<br />
durchaus wie Cyberpunk, später<br />
klingt die Story eher wie<br />
dreckige Dark Fantasy. Kannst<br />
Du grob umreißen, was die Leser<br />
erwartet?<br />
Francis Knight: Es finden sich<br />
durchaus Elemente des Cyberpunk<br />
– etwa bei der Atmosphäre<br />
und der Hauptfigur. Auch<br />
Technik spielt eine Rolle, aber<br />
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der Unterschied ist, dass der<br />
Technik eine unvollständig verstandene<br />
Magie zugrunde lag,<br />
zumindest bis Magie verbannt<br />
wurde – Magie trieb Kutschen<br />
an, beleuchtete Häuser usw.<br />
Als jedoch Synth erfunden wurde,<br />
benötigte man nicht länger<br />
Magier, da diese synthetische<br />
Energiequelle für alles brauchbar<br />
war. Leider ergaben sich –<br />
wie bei vielen Erfindungen –<br />
unbeabsichtigte Folgen! Man hat<br />
eine Notlösung gefunden, aber<br />
die ist nicht perfekt. Man versucht<br />
davon abzugehen, die<br />
Magie als Energiequelle fürs<br />
alltägliche Leben zu benutzen,<br />
und forscht ausgiebig in dieser<br />
Richtung – jüngst wurden<br />
Schusswaffen entwickelt, und<br />
einige wirklich gute Alchimisten<br />
stehen kurz vor einem Durchbruch<br />
im Bereich der Elektrizität<br />
–, aber dann beginnt das Buch,<br />
und es sieht so aus, als werde<br />
die Magie mehr benötigt, als<br />
man dachte ...<br />
ihn wenig von Bedeutung (inklusive<br />
er selbst), und er denkt<br />
äußerst zynisch von der Gesellschaft,<br />
in der er lebt. Im Verlauf<br />
der Serie lernt er dann ständig<br />
dazu und beginnt den Wert anderer<br />
Menschen – und den eigenen<br />
– zu erkennen. Zynisch<br />
bleibt er aber trotzdem!<br />
Ich glaube, was mir an Rojan am<br />
besten gefällt, ist der Gegensatz<br />
aus ruppigem Auftreten und<br />
einem ganz anderen Innenleben.<br />
Er ist einfach ein Mensch, der<br />
versucht, die konfuse Welt zu<br />
verstehen, in der er lebt, und<br />
damit kaum Erfolg hat.<br />
Vielleicht kann man das Buch<br />
als eine Art Fantasy-Cyberpunk<br />
mit Noir-Elementen beschreiben.<br />
PHANTAST: Welchen der Charaktere<br />
Deiner Rojan Dizon-Serie<br />
magst Du am liebsten? Und was<br />
sagen Deine Leser?<br />
PHANTAST: Was ist Dein Protagonist<br />
Rojan für ein Typ? Anfangs<br />
erscheint er recht egoistisch<br />
und depressiv …<br />
Francis Knight: Das beschreibt<br />
ihn haargenau! Zu Beginn ist für<br />
Francis Knight: Ich glaube, Rojan<br />
ist jemand, mit dem man gut<br />
rumwitzeln könnte. Meine Lieblingsfigur<br />
(und die der meisten<br />
Emails, die ich erhalten habe) ist<br />
jedoch Pasha. Der ist sich auch<br />
nicht für witzige Sprüche zu<br />
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fein, aber vor allem hat er ein<br />
weiches Herz und ist fast schon<br />
das Gewissen, das Rojan anfangs<br />
fehlt.<br />
Pasha trägt tiefe emotionale<br />
Narben mit sich herum, aber er<br />
tut sein Bestes, damit klarzukommen.<br />
Während Rojan aufgrund<br />
seiner Erfahrungen die<br />
herrschende Religion ablehnt,<br />
findet Pasha Trost darin, leidenschaftlich<br />
an sie zu glauben,<br />
obwohl in seiner Heimat die<br />
Göttin eigentlich ganz anders<br />
verehrt wird. Er sieht in Rojan<br />
den bitteren Mann, der er selbst<br />
hätte werden können, dank harter<br />
Arbeit an sich aber nicht geworden<br />
ist. Er ist im Wesentlichen<br />
ein von moralischem Denken<br />
geleiteter Mensch, und Rojan<br />
ist ziemlich neidisch auf ihn.<br />
PHANTAST: Wie ist die Gesellschaft<br />
in Weg ins Nichts aufgebaut?<br />
Und welchen Stellenwert<br />
haben die Magier?<br />
Francis Knight: Zu Beginn des<br />
Buches genießen Magier keinerlei<br />
Ansehen – sie sind Ausgestoßene.<br />
Schon deshalb benutzt<br />
Rojan Magie sehr umsichtig<br />
(ganz abgesehen davon tut sie<br />
weh, und er ist in Sachen<br />
Schmerz ein Feigling).<br />
Vor vielen Jahren übten die Magier<br />
– ziemlich repressiv – die<br />
Herrschaft aus. Als Folge kam<br />
es zu einem Staatsstreich, und<br />
die Priester übernahmen die<br />
Macht. Unglücklicherweise erwiesen<br />
die sich als ebensolche<br />
Gewaltherrscher.<br />
Da die Stadt vertikal aufgebaut<br />
ist, lebt es sich am besten ganz<br />
oben, wo man regelmäßig die<br />
Sonne scheinen sieht. Dort leben<br />
auch all die Bischöfe und Kardinäle.<br />
Unterhalb befinden sich<br />
verschiedene Schichten – je ärmer<br />
man ist, desto näher kommt<br />
man dem Boden und dem tödlichen<br />
Synthtox.<br />
PHANTAST: Magie wird in<br />
Weg ins Nichts mit Hilfe von<br />
Schmerz gewirkt. Wie funktioniert<br />
das? Und gibt es auch andere<br />
Formen von Magie?<br />
Francis Knight: Hm, für mich<br />
muss jede Magie eine Kraftquelle<br />
besitzen, sei sie nun innerlich<br />
oder äußerlich. Ich spielte mit<br />
einigen Ideen herum, die Magie<br />
als Energie mit Eigenschaften<br />
wie Elektrizität behandeln: Ist<br />
sie einmal erzeugt, fließt sie unter<br />
bestimmten Bedingungen,<br />
entlädt sich sogar in einer Art<br />
Überspannung, wenn man sie<br />
lässt. Schmerz ist die innerliche<br />
Turbi ne, die sie in Gang setzt.<br />
Es gibt noch andere, schwächere<br />
Formen von Magie, aber die<br />
kommen ziemlich selten vor. So<br />
kann ein Magier Magie mittels<br />
Schmerz wirken, und das muss<br />
nicht der eigene sein. Was offensichtlich<br />
Möglichkeiten des<br />
Missbrauchs eröffnet ...<br />
Rojan benutzt nur seinen eigenen<br />
Schmerz, aber eigentlich hat<br />
er Angst vor seiner Magie, und<br />
das nicht nur, weil sie wehtut.<br />
Bei zu häufigem Magiegebrauch<br />
kann ein Magier ins Nichts fallen<br />
– und ist dann verloren. Die<br />
Geschichte der Stadt ist übersät<br />
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mit Magiern, die völlig wahnsinnig<br />
wurden.<br />
PHANTAST: Nach welchem<br />
Vorbild hast Du den urbanen<br />
Moloch Mahala geschaffen? Wie<br />
ist die Stadt aufgebaut?<br />
Francis Knight: Mir scheint,<br />
dass Mahala einerseits von<br />
[Judge] Dredds Mega-City One<br />
und zum anderen von der Stadt<br />
aus Blade Runner inspiriert wurde.<br />
Im ersten Fall durch ihre<br />
Größe und die Art, wie sie gewachsen<br />
und gewuchert ist, im<br />
zweiten durch ihre Atmosphäre.<br />
Ursprünglich einmal war die<br />
Stadt eine Burg in einem tiefeingeschnittenen<br />
Gebirgstal, das als<br />
Pass zwischen zwei großen<br />
Staaten diente.<br />
Diese konnten nur über Mahala<br />
miteinander Handel treiben,<br />
wodurch die Stadt stetig wuchs.<br />
Ohne Raum sich auszubreiten,<br />
füllte sie schließlich das Tal aus<br />
bis zu seinem oberen Rand –<br />
und noch höher. Eine Gebäudeschicht<br />
über der anderen, und<br />
die besten und exklusivsten<br />
Gebäude ganz oben an der<br />
freien Luft.<br />
PHANTAST: Was befindet sich<br />
eigentlich außerhalb von Mahala?<br />
Gehst Du darauf im zweiten<br />
oder dritten Band ein?<br />
Francis Knight: Die Theokratie,<br />
die in Mahala herrscht, erzählt<br />
den Menschen (die sonst womöglich<br />
fortziehen wollten)<br />
gern, es gebe nichts außerhalb<br />
der Stadt. Obwohl es logischerweise<br />
eine Außenwelt geben<br />
muss, immerhin treibt man<br />
Handel. Aber, wie Rojan sagt:<br />
Man kann gleichzeitig an zwei<br />
sich widersprechende Sachen<br />
glauben, etwa den Sonnenschein<br />
und den Regen. Zweifellos gibt<br />
es keinen Weg aus der Stadt<br />
hinaus, zumindest am Anfang<br />
des Buches. Im weiteren Verlauf<br />
der Bücher werden aber Menschen<br />
von außerhalb auftreten,<br />
wenn die Theokratie die Täuschung<br />
nicht mehr aufrechterhalten<br />
kann.<br />
PHANTAST: Du erwähntest<br />
Blade Runner als Inspiration.<br />
Was gefiel Dir an der Geschichte?<br />
Was gefällt Dir besser: Phil<br />
K. Dicks Roman oder Ridley<br />
Scotts Film?<br />
Francis Knight: Blade Runner ist<br />
einer meiner absoluten Lieblingsfilme,<br />
aber ich bin mir nicht<br />
sicher, ob ich das näher begrün-<br />
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den könnte. Vielleicht liegt es<br />
am düsteren Stil? Dass die ganze<br />
Gesellschaft ̶ mithilfe kleiner<br />
Einzelheiten hier und dort ̶<br />
lebendig wird, wodurch letztlich<br />
eine pulsierende, sehr reale<br />
Welt entsteht. Wie der Film mit<br />
Vorstellungen davon, was unsere<br />
Menschlichkeit ausmacht,<br />
umgeht (und spielt). Wie er diese<br />
bösartigen Killer einführt ...<br />
und dann unser Mitleid (auf<br />
jeden Fall meines) für sie erweckt.<br />
Das ist ein Meisterwerk<br />
der Erzählkunst.<br />
Do Androids Dream of Electric<br />
Sheep? ist da ganz anders ̶ obwohl<br />
gleichzeitig sehr ähnlich.<br />
Das Buch befasst sich mit denselben<br />
Themen, nur auf andere<br />
Art, und fügt ihnen noch die<br />
religiöse Bewegung des Mercerismus<br />
hinzu, um die Vorstellung<br />
zu untersuchen, dass das<br />
Leiden eines Einzelnen die Welt<br />
empathisch vereinen kann.<br />
Ich könnte mich nicht zwischen<br />
beiden Werken entscheiden ̶<br />
mir gefallen an ihnen ihre Unterschiede<br />
genauso wie ihre<br />
Ähnlichkeiten.<br />
PHANTAST: Kannst Du Dir<br />
eine Verfilmung der Rojan-<br />
Dizon-Romane vorstellen? Welchen<br />
Schauspieler sähest Du<br />
gern als Rojan?<br />
Francis Knight: Oh, ein<br />
Wunschtraum! Das könnte ich<br />
mir gut vorstellen. Ich bin ein<br />
sehr visuell denkender Autor,<br />
das heißt, die Geschichte läuft<br />
beim Schreiben wie ein Film vor<br />
meinen Augen ab. Das ist ja<br />
schon der halbe Weg.<br />
Was die Schauspieler angeht ̶<br />
alle, die für mich perfekt passen<br />
würde, sind heute schon ein<br />
bisschen zu alt.<br />
Eigentlich ist es eine ziemlich<br />
schwierige Frage, weil ich so ein<br />
genaues Bild in meinem Kopf<br />
habe ̶ ich würde also die Entscheidung<br />
dem Regisseur überlassen!<br />
Aber ich könnte mit<br />
Pedro Pascal leben (dem Oberyn<br />
Martell in Game of Thrones).<br />
PHANTAST: Hast Du Feedback<br />
aus Deutschland erhalten,<br />
von Fans oder Deinem deutschen<br />
Verlag?<br />
Francis Knight: Ja, und sehr<br />
positives. Besonders gefiel mir<br />
die Nachricht der Übersetzerin<br />
(Melanie Vogltanz), die schrieb,<br />
sie hätten die letzten Seiten von<br />
Buch drei in einer Marathonsitzung<br />
fertiggestellt, weil sie un-<br />
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bedingt wissen wollten, wie es<br />
ausgeht!<br />
PHANTAST: Last but not least<br />
eine der wichtigsten Fragen:<br />
Wann und warum begannst Du<br />
zu schreiben? Und wovon handelte<br />
Deine erste Geschichte?<br />
Francis Knight: Ich habe schon<br />
immer kleine Geschichten in<br />
meinem Kopf erfunden; mir war<br />
nur nicht klar, dass irgendjemand<br />
mir Geld dafür geben<br />
würde, sie lesen zu dürfen.<br />
Dann wurde ich jahrelang von<br />
ME umgeworfen (Myalgische<br />
Enzephalomyelitis ̶ das Chronische<br />
Erschöpfungssyndrom).<br />
Körperliche Anstrengung war<br />
mir fast unmöglich, ich war<br />
praktisch ans Haus gebunden.<br />
Ich war bei Tabletop-Rollenspielen<br />
immer Spielleiter gewesen,<br />
darum fing ich an ̶ als Verteidigungsstrategie<br />
gegen die<br />
Erbärmlichkeit des Nachmittagsfernsehens<br />
̶ , eine ausführlichere<br />
Geschichte zu schreiben.<br />
So entstand mein erstes Buch:<br />
Ein lang verschollener Zauberer,<br />
der mit einem Bann belegt wurde,<br />
wird zufällig von einer jungen<br />
Frau von geheimnisvoller<br />
Herkunft herbeibeschworen.<br />
Das war ... nicht das originellste<br />
Konzept aller Zeiten, aber die<br />
Lust am Schreiben hatte mich<br />
gepackt und ich habe seitdem<br />
einfach immer weitergemacht.<br />
Ich fand einen Kleinverlag, der<br />
das Buch veröffentlichte. Und es<br />
gewann sogar einen klitzekleinen<br />
Preis!<br />
PHANTAST: Herzlichen Dank<br />
für das schöne Interview, Francis!<br />
Francis Knight: Danke gleichfalls!<br />
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Weg ins Nichts<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Autorin: Francis Knight<br />
Verlag: Papierverzierer (2014)<br />
Cover: Tony Andreas Rudolph<br />
Übersetzerin: Melanie Vogltanz<br />
Genre: Fantasy / Cyberpunk<br />
Klappenbroschur<br />
416 Seiten; 14,95 EUR<br />
ISBN: 9783944544205<br />
Als Kopfgeldjäger fängt Rojan<br />
Dizon hauptsächlich Ausreißer<br />
und Kleinkriminelle ein und<br />
versucht sich aus großem Ärger<br />
herauszuhalten. Er lebt in den<br />
tieferen Ebenen der Stadt, um<br />
nicht als Schmerzmagier erkannt<br />
zu werden, da Magie offiziell<br />
verboten ist. Wirklich unglücklich<br />
ist er damit nicht, er<br />
nutzt seine Kräfte ohnehin nur<br />
für simple Tricks und will seine<br />
Grenzen nicht ausloten – viel<br />
lieber betrinkt er sich und geht<br />
mit mehreren Mädchen gleichzeitig<br />
aus.<br />
Als jedoch sein Bruder angeschossen<br />
und dessen Tochter<br />
entführt wird, ist Rojan gezwungen,<br />
sein bequemes, egozentrisches<br />
Leben aufzugeben<br />
und seine Nichte in der düsteren<br />
Unterstadt zu suchen …<br />
Weg ins Nichts spielt in der fiktiven<br />
Stadt Mahala, einem zwischen<br />
hohen Bergen eingekesselten<br />
Handelszentrum, das<br />
statt in die Breite in die Höhe<br />
gewachsen ist.<br />
Häuser wurden auf Häuser gebaut,<br />
und die Reichen leben in<br />
Höhen, die wie Inseln über der<br />
Stadt hängen, verbunden durch<br />
schwingende Straßen. Mahala<br />
ist ein riesiges architektonisches<br />
Durcheinander, doch die Gesellschaftsschichten<br />
sind klar abgegrenzt:<br />
Unten leben die Verlierer<br />
des Systems, in der Mitte die<br />
Händler und Arbeiter und oben,<br />
wie zu erwarten, die Reichen<br />
und Führer des Ministeriums,<br />
das einer Kirche gleicht und im<br />
Namen der Göttin hart durchgreift.<br />
Früher lieferte die<br />
Schmerzmagie die Energie für<br />
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Maschinen, Fahrzeuge, Beleuchtung<br />
etc., danach war es das<br />
Synth, welches sich als hochgiftig<br />
herausstellte und durch einen<br />
Stoff namens Glimm ersetzt<br />
wurde.<br />
Rojans Mutter ist an einer Synthvergiftung<br />
langsam und qualvoll<br />
gestorben, während sich<br />
sein Vater verpisst hat. Geprägt<br />
von dieser unglücklichen Kindheit,<br />
ist Rojan ein zynischer Egoist<br />
geworden, der seine wahre<br />
Natur vor dem Ministerium<br />
verbirgt und durch die Abgründe<br />
der Stadt schleicht, um sich<br />
mit Alkohol und Frauen abzulenken.<br />
Der Roman ist aus seiner<br />
Sicht in Ich-Perspektive geschrieben,<br />
wodurch man in den<br />
Genuss einer herrlich derben<br />
Sprache kommt, die perfekt zu<br />
Rojan als selbstsüchtigem Anti-<br />
Helden mit einem kleinen Funken<br />
Anstand passt.<br />
Als seine Nichte, von der er bisher<br />
nichts ahnte, entführt wird,<br />
beginnt Rojan sich zu verändern,<br />
schließlich tut er zum ersten<br />
Mal etwas Uneigennütziges.<br />
Zudem taucht er in die dunkelsten<br />
Geheimnisse Mahalas ein<br />
und entdeckt, dass in der Höhle<br />
unter der Stadt, dem früheren<br />
Mahala, immer noch Menschen<br />
leben – und ihr Leben erscheint<br />
ihm trotz der katastrophalen<br />
Zustände lebenswerter als das<br />
der abgerichteten Bevölkerung<br />
der Oberstadt.<br />
In der Unterstadt wird Rojan<br />
relativ schnell vom Ministerium<br />
verfolgt, doch er erhält Hilfe<br />
von zwei Bewohnern der finsteren<br />
Höhle, Jake und Pasha, die<br />
ihren Einfluss nutzen, um entführte<br />
Kinder zu befreien. Denn<br />
in der Höhle verschwinden<br />
ständig Mädchen und Jungen<br />
und werden von Schmerzmagiern<br />
gequält.<br />
Um ihre Rettungsmissionen zu<br />
finanzieren, kämpft die taffe<br />
Jake in einer Arena zur Belustigung<br />
der Bevölkerung. Man<br />
merkt früh, dass sie eine hochemotionale<br />
Frau mit Geheimnissen<br />
ist, doch diese versteckt sie<br />
unter einer kühlen und steinharten<br />
Fassade. Pasha wird dagegen<br />
von Rojan als „Äffchen“<br />
beschrieben, er ist freundlich<br />
und zurückhaltend. Doch Pasha<br />
hat noch eine andere Seite und<br />
kann von einer Sekunde auf die<br />
andere jemandem den Lauf einer<br />
Waffe ins Gesicht halten<br />
und eiskalt drohen.<br />
Zwischen Rojan, Pasha und Jake<br />
entwickelt sich langsam ein<br />
freundschaftliches Verhältnis,<br />
doch in diesem Dreiergespann<br />
gibt es bald diverse Konflikte,<br />
die neben der dramatischen<br />
Entführungsgeschichte zusätzliche<br />
Spannung in die Handlung<br />
bringen.<br />
In den letzten Kapiteln verliert<br />
sich die Autorin allerdings etwas<br />
im Gefühlschaos, das im<br />
harten Thrillerplot deplatziert<br />
wirkt. Auch scheint es Francis<br />
Knight schwer zu fallen, Szenen<br />
mit vielen Charakteren zu<br />
schreiben, denn sobald mehr als<br />
drei die Handlung tragende<br />
Personen anwesend sind, gehen<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
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die restlichen unter, und man<br />
wundert sich, wenn diese plötzlich<br />
etwas sagen. Das betrifft<br />
sogar den großen Antagonisten<br />
am Ende, der beinahe in Vergessenheit<br />
gerät und nur durch<br />
eingestreute gehässige Kommentare<br />
auffällt.<br />
Die ersten Kapitel von Weg ins<br />
Nichts lesen sich wie Cyberpunk,<br />
wobei sich nach und nach<br />
Fantasyelemente in die dystopische<br />
Geschichte mischen. Mahala<br />
erinnert dabei, wie von Francis<br />
Knight beabsichtigt, an düstere<br />
Cyberpunkstädte à la Blade<br />
Runner, während Jake genretypisch<br />
eine starke Frau ist, ähnlich<br />
wie Molly aus Neuromancer.<br />
Überhaupt werden Genrefans<br />
einige Parallelen zu bekannten<br />
Cyberpunkwerken entdecken.<br />
Schmerzmagie scheint die einzige<br />
Form von Magie zu sein, allerdings<br />
kann jeder seinen oder<br />
auch den Schmerz anderer für<br />
verschiedene Begabungen nutzen.<br />
Rojan kann beispielsweise<br />
Menschen ausfindig machen,<br />
und er kann sein Gesicht verändern<br />
– Fähigkeiten, die sich für<br />
das Gelingen seiner Mission als<br />
essentiell erweisen. Auf der<br />
Grundlage dieser Magie hat<br />
Francis Knight einen sehr eigenwilligen,<br />
dreckigen Roman<br />
verfasst, dessen zentrales Thema<br />
die Wandlung des Protagonisten<br />
Rojan ist. Gleichzeitig ist<br />
sein Weg eng mit dem Schicksal<br />
Mahalas verwoben, wo die<br />
technische Entwicklung zu<br />
schnell zu weit getrieben wurde.<br />
Die Geschichte lässt sich als<br />
Einzelroman lesen, endet aber<br />
offen und schafft damit Raum<br />
für die kommenden Bände. Der<br />
Papierverzierer-Verlag hat Weg<br />
ins Nichts als „besondere“ Klappenbroschur<br />
veröffentlicht,<br />
womit die erweiterte Rückseite<br />
des Buches gemeint ist. Diese<br />
lässt sich nämlich um das Buch<br />
herumklappen, sodass es von<br />
allen Seiten geschlossen ist, und<br />
als Lesezeichen nutzen (wobei<br />
das auf den letzten Seiten<br />
schwierig wird, zumindest<br />
wenn man den Umschlag nicht<br />
zerknittern will). Leider stört<br />
diese erweiterte Klappe beim<br />
Lesen.<br />
Fazit<br />
Weg ins Nichts ist eine dreckige<br />
Fantasy-Dystopie mit Cyberpunkelementen,<br />
die die Leserschaft<br />
durch eine knackig-derbe<br />
Sprache und einen egozentrischen<br />
Anti-Helden mit gutem<br />
Kern überzeugt. Rojan muss<br />
sein mieses, aber bequemes Leben<br />
verlassen und sich seiner<br />
größten Angst stellen: seiner<br />
Magie. Seine Entscheidungen<br />
beeinflussen das Schicksal einer<br />
Stadt, die ihren Zenit überschritten<br />
hat und aufs Chaos zusteuert<br />
– Hochspannung für weitere<br />
Bände garantiert!<br />
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Sky Doll – Die gelbe Stadt<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Autorin: Barbara Canepa<br />
Zeichner: Alessandro Barbucci<br />
Verlag: Splitter (2014)<br />
Genre: Science Fiction / Cyberpunk<br />
Hardcover<br />
48 Seiten; 14,80 EUR<br />
ISBN: 978-3-86869-710-0<br />
Sky Doll ist wieder da! Noch dazu<br />
in einer schicken Hardcoverausgabe,<br />
inklusive Ankündigung<br />
des lang ersehnten vierten Bandes<br />
Sudra. Aber kommen wir erst<br />
einmal zum Auftakt, der bei<br />
Splitter in neuem Glanz erstrahlt:<br />
Noa ist eine sogenannte Sky<br />
Doll, vollkommen rechtlos und<br />
den Launen ihres Besitzers Gott,<br />
des Eigentümers einer Astrowaschanlage,<br />
ausgeliefert. Ihr<br />
Versuch, für sich und die anderen<br />
Sky Dolls bessere Arbeitsbedingungen<br />
zu schaffen, scheitert<br />
kläglich. Trotzdem geht sie ihrer<br />
Arbeit mit professioneller Freude<br />
nach – bis einige Kunden ablehnend<br />
auf ihren reizvollen Körper<br />
reagieren und damit einen Unfall<br />
verursachen. Gott gibt Noa die<br />
Schuld und will sie umprogrammieren<br />
– da wagt sie den<br />
Sprung in die Freiheit …<br />
Auch die beiden Diplomaten<br />
Jahu und Roy sind in den Unfall<br />
in der Waschanlage verwickelt<br />
und freunden sich später mit<br />
Noa an. Sie sind unterwegs zum<br />
Planeten Aqua, um eine Mission<br />
für die Päpstin Ludowika zu<br />
erfüllen. Diese herrscht auf dem<br />
Planeten Papathea und beeindruckt<br />
ihre Gläubigen mit Wundern<br />
– die allerdings nichts weiter<br />
sind als eine ausgeklügelte<br />
und übertriebene Show.<br />
Trotzdem gelingt es Ludowika,<br />
große Teile der Bevölkerung für<br />
sich einzunehmen – doch es gibt<br />
auch Widersacher, die der verschollenen<br />
Päpstin Agape dienen.<br />
Dabei handelt es sich um<br />
niemand Geringeren als Ludo-<br />
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wikas Schwester, mit der sie<br />
einst gemeinsam regierte. Doch<br />
die Anhängerschaft der Schwestern<br />
bekriegte sich untereinander,<br />
und letztlich wurden<br />
dadurch auch Ludowika und<br />
Agape entzweit. Die Feindschaft<br />
der Päpstinnen ist das zentrale<br />
Motiv der Reihe, und Noa gerät<br />
zwischen die Fronten.<br />
Die Mischung aus dreckiger Science<br />
Fiction, schwarzem Humor<br />
und beiläufiger Erotik wird von<br />
kritischen und nachdenklichen<br />
Tönen ergänzt. Die Welt ist stark<br />
überzeichnet, doch gleichzeitig<br />
nicht ganz an der Wirklichkeit<br />
vorbei. Im Chaos der technischen<br />
Möglichkeiten und im Auseinanderklaffen<br />
der gesellschaftlichen<br />
Schichten klammern sich<br />
viele an den Pop-Art-Kult der<br />
Päpstin Ludowika, während sich<br />
andere vor der grausamen Herrscherin<br />
fürchten und ihre Liebe<br />
zur abtrünnigen Agape im Verborgenen<br />
ausleben.<br />
Neben der Gesellschaftskritik<br />
wird zudem der Frage nachgegangen,<br />
wie Persönlichkeit entsteht<br />
und inwiefern ein Androide<br />
wie eine Sky Doll ein lebendiges<br />
Wesen mit Gedanken und<br />
Gefühlen ist.<br />
Auch nach all den Jahren, die<br />
zwischen der deutschen Erstausgabe<br />
und dem Erscheinen der<br />
Neuauflage liegen, ist es erstaunlich,<br />
wie viel dieser Comic seinen<br />
Lesern bietet. Obwohl Barbucci<br />
mit Ekhö und Canepa mit END<br />
zwei wundervolle neue Reihen<br />
begonnen haben, bleibt Sky Doll<br />
ihr grelles Glanzstück.<br />
Sky Doll fällt vor allem durch die<br />
schrillen, knallbunten Zeichnungen<br />
auf, die in hartem Kontrast<br />
zu den sterilen Metallictönen der<br />
Hintergründe stehen. Visuell<br />
erinnert der Comic stark an Cyberpunk<br />
à la William Gibson, der<br />
ebenfalls einen gewissen Hang<br />
zur Farbe Pink hat.<br />
Hinzu kommen Elemente, die<br />
leicht an die siebziger Jahre erinnern<br />
und perfekt in diese schrille<br />
Welt passen. Die Sky Dolls verfügen<br />
trotz Serienproduktion<br />
allesamt über individuelle<br />
Merkmale. Noa sticht dabei am<br />
meisten heraus, denn im Gegensatz<br />
zu den anderen ziert ihr<br />
hübsches Gesicht kein Dauerlächeln.<br />
Allein durch ihre vielfältige<br />
Mimik trifft sie den Leser mitten<br />
ins Herz.<br />
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110
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Sehr schick ist zudem das Design<br />
der Gebäude und der fliegenden,<br />
teils weltraumtauglichen Gefährte.<br />
Im Vergleich zur früheren Carlsen-Ausgabe<br />
kommen die Zeichnungen<br />
im größeren Albenformat<br />
besser zur Geltung. Zudem<br />
wurde für den Dialogtext eine<br />
andere Schriftart verwendet, die<br />
besser zum Comic passt.<br />
Fazit<br />
Sky Doll ist und bleibt ein plastisches<br />
Meisterwerk: Als rechtlose<br />
Puppe in einer dystopischen<br />
Welt kämpft Noa für ihr Recht<br />
auf Persönlichkeit. Die supersympathische<br />
Sky Doll wächst<br />
dem Leser rasend schnell ans<br />
Herz, und ihre Geschichte wird<br />
mit so viel Humor, Nachdenklichkeit<br />
und beiläufiger Erotik<br />
erzählt, dass man sich einfach<br />
unsterblich in diesen Comic verlieben<br />
muss. Die schreiend bunten<br />
Farben mit den kühlen Hintergründen<br />
erzeugen eine bizarre<br />
Cyberpunk-Atmosphäre, wie<br />
man sie selten geboten bekommt.<br />
Ein Must-have für alle, die Andersartigkeit<br />
lieben und sowohl<br />
den oberflächlichen Glanz als<br />
auch den tiefsinnigen Dreck zu<br />
schätzen wissen!<br />
Bildausschnitte: Copyright by Alessandro Barbucci und Barbara Canepa / Splitter Verlag 2014<br />
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111
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Interview mit Marko Djurdjevic<br />
geführt von André Skora<br />
PHANTAST: Hallo, Marko, vielen<br />
Dank, dass Du Dir die Zeit<br />
für dieses Interview genommen<br />
hast. Stellst Du Dich bitte kurz<br />
vor?<br />
Marko Djurdjevic: Mein Name<br />
ist Marko Djurdjevic, 1979 in<br />
Koblenz geboren, seit 1996 als<br />
freischaffender Illustrator tätig.<br />
Ich habe seit meinen frühen Anfangstagen<br />
als Illustrator für die<br />
Feder&Schwert-Produkte von<br />
White Wolf gezeichnet, später<br />
für Shadowrun, englische White-<br />
Wolf-Produkte und vieles mehr.<br />
2004 habe ich zusammen mit<br />
Christian Günther Degenesis auf<br />
den deutschen Markt gebracht<br />
und bis 2005 begleitet.<br />
Seit zehn Jahren arbeite ich als<br />
Conceptartist für Videospiele &<br />
Filme und habe gute fünf Jahre<br />
unter Exklusivvertrag bei Marvel<br />
Comics hunderte von Titelbildern<br />
entworfen, unter anderem<br />
für Spider Man, X-Men, Avengers,<br />
Thor und viele andere namhafte<br />
Titel. Vor vier Jahren habe ich<br />
SIXMOREVODKA in Berlin gegründet.<br />
Meine Firma produziert<br />
Conceptart, Ideen, kreative Entwürfe<br />
für Videospiele, Titelbilder<br />
von Magazinen, Filmen etc. und<br />
beliefert damit einige der wichtigsten<br />
Kunden im Entertainment-Bereich<br />
– von Warner<br />
Brothers, Sony, Riot Games bis<br />
Hasbro ist alles dabei.<br />
Ich bin selbst leidenschaftlicher<br />
Rollenspieler und habe mich mit<br />
dem Hobby, seit ich dreizehn<br />
bin, intensiv beschäftigt. Rollenspiele<br />
sind in meinen Augen das<br />
einzige Medium, das von den<br />
Entwicklern erfordert, gesamte<br />
funktionierende und in sich geschlossene<br />
Settings und Welten<br />
zu entwerfen. Während andere<br />
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Medien durch ihren auf Charaktere<br />
und Protagonisten bezogenen<br />
Blickwinkel nur Ausschnitte<br />
aus einem Setting zeigen müssen,<br />
erfordert es viel mehr Weitblick<br />
und Detailreichtum, ein<br />
Rollenspielsetting einzufangen.<br />
Die Kameralinse ist weitwinklig<br />
eingestellt, und man muss das<br />
gesamte Panorama einer Welt in<br />
einem Buch einfangen.<br />
Meine Lieblingssettings, die<br />
mich jahrelang begleitet haben,<br />
sind RuneQuest/Glorantha, Vampire:<br />
Die Maskerade und natürlich<br />
Degenesis.<br />
PHANTAST: Du und Christian<br />
Günther habt für einigen Wirbel<br />
gesorgt, als Ihr anhand eines<br />
Trailers bekanntgegeben habt,<br />
dass es zum Pen-&-Paper-<br />
Rollenspiel Degenesis eine Neuauflage<br />
geben wird. Wie kam es<br />
zu dieser Entscheidung?<br />
Marko Djurdjevic: Der Trailer<br />
war von langer Hand geplant.<br />
Wir haben den bereits im Mai<br />
2013 geschossen und produziert.<br />
Die Rebirth Edition war über zwei<br />
Jahre in Arbeit. Wir wussten von<br />
Anfang an, dass es sich nur<br />
lohnt, mit dem Produkt zurückzukommen,<br />
wenn wir das mit<br />
dem größtmöglichen Begleitorchester,<br />
das uns zur Verfügung<br />
steht, durchziehen.<br />
Durch meine Arbeit als Concept-<br />
Artist habe ich ein gewaltiges<br />
Netzwerk aus kreativen Menschen,<br />
auf die ich zurückgreifen<br />
kann, um solche Projekte zu<br />
stemmen, und es war seit langer<br />
Zeit ein Traum, auch filmisch<br />
unserer Idee einen Stempel aufzudrücken.<br />
Als visueller Mensch<br />
fällt es mir extrem leicht, die<br />
Welt von Degenesis im bewegten<br />
Bild vor Augen zu haben. Diese<br />
Welt wollte ich mit den mir zur<br />
Verfügung stehenden Mitteln<br />
auch unseren Fans und Supportern<br />
überreichen.<br />
PHANTAST: Hat der Trailer<br />
seine Wirkung erzielt, sprich:<br />
Wie war aus Eurer Sicht die Resonanz?<br />
Marko Djurdjevic: Ich denke,<br />
seine Wirkung konnte der Trailer<br />
gar nicht verfehlen. Es war vor<br />
allen Dingen eine verrückte Idee,<br />
so etwas zu realisieren, weil es so<br />
etwas für ein klassisches Pen-&-<br />
Paper-RPG noch nicht gab, und<br />
verrückte Ideen sind immer gut.<br />
Der Trailer ist inzwischen über<br />
40.000 Mal auf Youtube angeklickt<br />
worden, wir haben ein<br />
starkes und breites Medienecho<br />
bekommen, vor allen Dingen<br />
international, und, was noch viel<br />
wichtiger ist, wir haben Aufmerksamkeit<br />
außerhalb der relativ<br />
isolierten RPG-Szene erregt.<br />
Das ist für mich ein gutes Zeichen.<br />
Das Interesse an dem Medium<br />
ist nach wie vor da. Was<br />
wir als Entwickler langfristig<br />
schaffen müssen, ist, Leuten, die<br />
wenige Berührungspunkte mit<br />
der Szene haben, den Einstieg zu<br />
erleichtern.<br />
Das funktioniert immer gut<br />
durch das Einbinden anderer<br />
Medien. Ein Trailer ist schneller<br />
konsumiert als unsere beiden<br />
Bücher und kann neue Leute auf<br />
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113
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ein Produkt neugierig machen,<br />
das außerhalb ihrer Wahrnehmung<br />
liegt.<br />
PHANTAST: Nach dem Trailer<br />
folgten dann die ersten Ausstattungsdetails<br />
zu den Büchern. Da<br />
habt Ihr die Messlatte hoch angesetzt,<br />
oder?<br />
Marko Djurdjevic: Na ja, ich<br />
sehe das aus einem etwas anderen<br />
Blickwinkel. Wir haben mit<br />
dem uns zur Verfügung stehenden<br />
Budget und unserer Expertise<br />
das Beste rausgeholt, was<br />
unserem Team möglich war. Die<br />
Frage sollte doch aber eher sein,<br />
warum man so ein Maß an Qualität<br />
nicht überall und ständig<br />
bekommt.<br />
sich Käufer und Konsumenten<br />
von Rollenspielen stellen sollten,<br />
denn schließlich geben sie eine<br />
Menge Geld für ihr Hobby aus.<br />
Was ihnen im Gegenzug dafür<br />
geboten wird, finde ich fast<br />
schon eine Frechheit.<br />
Gerade vor ein paar Wochen<br />
habe ich durch ein Konkurrenzprodukt<br />
geblättert. 400+ Seiten.<br />
Gerade mal ca. 40 Illustrationen<br />
im A6-Format. Davon einige an<br />
mehreren Stellen des Buches<br />
recycelt. Da muss ich doch die<br />
Augenbraue hochziehen und<br />
ehrlich fragen, wie so etwas 2014<br />
noch durchgehen kann.<br />
PHANTAST: Wie kam es zu der<br />
Entscheidung, Degenesis einen<br />
kompletten Facelift zu verpassen<br />
und in dieser Version auf den<br />
Markt zu bringen?<br />
Warum setzen wir als Außenseiter<br />
die Messlatte hoch? Sollten es<br />
nicht wir sein, die sich mit etablierten<br />
Verlagen messen müssen?<br />
Warum ist die Messlatte im Bereich<br />
RPG so niedrig angesetzt,<br />
dass ein Buch wie Degenesis sofort<br />
auffällt? Das sind Fragen, die<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
114
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Marko Djurdjevic: Weil wir Rollenspiele<br />
lieben und weil wir an<br />
unser Produkt glauben. Weil wir<br />
zehn Jahre später reifer und mit<br />
mehr Planung an unser Projekt<br />
gehen können. Weil wir eine<br />
Geschichte weitererzählen wollen,<br />
die wir damals begonnen<br />
haben und die uns umgetrieben<br />
hat. Und weil wir Degenesis endlich<br />
so aussehen lassen wollten,<br />
wie wir glauben, dass es sich für<br />
dieses Projekt gehört. Es ist weniger<br />
ein Facelift als eine Version<br />
des Spiels, wie es damals schon<br />
hätte sein können, wenn wir<br />
Budget, Erfahrung und Zeit gehabt<br />
hätten.<br />
Was Leute immer gerne vergessen:<br />
Die alte Edition ist damals<br />
als Garagenprojekt von zwei<br />
Idealisten aus dem Boden gestampft<br />
worden. Ohne nennenswertes<br />
Produktionsbudget und<br />
nur mit Hilfe unserer Fans. Denen<br />
schulden wir diese neue<br />
Version am allermeisten.<br />
PHANTAST: Degenesis Rebirth<br />
basiert ja auf einem postapokalyptischen<br />
Hintergrund und<br />
trägt auch den Beinamen „Primal<br />
Punk“. Was ist darunter zu verstehen?<br />
Marko Djurdjevic: Primal Punk<br />
ist ein definierender Genrebegriff,<br />
den wir benutzen, um das<br />
Setting zu beschreiben. Urtümliche<br />
Wildheit, die Abkehr von<br />
zivilisatorischen Normen, primitive<br />
Instinkte, Waffen, Ziele in<br />
Kombination mit organisierten,<br />
kultischen Handlungen, Gruppierungen<br />
und der Umkehr von<br />
klassischen Hierarchien.<br />
PHANTAST: Die Kultur und<br />
das Miteinander haben sich verändert.<br />
Was ist unter Kulturkreis<br />
zu verstehen?<br />
Marko Djurdjevic: Kulturen,<br />
wie wir sie in Degenesis präsentieren,<br />
sind übriggebliebene Gemeinschaften<br />
von menschlichen<br />
Gruppen, die miteinander verschmolzen<br />
sind und nun über<br />
einen großen Landstrich hinweg<br />
die Kultur, deren Eigenheiten<br />
und Mentalität dominieren. Diese<br />
Kulturen sind keineswegs<br />
homogen zu verstehen, sondern<br />
sind eine Folge von Vermischung<br />
der Überlebenden des Eshatons.<br />
Die Kultur Frankas beispielsweise<br />
ist eine Mischung, die aus<br />
französischen, englischen, walisischen<br />
und belgischen Überlebenden<br />
hervorgegangen ist.<br />
Was nach 500 Jahren von diesen<br />
Menschen übriggeblieben ist,<br />
nennen wir im Spiel die Kultur<br />
Franka.<br />
PHANTAST: Tektonisch hat sich<br />
einiges getan, so sind das heutige<br />
Europa und Afrika nicht mehr<br />
wiederzuerkennen. D:RE spielt<br />
da auch mit Ängsten, Hoffnungen<br />
bzw. auch Vorhersagen<br />
(Klimawandel als Beispiel). Was<br />
war der Hintergedanke?<br />
Marko Djurdjevic: Degenesis ist<br />
eine rein fiktive Welt. Wir machen<br />
keine Zukunftsprognosen,<br />
aber wir diagnostizieren heutige<br />
Zustände, die wir überspitzt in<br />
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die Zukunft projizieren. Das gibt<br />
uns die Möglichkeit, eine realistische<br />
Welt zu zeichnen, was definitiv<br />
ein starkes Stilmittel ist, das<br />
wir in unserem Setting benutzen<br />
können.<br />
Nahe an der Realität zu sein<br />
macht es für Spieler einfacher,<br />
sich in der Spielwelt zurechtzufinden,<br />
wenn man einen Anker<br />
zurück in die Gegenwart auswerfen<br />
kann.<br />
PHANTAST: Ihr habt D:RE ein<br />
neues Regelsystem verpasst. Warum,<br />
und was erwartet uns nun?<br />
Marko Djurdjevic: Das alte Regelsystem<br />
war seinerzeit etwas,<br />
mit dem wir komplett zufrieden<br />
waren. Auch wenn es seine<br />
Schwierigkeiten hatte, haben wir<br />
gerne damit gespielt. Es erfüllte<br />
seinen Zweck, nämlich, seinen<br />
Charakter innerhalb der Welt<br />
von Degenesis zu manövrieren.<br />
Mehr sollte es damals nicht tun,<br />
und einen größeren Anspruch<br />
daran hatten wir nicht.<br />
Mit den Jahren haben wir aber<br />
festgestellt, dass es diesbezüglich<br />
Unmut gab und nicht alle Fans<br />
damit zufrieden waren bzw. dass<br />
es viel Jammer nach sich zog.<br />
Also haben wir das Katharsys<br />
völlig neu erdacht, samt Würfelmechanismus,<br />
Charaktererschaffung<br />
und Kampfsystem.<br />
Wir wollten es über das Setting<br />
hinaus schaffen, den Spielern<br />
Freude am Spieltisch zu bereiten.<br />
Diesen Spielspaß haben wir früher<br />
nur im Setting vermutet und<br />
das Spielsystem zu wenig mit<br />
einbezogen.<br />
Das neue Katharsys erfüllt diese<br />
Aufgabe viel besser, es verbindet<br />
Setting und Regeln miteinander<br />
und erlaubt eine größere Vielfalt,<br />
die sich eben auch aus den Regeln<br />
ergibt und nicht nur aus<br />
dem erzählerischen Aspekt des<br />
Spiels.<br />
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116
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PHANTAST: Wie viele Stunden<br />
Arbeit habt Ihr, über den Daumen<br />
gepeilt, in die Rebirth Edition<br />
investiert, und hat es sich aus<br />
Deiner Sicht gelohnt?<br />
Marko Djurdjevic: Stunden? Ha.<br />
Das kann ich nicht sagen. Die<br />
Rechnung hat noch niemand<br />
aufgestellt. Aber wir haben zwei<br />
volle Jahre daran gesessen. Im<br />
Endeffekt könnte man sagen, wir<br />
haben eine Seite pro Tag fertiggestellt,<br />
auch wenn es sicher<br />
nicht so pauschalisierbar ist.<br />
Manche Sachen gehen leichter<br />
von der Hand, andere Bereiche<br />
dauern ewig. Die Geißler beispielsweise<br />
waren einer der härtesten<br />
Brocken überhaupt. Chris<br />
und ich haben bestimmt zwei<br />
Wochen nur damit zugebracht,<br />
den Kult auseinanderzunehmen,<br />
wieder zusammenzusetzen und<br />
dann trotzdem alles zu verwerfen.<br />
Es gab so viele Anläufe, die<br />
am Ende alle in der Tonne gelandet<br />
sind, während andere<br />
Bereiche wie selbstverständlich<br />
mit neuen Ideen bestückt werden<br />
konnten.<br />
Und ob sich die Investition in ein<br />
RPG lohnt, steht wirklich außerhalb<br />
jeder Debatte. Degenesis ist<br />
ein Liebhaberprojekt mit größtmöglicher<br />
Ambition, jede Stunde,<br />
die man investiert, macht das<br />
Produkt nur besser und schöner.<br />
Das ist das Lohnenswerteste an<br />
dem ganzen Produkt.<br />
PHANTAST: Wie schwer war<br />
es, die Motivation zu behalten?<br />
Marko Djurdjevic: Sehr schwer.<br />
Gerade weil das Ausmaß nicht<br />
immer von vornherein abschätzbar<br />
war. Ursprünglich hatten wir<br />
500 Seiten veranschlagt, um die<br />
D:RE neu aufzulegen, aber<br />
schnell wurde klar, dass sie an<br />
allen Ecken und Enden immer<br />
dicker wurde. Fast wöchentlich<br />
mussten wir die Seitenzahl neu<br />
festlegen und neue Kostenvoranschläge<br />
beim Drucker bestellen.<br />
Das kann auf Dauer demoralisierend<br />
wirken, vor allem wenn<br />
man den Punkt erreicht, an dem<br />
man zu glauben beginnt, dass<br />
dieses Projekt niemals fertig<br />
werden wird. Wenn man dann<br />
bedenkt, dass man zwei Jahre<br />
Arbeit in etwas investiert hat,<br />
das inzwischen jeden Rahmen<br />
sprengt, schlägt das schon aufs<br />
Gemüt.<br />
Der Vorteil an Teamarbeit wiederum<br />
ist, dass man solche Motivationslöcher<br />
gemeinsam<br />
überwinden kann und dann<br />
trotzdem wieder aufsteht und<br />
weitermacht.<br />
PHANTAST: Ausstattungstechnisch<br />
kommt D:RE gewaltig daher.<br />
War Dir/Euch schnell klar,<br />
dass die Rebirth so gewaltig daherkommen<br />
soll?<br />
Marko Djurdjevic: Der Plan war<br />
von Anfang an, es optisch so<br />
eindrucksvoll wie möglich zu<br />
gestalten. Dadurch, dass die Seitenzahl<br />
jedoch immer weiter<br />
nach oben ging, wirkte sich das<br />
ebenfalls auf den Illustrationscount<br />
aus, was dazu führte, dass<br />
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117
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wir viel mehr Graphiken und<br />
Bilder erstellen mussten als ursprünglich<br />
geplant. Weil aber<br />
auch die reine Textmasse immer<br />
größer wurde, mussten wir im<br />
Nachgang circa 40 Illustrationen<br />
wieder rausnehmen und werden<br />
diese nun anderweitig verwerten<br />
müssen. Wir hoffen, dass wir sie<br />
in Nachfolgeprodukten entsprechend<br />
unterkriegen.<br />
PHANTAST: Was ist für Degenesis<br />
Rebirth noch geplant?<br />
Marko Djurdjevic: Eine ganze<br />
Menge. Unser Verlagsplan ist<br />
relativ weit aufgefächert. Degenesis:<br />
Black Atlantic wird unser erstes<br />
Nachfolgeprodukt für das<br />
Rollenspiel. Ein intensiver Kampagnenband,<br />
der die Spieler an<br />
die Westküste Frankas entführt<br />
und einige der großen Geheimnisse<br />
enthüllt, die wir schon in<br />
der Rebirth Edition gestreut haben.<br />
Weiterhin arbeiten wir an<br />
zwei sehr aufwendigen Quellenbüchern,<br />
zu denen ich in diesem<br />
Augenblick noch nichts verraten<br />
möchte. Da wird es in den kommenden<br />
Wochen und Monaten<br />
noch spannende Enthüllungen<br />
geben. Einfach die Füße still halten,<br />
wir geben Bescheid, wenn es<br />
etwas zu gucken und kaufen<br />
gibt.<br />
PHANTAST: Was steckt hinter<br />
dem Label SIXMOREVODKA?<br />
Marko Djurdjevic: SIXMORE-<br />
VODKA ist meine Firma, ein<br />
Conceptart- und Designstudio in<br />
Berlin, 2010 gegründet. Früher<br />
habe ich das Label schon für<br />
mich selbst genutzt, der Name ist<br />
relativ alt – bereits 2004 in Amsterdam<br />
nach einer durchzechten<br />
Nacht entstanden. Ich hatte mir<br />
immer vorgenommen, später<br />
irgendetwas mit dem Namen zu<br />
machen, schlussendlich wurde es<br />
der Firmenname selbst.<br />
SIXMOREVODKA produziert<br />
Konzepte, Ideen, Skizzen, Marketing-Artwork,<br />
Illustrationen<br />
für eine riesige Bandbreite internationaler<br />
Kunden. Wir beliefern<br />
Größen wie Warner Brothers,<br />
Sony und Riot Games mit einer<br />
Vielfalt an Artwork, Konzeptionszeichnungen<br />
und dergleichen,<br />
die wiederum in die Preproduction<br />
von Videospielen<br />
oder Filmen einfließen. Das ist<br />
streckenweise eine sehr spannende<br />
und vielfältige Arbeit, da<br />
wir unsere Fähigkeiten in verschiedenen<br />
Genres anwenden<br />
müssen und meist bei den ersten<br />
Schritten, die ein Videospiel oder<br />
Film auf sich nimmt, mit dabei<br />
sind.<br />
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118
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PHANTAST: Was hältst Du Leuten<br />
entgegen, die sagen, dass das<br />
Ganze nur als Imageprojekt für<br />
SIXMOREVODKA zu sehen ist?<br />
Marko Djurdjevic: Also, so gesagt<br />
hat mir das noch niemand,<br />
aber was soll es denn auch anderes<br />
sein? Kein Imageprojekt für<br />
die Firma? Ich wäre ja schön<br />
blöd, etwas zu produzieren, wofür<br />
ich mich im Nachhinein<br />
schämen muss. Wenn mit der<br />
Frage gemeint ist, ob wir Rollenspiele<br />
ernst nehmen, dann kann<br />
ich getrost „Ja” sagen.<br />
Ich liebe RPGs, bin selbst damit<br />
groß geworden. Ich habe meine<br />
Kindheit und Jugend damit verbracht,<br />
Rollenspiele zu wälzen,<br />
zu spielen und zu lesen. Ich finde,<br />
es gibt kaum ein Medium,<br />
das so reich an Inspirationen ist<br />
wie Rollenspiel, und ich bin froh,<br />
dass wir die Möglichkeiten besitzen,<br />
unser eigenes Projekt zum<br />
Leben zu erwecken.<br />
Das machen wir natürlich mit<br />
dem höchsten Anspruch an uns<br />
selbst, denn es soll ja auch der<br />
Liebe für das Medium gerecht<br />
werden. Nichts wäre bescheuerter,<br />
als so ein Nischenprodukt<br />
herauszubringen und es zu behandeln,<br />
als ob es ein Nischenprodukt<br />
wäre. Welchen Sinn<br />
würde das machen?<br />
PHANTAST: Wie bist Du zum<br />
Rollenspiel gekommen?<br />
Marko Djurdjevic: Als 13-<br />
jähriger in einem kleinen verstaubten<br />
Spielwarenladen in<br />
meiner Heimatstadt. Das Regal<br />
war gefüllt mit DSA-Boxen und<br />
einer einzigen RuneQuest-<br />
Ausgabe, die mich förmlich hypnotisierte.<br />
Von DSA wusste ich,<br />
dass Freunde es spielten, aber<br />
von RuneQuest hatte ich zuvor<br />
nie gehört. Das Cover und den<br />
marmorierten Einband fand ich<br />
moderner als die DSA-<br />
Titelbilder, es wirkte extravaganter<br />
neben all den anderen Boxen.<br />
Ich schlug also zu und verbrachte<br />
die nächsten zwei Wochen<br />
damit, das Regelwerk zu lesen<br />
und meinen Schulfreund Lars<br />
zum Spielen zu überreden. Kurze<br />
Zeit später hatten wir eine<br />
vierköpfige Gruppe und spielten<br />
unsere erste Kampagne über<br />
gute drei Jahre, in den Sommerferien<br />
fast jeden Tag im Garten<br />
oder auf dem Balkon und im<br />
Winter am Küchentisch. Von<br />
allen Hobbys begleiten mich Rollenspiele<br />
am längsten, und ich<br />
habe damit vielleicht den Großteil<br />
meiner Jugend verbracht.<br />
PHANTAST: Findest Du heute<br />
noch die Zeit zum Spielen?<br />
Marko Djurdjevic: Leider kaum,<br />
wobei wir gerade versuchen, im<br />
Studio wieder eine Gruppe entstehen<br />
zu lassen. Ich leite Kampagnen<br />
enorm gerne, aber ich<br />
tendiere auch zu einem sehr<br />
aufwändigen Perfektionismus in<br />
der Vorbereitungsphase. Bereits<br />
Wochen vor Spielbeginn zeichne<br />
ich tonnenweise Ingame-<br />
Kartenmaterial, altere es mit Kaffee<br />
und backe es dann im Ofen,<br />
um es wie echte Filmrequisiten<br />
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119
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aussehen zu lassen. Ich mache<br />
Aufnahmen von Tonträgern,<br />
stelle die perfekte Musik für jedes<br />
Abenteuer zusammen,<br />
zeichne Portraits für NSCs oder<br />
schreibe ganze Zeitungen, die<br />
von den Spielern im Spiel erworben<br />
werden können. Das ist extrem<br />
zeitraubend, und das kann<br />
man nur mit einer vernünftigen<br />
Gruppe lange Zeit durchhalten.<br />
PHANTAST: Du hast auch bei<br />
einigen anderen Rollenspielprojekten<br />
neben Degenesis Deine<br />
Spuren hinterlassen. Wie kam es<br />
dazu, dass Du Dein Talent zum<br />
Zeichnen entdeckt hast?<br />
Marko Djurdjevic: Ich habe von<br />
Kindesbeinen an gerne gezeichnet.<br />
Das war mein großes Hobby,<br />
und ich habe viel von meiner<br />
Freizeit damit verbracht, Dinge<br />
zu entwerfen, zu denen es keine<br />
Bilder gab. Nehmen wir das RuneQuest-Beispiel<br />
von vorhin. Im<br />
Regelwerk gab es kaum Bilder,<br />
doch viele Kreaturen und Charaktere<br />
hatten tolle Namen:<br />
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120
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Bruus, Oger, Wyvern etc. Die<br />
Beschreibungen weckten bestimmte<br />
Ideen in meinem Kopf,<br />
die ich auf dem Papier umgesetzt<br />
sehen wollte.<br />
Dass ich als Illustrator zuerst im<br />
Bereich der Rollenspiele tätig<br />
war, ist vielleicht am meisten<br />
Vampire: Die Maskerade geschuldet.<br />
Das Buch hat mich von der<br />
Aufmachung her damals als 15-<br />
jähriger sprichwörtlich vom Hocker<br />
gehauen. Waren Rollenspielbücher<br />
bis zu dem Zeitpunkt<br />
oft Textwüsten und Tabellenlandschaften<br />
gewesen, gab es<br />
plötzlich eine kleine Revolution:<br />
Bücher voller Bilder, ganzseitige<br />
Darstellungen von Charakteren,<br />
eigene Logos für Fraktionen und<br />
vieles mehr. Das war mein Einstieg,<br />
da wollte ich mit dabei sein<br />
und meine Ideen beisteuern.<br />
Marko Djurdjevic: Das will ich<br />
wirklich hoffen bzw. ich finde,<br />
dass die Verlage es dem Medium<br />
schuldig geblieben sind. Seit<br />
D&D 3 habe ich keine echte optische<br />
Revolution mehr im RPG-<br />
Bereich gesehen.<br />
Vielmehr gibt es einen Rückschritt<br />
in der generellen Qualität<br />
der Bücher, vor allem in<br />
Deutschland. Das ist ein Armutszeugnis<br />
für das Medium.<br />
Schlechte Typographie, schlechte<br />
Produktqualität; Textwüsten wie<br />
vor 25 Jahren werden als das<br />
Nonplusultra gepriesen, sind es<br />
aber nicht.<br />
Das Schlimmste ist, dass den<br />
Fans eingebläut wird, es gehe gar<br />
nicht anders und man solle gefälligst<br />
glücklich sein mit dem, was<br />
man hat. Das finde ich im Kern<br />
falsch, denn ohne Risiko und<br />
Einsatz entwickelt sich nichts<br />
weiter.<br />
Und dass man Rollenspiel nicht<br />
auf hohem Niveau produzieren<br />
kann, ist ebenfalls Quatsch. Die<br />
Riesensummen, die bei Kickstarter<br />
für manch ein Projekt an<br />
Land gezogen werden, sollten<br />
die Erwartungshaltung der Fans<br />
gehörig nach oben schrauben<br />
und sie fragen lassen, warum es<br />
dann nicht möglich ist, ähnlich<br />
hohe oder sogar höhere Qualität<br />
zu erwarten als von einem Independent-Projekt<br />
wie Degenesis.<br />
PHANTAST: Wie beurteilst Du<br />
die Entwicklung auf dem deutschen<br />
Rollenspielmarkt bzw.<br />
siehst Du da eine Entwicklung?<br />
PHANTAST: Da sind wir dann<br />
wieder bei Degenesis angekommen.<br />
Da legt Ihr ja die Messlatte<br />
extrem hoch. Meinst Du, dass die<br />
anderen Verlage folgen werden/können?<br />
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Marko Djurdjevic: Mit dem<br />
deutschen RPG-Markt habe ich<br />
persönlich nicht viel am Hut<br />
bzw. er interessiert mich auch<br />
nicht wirklich. Mir sind unsere<br />
Fans wichtig. Diese Leute liegen<br />
uns am Herzen, und unser Rollenspiel<br />
bedeutet uns viel.<br />
Der Markt selbst ist träge, konservativ<br />
und zu sehr mit sich<br />
selbst beschäftigt. Ihm fehlt auch<br />
das Verlangen, dass es besser<br />
werden könnte, denn in einer<br />
kleinen gemütlichen Mulde suhlt<br />
es sich besser.<br />
Degenesis erfährt viel mehr Support,<br />
Zustimmung und Lob aus<br />
dem Ausland, als es in Deutschland<br />
je möglich wäre. Die Voreingenommenheit<br />
gegenüber<br />
Neuerungen und der Hang zum<br />
nostalgisch Altmodischen ist eine<br />
typisch deutsche Affekthaltung.<br />
PHANTAST: Was wünschst Du<br />
Dir für die Zukunft unseres gemeinsamen<br />
Hobbys?<br />
Marko Djurdjevic: Mehr Qualität.<br />
In Text und Bild. Und Fans,<br />
die sich nicht mit schlechtem<br />
Material zufriedengeben, sondern<br />
die Verlage unterstützen,<br />
die sich Mühe mit ihren Produkten<br />
geben.<br />
PHANTAST: Vielen Dank für<br />
das Interview!<br />
Rezension zu Degenesis Rebirth -<br />
Limited Edition<br />
Bildmaterial: Copyright by SIX-<br />
MOREVODKA<br />
Degensis Rebirth Edition:<br />
Verlag: SIXMOREVODKA<br />
Gebundene Ausgabe<br />
704 Seiten, 99,00 EUR<br />
ISBN: 978-3000463365<br />
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HUMANEMY – Das Chamäleon<br />
Eine Rezension von André Skora<br />
Verlag: Lindenblatt Records<br />
(2013)<br />
Sprecher: diverse<br />
Genre: Cyberpunk / Dark Future<br />
Laufzeit: 65 Minuten<br />
ASIN: B00BLMIZ0S<br />
Digipack: 12,00 EUR<br />
Download: 6,90 EUR<br />
Als ich in letzter Zeit ein wenig<br />
Ausschau nach Hörspielen aus<br />
dem Bereich Cyberpunk hielt,<br />
stieß ich unweigerlich auf HU-<br />
MANEMY. Die gefundenen<br />
Informationen und Besprechungen<br />
machten mich neugierig.<br />
Somit wanderte Das Chamäleon,<br />
der erste Teil, schnell in<br />
meinen Player und wurde konsumiert.<br />
Zur Story<br />
Bei HUMANEMY handelt es<br />
sich um eine vierteilige Cyberpunk-Hörspielserie<br />
aus dem<br />
Hause Lindenblatt Records.<br />
Die Geschichte beginnt in einem<br />
Hotel, in dem das Chamäleon<br />
verwertbares Material gegen<br />
den aufmüpfigen Reporter<br />
Yamal sucht. Bei seiner Suche<br />
wird es allerdings von besagtem<br />
Reporter und seiner angeheuerten<br />
Security-Tussi überrascht.<br />
Seine Flucht in den Schrank endet<br />
mit einer Spannerei bei Umschnalldildo-Spielchen.<br />
Dadurch erhält er das korrumpierende<br />
Material. Allerdings<br />
wird der Agent fast im selben<br />
Augenblick darüber in Kenntnis<br />
gesetzt, dass der Reporter „safe“<br />
sei und er somit alles vergessen,<br />
löschen usw. solle. Und das<br />
Chamäleon sei nun auf sich gestellt.<br />
Als ob das nicht schlimm<br />
genug wäre, wird er von den<br />
Dildospielern entdeckt, was<br />
diese das Leben kostet. So wird<br />
das Chamäleon innerhalb einiger<br />
Augenblicken vom Jäger<br />
zum Gejagten.<br />
Um seine aktuelle Situation zu<br />
verstehen, wendet er sich an<br />
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fragwürdige Geschäftspartner<br />
und alte Freunde. Die Jagd nach<br />
der Wahrheit kann beginnen.<br />
Zum Feeling<br />
HUMANEMY versetzt einen in<br />
eine nahe Zukunft, in der das<br />
Gesetz des Stärkeren noch mehr<br />
ausgeprägt ist als heute. Dabei<br />
gibt es etliche Anlehnungen an<br />
die bekannten Welten aus den<br />
Filmen Blade Runner und Vernetzt<br />
oder das Pen-&-Paper-<br />
Rollenspiel Shadowrun. Wobei<br />
Letzteres wohl auch Pate für<br />
den Ablauf stand, denn einiges<br />
erinnert daran, wie etwa die<br />
Hinterhältigkeit, der Schmidt<br />
(Auftraggeber), die Ganger, das<br />
Anwerben und das Chaos.<br />
Zu den Klängen<br />
HUMANEMY braucht sich bei<br />
der Klangkulisse nicht zu verstecken,<br />
sind die über siebzig<br />
Rollen doch mit etlichen bekannten<br />
Persönlichkeiten, wie<br />
etwa Holly Loose, Martin Duckstein<br />
oder auch Alex Wesselsky<br />
besetzt worden. Aber auch<br />
Stimmen, die sonst über die<br />
Mattscheibe in unsere Gehörgänge<br />
transportiert werden,<br />
sind dabei.<br />
Der Soundtrack und die Geräuschkulisse<br />
passen sich gut in<br />
das stimmliche Aufgebot ein<br />
und sorgen so für eine durchweg<br />
gleichbleibende Qualität.<br />
Mein Fazit<br />
HUMANEMY - Das Chamäleon<br />
ist ein gut gelungener Auftakt<br />
zur vierteiligen Cyberpunk-<br />
Hörspielserie.<br />
Das düstere Feeling, das verzweifelte<br />
Freistrampeln des Protagonisten<br />
und der Sound haben<br />
mich wirklich gut unterhalten<br />
und wussten an einigen Stellen<br />
zu punkten.<br />
Leider erinnert mich das Ganze<br />
aber zu sehr an Shadowrun.<br />
Auch die ein oder andere gezwungene<br />
Coolness oder Steifigkeit<br />
der Charaktere fühlt sich<br />
falsch an, da wäre „einfach machen<br />
lassen“ besser als „scripten“<br />
gewesen. Auch manch abgenudelter<br />
Spruch sorgt für<br />
Haareraufen. Aber die auf der<br />
anderen Seite reingesteckte Leidenschaft<br />
ist spürbar und lässt<br />
hoffen.<br />
Alles in allem hat mich der Auftakt<br />
zu HUMANEMY gut unterhalten.<br />
Es ist eines der Cyberpunk-<br />
Hörspiele, die man<br />
sich auf jeden Fall mal anhören<br />
sollte! Meine Wertung: 4 von 5<br />
Kopfschüssen<br />
Zur Hörspielreihe im Netz<br />
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HUMANEMY – Der Fahrer<br />
Eine Rezension von André Skora<br />
Verlag: Lindenblatt Records<br />
(2013)<br />
Sprecher: diverse<br />
Genre: Cyberpunk / Dark Future<br />
Laufzeit: 78 Minuten<br />
ASIN: B00DCNW97Y<br />
Digipack: 12,00 EUR<br />
Download: 6,90 EUR<br />
Der erste Teil der Cyberpunk-<br />
Hörspielserie kam bei mir gut<br />
an, sodass es mir nicht schwer<br />
fiel, den zweiten Teil ins Abspielgerät<br />
zu schieben und die<br />
Ohren zu spitzen.<br />
Zur Story<br />
Die Geschichte beginnt mit einem<br />
Drohneneinsatz. Hier wird<br />
dann auch direkt einer der Protagonisten<br />
auf eine harte Bewährungsprobe<br />
gestellt, nämlich<br />
vor die Wahl zwischen Gehorsam<br />
und Moral.<br />
Das Chamäleon, ehemaliger<br />
Staatsagent auf der Flucht, stellt<br />
ein Team zusammen, um brisante<br />
Daten zu beschaffen und<br />
so ein wenig Geld in seine Kasse<br />
zu spülen. Wie sich herausstellt,<br />
müssen die Daten durch einen<br />
Einbruch in die Oberstaatsanwaltschaft<br />
beschafft werden.<br />
Um sein Ziel zu erreichen, geht<br />
das Team auch den Weg der<br />
Liebe.<br />
Der Einbruch wird gut geplant<br />
und läuft wie am Schnürchen.<br />
Als dann aber verbotenerweise<br />
Blicke in die Daten geworfen<br />
werden, entsteht ein Konflikt im<br />
Team, denn auch Kriminelle<br />
haben ein Gewissen.<br />
Zum Feeling<br />
HUMANEMY - Der Fahrer versetzt<br />
einen wieder in die düstere<br />
Zukunft, die aus dem ersten Teil<br />
bekannt ist. Der Übergang erfolgt<br />
reibungslos, da man einige<br />
alte Bekannte aus dem ersten<br />
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Teil wiedertrifft und somit direkt<br />
wieder im HUMANEMY-<br />
Universum ankommt.<br />
Zu den Klängen<br />
HUMANEMY - Der Fahrer bietet<br />
hier noch mehr Individualität<br />
und „Auf die Fresse“-Sound als<br />
im ersten Teil. So werden hier<br />
die einzelnen Frequenzen mit<br />
den unterschiedlichsten Musikgenres<br />
unterlegt, und der Hörer<br />
wird noch schneller in die jeweilige<br />
Szene versetzt.<br />
Der zweite Teil bietet wieder<br />
eine hohe Vielzahl an Stimmen,<br />
wobei auch hier der Mix stimmt,<br />
denn man stößt auf alte Bekannte.<br />
Und keine der Stimmen liegt<br />
quer im Gehörgang.<br />
Mein Fazit<br />
HUMANEMY - Der Fahrer ist<br />
eine gelungene Fortsetzung der<br />
Serie. Das liegt aus meiner Sicht<br />
zum einem daran, dass man auf<br />
alte Bekannte trifft, die ihrer<br />
Rolle treu bleiben und nicht zu<br />
„Superhelden“ oder „Guten/Bösen“<br />
mutieren.<br />
Zum anderen wurden der<br />
Soundtrack beziehungsweise<br />
die Geräuschkulisse erweitert.<br />
Dadurch sind einzelne Szenen<br />
schnell voneinander zu unterscheiden<br />
und das Erlebnisfeeling<br />
steigt an.<br />
Der Ablauf der Story ist bis zu<br />
einer gewissen Stelle sehr geradlinig<br />
– und erhält dann doch<br />
noch einen guten Twist und ein<br />
schönes Ende, das genügend<br />
Spielraum für den dritten Teil<br />
lässt.<br />
Ob beabsichtigt oder nicht,<br />
sticht der Anfang von HU-<br />
MANEMY - Der Fahrer aufgrund<br />
seiner Aktualität, nämlich<br />
Drohnenangriffe, etwas hervor.<br />
Obwohl das im Cyberpunk „alltäglicher<br />
Stoff“ ist, zeigt es die<br />
andere Seite sehr gut! Der<br />
Teamkonflikt ist gut dargestellt,<br />
und man nimmt den Protagonisten<br />
ihre Handlungsweise<br />
auch ab.<br />
Eine kleine Vorahnung befiel<br />
mich aber schon. Allerdings<br />
macht die Geradlinigkeit die<br />
Story an manchen Stellen zu<br />
vorhersehbar und weckt, wie<br />
der erste Teil, Erinnerungen an<br />
einen Shadowrun-Spieleabend.<br />
Alles in allem bin ich vom zweiten<br />
Teil gut unterhalten worden,<br />
sogar besser als vom Ersten,<br />
und freue mich nun auf die<br />
Fortsetzung! Meine Wertung:<br />
4,25 von 5 geplatzten Airbags.<br />
Zur Rezension von Teil 3 und 4<br />
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Psycho-Pass 2<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Daten Volume 1:<br />
Verlag: KAZÉ (September 2015)<br />
Regie: Kiyotaka Suzuki<br />
Format und Sprache: 16:9 –<br />
1920 x 1080 p, PAL, Region 2,<br />
Deutsch / Japanisch (DTS-HD 2.0)<br />
Genre: Science Fiction / Psychological<br />
/ Cyberpunk<br />
Blu-ray Digibox mit Sammelschuber,<br />
circa 150 Minuten<br />
UVP 46,95 EUR, FSK 16<br />
EAN: 7630017501752<br />
Verbrechen gehören der Vergangenheit<br />
an, denn das Sibyl<br />
System überwacht permanent<br />
die psychische Gesundheit der<br />
Menschen und sortiert potentielle<br />
Verbrecher aus, bevor sie<br />
überhaupt ein Verbrechen begehen<br />
können. Die Inspektoren<br />
und Vollstrecker der Einheit 1<br />
sind dafür zuständig, Menschen<br />
aufzuspüren, deren Psycho-Pass<br />
sich verfärbt hat, und sie entweder<br />
einer Besserungsanstalt<br />
zuzuführen oder an Ort und<br />
Stelle zu eliminieren. Akane ist<br />
die Leiterin der Spezialeinheit<br />
und wurde in ihrer kurzen<br />
Amtszeit bereits auf mehrere<br />
harte Proben gestellt …<br />
Inzwischen kennt Akane die<br />
Wahrheit über das Sybil System<br />
– und arbeitet dennoch weiterhin<br />
als Inspektorin. Sie ist fest<br />
davon überzeugt, die Welt nur<br />
verbessern zu können, indem<br />
sie sich richtig verhält.<br />
Gemeinsam mit ihrer neu besetzten<br />
Einheit 1 macht Akane<br />
wieder Jagd auf latente Verbrecher<br />
und wird prompt mit dem<br />
nächsten großen Fall konfrontiert:<br />
Ein Bombenleger stiftet<br />
Unruhe in der Stadt, kurz darauf<br />
verschwindet eine Inspektorin,<br />
und überall taucht die<br />
mysteriöse Nachricht „WC?“<br />
auf.<br />
Zudem treten immer häufiger<br />
Fälle auf, in denen sich Psycho-<br />
Pässe sehr plötzlich trüben –<br />
und all diese Personen behaupten,<br />
ein gewisser Kamui könne<br />
sie wieder hell machen. Während<br />
die meisten Inspektoren<br />
und Vollstrecker Kamui als er-<br />
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128
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fundenes Phantom abtun,<br />
glaubt Akane an seine Existenz<br />
– und steht bald einem Gegner<br />
gegenüber, der das System<br />
durch blutige Grausamkeiten<br />
zugrunde richten will …<br />
Psycho-Pass 2 spielt nach dem<br />
dramatischen Finale der ersten<br />
Staffel, in dem die Einheit 1 auseinander<br />
gerissen und dezimiert<br />
wurde. Der Psycho-Pass eines<br />
ehemaligen Inspektors ist inzwischen<br />
stark getrübt, weshalb<br />
er nun als Vollstrecker für Akane<br />
arbeitet. Er selbst ist damit<br />
sogar recht zufrieden, muss sich<br />
aber mit Anfeindungen auseinandersetzen,<br />
u. a. von Seiten<br />
der neuen Inspektorin<br />
Shimotsuki, die dem System<br />
absolut treu ergeben ist und<br />
Vollstrecker als minderwertige<br />
Menschen – eben latente Verbrecher<br />
– betrachtet. Akane hingegen<br />
pflegt weiterhin einen<br />
respektvollen Umgang mit ihren<br />
Vollstreckern und bezieht auch<br />
die beiden neuen in ihre Entscheidungen<br />
mit ein.<br />
Im Vergleich zur ersten Staffel<br />
wird die zweite von vielen Fans<br />
schlechter bewertet, was wohl<br />
vor allem daran liegt, dass bestimmte<br />
Charaktere nicht mehr<br />
dabei sind. Lässt man sich auf<br />
die neue Besetzung ein, kann<br />
man jedoch einen ebenso perfekt<br />
inszenierten Cyberthriller<br />
wie in der ersten Staffel genießen.<br />
Der neue Fall wird von der ersten<br />
Episode an mit hohem Tempo<br />
aufgebaut, sodass man als<br />
Zuschauer kaum zum Durchatmen<br />
kommt und alle elf Episoden<br />
am Stück verschlingen will.<br />
Die Geschichte bietet fortlaufend<br />
Überraschungen sowie<br />
eine intelligente und unerwartete<br />
Auflösung, die die Schwächen<br />
des Systems gnadenlos<br />
aufdeckt und gleichzeitig dessen<br />
Fortentwicklung beinhaltet.<br />
Akane ist spürbar reifer und<br />
härter geworden (und damit<br />
mehr eine klassische Cyberpunk-Heldin).<br />
Trotz neuer<br />
schlechter Angewohnheiten und<br />
der vielen emotionalen Tiefschläge,<br />
die sie verkraften musste,<br />
bleibt Akanes Psycho-Pass<br />
hell und rein. Nichts scheint ihn<br />
trüben zu können. Trotzdem<br />
erscheint sie oftmals abgekämpft<br />
und leicht verbittert.<br />
Hinzu kommt, dass ihr zunächst<br />
niemand glauben will, dass<br />
Kamui wirklich existiert,<br />
wodurch Akane an sich selbst<br />
zu zweifeln beginnt.<br />
Letztlich siegt jedoch ihr Gerechtigkeitssinn<br />
und sie tut alles<br />
dafür, um Kamui einer gerechten<br />
Bestrafung zuzuführen.<br />
Ähnlich wie im Fall Makishima<br />
in der ersten Staffel gibt es auch<br />
in der zweiten Staffel Fälle, in<br />
denen ein Psycho-Pass sich trotz<br />
brutaler Gewalttaten nicht trübt<br />
bzw. wieder hell wird.<br />
Allerdings ist der Ansatz dieses<br />
Mal ein ganz anderer: Kamui<br />
testet zunächst aus, was möglich<br />
ist, und startet schließlich einen<br />
Feldzug, der sich erst gegen<br />
Inspektoren und Vollstrecker<br />
und schließlich gegen das Sys-<br />
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129
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tem richtet. Seine kranken Experimente<br />
zeigen früh Wirkung,<br />
beispielsweise als Vollstrecker<br />
und Inspektoren mehrere Menschen<br />
eliminieren, da sich deren<br />
Psycho-Pass als Folge emotionaler<br />
Belastung getrübt hat. Dabei<br />
wird keinerlei Unterscheidung<br />
zwischen einem echten Verbrecher<br />
und einer traumatisierten<br />
Person, die (noch) niemandem<br />
etwas zu Leide getan hat, getroffen<br />
– und man fragt sich unweigerlich,<br />
wie lange dieses System<br />
noch bestehen kann?<br />
Animationen, Soundtrack und<br />
Synchronisation<br />
Dass hier ein neues Produktionsstudio<br />
(Tatsunoko Production)<br />
samt neuem Regisseur<br />
(Kiyotaka Suzuki) am Werke<br />
war, merkt man kaum, denn<br />
auch Psycho-Pass 2 ist allerfeinster<br />
Cyberpunk auf der Höhe der<br />
Zeit. Die Animationen sind superflüssig<br />
und zeigen die futuristische<br />
Stadt mit Licht- und<br />
Schattenseiten, wie man sie sich<br />
von heute an weitergedacht vorstellen<br />
könnte (und wie man sie<br />
in der ersten Staffel bereits kennen<br />
gelernt hat). Klassische Cyberpunkelemente<br />
treffen auf<br />
frische Ideen, die visuell mit viel<br />
Liebe zum Detail umgesetzt<br />
wurden.<br />
Verspiegelte Wolkenkratzer,<br />
viel Grün und Neonglanz treffen<br />
auf heruntergekommene<br />
Ghettos und düstere Hafenkulissen,<br />
so wie man sie sich in<br />
William Gibsons Neuromancer<br />
vorstellen könnte. Hinzu kommen<br />
die Alltagstechnologien der<br />
Zukunft, die ein Spiegel der<br />
aktuellen Entwicklung sind.<br />
Auch die Charaktere sind überdurchschnittlich<br />
gut animiert<br />
und punkten neben dem individuellen<br />
Style mit natürlichen<br />
Bewegungen und einer lebhaften<br />
Mimik und Gestik. Lediglich<br />
bei Ginoza hat man das Gefühl,<br />
dass er etwas anders aussieht als<br />
in der ersten Staffel, aber der<br />
Unterschied ist minimal.<br />
Der Soundtrack fügt sich ebenso<br />
wie in der ersten Staffel perfekt<br />
in die düstere Zukunftsvision<br />
ein, wobei Opening- und<br />
Ending-Theme relativ belanglos<br />
sind. Im direkten Vergleich zur<br />
ersten Staffel ist das Opening<br />
allerdings etwas melodischer.<br />
Als Untermalung eignet sich der<br />
Soundtrack perfekt, doch ohne<br />
Bilder funktioniert er nicht. Die<br />
Synchronsprecher bei den bereits<br />
bekannten Charakteren<br />
wurden glücklicherweise beibehalten,<br />
und auch die Stimmen<br />
der neuen Figuren fügen sich<br />
gut ein.<br />
Blu-Ray-Ausgabe<br />
Wie bereits sein Vorgänger wartet<br />
Psycho-Pass 2 als Blu-Ray mit<br />
einer hervorragenden Bild- und<br />
Klangqualität auf. Die Farben<br />
sind kräftig, und jedes Detail<br />
der wuchernden Stadt ist sichtbar.<br />
Die Lautstärkedifferenz<br />
zwischen Dialogen und Actionszenen<br />
ist angenehm, sodass<br />
man nicht ständig nach der<br />
Fernbedienung langen muss.<br />
Die Möglichkeiten des DTS-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
130
_______________________________________________________________________________________________<br />
Sound-formats werden dabei<br />
auch dieses Mal nicht gänzlich<br />
ausgereizt, dafür ist der Klang<br />
jederzeit klar und voluminös.<br />
Psycho-Pass 2 kommt in der limitierten<br />
Erstauflage in einem<br />
schicken Digipack samt stabilem<br />
und beidseitig bedrucktem<br />
Sammelschuber daher (auf dem<br />
das FSK zum Glück nicht fest<br />
aufgedruckt ist).<br />
Als Extra gibt es jeweils drei<br />
Postkarten und auf der Disk das<br />
Clear Opening und Ending.<br />
Leider fehlt auch dieses Mal ein<br />
Booklet. Das ist aber auch der<br />
einzige Kritikpunkt an dieser<br />
rundum gelungenen Ausgabe.<br />
Fazit<br />
Schockierender, härter und<br />
temporeicher – Psycho-Pass 2<br />
geht von der ersten Episode an<br />
in die Vollen und bietet einen<br />
wahnsinnig spannenden Cyberthriller<br />
auf der Höhe der Zeit.<br />
Erneut wird das Sybil System<br />
von einem kriminellen Genie<br />
angegriffen und auf den Prüfstand<br />
gestellt. Psycho-Pass ist<br />
heute das, was Ghost in the Shell<br />
1995 war – allerfeinster Cyberpunk<br />
mit Tiefgang und einer<br />
grandiosen Optik.<br />
Ein Artikel zur ersten Staffel von<br />
Psycho-Pass findet ihr im<br />
PHANTAST #12 „Fernost“<br />
Copyright by PSYCHO-PASS Committee / KAZÉ<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
131
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Skinned<br />
Eine Rezension von Jessica Idczak<br />
Autorin: Robin Wasserman<br />
Verlag: Script5 (2010)<br />
Übersetzerin: Claudia Max<br />
Genre: Science Fiction / Cyberpunk<br />
/ Jugendbuch<br />
Hardcover mit Schutzumschlag<br />
376 Seiten, 16,90 EUR<br />
ISBN: 978-3-839-00106-6<br />
Lia ist siebzehn, als sie bei einem<br />
Autounfall beinahe getötet<br />
wird. Nur der deutliche technologische<br />
Fortschritt im Vergleich<br />
zur heutigen Zeit verschafft ihr<br />
– im wahrsten Sinne des Wortes<br />
– ein neues Leben: Indem ihr<br />
Gehirn aus dem toten menschlichen<br />
Körper entfernt und auf<br />
Datenchips geladen wird, kann<br />
ihr Erinnerungsvermögen erhalten<br />
und auf einen neuen, künstlichen<br />
Körper übertragen werden.<br />
Einen Körper, der nach außen<br />
hin zwar völlig normal erscheint,<br />
innerlich aber rein mechanisch<br />
ist – Lia ist nicht länger<br />
ein Mensch, sondern eine Maschine.<br />
Damit umzugehen, muss<br />
Lia erst lernen, und es ist ein<br />
langer Weg, vor allem ohne die<br />
Unterstützung ihrer Freunde<br />
und Familie, die sich abwenden,<br />
weil Lia einfach nicht mehr die<br />
Alte ist und sie lange gegen diese<br />
Tatsache ankämpft.<br />
Ihre Freunde werden schnell zu<br />
Leuten von früher, von „vor<br />
dem Unfall“, einzig der ewige<br />
Außenseiter Auden steht ihr zur<br />
Seite und zeigt ihr, dass sie noch<br />
immer liebenswert ist. Außerdem<br />
ist da auch Quinn, die Lia<br />
im Krankenhaus kennen lernt<br />
und die sie zu einer Gruppe<br />
weiterer Mechs führt, deren<br />
Anführer Jude noch eine wichtige<br />
Rolle für Lia spielen wird.<br />
Gemeinsam mit diesen Charakteren<br />
geht Lia die ersten Schritte<br />
ihres neuen Lebens, immer in<br />
der Trauer um ihr altes Ich. Sie<br />
schafft es nicht, die Vergangen-<br />
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132
_______________________________________________________________________________________________<br />
heit loszulassen, und bringt<br />
damit alle in Gefahr, die ihr etwas<br />
bedeuten.<br />
Der erste Teil einer geplanten<br />
Trilogie, Robin Wassermans<br />
Debüt, spielt in einer Welt, die<br />
lange nach unserer Zeit Realität<br />
sein könnte. Radioaktiv verseuchte<br />
Städte, sämtliches Leben<br />
passiert virtuell, das Network ist<br />
24 Stunden am Tag eingeschaltet,<br />
reale Veranstaltungen sind<br />
uninteressant, Nachwuchs gibt<br />
es sozusagen auf Bestellung. Die<br />
Welt, in der Lia Kahn aufwächst,<br />
ist unwirklich und oberflächlich;<br />
solange genügend<br />
Bonus auf dem eigenen Konto<br />
liegt, ist alles möglich. Als hübsches<br />
und intelligentes Mädchen<br />
gehört Lia zu den Beliebtesten<br />
ihrer Schule, ihre Schwester Zo<br />
hingegen schert sich nicht um<br />
Trends und läuft lieber in Retro-<br />
Klamotten rum.<br />
Lia und Zo hatten nie eine wirklich<br />
schwesterliche Beziehung,<br />
und man sollte meinen, dass der<br />
Unfall mit dem computergesteuerten<br />
Wagen – in dem eigentlich<br />
Zo sitzen sollte – etwas<br />
daran ändern würde. Doch weit<br />
gefehlt, denn Zo nimmt plötzlich<br />
den Platz ihrer Schwester<br />
ein. Das ist nur einer der ersten<br />
Schritte auf Lias mühsamem<br />
Weg hin zu der Erkenntnis, dass<br />
ihr Leben nie wieder so sein<br />
wird wie vor dem Unfall.<br />
In einem Amerika, das nach<br />
Atomkrieg und zahllosen Naturkatastrophen<br />
eine neue<br />
Menschheit hervorgebracht hat,<br />
lässt Robin Wasserman ihre<br />
Charaktere ein überwiegend<br />
virtuelles Leben führen. Network,<br />
EgoZones, nahezu von<br />
überall mögliches Einlinken –<br />
das ist die Welt, in die der Leser<br />
entführt wird und die unserer<br />
heutigen Zeit zumindest in Teilen<br />
zu ähneln scheint.<br />
Die Autorin zeigt dem Leser<br />
eine Welt, zu der die unsere<br />
werden könnte, irgendwann in<br />
ferner Zukunft. Fast ein wenig<br />
beängstigend, aber auch seltsam<br />
anmutend sind die Aussichten,<br />
die in Skinned vermittelt werden.<br />
Mit einem nicht wirklich neuen<br />
Thema, aber einer jugend- und<br />
erwachsenenfreundlichen Umsetzung,<br />
teilweise poetischer<br />
Sprache, realistischen Schauplätzen<br />
und lebensnahen Charakteren<br />
wird der Debütroman<br />
der Autorin zu einem sehr speziellen<br />
Werk der Science Fiction,<br />
das nicht nur während des Lesens<br />
erschüttert, sondern auch<br />
in den Lesepausen nachdenklich<br />
macht. Welche Möglichkeiten<br />
wird es in den nächsten Jahren,<br />
Jahrzehnten und Jahrhunderten<br />
geben? Was erwartet die<br />
Menschheit, wenn sie weiter so<br />
mit der Erde umgeht, wie sie es<br />
in den letzten Jahren getan hat?<br />
Und der einzelne Leser fragt<br />
sich, wie er sich an Lias Stelle<br />
fühlen, wie er handeln würde.<br />
Als Einstieg in eine Trilogie eignet<br />
sich Skinned sehr gut. Die<br />
ersten Schritte im neuen Leben<br />
Lias und Einblicke in die Welt,<br />
wie sie irgendwann sein könnte,<br />
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133
_______________________________________________________________________________________________<br />
fesseln ausreichend und bieten<br />
eine Grundlage, um neugierig<br />
nach dem nächsten Band zu<br />
greifen und sich bereits jetzt auf<br />
das Erscheinen des dritten Teils<br />
zu freuen. Selbst für Leser, die<br />
der Science Fiction sonst nichts<br />
abgewinnen können, präsentiert<br />
der Roman eine Geschichte, die<br />
neben der passenden Aufmachung<br />
(der Schutzumschlag<br />
erinnert entfernt an Schlangenhaut)<br />
nicht nur unterhält, sondern<br />
auch nachdenklich macht.<br />
Robin Wasserman ist auf dem<br />
richtigen Weg, zu einem wichtigen<br />
Bestandteil der Science Fiction,<br />
vor allem im Jugendbereich,<br />
zu werden. Bereits mit<br />
ihrem Debüt kann sie die Leserschaft<br />
überzeugen – man darf<br />
gespannt auf weitere Werke<br />
sein.<br />
Fazit<br />
Robin Wasserman bietet mit<br />
ihrem Debüt Skinned einen Einblick<br />
in eine mögliche Zukunft<br />
und zeigt, dass auch in einer<br />
hochentwickelten Gesellschaft<br />
nicht alles reibungslos verläuft.<br />
Ein Science-Fiction-Roman für<br />
Jugendliche und Erwachsene,<br />
der nicht nur unterhält, sondern<br />
auch nachdenklich stimmt.<br />
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134
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Cyberpunk<br />
Eine Rezension von Judith Madera<br />
Interpret: Billy Idol<br />
Label: Chrysalis (1993)<br />
Producer: Robin Hancock<br />
Genre: Hard Rock / Dance Rock<br />
Audio-CD, je nach Zustand für 3<br />
bis 20 EUR erhältlich<br />
I'm bathing in warm liquid colour<br />
Feel every cell in my body is music<br />
Floating in hyperspacial sound<br />
Visualizing the landscapes of my<br />
mind<br />
I'm opening the door to inner space<br />
I'm feeling the vibrasound<br />
Mit dem 1993 erschienenen Konzeptalbum<br />
Cyberpunk entfernte<br />
sich Billy Idol von seinem bisherigen<br />
Sound und überraschte die<br />
Fans mit experimentellen elektronischen<br />
Klängen. Cyberpunk ist<br />
Idols Interpretation des Nischengenres,<br />
ein Versuch, futuristische<br />
Elektroklänge mit dem derben<br />
Gefühl des Cyberpunk zu kombinieren.<br />
Aus heutiger Sicht wandelt Cyberpunk<br />
an der Grenze zwischen<br />
dem Hard Rock und Synthie-Pop<br />
der Achtziger und der aufblühenden<br />
Techno- und Elektrokultur<br />
der Neunziger. Damit klingt<br />
das Album gleichermaßen modern<br />
wie retro und fängt die<br />
Stimmung des ursprünglichen<br />
Cyberpunk durchaus ein.<br />
Was Cyberpunk vor allem auszeichnet,<br />
ist seine Experimentierfreudigkeit.<br />
Das Album ist ein<br />
verrücktes Crossover aus verschiedenen<br />
Spielarten des Rock,<br />
Synthie-Pop und frühen Techno,<br />
kombiniert mit experimentellen<br />
Klangeffekten, die teilweise cool<br />
und teilweise etwas lächerlich<br />
daherkommen, wie beispielsweise<br />
die dunkel verzerrte, pseudospirituelle<br />
Stimme bei „Adam in<br />
Chains“.<br />
Wer sich mit dem Thema Cyberpunk<br />
beschäftigt, sollte dieses<br />
Album dennoch zumindest ein-<br />
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135
_______________________________________________________________________________________________<br />
mal gehört haben. Neben vielen<br />
Songs, die zwar interessant sind,<br />
aber schnell vergessen werden,<br />
gibt es auch einige eingängige<br />
und cyberspacige Stücke.<br />
Eine Inspirationsquelle für Cyberpunk<br />
war – kaum verwunderlich<br />
– William Gibsons Neuromancer,<br />
dem Idol auch einen<br />
Track auf dem Album widmet.<br />
Thematisch orientiert sich der<br />
Song an den düsteren Seiten des<br />
Romans, an der Tristesse des<br />
urbanen Molochs und der zunehmenden<br />
Entmenschlichung:<br />
„It's the age of destruction / In a<br />
world of corruption.“ Der treibende<br />
Elektrobeat reibt sich an<br />
schroffen Gitarrenklängen, was<br />
„Neuromancer“ einen ungeschliffenen<br />
Touch verleiht.<br />
„Shangrila“ ist einer der ruhigeren<br />
Tracks und erinnert ein wenig<br />
an Ethno-Pop oder auch an<br />
den Psychedelic Rock aus den<br />
Siebzigern. Der Text hebt sich<br />
vom pessimistischen und teils<br />
aggressiven Ton des Albums ab,<br />
da er Liebe und Freiheit in den<br />
Mittelpunkt stellt. Die erste Strophe<br />
liest sich dabei wie ein Eintauchen<br />
in den Cyberspace –<br />
oder auch wie ein beginnender<br />
Drogentrip, was einer Cyberspaceerfahrung<br />
allerdings recht nahekommt.<br />
Zu den eingängigen Songs des<br />
Albums zählt auch das melancholische<br />
„Concrete Kingdom“,<br />
das durch seinen ruhigen, leicht<br />
orientalisch anmutenden Gesang<br />
und wunderschöne Synthesizermelodien<br />
überzeugt. Untermalt<br />
von einem sanften, aber<br />
dennoch treibenden Beat – ein<br />
herrliches Stück zum Sichtreibenlassen.<br />
Auch „Power Junkie“ wartet mit<br />
coolen Synthesizersequenzen<br />
auf, die teilweise an Videospiele<br />
aus den frühen Neunzigern erinnern.<br />
Aufgebrochen durch harte<br />
Gitarrensounds und einen leicht<br />
irren Gesangspart (Idol singt<br />
schließlich „I’m going crazy“),<br />
stellt der Song zudem schön die<br />
Kontraste dar, die den Cyberpunk<br />
auszeichnen.<br />
„Tomorrow People“ klingt<br />
schon mehr nach Billy Idol,<br />
ebenso wie das rockige und<br />
schnelle „Shock to the System“.<br />
Cyberpunkthemen sind hier eher<br />
versteckt zu erkennen, da sich<br />
beide Songs stärker um Emotionen<br />
wie Hoffnungslosigkeit und<br />
Aggression als um Gesellschaftskritik<br />
oder Beschreibungen des<br />
zukünftigen Lebens drehen.<br />
Cyberpunk wurde damals relativ<br />
kritisch aufgenommen und verursachte<br />
unter anderem eine Art<br />
Shitstorm in einem Onlineforum,<br />
in dem Idol vorgeworfen wurde,<br />
auf einen Trend aufspringen zu<br />
wollen und nichts über Themen<br />
wie Cyberpunk und Computertechnologie<br />
zu wissen. Das Argument,<br />
Idol habe nur Dollarzeichen<br />
in den Augen gehabt, war<br />
fraglich, da der Zenit des Cyberpunk<br />
1993 längst überschritten<br />
war und das Genre ohnehin nie<br />
einen Boom wie beispielsweise<br />
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136
_______________________________________________________________________________________________<br />
die Fantasy nach der Verfilmung<br />
von Der Herr der Ringe erlebte.<br />
Auch klingt Cyberpunk für den<br />
Massengeschmack der Neunziger<br />
zu experimentell und elektronisch.<br />
William Gibson äußerste sich<br />
übrigens irritiert über Cyberpunk,<br />
da für ihn eine Verbindung zur<br />
Literatur nicht erkennbar war. Er<br />
hält ohnehin wenig von einer<br />
sogenannten „Cyberkultur“, die<br />
Idol in seinem Album sieht.<br />
Fazit<br />
Cyberpunk ist ein extrem ausgefallenes<br />
und gewöhnungsbedürftiges<br />
Konzeptalbum, das neben<br />
einigen sehr melodischen und<br />
cyberspacigen Stücken experimentelle<br />
Rock- und Elektrotracks<br />
bereithält, die mindestens interessant<br />
sind. Die Kombination<br />
aus Synthesizern und harten<br />
Gitarrenriffs passt eigentlich gut<br />
zum Cyberpunk, allerdings<br />
klingt Billy Idol für das derbe<br />
Gefühl des Genres zu lasch und<br />
rockig.<br />
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137
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Nacht in Neo Tokyo<br />
von Jeremy Iskandar (2005)<br />
I.<br />
Das Wasser in der Bucht von<br />
Neo Tokyo glich einem schwarzen<br />
Spiegel, auf dessen düsterer<br />
Oberfläche die verwaschenen<br />
Lichter des Sprawl zu zerfließen<br />
schienen. Vom Meer her wehte<br />
eine leichte Brise durch die Bucht<br />
und ließ die dünnen Signalmasten<br />
des Frachters mit einem blechernen<br />
Scheppern erbeben.<br />
Cross stand an der Reling, sein<br />
Mantel flatterte leicht im Wind.<br />
Die Nachtluft wirkte erfrischend<br />
und hätte ihn fast vergessen lassen,<br />
warum er hier war. Als sich<br />
der alte Frachter den gigantischen,<br />
automatisierten Hafenanlagen<br />
des Sprawl näherte und<br />
Cross das Licht des Kerns förmlich<br />
dabei beobachten konnte,<br />
wie es in wirren Bahnen in die<br />
Bucht hinabfloss, überkam ihn<br />
ein eigenartiges Gefühl. Es war<br />
dieser Hauch, der einem durch<br />
den ganzen Körper fährt, sanft,<br />
aber dennoch kühl, erregend,<br />
aber beängstigend. Er war schon<br />
lange nicht mehr hier gewesen,<br />
verdammt lange. Und hätte er<br />
vor zwei Nächten nicht diesen<br />
eigenartigen Traum von seiner<br />
kleinen Schwester gehabt, er wäre<br />
sicherlich nicht wieder hierher<br />
zurückgekehrt.<br />
Neo Tokyo ist ein düsteres Pflaster,<br />
ein Moloch, getaucht in<br />
Zwielicht, hatte man ihm damals<br />
gesagt, und Cross wusste, dass<br />
es die Wahrheit war. Im Schein<br />
endloser Kaskaden aus animierten,<br />
grell leuchtenden Neonreklamen<br />
und in den Schatten glitzernder<br />
Stahl- und Glasbauten<br />
stand der Mensch zerrissen zwischen<br />
Tradition und Moderne,<br />
wogte er in der Masse dahin und<br />
war doch einsam und hilflos im<br />
Strom der Veränderung gefangen.<br />
Neo Tokyo war ihm fremd und<br />
vertraut zugleich. Wie so oft seit<br />
gestern Nacht fragte er sich nun,<br />
ob es in einem urbanen Labyrinth<br />
wie diesem überhaupt<br />
möglich war, einen einzelnen<br />
Menschen ausfindig zu machen.<br />
Aber er hatte schließlich keine<br />
andere Wahl. Die Überfahrt auf<br />
dem chinesischen Frachter hatte<br />
seinen Stick fast gänzlich geleert,<br />
und Neo Tokyo war berüchtigt<br />
für seine enormen Preise. Ein<br />
Zurück gab es für ihn nun also<br />
nicht mehr, und abgesehen davon<br />
war er auch einfach nicht<br />
der Typ, der angefangene Sachen<br />
nicht zu Ende brachte.<br />
Trotzdem, der Traum hatte ihn<br />
stutzig gemacht. Er hatte noch<br />
nie von seiner Schwester ge-<br />
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138
_______________________________________________________________________________________________<br />
träumt, geschweige denn an sie<br />
gedacht. Doch seit einigen Tagen<br />
stiegen immer häufiger die<br />
dunklen Fragmente ihrer gemeinsamen<br />
Zeit in ihm empor,<br />
erinnerten ihn an ihre gemeinsame<br />
Kindheit auf den staubgepeitschten<br />
Straßenzügen des<br />
Ostküsten-Sprawl. Die Bilder<br />
schienen ihm unbewusst und<br />
ungewollt, doch sie kamen und<br />
ließen ihn nicht mehr in Ruhe.<br />
Wie war das noch gleich? Man<br />
kann seiner Vergangenheit nicht<br />
davonlaufen. Cross erinnerte sich<br />
daran, diesen Spruch schon einmal<br />
gehört zu haben. Vergangenheit.<br />
Was ist das schon? Vielleicht<br />
eine endlose Spirale aufgereihter<br />
Momente, Erinnerungsfetzen, zerfließender<br />
Bilder? Aber ganz egal,<br />
was es war, es ließ ihn schwindeln.<br />
Und er erinnerte sich, ohne dass<br />
er es wollte: Dreckige Wände<br />
hatte ihre Bude damals gehabt<br />
und ein einzelnes Fenster zum<br />
Hinterhof hin, das sich nicht<br />
mehr richtig schließen ließ. Die<br />
Nachbarschaft war das reinste<br />
Loch gewesen. Altmodische<br />
Drogendealer, Neo-Kommunisten,<br />
Prostituierte. Sie hieß<br />
Stacy, seine Schwester. Ein verdammter<br />
hübscher Name, fiel<br />
ihm nun auf. Warum ihm das<br />
nicht schon früher aufgefallen<br />
war, wusste er nicht.<br />
Stacy war sechs Jahre jünger als<br />
er, und er war ihr nie ein guter<br />
Vater gewesen. Warum auch,<br />
schließlich war er nur ihr Bruder<br />
und hatte keine Ahnung davon,<br />
was es hieß, ein Kind großzuziehen,<br />
noch dazu ein Mädchen.<br />
Aber dennoch schien es ihm, als<br />
wäre es eine unvergessliche Zeit<br />
gewesen. Die Jungs hatten sich<br />
ständig um Stacy gekümmert,<br />
wenn er wieder einmal damit<br />
beschäftigt gewesen war, eine<br />
Kurierfahrt für die örtlichen<br />
Syndikatsbosse durchzuführen.<br />
Irgendwoher musste die Kohle<br />
schließlich kommen.<br />
Dann war seine Schwester älter<br />
geworden, hatte sich im Untergrund<br />
herumgetrieben und ihre<br />
Nächte in den Discotheken alter<br />
Bunkeranlagen verbracht, die<br />
aus Zeiten stammten, in denen<br />
man Krieg noch mit Raketen und<br />
Flugzeugen geführt hatte. Er<br />
hatte sie nie verstanden, sie waren<br />
einfach zu verschieden gewesen.<br />
Hatte er sie überhaupt<br />
gekannt? Aber wann kennt man<br />
schon jemanden, sagte er sich,<br />
versuchte sein Gewissen, oder<br />
was auch immer ihn zum Nachdenken<br />
antrieb, zu beruhigen,<br />
wusste aber nicht, ob es ihm<br />
auch gelang.<br />
Zumindest hatte er sich alle Mühe<br />
gegeben, sie zu beschützen. Es<br />
war gefährlich, einen heißen<br />
Körper sein Eigen zu nennen,<br />
vor allem wenn man ein Mädchen<br />
war. Und einen heißen<br />
Körper, ja, den hatte sie gehabt,<br />
sie war wunderschön gewesen.<br />
Aber auch er war schließlich<br />
machtlos gewesen, als dieser<br />
Japaner aufgetaucht war.<br />
Ein merkwürdiger Typ, so wie<br />
alle Japaner eben merkwürdige<br />
Typen waren. Dann war sie gegangen,<br />
war ihm gefolgt ins düstere,<br />
von Zwielicht gebadete Neo<br />
Tokyo und hatte Cross allein<br />
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139
_______________________________________________________________________________________________<br />
gelassen. Er hatte sie schon fast<br />
vergessen gehabt, als er plötzlich<br />
diesen Fetzen Wirklichkeit geträumt<br />
hatte.<br />
Es musste einfach wirklich gewesen<br />
sein, er hatte es irgendwie<br />
tief in sich gespürt. Am Tag zuvor<br />
hatte er sich von Lenny eine<br />
Dosis Resire besorgen lassen und<br />
natürlich auch gleich davon gekostet.<br />
Resire war der neueste<br />
Schrei und erst seit einigen Monaten<br />
auf dem freien Markt erhältlich.<br />
Trotzdem hatte Cross<br />
seine erste Dosis bereits vor über<br />
einem Jahr intus gehabt.<br />
Von den Konzernfabriken<br />
schwamm das Zeug praktisch<br />
direkt auf die Schwarzmärkte<br />
der Straße, wo die Stammkundschaft<br />
es testen konnte. Waren<br />
die Abteilungsleiter der Multis<br />
dann mit der Wirkung zufrieden,<br />
erließen sie neue Verbrauchergesetze<br />
und schafften das Produkt<br />
auf die großen Märkte der urbanen<br />
Moloche, allen voran natürlich<br />
ins grell schimmernde, am<br />
Rande ständiger Ekstase bebende<br />
Neo Tokyo.<br />
Angeblich machte Resire nicht<br />
abhängig, zumindest nicht mehr,<br />
als es Cyberspace-Spiele, virtuelle<br />
Welten und SimStim taten.<br />
Aber Resire war anders, hatte<br />
einen anderen Thrill. Erleben Sie<br />
eine völlig neue Form der Wahrnehmung,<br />
einen neuen Zustand<br />
berauschender Erfahrung, hieß es<br />
in einem der Slogans, die man<br />
tagtäglich auf den Holoschirmen<br />
der zahllosen Werbedrohnen<br />
entlang des grauen Himmels<br />
erhaschen konnte. Vielleicht hatte<br />
er deswegen geträumt, und<br />
vielleicht war es ihm deshalb so<br />
wirklich vorgekommen.<br />
Vage erinnerte er sich daran, im<br />
Trid postanalytische Forscher<br />
davon reden gehört zu haben,<br />
wie sich Resire auf die Traumwelt<br />
des Menschen auswirken<br />
konnte, aber an Einzelheiten<br />
konnte er sich bereits gar nicht<br />
mehr erinnern. Wo käme man<br />
auch hin, wenn man den ganzen<br />
Mist aus dem Trid ständig mit<br />
sich herumschleppen würde. Es<br />
spielte keine Rolle, sagte sich<br />
Cross. So oder so. Ich kann nicht<br />
mehr zurück. Also, warum nicht<br />
sein Glück versuchen? Einfach<br />
nur eintauchen in den hypnotischen<br />
Reigen des japanischen<br />
Asphaltdschungels und sich von<br />
ihm treiben lassen.<br />
Die Hafenanlagen Neo-Tokyos<br />
erinnerten Cross an die düstere<br />
Version eines Spielplatzes für<br />
metallene Giganten. Überall ragten<br />
sie über ihm empor, gewaltige<br />
Lastkräne, vollautomatische<br />
Arbeitsdrohnen und Lagerhäuser,<br />
soweit das Auge reichte. Nur<br />
vereinzelt konnte er in den grellen<br />
Flutlichtern der Verladedocks<br />
einen Menschen erkennen. Meist<br />
waren es Konzernarbeiter, die<br />
das Heer aus Robotern und<br />
Drohnen überwachten, das sich<br />
um das Be- und Entladen der<br />
Containerschiffe kümmerte, die<br />
tagtäglich zu Hunderten in die<br />
Bucht des Sprawl einliefen und<br />
damit dessen Versorgung gewährleisteten.<br />
Die Hände tief in die Taschen<br />
seines Mantels vergraben,<br />
schlenderte Cross durch die fins-<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
140
_______________________________________________________________________________________________<br />
teren Gassen zwischen den hoch<br />
aufragenden Lagerhäusern und<br />
folgte dem bunten Licht, das ihm<br />
entgegenfloss. Langsam fing er<br />
an, sich darüber Gedanken zu<br />
machen, was er hier eigentlich<br />
tat. Bisher hatte er nämlich nicht<br />
den geringsten Schimmer, wie er<br />
die Sache angehen konnte. Oder<br />
sollte er sich einfach nur treiben<br />
lassen? So, wie er es in den letzten<br />
beiden Tagen getan hatte, als<br />
er beschlossen hatte, auf dem<br />
chinesischen Frachter anzuheuern.<br />
Der Kapitän des Schiffes, ein<br />
hagerer Asiat mit grellrotem<br />
Haar, hatte sich als alter Hase im<br />
Schmuggelgeschäft herausgestellt.<br />
Natürlich ging es um Drogen.<br />
Die Yakuza, hatte er Cross<br />
erklärt. Wenn du im Sprawl etwas<br />
erreichen möchtest, dann musst du<br />
dich mit den Yaks organisieren.<br />
Und so lief auch das Geschäft.<br />
Gehüllt in ihre teuren, schnittigen<br />
schwarzen Anzüge, tauchten<br />
die Yaks auf, waren Geschäftsleute<br />
und Kriminelle in einem<br />
und sorgten dafür, dass ganze<br />
Schiffsladungen an Porno-Stims,<br />
psychotropen Softs und<br />
Headburnern ihren Weg auf den<br />
Schwarzmarkt oder die Chefetagen<br />
der Konglomerate fanden.<br />
Die Yakuza. Aber wie sollte<br />
Cross an diese verschwiegenen,<br />
traditionsgeilen Geschäftsleute<br />
herankommen? Er hatte den<br />
Chinesen zwar dafür bezahlen<br />
können, seine ID im japanischen<br />
Verwaltungssystem für registriert<br />
erklären zu lassen, aber für<br />
einen Kontrakt mit den Yaks war<br />
sein Stick dann doch nicht prall<br />
genug gefüllt gewesen.<br />
Ich werde sie schon noch finden,<br />
redete er sich ein. Ich muss einfach<br />
nur in den heißesten,<br />
schmutzigsten und aufregendsten<br />
Club im Sprawl gelangen,<br />
dann wird sich das eine schon<br />
aus dem anderen ergeben.<br />
Endlich hatte er den Hafen hinter<br />
sich. In der Grauzone vermischte<br />
sich der eigenartige Geruch aus<br />
Metall und Meer, der ihm am<br />
Hafen allgegenwärtig erschienen<br />
war, mit dem Regen der Straße.<br />
Ein elektrischer Wald breitete<br />
sich nun um ihn herum aus und<br />
brannte sich förmlich als Abbild<br />
auf seiner Retina ein. Geblendet<br />
vom künstlichen Licht, rauschte<br />
er durch die Straßen, ließ sich<br />
vom Strom tragen. Die Menschen<br />
waren überall und schienen doch<br />
nirgendwo. Ihre Körper wogten<br />
unentwegt, aber ihre Geister<br />
blieben ihm verschlossen. Er kam<br />
an endlosen Galeriefassaden<br />
vorbei, in denen jede nur erdenkliche<br />
Ware angepriesen wurde,<br />
zuzüglich zu einigen Dingen, die<br />
er in seinem Leben noch nie zuvor<br />
gesehen hatte.<br />
Auf den Straßen mühte sich ein<br />
Strom chromblitzender Fahrzeuge<br />
damit ab, endlich vorwärtszukommen,<br />
während an jeder<br />
Straßenecke zahlreiche Drohnen<br />
den Verkehr zu regeln versuchten<br />
oder mit großflächigen Videoschirmen,<br />
auf denen Nachrichten<br />
und Werbespots flimmerten,<br />
die Menge beschallten.<br />
Cross taumelte orientierungslos<br />
umher, marschierte einige Blocks<br />
weit und warf dabei immer wieder<br />
einen Blick zu den pulsie-<br />
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141
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renden Glasfassaden der Arkologien,<br />
die wie bizarre Skulpturen<br />
aus dem betonierten Boden<br />
zu ragen schienen. Dann erreichte<br />
er einen Taxistand. Am Rande<br />
der Straße gab es eine kleine<br />
Bucht mit mehreren Terminals<br />
und einer Leinwand, auf der er<br />
ein Geflimmer aus japanischen<br />
Schriftzeichen erkennen konnte.<br />
Hastig umrundete er eine Gruppe<br />
schwarz gekleideter Konzernarbeiter<br />
und hielt auf die Parkbucht<br />
zu. In einer fein säuberlichen<br />
Reihe standen hier die Taxis<br />
entlang der Terminals.<br />
Cross wählte das erstbeste Drohnenfahrzeug,<br />
verschaffte sich mit<br />
seinem Stick Zugang und atmete<br />
tief durch. Für einen Moment<br />
war ihm das Chaos des Sprawl<br />
entschwunden. Mit leicht zitternden<br />
Fingern kramte er in<br />
seiner Manteltasche und führte<br />
die Sprachsoft, die er vom Chinesen<br />
erhalten hatte, in die Buchse<br />
unter seinem schwarzen Haar<br />
ein. In fehlerfreiem Japanisch<br />
wies er den Drohnenpiloten des<br />
Fahrzeugs dazu an loszufahren<br />
und versuchte sich dabei auf<br />
dem Navigationsdisplay eine<br />
grobe Orientierung zu verschaffen.<br />
Erst mal raus hier, sagte er<br />
sich. Seine Blicke glitten über den<br />
schimmernden Schirm, der mit<br />
wild blinkenden Icons dermaßen<br />
überladen war, dass es Cross<br />
schwer fiel, ihm einzelne Informationen<br />
zu entnehmen. Dann<br />
hatte er sein Ziel gefunden. In<br />
einem schattigen Blau stach ihm<br />
das Logo des Clubs entgegen,<br />
den er anzusteuern gedachte.<br />
Moon Lady. Hört sich gut an,<br />
dachte er zufrieden und spürte<br />
eine Woge neuer Kraft in sich<br />
emporsteigen. Die Augen geschlossen<br />
lehnte Cross sich im<br />
Sitz zurück, ließ das wogende<br />
Spiel der Leuchtreklamen an den<br />
Scheiben des Taxis vorbeiziehen<br />
und genehmigte sich seine erste<br />
Dosis Resire im pulsierenden<br />
Neo Tokyo.<br />
II.<br />
Im Schneidersitz auf einem kleinen<br />
Kunststoffteppich auf dem<br />
Boden hockend, atmete Musashi<br />
ein letztes Mal tief ein und wieder<br />
aus. Langsam öffneten sich<br />
seine Sinne, und sein Geist füllte<br />
sich mit den Eindrücken der ihn<br />
umgebenden Realität. Er spürte,<br />
wie der Boden in gleichförmigen,<br />
rhythmischen Mustern erzitterte,<br />
und hörte den wogenden Klangteppich,<br />
der ihm von unten aus<br />
dem Clubraum entgegenkam.<br />
Noch vor dem Beginn seiner<br />
Meditation hatte Musashi den<br />
Raum in Dunkelheit gehüllt und<br />
seine hölzernen Schalen um sich<br />
herum auf dem kahlen Boden<br />
aufgestellt. Nun stieg ihm der<br />
Geruch verbrannter Kräuter in<br />
die Nase, reizte seine Sinne, so<br />
als wären sie von neuem erwacht,<br />
wie neugeboren. Dann<br />
öffnete der junge Samurai die<br />
Augen und erhob sich, das lange<br />
schwarze Haar noch immer straff<br />
zu einem altmodischen Zopf<br />
gebunden.<br />
Das Zimmer, in das er sich zurückgezogen<br />
hatte, konnte man<br />
schwerlich mit der Ruhe eines<br />
Tempels vergleichen, aber es<br />
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142
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erfüllte trotzdem seinen Zweck<br />
und war zudem auch noch äußerst<br />
preisgünstig. Schweigsam<br />
schritt der Samurai zum Bett, das<br />
im Grunde genommen nicht<br />
mehr als ein gespanntes Kunststofftuch<br />
war, welches sich automatisch<br />
an Gewicht, Größe<br />
und Schlafgewohnheiten des<br />
Gastes anpasste. Aber Musashi<br />
benötigte kein Bett, denn er<br />
schlief grundsätzlich im Sitzen,<br />
und das auch nur, wenn er festen<br />
Boden unter den Füßen hatte.<br />
Mit einem geübten Griff<br />
schnappte sich der junge, athletisch<br />
gebaute Japaner sein Bündel<br />
vom Bett und schlüpfte in<br />
seinen Urban Survival Suit, den<br />
er wie immer das Aussehen<br />
schlichter traditioneller Kleidung<br />
annehmen ließ.<br />
Das Letzte, was er tat, bevor er<br />
dem Raum den Rücken kehrte,<br />
war das Befestigen seiner beiden<br />
Schwerter am Gürtel und das<br />
Einsammeln seiner kleinen Holzschalen,<br />
die noch immer auf dem<br />
Boden des Zimmers verteilt<br />
standen. Dann schritt er gemächlichen<br />
Tempos wieder nach unten<br />
und betrat den Innenraum<br />
des Moon Lady.<br />
Mittlerweile hatte sich der Club<br />
gut gefüllt. Musashi hockte sich<br />
im Schneidersitz auf den letzten<br />
freien Barhocker direkt an der<br />
Wand und erntete dafür einige<br />
belustigte Blicke von den Typen<br />
an der Bar. Ohne darauf einzugehen,<br />
aber sich dennoch jeder<br />
Präsenz in seinem näheren Umfeld<br />
bewusst, musterte der junge<br />
Samurai eingehend das vor ihm<br />
ausgebreitete Treiben.<br />
Die trockenen Elektrobässe einer<br />
neumodischen Clubmusik ließen<br />
die leeren Gläser auf dem transparenten<br />
Tresen in schnellen<br />
Schlagfolgen erbeben. Musashi<br />
kannte den Titel des Songs zwar<br />
nicht, aber von dem Interpreten<br />
hatte er bereits gehört. Li-X250,<br />
wobei die Ziffernfolge gleichzeitig<br />
Seriennummer der künstlichen<br />
Intelligenz war, von der<br />
auch der heutige Hit stammte.<br />
Sicherlich war er nicht der Einzige<br />
hier, der den Titel nicht beim<br />
Namen nennen konnte. Was war<br />
schon ein einzelner Name, wenn<br />
sich ein Hit im Sprawl ja sowieso<br />
nie länger als nur einen Tag lang<br />
halten konnte? Und morgen<br />
würden sie wieder hier sein. Dieselben<br />
Leute, derselbe Thrill, und<br />
sie würden tanzen und feiern zu<br />
einem Song ähnlich wie diesem,<br />
dessen Namen niemand kannte.<br />
Ob dieses Gedankenganges<br />
konnte Musashi sich ein leichtes<br />
Grinsen nicht verkneifen. Immer<br />
mehr junge Leute strömten nun<br />
auf die Tanzfläche aus bebendem<br />
Neonlicht.<br />
Wie in den meisten Clubs war sie<br />
auch hier ein interaktiver Raum.<br />
Je mehr Menschen den gläsernen,<br />
in Licht fließenden Boden<br />
betraten, desto wilder, unberechenbarer<br />
und schneller zuckte<br />
das Farbenspektrum und desto<br />
hypnotisierender gestalteten sich<br />
die Animationen auf den gläsernen<br />
Säulen um die Tanzfläche<br />
herum, wanden und räkelten sie<br />
sich, bis sie schließlich zu einem<br />
verzerrten Abbild ihrer Tänzer<br />
verkommen waren.<br />
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143
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Doch das Moon Lady hatte weitaus<br />
mehr zu bieten als nur Effekthascherei.<br />
In Zwielicht getaucht<br />
verteilten sich traditionell<br />
geschmückte Logen für die verschwiegeneren<br />
Gäste, und im<br />
Hintergrund konnte Musashi die<br />
Umrisse der Cyberspacekonsolen<br />
erkennen, die an der gegenüberliegenden<br />
Wand angebracht waren.<br />
Abgesehen davon war es im<br />
Club faktisch die Regel, dass die<br />
Gäste selbst zum Dekor wurden.<br />
Und wenn Musashi einen Blick<br />
auf die jungen, sich räkelnden<br />
Mädchen mit ihrem schimmernden<br />
Glasfaserhaar und den animierten<br />
Ganzkörper-Tattoos<br />
warf, dann konnte der junge Japaner<br />
dieser Einschätzung<br />
durchaus das ein oder andere<br />
abgewinnen.<br />
Nachdem Musashi seinen Blick<br />
wieder zur Bar hatte zurückschweifen<br />
lassen, mixte er sich<br />
mit Hilfe des Displays, das im<br />
gläsernen Tresen eingelassen<br />
war, seinen Wunschdrink und<br />
lehnte sich entspannt zurück, in<br />
dem Wissen, dass in dieser<br />
Nacht sicherlich noch einiges<br />
passieren würde.<br />
Die Fahrt durch den Sprawl war<br />
Cross wie eine halbe Ewigkeit<br />
vorgekommen. Während das<br />
automatisierte Taxi sich seinen<br />
Weg durch den Strom an Fahrzeugen<br />
entlang der japanischen<br />
Schnellstraßen gesucht hatte, war<br />
in Cross die Müdigkeit emporgestiegen.<br />
Wann hatte er eigentlich<br />
das letzte Mal geschlafen? Er<br />
wusste es nicht mehr, und es<br />
schien ihm auch belanglos.<br />
Ich muss wach sein, wenn ich meine<br />
Schwester in diesem Betondschungel<br />
finden will. Und vor allem muss ich<br />
vorsichtig sein, mich vor den urbanen<br />
Raubtieren schützen, die hinter<br />
den schattigen Fassaden der Häuserzeilen<br />
auf mich warten könnten.<br />
Gewiss sind sie dort und warten auf<br />
mich, den Fremden, der in ihr Land<br />
gekommen ist. Unbewusst glitten<br />
seine Finger unter den Mantel,<br />
wo seine beiden Waffen gut versteckt<br />
in zwei Holstern bereit<br />
lagen, um von ihm benutzt zu<br />
werden.<br />
In den letzten Zügen der Resire-<br />
Dosis schwelgend, wurde Cross<br />
durch ein Piepen im Taxi darauf<br />
aufmerksam gemacht, dass er<br />
sein Ziel fast erreicht hatte. Mit<br />
einem misstrauischen Blick musterte<br />
er das Treiben der Nacht.<br />
Das Moon Lady war ein großes,<br />
säulenförmiges Gebäude, dessen<br />
Oberfläche eine einzige, riesige<br />
Projektionsfläche zu sein schien,<br />
die auf gekonnte Weise mit den<br />
Blicken des Beobachters spielte<br />
und ihn zum Narren hielt. Immer<br />
wieder verschwand das<br />
große Gebäude scheinbar spurlos<br />
im Schleier der Dunkelheit, nur<br />
um kurze Zeit später als gläserne<br />
Hülle oder brennender Wald<br />
wieder aufzutauchen.<br />
Das Taxi hatte seine Fahrt verlangsamt<br />
und glitt nun seicht<br />
durch die Einfahrt in den Tiefgaragenkomplex<br />
des Clubs. In<br />
konzentrischen Kreisen reihte<br />
sich hier unten, im Schein greller<br />
Neonröhren, eine Luxuskarosse<br />
an die nächste. Vor einem ebenfalls<br />
kreisrunden, gläsernen Aufzug<br />
hielt das Taxi schließlich an,<br />
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144
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und Cross stieg aus. Ob sie die<br />
Waffen bemerken werden? Cross<br />
wusste, dass die Waffen mit<br />
Standarttechnik nicht zu entdecken<br />
waren, aber er befürchtete,<br />
dass dieser Club hier mehr zu<br />
bieten hatte. So oder so. Ich muss<br />
hier rein. Also, warum es nicht<br />
einfach drauf ankommen lassen?<br />
Es wäre nicht das erste Mal in<br />
seinem Leben, dass er jemanden<br />
umlegen müsste. Mit vorsichtigen<br />
Schritten betrat Cross den<br />
Aufzug und glitt in der gläsernen<br />
Röhre nach oben.<br />
Bereits bei seinen ersten paar<br />
Schritten in den Club hinein<br />
spürte Cross die Blicke der Leute<br />
auf sich haften. Interessiert wurde<br />
er von einigen japanischen<br />
Mädchen angetanzt, deren Augen<br />
wie leuchtende Röhren<br />
glänzten und um deren Fingernägel<br />
eigenartiges Licht tanzte.<br />
Unbeeindruckt bahnte sich Cross<br />
seinen Weg durch den Laden,<br />
während die dumpfen Schläge<br />
des Basses tief durch seinen Körper<br />
fuhren. Dann sah er es. Es<br />
war eine Art Skulptur mitten im<br />
Raum, die ein aufrecht stehendes<br />
Einhorn zeigte. Das Fabeltier<br />
überragte ihn um gut einen halben<br />
Meter und war gänzlich aus<br />
Glas. Kaskadenartige blaue Blitze<br />
zuckten in seinem durchsichtigen<br />
Körper umher, unkontrolliert<br />
und völlig unberechenbar.<br />
Stacy, kam es ihm plötzlich in<br />
den Sinn. Stacy hatte Einhörner<br />
über alles geliebt. Einmal hatte<br />
sie gar die Holotapete ihres<br />
Zimmers das Motiv eines durch<br />
den Schnee laufenden Einhornes<br />
zeigen lassen, und Cross hatte in<br />
dem anmutigen, durch Schneewehen<br />
preschenden Tier stets sie<br />
gesehen. Sie muss hier gewesen<br />
sein, sagte er sich nun. Ich weiß es.<br />
Mit neuem Antrieb blickte er sich<br />
um. Vor ihm lag die Tanzfläche,<br />
ein undurchsichtiger Wald aus<br />
Lichtblitzen und heißen Körpern.<br />
Rechts konnte er die auf einer<br />
erhöhten Plattform liegende Bar<br />
erkennen, weiter hinten einzelne<br />
Logen, die fein geschmückt<br />
durch altmodische Reispapierwände<br />
voneinander getrennt<br />
waren. Die Logen: genau das<br />
Richtige für solch verschwiegene<br />
Leute wie die Yakuza. Innerlich<br />
spürte er, wie er seinem Ziel<br />
immer näherkam. Langsam<br />
nahm ein Plan in ihm Gestalt an.<br />
Wenn Stacy tatsächlich hier gewesen<br />
war, und dessen war er<br />
sich mittlerweile ziemlich sicher,<br />
dann würden es die Yakuza wissen.<br />
Und sie würden es ihm sagen.<br />
Cross schritt an der Bar vorbei,<br />
schenkte dem gläsernen Tresen<br />
nicht mehr als nur einen flüchtigen<br />
Blick und erreichte dann den<br />
hinteren Bereich des Raumes.<br />
Die geschickt angelegte Architektur<br />
des Clubs machte es möglich,<br />
dass man in diesem Bereich<br />
des Raumes zwar noch etwas<br />
von der Musik mitbekam, der<br />
Geräuschpegel aber bereits soweit<br />
heruntergefahren war, dass<br />
man sich in annehmbarer Lautstärke<br />
miteinander unterhalten<br />
konnte. Nur wenige rotschimmernde<br />
Lichter, die als japanische<br />
Laternen verkleidet waren,<br />
erleuchteten die Sitzecken zwi-<br />
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145
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schen den aufgestellten Reispapierwänden,<br />
hinter denen man<br />
die schwarzen Schatten der dort<br />
versammelten Gäste erkennen<br />
konnte. Noch einmal ließ Cross<br />
seine Hand zu den Waffen unter<br />
seinem Mantel gleiten und<br />
schöpfte Kraft aus ihrer Anwesenheit.<br />
Bisher hatte niemand<br />
versucht ihn aufzuhalten. Niemand<br />
war gekommen, um ihn<br />
wegen seiner Waffen festzunehmen,<br />
oder hatte ihn, außer wegen<br />
seines unpassenden Bekleidungsstils,<br />
schief angesehen. Die<br />
Ruhe war fast trügerisch, doch<br />
Cross ließ sich nicht davon beirren.<br />
Irgendwo hier lauerten sie,<br />
die urbanen Raubtiere, und er<br />
würde von ihnen schon noch<br />
erfahren, was mit seiner kleinen<br />
Schwester geschehen war und<br />
was sie ihr angetan hatten.<br />
Musashi hatte den unpassend<br />
gekleideten Mann bereits in dem<br />
Augenblick wahrgenommen, als<br />
dieser die Aufzugsröhre verlassen<br />
hatte. Immer wieder kurz an<br />
seinem Drink nippend, verbannte<br />
der Samurai das Rauschen des<br />
Clubs in den Hintergrund seiner<br />
Wahrnehmung und fokussierte<br />
seine Aufmerksamkeit auf den<br />
hageren Typen, der in seinen<br />
Mantel gehüllt mit eiligen Schritten<br />
den Laden durchquerte.<br />
Noch bevor Musashi hätte wissen<br />
können, dass der Typ auf<br />
den Bereich der Logen zugehen<br />
würde, wusste er bereits, dass es<br />
Ärger geben würde. Instinktiv<br />
legte er die Hände ruhig in die<br />
Nähe seiner Schwertgriffe und<br />
wartete ab, tat so, als nippte er<br />
weiterhin nur an seinem Getränk.<br />
Der fremde Mann war kein Japaner,<br />
wie Musashi sofort erkannt<br />
hatte. Er trug ebenfalls<br />
nicht die Kleidung, die ihn als<br />
einen Konglomeratsangehörigen<br />
auswies, sondern eher einen<br />
leicht heruntergekommenen<br />
Straßenstil, der typisch für die<br />
raueren Gegenden des Sprawl<br />
war. Sein Gang verriet dem Samurai,<br />
dass der Fremde körperlich<br />
gut in Form war, und die<br />
Bewegungsabläufe ließen ihn<br />
wissen, dass sich der Mann<br />
wahrscheinlich sehr wohl zu<br />
verteidigen wusste.<br />
Aber irgendetwas stimmte mit<br />
ihm nicht. Es waren diese kurzen<br />
Aussetzer in der ansonsten flüssigen<br />
Bewegung des Fremden,<br />
die Musashi stutzig machten. Es<br />
schien dem Samurai, als hätte<br />
der Mann eine Art Wahrnehmungsstörung,<br />
die sein Gehirn<br />
erst einmal verarbeiten musste.<br />
Eine Verzögerung in der Koordination<br />
zwischen Rezeption<br />
und Aktion. Dann hatte der Typ<br />
den in fades rotes Licht getauchten<br />
Logenbereich des Moon Lady<br />
erreicht. In dem Moment, wo der<br />
Fremde seine Hand leicht unter<br />
seinen Mantel hatte gleiten lassen,<br />
wusste Musashi, dass er<br />
bewaffnet war. Und bereits jetzt<br />
hatte er eine Entscheidung gefällt.<br />
Cross tauchte ein in den Schein<br />
rot fließenden Lichts. Auf dem<br />
Boden der Loge lag eine Tatami<br />
ausgebreitet, auf der sich ein<br />
kleiner, schwarzer Kunststoff-<br />
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146
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tisch befand, um den herum sich<br />
eine Gruppe gepflegt gekleideter<br />
Japaner versammelt hatte.<br />
Erste verschlossene Blicke musterten<br />
ihn, als er sich der Loge<br />
näherte und keine Anstalten<br />
machte stehenzubleiben. Unter<br />
treibendem Zigarettennebel<br />
starrten ihn die Japaner an, und<br />
ihre Körper schienen bis zum<br />
Zerreißen angespannt zu sein,<br />
obwohl sie immer noch ruhig auf<br />
dem Boden saßen und sich in<br />
lautstarkem Japanisch miteinander<br />
unterhielten. Ohne zu zögern,<br />
stellte sich Cross vor den<br />
Tisch. „Konnichiwa“, grüßte er<br />
auf Japanisch und deutete eine<br />
leichte Verbeugung an. Schwitzende,<br />
in Falten gelegte Gesichter<br />
starrten ihn an. Die meisten<br />
davon zierte mehr als nur eine<br />
Narbe, und dass, obwohl es<br />
heutzutage bereits Routine war,<br />
ganze Gesichtsabschnitte praktisch<br />
nach Belieben verändern zu<br />
können. Bei einem der Männer<br />
konnte Cross die kunstvolle,<br />
animierte Tätowierung eines<br />
asiatischen Drachen erkennen,<br />
der sich in einem wilden Farbensturm<br />
vom Halsansatz abwärts<br />
auf der Haut des Japaners bewegte.<br />
Stille. Die Yakuza hatten ihre<br />
Gespräche verklingen lassen,<br />
aber niemand schien auf Cross<br />
eingehen zu wollen. Also redete<br />
er einfach weiter.<br />
„Stacy. Ich suche Stacy. Ich glaube,<br />
dass sie hier war ... sie ...“,<br />
krampfhaft versuchte sich Cross<br />
daran zu erinnern, wie seine<br />
Schwester ausgesehen hatte.<br />
Schwarzes Haar? Nein, es muss<br />
blond gewesen sein. Groß und<br />
schlank war sie sicher auch und<br />
natürlich im neuesten Hype gekleidet.<br />
Aber auf wen traf das hier<br />
nicht zu? „Blond. Sie hat blondes<br />
Haar. Sehr hübsch. Von der Ostküste.<br />
Sie kommt von der Ostküste.“<br />
Keine Reaktion. Nur die<br />
schwitzenden Gesichter und der<br />
treibende Rauch der Zigaretten.<br />
Mittlerweile spürte auch Cross<br />
den Schweiß an seinem Gesicht<br />
herablaufen, aber er dachte gar<br />
nicht daran, jetzt noch aufzugeben.<br />
„Seid ihr taub, ihr Wichser, oder<br />
wollt ihr nur nicht mit mir reden?<br />
Ich suche Stacy, verdammt,<br />
meine kleine Schwester. Und<br />
sollte ich erfahren, dass ihr etwas<br />
angetan wurde, dann werde ich<br />
euch eure kleinen, dreckigen<br />
japanischen Ärsche aufreißen ...“<br />
Mittlerweile hatte Cross seine<br />
Hände starr zu Fäusten geballt,<br />
und die letzten Worte kamen<br />
ihm so bitter über die Lippen,<br />
dass er die Japaner dabei fast<br />
angespuckt hätte.<br />
Dann kam Bewegung in die Szenerie.<br />
Na ja, zumindest etwas,<br />
dachte sich Cross, der im Augenwinkel<br />
wahrnahm, wie einer<br />
der Japaner seine Hand langsam<br />
und kontrolliert zu dem Katana<br />
neben seinem Sitzkissen gleiten<br />
ließ. Ihm blieb nicht mehr viel<br />
Zeit. Anscheinend waren die<br />
Yaks nicht kooperationswillig.<br />
Wenn ich hier jetzt noch lebend raus<br />
will, sagte sich Cross, dann muss<br />
ich handeln. Einfach mal schauen,<br />
was geschieht. So oder so. Eine Wahl<br />
habe ich jetzt nicht mehr. Blitzschnell<br />
stürzte Cross zur Seite,<br />
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147
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riss seinen Mantel auf und langte<br />
nach seinen Waffen. In einer Bewegung,<br />
die er in seinem Leben<br />
sicherlich schon Tausende von<br />
Malen vollbracht hatte, spürte<br />
Cross, wie sich seine Finger um<br />
das kalte Gehäuse seiner Waffen<br />
legten und diese aus den<br />
Schnellziehholstern rissen.<br />
Wie ein Mann sprangen die Japaner<br />
nun auf, ließen altmodische<br />
Teetassen und schwarze<br />
Plastikaschenbecher zu Boden<br />
fallen, während sie ebenso gewandt<br />
wie Cross nach ihren Waffen<br />
griffen. Dann drückte Cross<br />
ab, mehrmals.<br />
Das Donnern seiner Waffen gesellte<br />
sich zu dem trockenen Beat<br />
des Basses hinzu, und aus nächster<br />
Nähe fetzten die Hochgeschwindigkeitsprojektile<br />
in die<br />
Brust des Yaks, der genau vor<br />
ihm stand. Obwohl dessen makelloser<br />
Anzug sicherlich gepanzert<br />
war, hatten die panzerbrechenden<br />
Geschosse nicht die<br />
geringste Mühe, tief in dessen<br />
Fleisch einzudringen und dort zu<br />
detonieren. Blutüberströmt ging<br />
der tote Japaner zu Boden. Doch<br />
seine Landsleute waren nicht<br />
untätig geblieben.<br />
Zwei von ihnen waren mit einem<br />
gekonnten Satz über den kleinen<br />
Tisch gesprungen und hatten<br />
ihre Schwerter zum Ausholen<br />
angehoben. Ein schrilles Pfeifen<br />
ging durch die Luft, als Cross die<br />
Klingen zu sich hinabsausen hörte<br />
und instinktiv versuchte, sich<br />
von ihnen wegzudrehen, während<br />
er weiter rückwärts taumelte.<br />
Es gelang ihm, einer der Klingen<br />
gänzlich auszuweichen,<br />
während sich die zweite wie ein<br />
Rasiermesser durch den Mantel<br />
schnitt und seinen Oberarm aufschlitzte.<br />
Eine Welle des Schmerzes<br />
schoss ihm durch den Körper<br />
und Cross biss die Zähne zusammen.<br />
Erneut brachte er seine<br />
Waffen in Anschlag und betätigte<br />
wieder und wieder die Auslösesensoren,<br />
die auf die Biometrie<br />
seiner Fingerabdrücke reagierten.<br />
Der Mann vor ihm wurde<br />
mehrmals getroffen, nach hinten<br />
geschleudert und regelrecht zerfetzt.<br />
Dann spürte Cross, wie er<br />
das Gleichgewicht verlor und<br />
rücklings durch eine der Reispapierwände<br />
taumelte.<br />
Das Imitatholz brach sofort und<br />
ging mit ihm zu Boden. Über das<br />
Rauschen der Musik hinweg<br />
konnte er erste Entsetzensschreie<br />
neben sich hören. Der andere<br />
Yak war nun genau über ihm<br />
und seine silberne Klinge glänzte<br />
unwirklich im bunten Neonlicht<br />
der Clubbeleuchtung. Wie ein<br />
elektrischer Blitz fuhr sie auf ihn<br />
hinab, und Cross schloss in der<br />
Erwartung seines nahen Todes<br />
die Augen.<br />
Ein Klirren von Metall auf Metall<br />
ließ ihn wieder zu sich kommen.<br />
Über ihm stand ein anderer<br />
Mann, ebenso unpassend gekleidet<br />
wie er selbst, und hatte den<br />
Hieb des Yaks mit seiner eigenen<br />
Klinge, einem kunstvoll verzierten<br />
Katana, pariert.<br />
Noch immer lag Cross auf dem<br />
Boden und starrte wie hypnotisiert<br />
auf das Schwert des Fremden,<br />
in dessen Klinge ein wütendes<br />
Feuer zu brennen schien.<br />
Mit einer wilden, aber vollkom-<br />
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148
_______________________________________________________________________________________________<br />
men kontrollierten Attacke,<br />
drängte der Fremde den Yak<br />
zurück, sodass es Cross gelang,<br />
sich langsam wieder aufzurichten.<br />
Um ihn herum hatte sich ein<br />
Halbkreis gebildet. Immer mehr<br />
Leute nahmen nun wahr, was<br />
sich hinter ihrem Rücken im<br />
Club abspielte. Sicherlich würde<br />
es nicht mehr lange dauern, bis<br />
die Sicherheit auftauchte. Cross<br />
schaute sich um, sein Schweiß<br />
nahm ihm nun fast jede Sicht,<br />
und in seinem Arm breitete sich<br />
allmählich eine unangenehme<br />
Taubheit aus. Der Fremde war<br />
durch die zerfetzte Reispapierwand<br />
getreten und focht gleichzeitig<br />
gegen zwei seiner Gegner.<br />
Anmutig und tödlich zugleich<br />
erschien Cross dieses Klingenspiel,<br />
so völlig losgelöst von<br />
Raum und Zeit.<br />
Es musste nur wenige Augenblicke<br />
gedauert haben, obwohl es<br />
Cross wie eine Ewigkeit vorgekommen<br />
war. Dann konnte er<br />
erkennen, wie der Fremde dem<br />
ersten Yak den Bauch sauber<br />
aufgeschlitzt hatte und dem<br />
zweiten einen kräftigen Schlag<br />
versetzte, sodass dieser rücklings<br />
zu Boden fiel und den Tisch unter<br />
sich begrub.<br />
Der Fremde blickte sich um,<br />
starrte ihn an und gab Cross mit<br />
einem Wink zu verstehen, dass<br />
er ihm folgen sollte.<br />
Natürlich folgte er ihm.<br />
III.<br />
Irgendwann hatte Cross die Orientierung<br />
verloren. Nachdem<br />
der Fremde ihn aus dem Club<br />
gelotst hatte, waren sie auf dessen<br />
Motorrad in bahnbrechender<br />
Geschwindigkeit durch den Kern<br />
gerauscht, hatten die große Masse<br />
des Verkehrs hinter sich gelassen<br />
und kilometerlange, trostlose<br />
Tunnelröhren durchfahren. Dann<br />
hatte die Intensität des Lichtes<br />
langsam abgenommen. Als sie<br />
langsamer geworden waren, hatte<br />
Cross Stacheldrahtzäune erkennen<br />
können, die im Schein<br />
einiger weniger Neonröhren im<br />
Wind leicht hin und her<br />
schwankten. Die Ladenfronten in<br />
diesem Teil des Sprawl waren<br />
dreckig und größtenteils zerstört.<br />
Der Asphalt der Straße war grobem<br />
Kies gewichen, der ihre<br />
Fahrt weiter verlangsamt hatte.<br />
Dann hatte der Fremde plötzlich<br />
gestoppt. Irgendwo im Hintergrund<br />
konnte Cross die Umrisse<br />
alter Fabrikgebäude erkennen,<br />
und er spürte jetzt zum ersten<br />
Mal, seitdem sie losgefahren waren,<br />
dass er zitterte. Sein Arm<br />
war mittlerweile ganz taub geworden,<br />
er konnte ihn kaum<br />
noch bewegen. Als er sich umblickte,<br />
sah er nicht viel mehr als<br />
Finsternis. Irgendwo, weit entfernt,<br />
nahm er ein schimmerndes<br />
Licht wahr, das vermutlich aus<br />
den Arkologien im Zentrum<br />
stammte.<br />
„Dein Arm. Du bist dort getroffen<br />
worden, nicht wahr?“, hörte<br />
er plötzlich den Fremden sagen.<br />
Er nickte nur, während er unbeholfen<br />
von dem schnittigen Motorrad<br />
stieg.<br />
„Weißt du, unsere Gesellschaft<br />
ist hochtechnisiert, aber Leute<br />
wie die Yakuza benutzen immer<br />
_______________________________________________________________________________________________<br />
149
_______________________________________________________________________________________________<br />
noch altmodische Klingen. Das<br />
spirituelle Band zwischen einem<br />
Krieger und seinem Schwert<br />
kann man nun einmal nicht<br />
durch industrielle Fertigung erreichen.“<br />
Cross schüttelte den Kopf. Was,<br />
zum Henker, erzählte ihm der<br />
Typ da? Verschwommen hallten<br />
die Worte in seinem Kopf nach,<br />
aber Cross konnte ihre Bedeutung<br />
nicht wirklich zuordnen,<br />
also gab er wieder nur ein Nicken<br />
von sich. Langsam kam der<br />
Japaner auf ihn zu und half ihm,<br />
seinen Mantel abzulegen. Cross<br />
wusste nicht, ob er dies wollte,<br />
aber er war einfach zu schwach,<br />
sich dagegen zu wehren, also<br />
ließ er es geschehen. Scheinbar<br />
fachmännisch verarztete der andere<br />
Cross‘ Schnittwunde mit<br />
einigen wenigen Habseligkeiten,<br />
die er dem Fach seines Motorrads<br />
entnahm. Als der Blutverlust<br />
langsam abebbte, fühlte sich<br />
Cross schon wesentlich besser.<br />
Unbewusst, so als würde er es<br />
brauchen, griff er nach seinem<br />
Mantel, durchwühlte kurz dessen<br />
Taschen und fand sie endlich:<br />
seine Resire-Rationen.<br />
Schnell nahm er gleich zwei Dosen<br />
direkt hintereinander.<br />
„Was ist das für ein Zeug?“, fragte<br />
der Fremde ihn.<br />
„Resire. Kennst du es?“, antwortete<br />
ihm Cross, während er spürte,<br />
wie die Kraft und das Leben<br />
zu ihm zurückkamen. Neue<br />
Kraft, neue Gedanken. Es geht<br />
weiter, sagte er sich.<br />
„Ja, ich habe davon gehört. Aber<br />
ich bevorzuge das innere Wesen<br />
der Dinge ...“, ließ der Fremde<br />
ihn nach einiger Zeit wissen,<br />
aber in der Woge neuer Existenz<br />
schwelgend, hatte Cross ihn einfach<br />
überhört.<br />
„Cross. Man nennt mich Cross.<br />
Ach, und danke. Du hast mir den<br />
Arsch gerettet.“<br />
Der Fremde deutete eine leichte<br />
Verbeugung an und stellte sich<br />
ihm dann ebenfalls vor.<br />
„Musashi. Das ist der Name, den<br />
ich angenommen habe, zu Ehren<br />
eines großen Kriegers aus den<br />
Tagen, die vergangen sind. Und<br />
dank mir nicht, Cross-San. Der<br />
Kampf war unfair, und ich habe<br />
etwas gegen unfaire Kämpfe. Sie<br />
beschämen mein Gefühl von der<br />
Ansicht einer rechten Ordnung.“<br />
Erneut konnte Cross mit dem<br />
Gefasel des Japaners nicht viel<br />
anfangen, aber er ließ es dennoch<br />
auf sich beruhen. Dann schoss es<br />
ihm wie ein Blitz wieder durch<br />
den Kopf. Stacy! Er war hier, um<br />
Stacy zu finden. Er hatte diesen<br />
Traum gehabt. Wie war er nur<br />
hierhergekommen? In diesen<br />
fremden Sprawl, diesen Neonwald?<br />
Vage erinnerte er sich an<br />
einen Traum, in dem er auf einem<br />
Schiff gewesen war. Ein<br />
alter chinesischer Frachter. Überall<br />
um ihn herum hatte das finstere<br />
Meer gewogt, und matte<br />
Lichterzeilen waren am Horizont<br />
zu erkennen gewesen. Unwichtig.<br />
So oder so. Ich muss Stacy<br />
finden.<br />
„Stacy“, sagte er dann, weil er<br />
Angst hatte, Musashi könne sich,<br />
ob seiner langen Stille, einfach<br />
dazu entscheiden, ohne ihn weiterzufahren.<br />
„Ist das die Frau, nach der du<br />
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150
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suchst?“, fragte der andere ruhig.<br />
Cross nickte bestätigend.<br />
„Sie muss sicherlich eine schöne<br />
Frau sein, wenn du eine so weite<br />
Reise wegen ihr gemacht hast.“<br />
Woher wusste der Typ, woher<br />
Cross kam? Aber nein. Er vermutete<br />
nur, dass Cross ein Fremder<br />
war. Es war ja auch nicht schwer,<br />
auf diese Schlussfolgerung zu<br />
kommen, schließlich war er kein<br />
Japaner. Und waren nicht alle<br />
irgendwie fremd in der Wahrnehmung<br />
des jeweils anderen?<br />
Cross schüttelte den Kopf.<br />
Zu viel Wirklichkeit ist benebelnd,<br />
schien es ihm, aber er<br />
wusste nicht, warum er daran<br />
dachte.<br />
„Also. Wenn du sie finden möchtest,<br />
dann müssen wir los“, sagte<br />
Musashi und schritt wieder zu<br />
seinem Motorrad. „Hast du denn<br />
einen Anhaltspunkt, dem wir<br />
folgen können?“ Cross dachte<br />
nach, während er sich ebenfalls<br />
wieder auf das Motorrad setzte.<br />
Als er Musashi allerdings nicht<br />
antwortete, startete dieser, ohne<br />
etwas Weiteres zu sagen, den<br />
Motor und fuhr mit Cross auf<br />
der Maschine in die Dunkelheit<br />
davon.<br />
Du musst dich erinnern, Cross.<br />
Wenn du sie finden willst, dann<br />
brauchst du deine Erinnerungen.<br />
Der Fahrtwind trieb ihm Tränen<br />
in die Augen. Langsam rannen<br />
sie sein kaltes Gesicht entlang,<br />
dehnten sich zu einem kleinen,<br />
filigranen Rinnsal aus und verschwanden<br />
schließlich in der<br />
grauen Röhre des Tunnels, durch<br />
den sie hindurchrauschten. Genauso<br />
wie seine Erinnerungen.<br />
Sie perlen davon, werden eingesogen<br />
in den düsteren Schlund der Vergessenheit.<br />
Und wenn sie alle fort<br />
sind, dann werde ich sie niemals<br />
wiederfinden. Mich selbst finden.<br />
Erinnere dich, Cross.<br />
Stacy hatte SimStim geliebt. Sie<br />
hatte davon geträumt, ein Sim-<br />
Stim-Star zu werden, so wie es<br />
wohl jedes Mädchen mindestens<br />
einmal im ihrem Leben träumte.<br />
Aber wenn man aus einer trostlosen<br />
Asphaltwüste kam, in den<br />
Tag hinein lebte, von einem Bild<br />
ins nächste, aneinandergereihte,<br />
einsame Momente, ohne Sinn<br />
und Verstand, dann blieb es<br />
meist ein Traum. Aber war dieser<br />
Traum denn weniger wirklich<br />
als das Dasein selbst, das<br />
man tagtäglich über sich ergehen<br />
ließ?<br />
Mit einem Schulterklopfen machte<br />
Cross sich bei dem Japaner<br />
bemerkbar. Langsam drosselte<br />
dieser die Geschwindigkeit, und<br />
sie kamen zwischen den hoch<br />
aufragenden Schatten gleichförmiger<br />
Wohnblocks, die aus der<br />
Luft vom sprawlweiten Drohnennetzwerk<br />
versorgt wurden,<br />
zum Stehen. Irgendwo über<br />
ihnen zog ein Zeppelin lautlos<br />
seine Bahnen, und sein leuchtender<br />
Reklameschirm sah aus wie<br />
ein Gemälde, das einsam über<br />
den Himmel zog.<br />
„SimStim. Stacy kannte diesen<br />
Typen, einen Japaner. Er hat sie<br />
mit nach Neo Tokyo genommen.<br />
Er stellt SimStims her. Hat da so<br />
einen Laden in Shinjuku, in der<br />
Nähe des alten Bahnhofs. Glaube<br />
ich zumindest. Es muss einfach<br />
stimmen ...“<br />
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151
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Musashi nickte. „Shinjuku ist<br />
nicht weit von hier. Ich kenne<br />
das Bahnhofsviertel. Dort sind<br />
schon viele Träume zerflossen.“<br />
Dann fuhren sie weiter, und in<br />
Cross hallte noch lange dieser<br />
letzte Satz des Japaners nach,<br />
während er sich innerlich zu fragen<br />
begann, ob vielleicht auch<br />
sein Traum dort endlich enden<br />
würde.<br />
IV.<br />
Der alte Bahnhof von Shinjuku<br />
hatte etwas Düsteres an sich. Es<br />
war dieser Schatten, in das ein<br />
lange verfallenes Gebäude getaucht<br />
war, wenn sich in seinen<br />
Eingeweiden der Staub der Zeit<br />
zu neuem, zwielichtigem Leben<br />
erhoben hatte. Auf den großen<br />
elektronischen Anzeigetafeln<br />
flimmerten die Szenen eines gewaltsamen<br />
Vorgehens von Konzernmilitär<br />
gegen demonstrierende<br />
Arbeiter, die von den Hackern<br />
einer der zahlreichen Piratenkanäle<br />
in den Schlund des<br />
Neo-Tokyo-Cyberspace geladen<br />
worden waren. Auf den metallenen<br />
Treppenstufen zu den einzelnen<br />
Terminals hin konnte<br />
Cross eine Gang aus japanischen<br />
Teenagern erkennen, die Sim-<br />
Stim-Decks bei sich trugen und<br />
gerade dabei waren, eine Verkehrsleitdrohne<br />
auseinanderzunehmen,<br />
um deren Einzelteile<br />
auf dem Schwarzmarkt unter der<br />
Bahnhofshalle verkaufen zu<br />
können.<br />
Es hatte wieder zu regnen angefangen,<br />
sodass das allgegenwärtige<br />
Licht der Neonreklamen<br />
verwaschen auf den Platz strömte,<br />
der sich vor dem alten Bahnhofsgebäude<br />
ausbreitete.<br />
Musashi hatte das Motorrad in<br />
einer Gasse zum Stehen gebracht<br />
und die Diebstahlsicherung eingeschaltet,<br />
die jeden röste würde,<br />
der sich ohne gültigen Zugangscode<br />
an dem Motorrad zu schaffen<br />
machte.<br />
Cross schaute sich um, während<br />
er spürte, wie das Resire seine<br />
Synapsen emporstieg, sie elektrisierte<br />
und neue Bilder der Wirklichkeit<br />
in ihm heraufbeschwor.<br />
Er war hier schon einmal gewesen,<br />
wusste er nun. Aber vielleicht<br />
hatte er es auch nur geträumt.<br />
Schwer zu sagen. Langsam<br />
schritt er los, einfach so, und<br />
hörte dann nach einiger Zeit, wie<br />
der Japaner ihm still folgte. Von<br />
der Straße gelangte Cross auf<br />
den Platz, der wegen des Regens<br />
nun wie blank poliert aussah<br />
und auf dem sich verzerrte Abbilder<br />
der Leuchtreklamen widerspiegelten.<br />
All diese Bilder. Fragmente meines<br />
Lebens. Verwaschen, verzerrt<br />
und unleserlich. Ich muss<br />
sie wieder zu mir holen, mich<br />
daran erinnern, was ich hier tue.<br />
Schritt für Schritt marschierte er<br />
über den Platz, während der Regen<br />
sein Haar durchnässte,<br />
durchquerte die verschwommenen<br />
Bilder und ließ sie hinter sich<br />
zurück.<br />
Seine Knie fingen wieder zu zittern<br />
an. Alles sah plötzlich so<br />
gestochen scharf aus, spiegelte<br />
sich gar deutlich im Regen wider,<br />
so als würde das Gefüge der<br />
Wirklichkeit sich lösen, abblät-<br />
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152
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tern wie der Putz auf einer alten<br />
grauen Betonwand.<br />
Er taumelte. Und dann sah er sie.<br />
Aber er sah sie nicht nur mit seinen<br />
Augen, nein, es war vielmehr,<br />
als würde er sie spüren.<br />
Sein Ziel. Es musste dieses Ziel<br />
einfach geben, diese letzte Instanz,<br />
in der sich alles verlor.<br />
Oder sollte sein Leben tatsächlich<br />
nur eine wirre Abfolge verschwommener<br />
Bilder gewesen<br />
sein, ein neonfarbenes Meer, so<br />
wie jenes auf dem Platz, über<br />
den er sich nun bewegte?<br />
Als er stehen blieb, blickte er auf<br />
den Laden. Über dem Eingang<br />
blinkte in leuchtenden Lettern<br />
ein Schriftzug. Tempel der<br />
Träume – SimStim made by<br />
Anaki Fukama.<br />
Wie in wiederkehrenden Phasen<br />
sah er nun die langmähnige<br />
Blondine durch den Ladeneingang<br />
schreiten, nach der er schon<br />
so lange gesucht hatte. „Stacy!“,<br />
brüllte er, aber sie war bereits im<br />
Gebäude verschwunden. Von<br />
den Treppenabsätzen her schauten<br />
die japanischen Kids tuschelnd<br />
zu ihm hinüber. Ein<br />
leichtes Anschwellen der Geräuschkulisse<br />
ließ ihn nach<br />
rechts blicken. Durch den Regen<br />
und das Licht tauchte in gemächlichem<br />
Tempo eine schwarze<br />
Limousine auf und näherte sich<br />
dem Platz.<br />
„Cross-San. Wir kriegen Besuch.<br />
Yakuza ...“, ließ ihn Musashi<br />
wissen, der bereits mit einer fließenden<br />
Bewegung seine Schwerter<br />
zog.<br />
„Stacy ... ich, sie war dort. Sie ist<br />
den Laden gegangen ...“, stammelte<br />
Cross, vergaß dabei aber<br />
nicht, ebenfalls seine Waffen zu<br />
ziehen. Die Limousine war stehengeblieben.<br />
Bedrohlich wirkte<br />
ihre düstere Front, als die<br />
Scheinwerfer erloschen. „Lauf!“,<br />
hörte Cross den Japaner plötzlich<br />
rufen, und er gehorchte sofort.<br />
Die Türen des großen Wagens<br />
öffneten sich, und ein Yak nach<br />
dem anderen erschien im prasselnden<br />
Regen, bewaffnet,<br />
kampfbereit und mit ausdrucksloser<br />
Miene. Cross fing an zu<br />
laufen, hechtete, so schnell er<br />
konnte, über den Platz und feuerte<br />
wahllos einige Schüsse in<br />
Richtung der Limousine ab. In<br />
einem unwirklichen Klang donnerten<br />
seine Waffen durch den<br />
Regen und trieben die Yakuza<br />
dazu, sich in Deckung zu werfen.<br />
Das Letzte, was er sah, bevor er<br />
durch den Eingang des Tempels<br />
der Träume hechtete, war ein<br />
lautlos durch den Regen sprintender<br />
Musashi, der seine beiden<br />
kunstvoll verzierten Schwerter<br />
zum Angriff erhoben hatte.<br />
Das Innere des Gebäudes war<br />
geheimnisvoll wie ein Labyrinth.<br />
Überall aufgestellte altmodische<br />
Wandspiegel und monoton<br />
summende Holoprojektoren<br />
verwandelten den zugestellten<br />
Raum in ein Kaleidoskop aus<br />
Illusion und Wirklichkeit.<br />
Cross‘ Atem ging schnell, er hörte<br />
das Blut in seinem Kopf rauschen,<br />
und die Schärfe seiner<br />
Wahrnehmung raubte ihm fast<br />
den Verstand. Ziellos schritt er<br />
umher, tastete sich mit seinen<br />
Händen, die die Waffen immer<br />
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153
_______________________________________________________________________________________________<br />
noch fest umgriffen hatten,<br />
durch ein Labyrinth aus buntem<br />
Licht und konnte einfach nicht<br />
mehr erkennen, was Hologramm<br />
und was wirklich war.<br />
Am Ende seiner Kräfte angekommen,<br />
ging er schließlich in<br />
einem Durchgang zum nächsten<br />
Raum auf die Knie nieder. Das<br />
vor ihm liegende Gewölbe schien<br />
eine Art Testraum zu sein. In den<br />
zahlreichen Sitzecken lagen oder<br />
saßen junge Frauen, die gerade<br />
dabei waren, neue Stims auszuprobieren.<br />
Viele von ihnen waren<br />
japanischer Herkunft, aber<br />
ebenso viele schienen aus dem<br />
Ausland zu stammen. Einige<br />
trugen durchsichtige Regenmäntel,<br />
andere moderne Kunststoffdamenjacken<br />
oder langärmelige<br />
Pullover mit integrierten Holoschirmen<br />
in Brusthöhe. Niemand<br />
schien ihn zu beachten, sie<br />
alle waren ihren Träumen erlegen,<br />
während sie in einem virtuellen<br />
Meer dahinglitten, auf<br />
dem auch er sich lange Zeit hatte<br />
treiben lassen. Das blonde Mädchen,<br />
das er noch vor wenigen<br />
Momenten am Eingang beobachtet<br />
hatte, hockte nun in einem<br />
großen, sich der Körperform anpassenden<br />
Sessel, das SimStim-<br />
Deck vor sich auf dem Schoß<br />
seiner schwarzen, ausgefranzten<br />
Jeans.<br />
Es war nicht Stacy, wusste er<br />
nun. Das hieß, sie war zumindest<br />
nicht mehr Stacy, als es jede andere<br />
Frau hier oder sonst wo in<br />
Neo Tokyo hätte sein können.<br />
Aber wenn Stacy gar nicht existierte,<br />
wenn das Bild von ihr nur<br />
ein verwaschener Traum aus<br />
zerfließendem Licht war, was<br />
war dann mit ihm selbst? Mit all<br />
den anderen Bildern in seinem<br />
Kopf, den Erinnerungen, Gefühlen<br />
und seinem Leben.<br />
Hatte Stacy seine Sehnsucht nach<br />
dem Ziel entfacht, oder hatte<br />
seine Sehnsucht Stacy erst entstehen<br />
lassen? Cross schloss die<br />
Augen, spürte seinen heißen<br />
Atem aus sich herausströmen,<br />
das Schlagen seines Herzens. Es<br />
ist doch egal, ob ich weiß, ob es<br />
wirklich war oder nicht. Ich bin<br />
hier und damit muss ich nun<br />
zurechtkommen.<br />
Hinter sich hörte er Schritte, und<br />
als er sich umblickte, noch immer<br />
auf dem Boden kniend, sah<br />
er Musashi, durchnässt und in<br />
Blut getränkt, die beiden Schwerter<br />
in seinen starren Händen haltend.<br />
„Komm mit mir, Cross-San. Ich<br />
werde dir zeigen, wie du das<br />
innere Wesen der Dinge finden<br />
kannst. Komm mit mir.“<br />
Stumm erhob er sich und ging<br />
hinaus, folgte dem Japaner über<br />
den Platz, der nun, wo es zu regnen<br />
aufgehört hatte, ihm keine<br />
verschwommenen Bilder mehr<br />
zu zeigen vermochte.<br />
So oder so. Die Wahl lag bei ihm.<br />
Warum sich also nicht einfach<br />
treiben lassen?<br />
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Haus aus rotem Licht<br />
von Judith Madera (2012)<br />
Blutiges Licht und ein Kuss für<br />
die Nacht.<br />
Sang stützte sich auf das blau<br />
glimmende Glasgeländer, das<br />
sein unverschämt teures Apartment<br />
von der Wirklichkeit trennte.<br />
Hier, am Rande des leuchtenden<br />
Stadtkerns, wirkte das<br />
Sprawl wie eine endlose graue<br />
Masse, durchflackert von Neonfunken.<br />
Eigentümlich trist und<br />
schön. Vor einem Jahr noch war<br />
ihm diese Welt fremd gewesen,<br />
nur der trübe Schatten seiner<br />
sterilen Existenz. Nun war es die<br />
Wahrheit, die seine Sehnsucht<br />
stillte.<br />
Cherrys Wahrheit.<br />
Sang konnte das Erythra von hier<br />
oben aus sehen, ein Gebäude aus<br />
rotem Glanz, das in der ewigen<br />
Finsternis des Sprawl in einer<br />
steten Supernova strahlte. Dort<br />
verglühte Cherrys Leben im<br />
Rausch niederer Begierden. Ihm<br />
wurde kotzübel, wenn er daran<br />
dachte, wie dreckige Hände ihre<br />
weiße Haut zerkratzten, wie sich<br />
gescheiterte Gestalten schwitzend<br />
und keuchend in sie ergossen.<br />
Sang würde sie da rausholen.<br />
Bald schon.<br />
Er schenkte der Nacht einen letzten<br />
Kuss und betrat sein kleines<br />
Stück Chaos in der geordneten<br />
Welt des Kerns. Instant-Nudel-<br />
Packungen in verschiedenen<br />
Grüntönen lagen auf dem Boden,<br />
und die pinke Plexiglasscheibe<br />
seines Tisches war unter dem<br />
Wust von Holochips und Mikro-<br />
Festplatten kaum noch zu erkennen.<br />
Über vierzehn Bildschirme<br />
flossen verschlüsselte Datenströme,<br />
aus denen seine Programme<br />
Informationen nagten<br />
und sie dem Alterreal-Netzwerk<br />
zur Verfügung stellten. Sang<br />
erledigte währenddessen die<br />
wichtigen Jobs.<br />
Er ließ sich aufs Sofa fallen und<br />
tastete nach den Verbindungskabeln.<br />
Zärtlich führte er sich die<br />
mit Platinkuppen versehenen<br />
Glasfaserschlangen in seine<br />
Headbuchse ein, zwei für Wahrnehmung<br />
und Interaktion und<br />
eine für den Datentransfer zu<br />
seinem Deck. Ein Samsung Xtasy<br />
VII, Spezialanfertigung für Alterreal.<br />
Ein Designerteil, das die<br />
Synchronisation mit vierzehn<br />
anderen Decks ermöglichte und<br />
mit einer wahnsinnigen Simulationsqualität<br />
aufwartete.<br />
Erregung schoss durch Sangs<br />
Körper, als das Netz zu einem<br />
glühenden Datenstrom erblühte,<br />
visualisiert in lichtfarbenen Pho-<br />
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156
_______________________________________________________________________________________________<br />
tismen. Kantige Programmstrukturen<br />
schoben sich in sein Sichtfeld.<br />
Sangs Finger vollführten<br />
einen bizarren Tanz auf dem<br />
Touchscreen, während neue<br />
Anweisungen von Alterreal sein<br />
Bewusstsein fluteten.<br />
Ihre nächste Zielperson war ein<br />
gewisser Michael Donelli, Leiter<br />
der Beta-Forschungsabteilung<br />
der Telti Corporation. Sang sollte<br />
dafür sorgen, dass er bald ungestörten<br />
Besuch empfangen konnte.<br />
Ein Spaziergang. Der neue<br />
Vollstrecker war ein Junge aus<br />
dem Kern, naiv und unerfahren,<br />
leicht steuerbar und bei bester<br />
Gesundheit. Man konnte den<br />
Kerl richtig hoch dosieren, sodass<br />
er die wahnsinnige Fluchtroute<br />
mit Leichtigkeit schaffen<br />
würde. Und wenn nicht – Pech<br />
gehabt. Er war ein guter Fang,<br />
aber sicher nicht der letzte.<br />
Sang wählte sich ins Telti-<br />
Firmennetz ein, das sich in<br />
schimmernden Rottönen vor ihm<br />
entblätterte. Ein grauenhaftes<br />
Design für den öffentlichen Bereich.<br />
Sang kratzte an der Oberfläche<br />
und überschrieb seine<br />
Identität mit der eines Verwaltungsangestellten,<br />
der offenbar<br />
das letzte Sicherheitsupdate verpasst<br />
hatte. Mit einem schiefen<br />
Grinsen auf den Lippen checkte<br />
Sang die Überwachungssysteme.<br />
Brandneue Software, die er in<br />
seinem Tagleben mitentwickelt<br />
hatte. Es war geradezu lachhaft<br />
leicht.<br />
Bis er zu tief eindrang und eine<br />
aggressive Firewall aktivierte.<br />
Wie ein kristallblauer Panzer<br />
legte sich das EIS um die internen<br />
Kontrollen der Kameraüberwachung.<br />
Sang registrierte<br />
einen sprunghaften Anstieg der<br />
Datentransferrate. Schwarzes EIS<br />
also. Früher hatte man sich erzählt,<br />
dass es töten könne. Das<br />
Deck grillen – ja. Den User killen?<br />
Schwachsinn.<br />
Die kristallene Wand vor Sang<br />
blieb eisblau. Unscheinbar. Unerfahrene<br />
Idioten würden jetzt versuchen<br />
durchzubrechen. Doch<br />
Sang aktivierte sein Reflektorprogramm<br />
und leitete den vergifteten<br />
Datenstrom auf ein anderes<br />
Deck. Während das EIS<br />
seinen Dummy zerstörte, hackte<br />
sich Sang eine Lücke in den Kristallpanzer.<br />
Kaltes Violett umgab<br />
ihn. Mit ruhiger Präzision platzierte<br />
er einige Cookies im System<br />
und tarnte sie als alte Aufzeichnungen.<br />
Danach schlich er<br />
durch dieselbe Lücke wieder<br />
heraus und nahm geringfügige<br />
Veränderungen an den Dienstplänen<br />
vor. Zufällig würde Michael<br />
Donelli allein auf dem gesamten<br />
Stockwerk sein, wenn<br />
der Tod an seine Tür klopfte.<br />
Sang atmete tief durch, als er<br />
durch die Verbindungsröhre<br />
hinaus ins Sprawl trat. Noch<br />
immer war der Übergang ein<br />
Schock für ihn, ein harter Wechsel<br />
von der sterilen Konturlosigkeit<br />
in den scharfkantigen Dreck.<br />
Kaum hatte er den Betonwall des<br />
Stadtkerns hinter sich gelassen,<br />
wurde er von einem fahrigen<br />
Kleindealer angequatscht.<br />
„Alter, brauchst du Synth? Explosion?<br />
Guter Stoff aus der alten<br />
Zeit, knallt dich total weg.“<br />
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157
_______________________________________________________________________________________________<br />
Er grinste Sang mit seinen gelben,<br />
stumpfen Zähnen an. Eine<br />
weitere gescheiterte Gestalt.<br />
Synth war ein blasses Nichts gegen<br />
das, was Alterreal ihm bot.<br />
Sang drängte sich an dem stinkenden<br />
Kerl vorbei und zog seinen<br />
Mantel etwas enger um seinen<br />
dürren Körper. Er brauchte<br />
keine Drogen. Er brauchte Cherry.<br />
Ihre süßen Lippen.<br />
Der rote Glanz der Erythra<br />
schien sich an den feuchten Häuserwänden<br />
zu spiegeln. In den<br />
zahllosen Pfützen des Kondenswassers,<br />
das aus einer höheren<br />
Ebene herabrieselte. Im Plastikmüll,<br />
der sich wie Eingeweide<br />
aus einem aufgebrochenen Container<br />
ergoss. Selbst in den Pupillen<br />
der grauen Gestalten, die<br />
träge an ihm vorüberwogten.<br />
Viele trugen Atemmasken, doch<br />
Sang liebte das Brennen in seinen<br />
Lungen. Es war das Brennen<br />
jener Welt, in der Cherry lebte.<br />
Zwischen den hohen Betonbauten<br />
des Sprawl war das Erythra<br />
ein Tempel aus rotem Glas. Im<br />
Stil einer altertümlichen Villa<br />
leuchtete das Etablissement die<br />
triste Umgebung aus, lockte die<br />
Verlierer der Zukunft aus ihren<br />
Löchern. An Säulen rannen Bilderströme<br />
hinab, Mädchen in<br />
obszönen Posen, sinnlich geöffnete<br />
Lippen. Circle Eyes, wie<br />
Cherry sie hatte. Wunderschöne<br />
pink-schwarz gesprenkelte Iriden.<br />
Sang schluckte schwer und trat<br />
durch das flackernde Portal. Ein<br />
enger Flur aus dunkelrotem<br />
Samt und eine Finsternis, die der<br />
strahlenden Fassade spottete,<br />
erwarteten ihn. Sang schob sich<br />
an betrunkenen Typen vorbei in<br />
die Table Dance Bar, wo Cherry<br />
bereits auf einem Podest ihren<br />
traumhaften Körper präsentierte.<br />
Musik rauschte, ein elektronischer<br />
Genremix. Hypnotisch und<br />
einlullend, so wie Cherrys Bewegungen.<br />
Das Auf- und Abwogen<br />
ihrer milchweißen Brüste.<br />
Sang schob einen zugedröhnten<br />
Kerl zur Seite und machte es sich<br />
vor dem Podest bequem. Cherry<br />
zwinkerte ihm zu und leckte sich<br />
über die blutrot geschminkten<br />
Lippen. Ein schwarzer Fetzen<br />
bedeckte ihre Scham. Glitzernde<br />
Tätowierungen schimmerten auf<br />
ihrem schweißnassen Körper. Ihr<br />
Erdbeerhaar war zu einem<br />
schwindelerregenden Lockenstrudel<br />
aufgetürmt. Cherry war<br />
eine Göttin.<br />
Sie hatte die Beine weit gespreizt,<br />
als der Sound sich schlagartig<br />
veränderte und sie ihr Podest für<br />
eine finstere Vampirlady räumte.<br />
Sang zog sein Mädchen zur Seite,<br />
durch enge Flure, vorbei an gaffenden<br />
Gesichtern. In ihr herrlich<br />
kitschiges Separee, voller Plüsch<br />
und roter Seide. Ihre Lippen fanden<br />
sich, und er verlor sich in<br />
ihrem süßen Geschmack. In ihren<br />
riesigen Augen zerrann die<br />
Wirklichkeit zu einem trüben<br />
Nebel. Sang spürte ihre zierlichen<br />
Hände, die seine Erektion<br />
massierten. Ihren feuchten<br />
Schoß, der sich hungrig auf ihn<br />
senkte und ihn in einem blutroten<br />
Orgasmus verschlang.<br />
„Bist immer noch mein bester<br />
Kunde“, flüsterte Cherry. Unendlich<br />
zärtlich. Sie schmiegte<br />
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sich näher an ihn. War so viel<br />
weicher als das herzförmige<br />
Plüschbett, auf dem er lag, nassgeschwitzt<br />
und mit rasendem<br />
Herzen.<br />
„Bald gibt‘s keine anderen Kunden<br />
mehr“, sagte Sang. „Ich hol<br />
dich hier raus. Wie ich‘s versprochen<br />
hab.“<br />
„Wie du’s versprochen hast.“<br />
Als er aufwachte, zitterten seine<br />
Hände wie nach einem Stromschlag.<br />
Diffuses Licht brannte in<br />
seinen Augen. Sang spürte die<br />
trügerische Weichheit einer<br />
Kunststoffliege unter sich. Der<br />
Alterreal-Tempel. Er musste hergekommen<br />
sein, als Cherry ihn<br />
für einen anderen Freier verlassen<br />
hatte. Sang setzte sich auf.<br />
Böser Fehler. Der ganze Raum<br />
drehte sich. Oder drehte sich nur<br />
sein Gehirn?<br />
„Scheiße.“<br />
Er übergab sich auf den gekachelten<br />
Boden. Erst als er sich die<br />
Reste vom Mund wischte, bemerkte<br />
er, dass er nicht allein<br />
war. Ein Kerl mit grünen Dreadlocks<br />
hatte ihn die ganze Zeit<br />
beobachtet.<br />
„Hey, du bist doch der, der mich<br />
rekrutiert hat?“, stellte Sang erstaunt<br />
fest. Ihm wollte der Name<br />
des Hackers nicht mehr einfallen.<br />
Case? Nein. Aber so ähnlich.<br />
„Du hättest den Kelch nicht leertrinken<br />
sollen, Sang. Tut dir nicht<br />
gut.“<br />
Sein Gegenüber sah verdammt<br />
jung aus. Die grünen Dreads<br />
waren gut gepflegt, was man von<br />
seinen Klamotten nicht behaupten<br />
konnte. Sang wuchtete seinen<br />
zittrigen Körper von der Liege<br />
und ging auf den Hacker zu.<br />
Chain. Der Name war Sang ganz<br />
plötzlich in den Sinn gekommen.<br />
Doch nun war er sich ganz sicher.<br />
Der Kerl hieß Chain und<br />
war eine Traumgeburt des<br />
Kerns, genau wie er.<br />
„Setzt dich lieber wieder“, meinte<br />
Chain und machte sich an seiner<br />
Manteltasche zu schaffen.<br />
Sang nickte verständnislos. Die<br />
ganze beschissene Welt rotierte<br />
in seinem Schädel. Sitzen war<br />
gut. Sang sah eine Nadel aufblitzen<br />
und verstand. Beobachtete<br />
stumm, wie Chain eine rötliche<br />
Flüssigkeit aufzog und ihm<br />
spritzte. Schlagartig blieb die<br />
Welt stehen. Sein Herz setzte aus<br />
– und schlug in einem ruhigeren<br />
Takt weiter.<br />
„Komm mit“, sagte Chain.<br />
Der Boden schwankte noch ein<br />
wenig, doch Sang schaffte es,<br />
dem Hacker zu folgen. Sie traten<br />
durch einen Saal aus blau<br />
schimmerndem Licht, das sich in<br />
den gläsernen Säulen und dem<br />
Boden tausendfach spiegelte.<br />
Eine kleine Gruppe verhüllter<br />
Personen stimmte in der Mitte<br />
des Raumes einen tiefen Gesang<br />
an. Ein paar andere, Leute von<br />
der Straße, bestaunten den religiösen<br />
Akt. Damit lockte Alterreal<br />
neue Anhänger. Sang war<br />
immer noch fasziniert von der<br />
okkulten Beschwörung, die ein<br />
neues Leben versprach. Auch er<br />
hatte ein neues Leben erhalten –<br />
ein besseres als diese ahnungslosen<br />
Schafe, die sich dem technoiden<br />
Kult opferten. Sie konnten<br />
nicht einmal im Ansatz erahnen,<br />
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zu was Alterreal fähig war. Die<br />
ganze Welt würde in Flammen<br />
aufgehen, und Sang würde mit<br />
Cherry aus der Asche steigen.<br />
„Im Gegensatz zu denen da“,<br />
Chain deutete auf die neue<br />
Kundschaft, „weißt du, dass man<br />
nicht zu viel aus dem Kelch trinken<br />
sollte.“ Er klang sauer. „Du<br />
hast einen verdammten Job zu<br />
machen. Oder kriegst du das<br />
nicht hin?“<br />
Schales Misstrauen.<br />
„Klar krieg ich das hin.“ Sang<br />
bemühte sich um Gleichgültigkeit.<br />
Als wäre es lachhaft, an<br />
seinen Fähigkeiten zu zweifeln.<br />
Er hatte nur seine Dosis gebraucht,<br />
um einen klaren Kopf<br />
zu bewahren. Sie alle mussten<br />
hin und wieder aus dem Kelch<br />
trinken.<br />
„Hab schon alles vorbereitet“,<br />
erklärte Sang, als Chain ihn weiter<br />
skeptisch musterte. „Alles<br />
easy, wird ein Spaziergang morgen.“<br />
„Morgen? Die Party steigt in fünf<br />
Stunden!“ Scheiße, war er so<br />
lange weggetreten gewesen?<br />
„Kein Problem. Bringt ihr euren<br />
Killer an den Start, ich mach den<br />
Rest.“<br />
Er grinste, doch Chain war offensichtlich<br />
nicht zu Scherzen<br />
aufgelegt.<br />
„Wir verlassen uns auf dich,<br />
Sang. Und Cherry tut das auch.<br />
Du willst sie doch da rausholen?<br />
Wir sind unseren Zielen so nah.<br />
Alterreal wird alles regeln. Also<br />
enttäusch uns nicht.“<br />
Der Alterreal-Tempel kotzte ihn<br />
aus, und Sang fand sich allein in<br />
der ewigen Dunkelheit des<br />
Sprawl wieder.<br />
In seinen Gedanken leuchtete<br />
das Erythra wie Sternenfeuer.<br />
Ein Haus aus Glas, hinter dessen<br />
flackernder Fassade Cherry tanzte.<br />
Sang wollte ihre Hitze spüren,<br />
sich in ihren wunderschönen<br />
Augen verlieren. Circle Eyes.<br />
Doch es galt, einen guten Job zu<br />
machen. Damit Alterreal diese<br />
beschissene Welt ins Chaos stürzen<br />
konnte. Die Grenzen würden<br />
fallen. Die Grenzen zwischen<br />
dem Kern und dem Sprawl, zwischen<br />
seiner Welt und Cherrys<br />
Welt. Und sie würde frei sein.<br />
Sang konzentrierte sich auf die<br />
flackernden Strukturen vor ihm.<br />
Die Cookies hatten ihn problemlos<br />
durchs EIS gleiten lassen,<br />
sodass er die präparierten Aufnahmen<br />
leerer Gänge ins Überwachungssystem<br />
einspielen<br />
konnte.<br />
Lange würden diese das System<br />
nicht täuschen können, aber lange<br />
genug, um dem Vollstrecker<br />
sicheren Zugang zu ermöglichen.<br />
Wenn der Alarm losschrillte,<br />
wäre der Kerl längst entkommen.<br />
Oder in den Abgrund gestürzt.<br />
Egal – Michael Donelli<br />
wäre dann tot.<br />
Sang war erstaunt, wie zierlich<br />
der Typ war, den Alterreal geschickt<br />
hatte. Ein hagerer Junge<br />
mit pinken Haaren, wie Neonblut.<br />
Er sah ihn durch die Gänge<br />
marschieren und lenkte die KI<br />
des Sicherheitssystems mit harmlosen<br />
Angriffen ab, damit sie erst<br />
gar nicht auf die Idee kam, etwas<br />
Seltsames an seinen gefälschten<br />
Kamerabildern zu finden.<br />
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Der Junge hatte den irren Blick<br />
eines Junkies, doch seine Bewegungen<br />
waren koordiniert. Er<br />
ging ruhig, fast schon unnatürlich<br />
aufrecht. Verschwendete<br />
keine Sekunde mit einem Blick<br />
zur Seite. Wie Alterreal Sang<br />
angekündigt hatte, war der Vollstrecker<br />
mit einer gefälschten<br />
Identität durch den unterirdischen<br />
Personaleingang gekommen.<br />
Nun war er im zentralen<br />
Aufzugsschacht und kletterte<br />
doch tatsächlich die Drahtseile<br />
hoch. Die Linsen in den Röhrenwänden<br />
zeichneten alles auf,<br />
aber das System bekam nur die<br />
leeren Schächte zu sehen. Sang<br />
schaffte inzwischen die echten<br />
Bilder beiseite.<br />
Doch plötzlich rauschte seine<br />
Verbindung, das Telti-System<br />
färbte sich schlagartig dunkel.<br />
Scheiße, der Kerl hatte eine der<br />
Fallen ausgelöst. Die KI wusste<br />
jetzt, dass etwas nicht stimmte.<br />
Sang wechselte sein Sichtfeld<br />
und startete einen Frontalangriff<br />
auf das EIS des internen Forschungsnetzwerks.<br />
Er musste der<br />
verdammten KI mehr bieten,<br />
und wenn der Kerl mit Michael<br />
Donelli fertig war, waren die<br />
Forschungsdaten ohnehin fällig.<br />
Also warum nicht jetzt damit<br />
anfangen.<br />
Die KI wehrte sich, wie erwartet.<br />
Aber sie biss an. Die Forschungsergebnisse<br />
waren wichtiger als<br />
ein Freak, der durch die Aufzugsschächte<br />
kletterte. Natürlich<br />
wurden die Sicherheitsleute<br />
alarmiert, aber den meisten hatte<br />
Sang freigegeben oder ihre<br />
Schichten getauscht. Niemand<br />
würde rechtzeitig da sein.<br />
„Zeig mir, was du kannst.“<br />
Sang schickte der KI ein paar<br />
seiner neuesten Viren zum Spielen,<br />
während er sich am EIS zu<br />
schaffen machte. Schneeweiß,<br />
wesentlich dichtere Struktur als<br />
beim Überwachungssystem.<br />
Keine Chance, eine Lücke reinzuschießen.<br />
Er musste den Panzer<br />
zerbrechen. Mit schwarzem<br />
Code, nicht ganz ungefährlich,<br />
da hochinfektiös, aber durchschlagend.<br />
Sangs Finger kratzten<br />
über den Touchscreen seines<br />
Decks, sein Herzschlag pulste<br />
unter seiner Schläfen. Das Netz<br />
wurde von dunklen Schatten<br />
durchlöchert, ebenso wie das<br />
EIS. Sang glaubte, das Knirschen<br />
zu hören. Seine Finger zuckten in<br />
einem wilden Tanz. Und dann<br />
brach das beschissene weiße EIS<br />
zu einem glitzernden Scherbenhaufen<br />
zusammen.<br />
Nachdem der Panzer durchbrochen<br />
war, radierte er Donellis<br />
Daten aus dem System aus und<br />
hinterließ ein paar fiese Tretminen<br />
für die armen Schweine, die<br />
den Kram restaurieren sollten.<br />
Währenddessen war der Vollstrecker<br />
bei seinem Ziel. Sang<br />
sah zu, wie der Junge die Laserwaffe<br />
zog und Donelli knallhart<br />
zwischen die Beine schoss. Seine<br />
Mundwinkel zuckten nicht einmal.<br />
Dann ein weiterer Schuss,<br />
mitten in die Fresse. Eine blutige<br />
Explosion.<br />
Plötzlich flog die Tür auf, Sicherheitspersonal<br />
stürmte den Raum.<br />
Doch der Junge sprang einfach<br />
durchs Fenster und war weg.<br />
Genauso wie Sang, der sich aus<br />
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dem System ausklinkte und seine<br />
Spuren verwischte.<br />
Rot glitzernde Schatten begleiteten<br />
Sang durch die labyrinthartigen<br />
Gassen des Sprawl. Unten,<br />
wo die alten Asphaltstraßen verliefen,<br />
war es immer dunkel. Die<br />
oberen Ebenen fraßen das Sonnenlicht,<br />
bevor es auf den Grund<br />
der Stadt treffen konnte. Umso<br />
schöner blühte das Erythra, wie<br />
eine Neonrose im Dreck. Auch<br />
andere Etablissements hatten<br />
gläserne Fassaden, über die versaute<br />
Bilderströme rannen.<br />
Schrilles und doch wärmendes<br />
Licht. Viel echter als die Makellosigkeit<br />
des Kerns. Doch nur<br />
das Erythra glühte in diesem<br />
wundervollen, blutigen Rot.<br />
Die Reflektionen auf den Häuserwänden<br />
erschienen Sang intensiver<br />
als sonst. Ihr Funkeln<br />
hatte etwas Unheilvolles. Dabei<br />
war er in Hochstimmung. Hatte<br />
den Job locker über die Bühne<br />
gebracht. Würde Cherry gleich<br />
tanzen sehen und sich anschließend<br />
in ihren heißen Schoß versenken.<br />
Alterreal würde alles<br />
regeln. Würde die Welt in<br />
Flammen aufgehen lassen, und<br />
Cherry würde mit ihm ein neues<br />
Leben beginnen.<br />
Sang lächelte, als er das Erythra<br />
sah. Ein Glaspalast, der seine<br />
niederen Sehnsüchte gestillt hatte.<br />
Bis Cherry dort eingezogen<br />
war. Nun gab es nur noch sie.<br />
Sang schritt an den Säulen vorbei,<br />
über die Bilder von Mädchen<br />
mit erdbeerroten Haaren flossen.<br />
Sein Herzschlag beschleunigte<br />
sich. Das Erythra verschluckte<br />
Sang, zog ihn unweigerlich in<br />
seine Gedärme, in deren Windungen<br />
Cherry ihren sündigen<br />
Körper schwang. Die sonst so<br />
dunklen Flure waren hell erleuchtet,<br />
die Wände von Hologrammen<br />
übersät. Circle Eyes in<br />
verschiedensten Farben.<br />
Sang zitterte und schwitzte,<br />
während er sich durch die Gänge<br />
schob. Kein anderer Gast begegnete<br />
ihm. Keines der leichtbekleideten<br />
Mädchen. Nur Datenströme<br />
in mannigfaltigem Rot.<br />
Das Gefühl, dass irgendetwas<br />
nicht stimmte, klopfte dumpf an<br />
seine Schädelknochen. Doch<br />
Sang verdrängte es, konzentrierte<br />
sich nur auf das Bild seiner<br />
tanzenden Cherry. Auch die Table<br />
Dance Bar war leer. Das Licht<br />
flackerte, wurde von Codefragmenten<br />
aufgebrochen. Cherry<br />
war nicht da. Sie war einfach<br />
nicht da.<br />
Sang konnte nicht begreifen, was<br />
hier passierte. Panisch rannte er<br />
durch die Flure, deren flackernde<br />
Wände lebendig geworden waren.<br />
Flammen züngelten an nackten<br />
Körpern empor. Sang stolperte<br />
in ihr Separee und sah Cherry<br />
auf dem herzförmigen Bett liegen.<br />
Umgeben von blutrotem<br />
Feuer, das sie knisternd und fauchend<br />
verbrannte.<br />
„Cherry!!!“<br />
Sang stürzte in den Raum, wurde<br />
vom Feuer zurückgeworfen.<br />
Alles brannte lichterloh. Die Bilder<br />
brachen aus den Wänden,<br />
spuckten Flammen und unmögliche<br />
Farben. Sang schrie mit<br />
brennender Kehle. Alles zerfiel<br />
in purpurrote Scherben, er spür-<br />
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te, wie sein Körper krampfte und<br />
zuckte, wie er sich auf die Zunge<br />
biss. Er schmeckte heißes Blut.<br />
Rotes Licht zerstob in seinen Gedanken<br />
– und dann war alles<br />
schwarz.<br />
Sangs Arm glitt vom Sofa. Er<br />
spürte, wie jemand seinen Kopf<br />
berührte, ihn unsanft drehte. Vor<br />
seinen Augen nichts als Dunkelheit<br />
und blutrote Blitze.<br />
„Du hast eine Überwachungsdrohne<br />
übersehen, Sang.“<br />
War das Chain?<br />
„Solche Fehler kann sich Alterreal<br />
nicht leisten. Das verstehst du<br />
doch?“<br />
Nein. Er verstand gar nichts.<br />
„Cherry …“ Seine Worte waren<br />
ein blutiges Keuchen. Jemand<br />
lachte. Es waren noch andere da,<br />
mindestens zwei. Ein Krachen<br />
erfüllte den Raum, dumpfes Gepolter<br />
und Splittern.<br />
„Vernichtet den ganzen Schrott“,<br />
hörte er Chain sagen.<br />
Sang spürte, wie der Hacker sich<br />
neben ihn setzte, konnte sein<br />
Gesicht jedoch nicht erkennen.<br />
Alles zuckte unkontrolliert in<br />
blutigem Rot.<br />
„Armer Sang, hast dich in eine<br />
Idoru verknallt.“<br />
Was quatschte der Kerl da?<br />
„Ganz schön heiß, deine Cherry,<br />
was? Viele Alterreal-Priester genießen<br />
ihre Dienste, ist ein richtig<br />
geiles Luder.“<br />
Chain lachte.<br />
„Tja, wir hatten gedacht, du krepierst<br />
an dem Schock. Aber du<br />
lebst immer noch, dumme Sache.“<br />
Kaltes Metall schmiegte sich an<br />
Sangs Schläfen.<br />
„Lässt sich aber schnell bereinigen,<br />
meinst du nicht?“<br />
Klick<br />
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163
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Impressum<br />
PHANTAST 14<br />
„Cyberpunk“<br />
kostenlose PDF-Version<br />
Erschienen im Januar 2016<br />
PHANTAST ist das gemeinsame<br />
Magazin der phantastischen<br />
Internetportale literatopia und<br />
fictionfantasy<br />
www.literatopia.de<br />
www.fictionfantasy.de<br />
Herausgeberin dieser Ausgabe:<br />
Judith Madera<br />
Satz und Layout: Judith Madera<br />
Lektorat: Rainer Skupsch<br />
Das PHANTAST-Logo wurde<br />
von Lena Braun entworfen<br />
______________________________________________________________________________________________<br />
Kontakt zur PHANTAST-Redaktion<br />
Mitarbeiter dieser Ausgabe:<br />
Eva Bergschneider, Christian Günther,<br />
Jessica Idczak, Jeremy Iskandar,<br />
Almut Oetjen, André Skora,<br />
Judith Madera<br />
Bildquellen:<br />
Christian Günther: Cover und Seiten<br />
5, 6, 12, 20, 32, 50, 59, 65, 90, 98,<br />
108, 127, 137, 155<br />
Alle Bilder mit Creative-Commons-<br />
Lizenzen sind direkt als solche gekennzeichnet.<br />
Bitte die jeweilige<br />
Lizenz beachten!<br />
Alle Autorenfotos unterliegen dem<br />
Copyright der jeweils darauf Abgebildeten.<br />
Alle Cover unterliegen<br />
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Literatopia Judith Madera www.literatopia.de madera@literatopia.de<br />
fictionfantasy Jürgen Eglseer www.fictionfantasy.de eglseer@fictionfantasy.de<br />
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