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phantast14

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Inhaltsverzeichnis<br />

Artikel<br />

„Cyberpunk ist tot“ 7<br />

William Gibsons Neuromancer 16<br />

Ridley Scotts Blade Runner – visuelle Blaupause für den Cyberpunk 24<br />

Cyberpunk in Deutschland – Die Sehnsucht nach der Heimat 36<br />

Shadowrun: Cyberpunk meets Fantasy 43<br />

Ein Blick hinter die Kulissen von Fieberglasträume 66<br />

Coming soon: Cyberpunk 2077 75<br />

Ergo Proxy – Mystischer Cyberpunk 78<br />

Zeromancer: Sex, Drugs und Cyberpunk 84<br />

Interviews<br />

mit Frank Hebben 51<br />

mit Francis Knight 99<br />

mit Marko Djurdjevic 112<br />

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Rezensionen<br />

Burning Chrome, William Gibson 21<br />

Songs of Revolution, Emma Trevayne 33<br />

Nachtbrenner, Myra Çakan 40<br />

Maschinenkinder, Frank Hebben 60<br />

A Song Called Youth, John Shirley 71<br />

Total Recall (2012), Film 91<br />

The Diamond Age, Neal Stephenson 94<br />

Weg ins Nichts, Francis Knight 105<br />

Sky Doll, Alessandro Barbucci und Barbara Canepa 109<br />

HUMANEMY, Hörspiel 123<br />

Psycho-Pass 2, Anime 128<br />

Skinned, Robin Wasserman 132<br />

Cyberpunk, Billy Idol 135<br />

Kurzgeschichten<br />

„Nacht in Neo Tokyo“ von Jeremy Iskandar 138<br />

„Haus aus rotem Licht“ von Judith Madera 156<br />

Impressum 164<br />

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3


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Vorwort<br />

Liebe PHANTAST-Leser,<br />

wer aufmerksam unsere bisherigen<br />

Ausgaben gelesen hat, wird<br />

vielleicht bemerkt haben, dass<br />

ich ein gewisses Genre immer<br />

wieder in verschiedenen Themen<br />

unterbringe: den Cyberpunk.<br />

Schon als der PHANTAST nur<br />

eine Idee war, stand für mich<br />

fest, dass ich irgendwann eine<br />

Ausgabe zum Thema Cyberpunk<br />

machen muss. Und da wären wir<br />

nun. In vierzehn Ausgaben ist<br />

viel passiert, viele Redakteure<br />

sind nicht mehr dabei, viele sind<br />

dazugekommen und manche<br />

mischen je nach Thema mit.<br />

Mit dem Cyberpunk stand ich<br />

anfangs relativ alleine da, wobei<br />

unsere SF-Jungs sicher hätten<br />

etwas beitragen können. Aber<br />

„etwas“ war nicht genug. Und es<br />

gab viele Themen, für die sich<br />

mehr Leute fanden, die vielleicht<br />

auch mehr Leser fanden, denn<br />

seien wir ehrlich, Cyberpunk ist<br />

nach wie vor ein Nischengenre.<br />

Als ich mit der dreizehnten Ausgabe<br />

erstmals das Layout für den<br />

PHANTAST gemacht habe, war<br />

mir klar, dass die nächste Ausgabe<br />

ein Herzblutthema behandeln<br />

muss. DAS Herzblutthema.<br />

Ich saß mit einem schiefen Grinsen<br />

vor dem PC und dachte mir:<br />

„Sollen wir das machen? Interessiert<br />

das 2015 noch jemanden?<br />

Ach scheiße, wir machen das<br />

einfach!“<br />

Dann schrieb ich Jeremy Iskandar<br />

an, mit dem ich vor einigen<br />

Jahren eine Cyberpunkstory geschrieben<br />

hatte, und fragte ihn,<br />

ob ich erstens seine Story „Nacht<br />

in Neo Tokyo“ verwenden könne<br />

und zweitens, ob er sich mit Artikeln<br />

beteiligt. Jeremy war<br />

schnell Feuer und Flamme und<br />

meine Zweifel waren weg, denn<br />

Cyberpunk muss einfach sein.<br />

Als nächstes schrieb ich Christian<br />

Günther an, der immerhin die<br />

Domain www.cyberpunk.de besitzt<br />

und zwei Romane sowie<br />

diverse Kurzgeschichten im Genre<br />

verfasst hat. Von ihm stammen<br />

die Illustrationen dieser<br />

Ausgabe und das Cover hat er<br />

eigens für uns gebastelt.<br />

Über Christian erfuhr dann<br />

André Skora von unserem Cyberpunk-PHANTAST<br />

und schon<br />

war aus der befürchteten Zwei-<br />

Redakteure-Show eine kleine<br />

cyberpunkverrückte Gruppe geworden.<br />

Letztlich konnten dann auch<br />

unsere geschätzten Kolleginnen<br />

Eva Bergschneider und Almut<br />

Oetjen etwas mit dem Thema<br />

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4


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anfangen und meine anfänglichen<br />

Zweifel, dass ich diese<br />

PHANTAST-Ausgabe nicht gefüllt<br />

bekomme, verkehrten sich<br />

ins Gegenteil.<br />

Nun ist sie so umfangreich wie<br />

keine Ausgabe zuvor geworden<br />

und trotzdem kommt es mir vor,<br />

als hätte ich nicht einmal zehn<br />

Prozent von dem unterbringen<br />

können, was ich eigentlich unterbringen<br />

wollte. Beispielsweise<br />

die Bridge-Trilogie von William<br />

Gibson, die nach einem großen<br />

Artikel schrie, aber zu Gunsten<br />

der Vielfalt (und aus Zeitmangel)<br />

rausgefallen ist. Daher möchte<br />

ich sie Euch an dieser Stelle ans<br />

Herz legen (aktuell ist eine Gesamtausgabe<br />

mit dem Titel Idoru-<br />

Trilogie erhältlich)!<br />

Cyberpunk ist einfach mein<br />

Herzblutthema und ich hoffe, es<br />

ist uns gelungen, eine gute Mischung<br />

für Genreliebhaber und<br />

Neueinsteiger zu kreieren. Mir<br />

ist durch diese Ausgabe zumindest<br />

klar geworden, dass der<br />

Cyberpunk noch lange nicht so<br />

tot ist, wie mancher behauptet!<br />

Wie gehabt würden wir uns über<br />

Feedback freuen, einfach eine<br />

Mail an madera@literatopia.de –<br />

vielleicht erscheint Ihr dann in<br />

der nächsten Ausgabe ;)<br />

Viel Spaß beim Lesen wünscht<br />

Euch<br />

- Judith<br />

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Der Illustrator: Christian Günther<br />

Nach ausgiebigen Phasen der Wildwest-<br />

und Detektiv-Leidenschaft<br />

siegte schließlich die Faszination<br />

von Science Fiction & Fantasy, die<br />

bis heute anhält. Als begeisterter<br />

Rollenspieler schrieb ich schon bald<br />

jede Menge Abenteuer und Storys,<br />

während ich meist als Spielleiter<br />

agierte und die Spielergruppen die<br />

von mir erdachten Geschichten<br />

durchleben ließ. Mehrere dieser<br />

Abenteuer fanden ihren Weg hin zu<br />

Zeitschriftenveröffentlichungen und<br />

schließlich entstanden erste Kurzgeschichten,<br />

die beständig Zuwachs<br />

bekamen.<br />

Mein erster Roman under the<br />

black rainbow wurde im Jahr 2003<br />

vollendet und erschien in einen kleinen<br />

halbprofessionellen Verlag. In<br />

den folgenden Jahren entstanden<br />

weitere Kurzgeschichten sowie mein<br />

zweiter Roman Rost, der als Hardcover<br />

erschien. Inzwischen habe ich<br />

beide Romane überarbeitet und biete<br />

sie per BOD und über amazon als<br />

Taschenbücher bzw. eBooks an.<br />

fertiggestellt, die erste Reisen in den<br />

Reichen von Faar erlauben.<br />

Meine Illustrationen erstelle ich mit<br />

unterschiedlichen Techniken. Skizzen<br />

entstehen auf Papier, werden<br />

dann gescannt. Farbliche Bearbeitung<br />

und sonstige Ausgestaltung<br />

erfolgen dann digital in Photoshop<br />

und Illustrator. Ich habe keine Ausbildung<br />

in dieser Richtung genossen,<br />

sondern mir alles im „Learning<br />

by doing“-Verfahren beigebracht.<br />

Zurzeit absolviere ich aber mit Begeisterung<br />

Zeichenkurse an der<br />

Volkshochschule, um einige Basics,<br />

insbesondere in der Darstellung von<br />

Menschen, zu erlernen.<br />

Danach hatte ich erst einmal genug<br />

von dystopischen, cyberpunkigen<br />

Settings und begann, eine eigene<br />

Fantasy-Welt zu erschaffen.<br />

Diese Welt befindet sich derzeit noch<br />

immer im Entstehen, ich habe bereits<br />

einige Kurzgeschichten dazu<br />

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6


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„Cyberpunk ist tot“<br />

Leitartikel von Judith Madera<br />

Wenn die Frage nach meinen<br />

Lieblingsgenres aufkommt und<br />

ich, wie aus der Pistole geschossen,<br />

antworte „Cyberpunk (!)“,<br />

kommen grob zusammengefasst<br />

drei unterschiedliche Reaktionen:<br />

„Hä? Was ist das denn?“,<br />

„Ja man, Cyberpunk ist geil!“<br />

und „Pfff, Cyberpunk ist tot!“.<br />

Dieser Artikel richtet sich vor<br />

allem an Leute, die die dreckigneonfarbenen<br />

Dystopien (noch)<br />

nicht kennen, und an all jene, die<br />

(teilweise zu Recht) behaupten,<br />

dass der Cyberpunk im 21. Jahrhundert<br />

überholt und tot ist.<br />

Hä? Was ist das denn?<br />

Cyberpunk gehört zu den dystopischen<br />

Strömungen der Science<br />

Fiction und stellt mitunter die<br />

dreckigste und gleichzeitig bunteste<br />

Variante dar. Zu Recht wird<br />

er von vielen als Film noir der SF<br />

bezeichnet, da seine Weltsicht<br />

trotz aller Begeisterung für die<br />

technologischen Möglichkeiten<br />

pessimistisch und zynisch ist.<br />

Was das (Sub-)Genre vor allem<br />

auszeichnet, ist der starke Kontrast<br />

zwischen High-Tech und<br />

Low-Life, Reichtum und Armut,<br />

Cyberspace und Realität.<br />

Diese Kontraste finden sich auch<br />

in der Sprache wieder, die zwischen<br />

technologischer Metaphorik<br />

und derber Gossensprache<br />

changiert.<br />

Typische Cyberpunkhelden sind<br />

die Verlierer der Zukunft, abgewrackte<br />

Hacker, gescheiterte<br />

Rebellen, depressive Cops und<br />

Privatdetektive, Prostituierte,<br />

Fahrradkuriere, Bandenmitglieder,<br />

Junkies oder reiche Kids, die<br />

nach dem „echten“ Leben suchen<br />

und ordentlich eins auf die Fresse<br />

kriegen. Sie haben Ecken und<br />

Kanten und sind meistens ziemlich<br />

egoistisch – und trotzdem<br />

mag man sie irgendwie. Weil sie<br />

anders sind. Und weil sie im<br />

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7


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Rahmen ihrer erschreckend realistischen<br />

Zukunft authentisch<br />

sind und selbst die derbsten<br />

Egozentriker irgendwann einen<br />

Funken Anstand in sich finden.<br />

Cyberpunk als Begriff wurde in<br />

den 1980ern geprägt, um Werke<br />

wie Blade Runner und Neuromancer<br />

zu beschreiben, die bis<br />

heute als reinste Ausprägungen<br />

des Genres gelten. Das Internet<br />

war damals noch eine vage Vorstellung,<br />

von der die meisten<br />

Laien nichts ahnten, und trotzdem<br />

wurde es von William Gibson<br />

als weltumspannendes Netz<br />

beschrieben, das eine zweite,<br />

virtuelle Realität erzeugt. In Neuromancer<br />

sprach Gibson noch von<br />

der Matrix (Neal Stephenson<br />

sprach in Snow Crash vom Metaverse),<br />

wir sagen Internet oder<br />

World Wide Web, und heute<br />

scheint der einzige Unterschied<br />

darin zu bestehen, dass wir unsere<br />

Gehirne (noch) nicht direkt<br />

mit dem Netz verbinden können.<br />

Die Verbesserung und Veränderung<br />

des menschlichen Körpers<br />

durch mechanische Komponenten<br />

ist ein weiteres zentrales<br />

Thema des Genres. Da werden<br />

nicht nur verlorene Gliedmaßen<br />

durch hoch entwickelte Prothesen<br />

ersetzt, sondern der menschliche<br />

Körper auch durch spezielle<br />

Linsen mit Aufzeichnungsfunktion,<br />

ausfahrbare Waffen<br />

unter der Haut oder durch Implantate<br />

für einen direkten Zugang<br />

zum Cyberspace erweitert.<br />

Teilweise wird gar der ganze<br />

Körper durch eine Cyborgvariante<br />

ausgetauscht, wobei sich<br />

dann die Frage nach dem Wesen<br />

des Menschen stellt. Ebenso wie<br />

bei Künstlichen Intelligenzen, die<br />

oftmals als handelnde Figuren<br />

im Cyberpunk auftreten.<br />

Kreuzung in Shibuya, Tokyo (Guwashi / cc-by-2.0): Für William Gibson sind<br />

asiatische Großstädte Cyberpunk pur.<br />

Auch die zunehmende Urbanisierung,<br />

die im Cyberpunk die<br />

Ausmaße gigantischer Städte mit<br />

weitläufigem Sprawl annimmt,<br />

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wurde damals vorhergesehen. In<br />

der Tat beobachten wir heute<br />

eine regelrechte Landflucht,<br />

während die Einwohnerzahlen in<br />

den Städten explodieren und<br />

Wohnraum immer schwerer zu<br />

bezahlen ist.<br />

Insbesondere in China ist diese<br />

extreme Urbanisierung zu erkennen,<br />

inklusive Folgeschäden<br />

wie hoher Luftverschmutzung.<br />

In Peking gehören Mundschutz<br />

und Luftfilter zum Alltag. Insofern<br />

ist der Cyberpunk auch heute<br />

noch aktuell, da die düsteren<br />

Szenarien sich stückchenweise<br />

aus der Fiktion in die Wirklichkeit<br />

verschieben.<br />

Gleichzeitig wirkt der klassische<br />

Cyberpunk aus heutiger Sicht<br />

ziemlich retro, da er die technologische<br />

Entwicklung zwar in<br />

groben Zügen vorhergesehen<br />

hat, aber in vielen Details nicht<br />

vorhersehen konnte. Auch wenn<br />

es bereits Armprothesen gibt, die<br />

man mit Gedanken steuern kann,<br />

wird es noch lange dauern, bis<br />

der Mensch direkt ins Netz einsteigt,<br />

wenn das überhaupt möglich<br />

ist. Andererseits sind Computer<br />

so schnell so klein geworden,<br />

dass das Deck, das Case in<br />

Neuromancer benutzt, wie ein<br />

klobiges, altmodisches Ding auf<br />

uns wirkt.<br />

Cyberpunk ist tot<br />

Wenn man den Cyberpunk in<br />

der Boomzeit der Achtziger<br />

meint, kann man diese Aussage<br />

durchaus unterschreiben, wobei<br />

das nicht bedeutet, dass die Romane<br />

und Filme dieser Zeit nicht<br />

mehr aktuell und lesens-<br />

/sehenswert sind. Aber auch<br />

Genreliebhaber müssen erkennen,<br />

dass wir inzwischen in einer<br />

Zeit leben, die in einigen Cyberpunkromanen<br />

beschrieben wurde.<br />

Die Literatur wurde von der<br />

Realität eingeholt. Cyberpunk,<br />

wie er damals geschrieben wurde,<br />

kann man heute nicht mehr<br />

schreiben, denn das Genre lebte<br />

vor allem davon, aktuelle Entwicklungen<br />

in ein düsteres Zukunftsszenario<br />

zu verkehren und<br />

auf dem Drahtseil zwischen<br />

Technologieverherrlichung und -<br />

kritik zu balancieren.<br />

Und genau das muss Cyberpunk<br />

von heute tun: die Technologien<br />

unserer Zeit weiterdenken und<br />

daraus eine schmutzige Dystopie<br />

kreieren, die unsere Möglichkeiten<br />

spiegelt und die Gefahren<br />

einer Weiterentwicklung aufzeigt.<br />

Eine gehörige Prise Punk<br />

gehört natürlich dazu – etwas,<br />

das vielen Werken, die in der<br />

Boomzeit dem Cyberpunk, quasi<br />

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als Verkaufsetikett, zugeordnet<br />

wurden, fehlt. Zu nennen wäre<br />

hier Greg Bears Blutmusik. Der<br />

Roman greift durchaus Themen<br />

des Cyberpunk auf (und wurde<br />

später unter anderem als Biopunk<br />

bezeichnet), allerdings<br />

unterscheidet sich der Erzählstil<br />

doch sehr vom Genrejargon. Diese<br />

Etikettierung hat mitunter<br />

dazu beigetragen, dass der frische<br />

Wind des Cyberpunk sich<br />

zu einer schalen Brise abschwächte<br />

…<br />

Cyberpunk lebt<br />

Während sich Genregrößen wie<br />

William Gibson, der inzwischen<br />

realitätsnahe Cyberthriller<br />

schreibt, vom Cyberpunk entfernt<br />

haben, gibt es nach wie vor<br />

Autoren, die den Cyberpunk<br />

lieben und ihn mit altbekannten<br />

Elementen und frischen Ideen<br />

am Leben erhalten. Deutsche<br />

Kleinverlage wie Wurdack oder<br />

Begedia haben spannende Anthologien<br />

zum Thema veröffentlicht,<br />

und Autoren wie Francis<br />

Knight nutzen den Cyberpunk<br />

als Setting für dreckige Fantasy<br />

(siehe Seiten 99 und 105).<br />

Themen, die früher dem Cyberpunk<br />

zugeordnet wurden, treten<br />

inzwischen verstärkt in Jugenddystopien<br />

in Erscheinung, die<br />

sprachlich zahmer und inhaltlich<br />

emotionaler daherkommen.<br />

Trotzdem gibt es auch unter<br />

ihnen einige wenige, die man<br />

dem Cyberpunk zuordnen kann,<br />

wie beispielsweise die Wired-<br />

Trilogie von Robin Wasserman<br />

oder Songs of Revolution von<br />

Emma Trevayne (siehe Rezensionen<br />

in dieser Ausgabe).<br />

In den vergangenen dreißig Jahren<br />

hat sich der Cyberpunk zudem<br />

vom dreckig schillernden<br />

SF-Genre zum Mainstream-<br />

Element gewandelt. Moderne SF-<br />

Filme bedienen sich bei Cyberpunkelementen<br />

und setzen die<br />

Bilder der frühen Romane auf<br />

der Leinwand um. Die Neuverfilmung<br />

von Total Recall aus dem<br />

Jahr 2012 macht aus dem kultigen<br />

Marsabenteuer eine actiongeladene<br />

Cyberpunkversion<br />

(siehe Seite 91). In Cloud Atlas<br />

erinnert das zukünftige Neo Seoul<br />

stark an eine Cyberpunk-<br />

Megacity, und die Geschichte der<br />

geklonten Somni, die nicht als<br />

Mensch, sondern als Besitz gilt,<br />

weist diverse Genreelemente auf.<br />

Auch Elysium lässt sich dem Cyberpunk<br />

zuordnen, wobei sich<br />

hier die reiche Oberschicht nicht<br />

in einen hell erleuchteten Stadtkern<br />

zurückgezogen, sondern<br />

sich gleich eine eigene kleine<br />

Welt im All erschaffen hat. Protagonist<br />

Max Da Costa wird im<br />

Laufe der Geschichte mit einem<br />

Gehirnimplantat und einem<br />

Exoskelett ausgestattet, womit er<br />

seine Gegner gründlich aufmischt,<br />

während Elysium mit<br />

Hilfe eines Hackerangriffs gestürzt<br />

werden soll.<br />

In den kommenden Jahren könnte<br />

uns zudem die lang erwartete<br />

Verfilmung von Neuromancer<br />

erwarten. Die Rechte sind gesichert,<br />

und Regisseur Vincenzo<br />

Natali behauptet, das Drehbuch<br />

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sei längst fertig. Trotzdem wird<br />

noch nicht gedreht, es mangelt<br />

offenbar am Geld. Es ist fraglich,<br />

ob Vincenzo Natali die richtige<br />

Wahl für dieses Projekt ist, denn<br />

auch wenn Cube durchaus interessant<br />

und unterhaltsam war,<br />

war Splice beispielsweise ein inhaltliches<br />

und visuelles Desaster.<br />

Die Verzögerungen lassen nichts<br />

Gutes ahnen, aber wer weiß, vielleicht<br />

werden Genrefans demnächst<br />

mit einem Cyberpunkspektakel<br />

der besonderen Art<br />

überrascht?<br />

Die Poesie des Cyberspace<br />

Bei einem Wort wie „poetisch“<br />

werden sich bei einigen Genrefans<br />

die Fußnägel aufrollen,<br />

allerdings ist Cyberpunk auch<br />

genau das: Poesie. Cyberspace-<br />

Poesie. Auch wenn der Inhalt<br />

oftmals düster und schmutzig<br />

ist, zeichnen sich gute Cyberpunkgeschichten<br />

durch ihre präzise<br />

und dem Inhalt angepasste<br />

Sprache aus. Als bestes Beispiel<br />

dient hier der oft zitierte erste<br />

Satz aus Neuromancer: „The sky<br />

above the port was the color of television,<br />

tuned to a dead channel.“<br />

Die Umgebung wird mit technischen<br />

Begriffen umgeschrieben,<br />

der Himmel ist nicht einfach<br />

grau, sondern hat die Farbe eines<br />

toten Fernsehkanals. Noch deutlicher<br />

wird der lyrische Aspekt<br />

des Cyberpunk, als Case nach<br />

langer Zeit endlich wieder in den<br />

Cyberspace eintritt: „Wie ein Origami-Trick<br />

in flüssigem Neon entfaltete<br />

sich seine distanzlose Heimat<br />

(…) Und irgendwo er, lachend, in<br />

einer weiß getünchten Dachkammer,<br />

die fernen Finger zärtlich auf dem<br />

Deck, das Gesicht mit Freudentränen<br />

überströmt.“<br />

Im Gegensatz zu den meisten<br />

anderen Dystopien besitzt der<br />

Cyberpunk eine zweite, leuchtende<br />

Seite, die zwischen aller<br />

Düsternis pure Begeisterung<br />

verströmt. Die Zukunft, die im<br />

Cyberpunk gezeichnet wird, ist<br />

nicht erstrebenswert, dennoch<br />

wirkt sie nicht so abstoßend wie<br />

ihre meisten Vettern. Zudem<br />

haben viele Cyberpunkgeschichten<br />

eine ausgeprägte philosophische<br />

Komponente und zeigen in<br />

ihren stillen Momenten eine große<br />

Nachdenklichkeit/Traurigkeit.<br />

Übrigens finden die weltverändernden<br />

Ereignisse im Cyberpunk<br />

oftmals beiläufig statt,<br />

sodass sich am Ende ein ganz<br />

neuer Blickwinkel eröffnet. So<br />

wird aus dem oberflächlichen<br />

Pulp überraschend komplexe<br />

Literatur.<br />

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Starke Ladys<br />

Obwohl Cyberpunk tendenziell<br />

eher von Männern gelesen wird<br />

und weibliche Charaktere in Illustrationen<br />

(und Filmen) oftmals<br />

klischeehaft vollbusig und<br />

knapp bekleidet dargestellt werden,<br />

lebt der Cyberpunk auch<br />

von starken Frauen, die nicht<br />

gerettet werden müssen und sich<br />

in ihrer tristen Welt durchsetzen<br />

können.<br />

Allen voran Molly aus Neuromancer,<br />

eine Auftragskillerin<br />

mit diversen Modifikationen wie<br />

Linsen mit Restlichtverstärker<br />

und versteckten Klingen unter<br />

den Fingernägeln. Sie soll den<br />

Hacker Case im Auge behalten.<br />

Zwischen den beiden entwickelt<br />

sich eine seltsame Freundschaft<br />

inklusive Sex, bei dem Molly die<br />

Initiative ergreift. Sie wirkt<br />

selbstbewusst und abgebrüht,<br />

hat im Leben viel durchgemacht<br />

und ihre Konsequenzen daraus<br />

gezogen. Doch Molly hat auch<br />

eine sensible Seite und erzählt<br />

Case beispielsweise von ihrer<br />

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einstigen Liebe Johnny, bei der es<br />

sich offensichtlich um den Protagonisten<br />

aus Johnny Mnemonic<br />

handelt (im Kinofilm wurde<br />

Molly in Jane umbenannt und<br />

charakterlich stark verändert).<br />

Nach Molly folgten diverse weitere<br />

Damen, die um ihren Platz<br />

in der Welt kämpfen und den<br />

Männern in nichts nachstehen.<br />

Sie sind gleichgestellt und arbeiten<br />

als Polizisten, Bodyguards,<br />

Computerspezialisten oder betätigen<br />

sich illegal als Hacker und<br />

Auftragskiller. Eine Genderdiskussion<br />

gibt es im Cyberpunk<br />

nicht, denn die Ähnlichkeiten<br />

und Unterschiede zwischen<br />

Mann und Frau sind kein Thema<br />

dieser Zukunftsvisionen – hier<br />

muss jeder selbst sehen, wo er<br />

bleibt, und im täglichen Kampf<br />

im urbanen Dschungel zählt<br />

nicht, was du bist, sondern wer<br />

du bist.<br />

Auch Major Motoko Kusanagi<br />

aus Ghost in the Shell ist eine starke<br />

Heldin, die die Spezialeinheit<br />

Sektion 9 leitet und sowohl im<br />

Nahkampf als auch bei Hackerangriffen<br />

eine gute Figur macht.<br />

Sie ist ein recht unnahbarer Charakter<br />

mit einem Cyborgkörper<br />

und denkt viel über die Frage<br />

nach, wie menschlich sie selbst<br />

noch ist. Im Manga ist Major<br />

Kusanagi etwas emotionaler,<br />

zuweilen auch aggressiv, während<br />

im Kinofilm ihre nachdenkliche<br />

Seite stärker betont wurde.<br />

Akane Tsunemori aus Psycho-<br />

Pass ist dagegen eine eher untypische<br />

Cyberpunkheldin – zwar<br />

ist sie auf ihre Art taff, hat sich<br />

aber eine gewisse Unschuld und<br />

feminine Emotionalität bewahrt.<br />

Während die meisten Cyberpunkprotagonisten<br />

längst von<br />

jedwedem Glauben abgefallen<br />

sind, glaubt Akane an die Gerechtigkeit.<br />

Ihre anfängliche Naivität<br />

wandelt sich im Verlauf<br />

der Serie zu einer zwar ernüchterten,<br />

aber weiterhin positiven<br />

Weltsicht.<br />

Anime und Manga<br />

Während der Cyberpunk in der<br />

Literatur immer wieder totgesagt<br />

wird, entwickelte sich in Fernost<br />

ein beliebtes Animegenre daraus.<br />

Den Anfang dieser Entwicklung<br />

stellt die Animeadaption des<br />

Erfolgsmangas Akira (1982) dar,<br />

der visuell begeisterte und mit<br />

seinen stimmungsvollen Zeichnungen<br />

deutlich besser als damalige<br />

Cyberpunkfilme aussah.<br />

Die Protagonisten sind Jugendliche,<br />

die der Konsumgesellschaft<br />

überdrüssig sind und mit ihren<br />

Motorrädern auf der Suche nach<br />

Krawall Neo-Tokyo durchstreifen.<br />

Als einer von ihnen über-<br />

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Copyright by PSYCHO-PASS Committee / KAZÉ<br />

sinnliche Fähigkeiten erhält,<br />

werden Ereignisse in Gang gesetzt,<br />

die das Leben aller Bewohner<br />

der Stadt nachhaltig verändern<br />

werden.<br />

Was anfangs noch reiner Cyberpunk<br />

ist, entwickelt sich zu einem<br />

phantastischen Animespektakel,<br />

über dessen Sinn man besser<br />

nicht zu viel nachdenkt. Aus<br />

westlicher Sicht wirkt das Ende<br />

ziemlich abgedreht, dennoch ist<br />

und bleibt Akira einer der ersten<br />

und besten Cyberpunkanimes.<br />

Was Neuromancer in der Literatur<br />

ist, ist Ghost in the Shell (1995) im<br />

Anime. Die Kinoadaption des<br />

gleichnamigen Mangas besticht<br />

durch eine grandiose, düstere<br />

Optik sowie einen perfekten Mix<br />

aus gut durchdachter Story, brutaler<br />

Action und nachdenklichen<br />

Szenen. In der Zukunft von Ghost<br />

in the Shell ist es möglich, seinen<br />

Geist in einen Cyborgkörper<br />

transferieren zu lassen, welcher<br />

zwar widerstandsfähig, aber<br />

auch anfällig für Hackerangriffe<br />

ist. Die Grenzen zwischen<br />

Mensch und Maschine verwischen,<br />

während die Zukunft in<br />

atemberaubend tristen Bildern<br />

entsteht. Auch der zweite Film<br />

Innocence (2004) begeisterte, während<br />

die Serie Stand Alone Complex<br />

und ihre beiden Nachfolger<br />

weder optisch noch inhaltlich die<br />

Klasse der Filme erreichten. Die<br />

Zeichnungen sind gröber, und<br />

der rote Faden zwischen den<br />

Folgen fehlt meistens. Trotzdem<br />

handelt es sich um unterhaltsame<br />

Serien, die das Ghost in the<br />

Shell-Universum ausbauen und<br />

Cyberpunkfans Nahrung bieten.<br />

Auch Animeserien wie Texhnolyze<br />

(siehe PHANTAST #6) und<br />

Ergo Proxy (siehe Seite 78) werden<br />

dem Cyberpunk zugeordnet,<br />

wobei beide eher Dystopien mit<br />

Cyberpunkelementen sind und<br />

in der zweiten Hälfte jeweils<br />

recht abgedreht bis phantastisch<br />

wirken.<br />

Mit Psycho-Pass (2012) beweist<br />

Production I.G., die bereits für<br />

Ghost in the Shell verantwortlich<br />

zeichneten, dass Cyberpunk<br />

auch in den 2010ern aktuell ist.<br />

Klassische Genreelemente werden<br />

auf die Entwicklungen unserer<br />

Zeit aufgebaut, wodurch die<br />

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14


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Technologie in Psycho-Pass oftmals<br />

unsichtbar erscheint. Inhaltlich<br />

dreht sich alles um das sogenannte<br />

Sybil System, ein gigantisches<br />

Computersystem, das<br />

die psychische Verfassung der<br />

Menschen überwacht und potentielle<br />

Verbrecher eliminiert bevor<br />

sie ein Verbrechen begehen können.<br />

Im Laufe der Serie werden<br />

die Schwachstellen des Systems<br />

aufgedeckt, während man sich<br />

an der stilvoll inszenierten Cyberpunkvision<br />

kaum satt sehen<br />

kann.<br />

Die Mangaadaption der Light-<br />

Novel-Reihe No. 6 kann ebenfalls<br />

dem Cyberpunk zugeordnet<br />

werden, auch wenn hier die Beziehung<br />

zwischen zwei jungen<br />

Männern aus unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Schichten in<br />

Zentrum steht. Shion stammt aus<br />

der perfekten Stadt No. 6, während<br />

Nezumi außerhalb im<br />

Dreck lebt und die Schattenseiten<br />

der Stadt kennengelernt hat.<br />

Wichtige Handlungselemente<br />

sind die gentechnische Veränderung<br />

von Lebewesen sowie<br />

skrupellose Experimente mit<br />

jenen, die gegen das System aufbegehrt<br />

haben. No. 6 stellt mit<br />

seinem jungen Protagonistenpaar,<br />

dessen Verhältnis zwischen<br />

Freundschaft und Liebe changiert,<br />

eine interessante Version<br />

von Cyberpunk für Jugendliche<br />

dar.<br />

Neo Seoul in Cloud Atlas (Copyright by Warner Home Video / Warner Bros. Entertainment Inc.)<br />

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William Gibsons Neuromancer<br />

Persönliche Eindrücke von Christian Günther, André Skora, Judith Madera und Frank Hebben<br />

The sky above the port was the color<br />

of television, tuned to a dead channel.<br />

Bei einem PHANTAST zum<br />

Thema Cyberpunk darf William<br />

Gibsons Neuromancer nicht fehlen.<br />

Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet,<br />

gilt der erste Roman<br />

der Sprawl-Trilogie bis heute als<br />

die erste und reinste Verkörperung<br />

des Cyberpunk. Auch für<br />

uns war Neuromancer die Einstiegsdroge,<br />

und statt euch die x-<br />

te Rezension zu präsentieren,<br />

wollen wir mit euch lieber unsere<br />

ganz persönlichen Eindrücke<br />

teilen:<br />

Christian Günther<br />

Beim ersten Lesen (auf Englisch)<br />

muss ich so 15, 16 gewesen sein.<br />

Geprägt von Rollenspielen und<br />

70er-Jahre-SF-Filmen. Fasziniert<br />

von der TV-Serie Max Headroom<br />

und Blade Runner.<br />

Damals habe ich das Buch nicht<br />

wirklich verstanden, dennoch<br />

gab es viele Szenen, die deutliche<br />

Spuren in meinem Gedächtnis<br />

hinterlassen haben. Da ich vorher<br />

eher von Autoren wie Stephen<br />

King geprägt war, faszinierte<br />

mich die knappe, präzise<br />

Sprache von Gibson, die mit so<br />

wenigen Worten so klare Bilder<br />

vermitteln konnte. Und das tut<br />

sie bis heute.<br />

Als ich das Buch gerade eben aus<br />

dem Regal zog, fiel mir das<br />

Skript eines Referats für den<br />

Englisch-Unterricht in die Hände,<br />

in dem ich das Buch vorgestellt<br />

habe – vor etwa 25 Jahren.<br />

Ich wollte also schon damals<br />

andere an der Faszination teilhaben<br />

lassen. Mit mäßigem Erfolg,<br />

wenn ich mich richtig erinnere.<br />

Dieser Roman hat für mich bis<br />

heute einen besonderen Status.<br />

Sein faszinierender Stil, die<br />

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16


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glaubhafte Zukunftswelt mit<br />

ihren zahllosen Details. Der erste<br />

Satz meines momentan entstehenden<br />

Fantasy-Romans trägt<br />

dieser Faszination Rechnung und<br />

ist als Hommage zu verstehen:<br />

„Der Himmel über der Küste hatte<br />

die Farbe von flüssigem Blei.“<br />

André Skora<br />

Es war Anfang der 1990er. Ich<br />

befand mich auf der FeenCon,<br />

einer Pen-&-Paper-Rollenspiel-<br />

Convention, welche jährlich in<br />

Bonn-Bad Godesberg ihre Pforten<br />

öffnet.<br />

Gerade hatten wir, mein Spielrunde<br />

und ich, erfolgreich einige<br />

Runden Space Hulk gezockt und<br />

waren immer noch ganz von<br />

unserem Erfolg geflasht. So<br />

machten wir tapferen Space Marines<br />

uns auf den Weg in den<br />

Verkaufsbereich der Con. Dort<br />

stöberten wir in Kisten, Regalen<br />

und wühlten uns durch Boxen.<br />

Nach einigen Minuten hielt ein<br />

Mitspieler Neuromancer von William<br />

Gibson in Händen und fing<br />

an, mir dieses Werk schmackhaft<br />

zu machen.<br />

Kurzentschlossen wanderte der<br />

Roman in meinen Besitz und<br />

wurde spät nachts, nach der<br />

Con-Heimkehr, noch angefangen.<br />

Innerhalb weniger Stunden<br />

war ich dann, trotz Schlafmangel,<br />

durchgepflügt und hatte den<br />

bis dato für mich besten Roman<br />

gelesen.<br />

So machte ich mich am kommenden<br />

Montag direkt auf den<br />

Weg in den örtlichen Buchladen,<br />

um mir Biochips und Mona Lisa<br />

Overdrive zu organisieren.<br />

Die Trilogie war beziehungsweise<br />

ist für mich als Cyberpunk-<br />

Fan eines der Werke schlechthin.<br />

Wobei: Es war auch direkt der<br />

Einstieg ins Genre, welches mich<br />

bis heute, über zwanzig Jahre<br />

später, immer noch begleitet,<br />

siehe dazu auch Fieberglasträume.<br />

Judith Madera<br />

Neuromancer ist eines der wenigen<br />

Bücher, das ich mehrmals<br />

und sowohl in der Originalversion<br />

als auch in der Übersetzung<br />

(von 1987, besser als die neue!)<br />

gelesen habe. Kurz nach der<br />

Jahrtausendwende habe ich den<br />

Cyberpunk für mich entdeckt<br />

und Neuromancer von meinem<br />

damaligen Freund (inzwischen<br />

Mann ;) ) geschenkt bekommen,<br />

nicht ahnend, was für ein überwältigendes<br />

und krasses Leseerlebnis<br />

mich erwartet.<br />

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Bereits der kurze Prolog, eine<br />

Szene, in der Case in den Cyberspace<br />

eintaucht, faszinierte mich,<br />

ebenso wie die düstere Stimmung<br />

der ersten Kapitel, in denen<br />

Case sich selbst bemitleidet.<br />

Einen so abgefuckten Protagonisten<br />

hatte ich bis dato nicht kennengelernt,<br />

und trotz seiner offensichtlichen<br />

Fehler war mir der<br />

abgewrackte Hacker, der sich die<br />

Neuronen verbrannt hatte, irgendwie<br />

ziemlich sympathisch.<br />

Wie Case schlidderte ich in die<br />

verrückte Story hinein, hing mit<br />

ihm in düsteren Bars herum,<br />

lernte die unglaublich taffe Molly<br />

und den zwielichtigen Armitage<br />

kennen und stürzte in ein<br />

Cyberspaceabenteuer, das mich<br />

wie niemals zuvor begeisterte.<br />

Auch wenn mein Verständnis<br />

der Geschichte etwa zehn bis<br />

zwanzig Seiten hinterherhinkte.<br />

In manchen Kapiteln wusste ich<br />

nicht einmal, was gerade abgeht,<br />

nur um einige Seiten später ein<br />

kleines Aha-Erlebnis zu haben.<br />

Dieses Gefühl zwischen „woar,<br />

ist das geil“ und „hääää?“ zog<br />

sich durch den ganzen Roman,<br />

bis sich der Titel offenbarte und<br />

mir die Kinnlade herunterfiel.<br />

Boooom – plötzlich sah ich Neuromancer<br />

in einem ganz neuen<br />

Licht.<br />

Selten war ich so aufgeregt nach<br />

einem Buch, so begeistert und<br />

hungrig nach mehr. Ich musste<br />

es gleich nochmal lesen, und<br />

kurz vor dem Abitur habe ich es<br />

im Englischkurs vorgestellt. Der<br />

perfekte Anlass, um endlich die<br />

Originalversion zu lesen, was<br />

ganz schön hart war, da sich<br />

Gibsons temporeicher Stil mit<br />

schnödem Schulenglisch nicht so<br />

leicht verstehen lässt.<br />

Mein Vortrag war trotzdem gut,<br />

was sogar mein arroganter Englischlehrer<br />

zugeben musste. Allerdings<br />

bekam ich trotzdem eine<br />

schlechte Note. Begründung:<br />

Neuromancer sei kein bedeutender<br />

Roman (Hallo? Geht’s<br />

noch?), und obendrein sei Science<br />

Fiction keine richtige Literatur.<br />

Böse Killerphrase. Mir war’s<br />

egal. Meine Mitschüler fanden es<br />

cool. Einer hat sich sogar das<br />

Buch gekauft. Mission erfüllt.<br />

Frank Hebben<br />

Meine erste ‚Begegnung‘, wohl<br />

besser: mein erster, schillernder<br />

‚Drogentrip‘, den mir der Neuromancer<br />

auf dem Schwarzmarkt<br />

vertickt hat, war die deutsche<br />

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Comic-Adaption: Schwer Metall<br />

SPEZIAL2 – Yeah! – erschienen in<br />

1990. Von Tom de Haven &<br />

Bruce Jensen. Mit einem Nachwort<br />

von William Gibson. Umfasst<br />

den ersten ‚Run‘ bis zum<br />

Telefon. *ring, ring*. Und das ist<br />

es! Jedes Bild eine regenbogenbunte<br />

Chinalampe, an deren<br />

Glühbirne, innen, zischend der<br />

Falter festbrennt.<br />

Dialoge wie: „Hey Case! Hab<br />

gestern dein Mädchen gesehen. –<br />

Mädchen, ich hab keins.“ Pure<br />

Wortessenz, aus seinem Buch<br />

herausdestilliert, das bis heute<br />

das Genre dominiert. Immer<br />

noch ‚visionär‘ durch seine bildhafte<br />

Sprache, durch sozialkritische<br />

Themen, die nichts an Aktualität<br />

verloren haben …<br />

Gibson schreibt im Nachwort des<br />

Comics: „Nicht nur sieht ihre<br />

Vision ziemlich genauso aus wie<br />

das, was ich 1983 in meinem<br />

Kopf sah, es bewegt sich auch so.<br />

Es ist wahrscheinlich unmöglich,<br />

genau zu vermitteln, was ich<br />

damit meine, aber ihre Graphic<br />

Novel läuft richtig.“ Und hier<br />

will ich meinen Finger in die<br />

Wunde legen, denn erst danach<br />

habe ich seine drei Bücher gelesen<br />

– und war vom Meisterwerk<br />

enttäuscht. Warum? Weil es eben<br />

genau diesen Drive, den Gibson<br />

so lobt, verliert! Nach dem Diebstahl<br />

der Dixie-Flatrate, wird es –<br />

ich war 16 (?), als ich seine Bücher<br />

las und seitdem auch nicht<br />

mehr – ruhiger, philosophischer,<br />

wenn ich mich recht entsinne;<br />

und eben auch langweiliger. Irgendwann<br />

im Weltraum. Am<br />

Strand.<br />

Vage erinnere ich mich, dass im<br />

zweiten oder dritten Buch ein<br />

neuer ‚Run‘ an einer einsamen<br />

Telefonzelle, weit draußen in der<br />

Wüste, geplant wird und hatte<br />

mich schon auf die Äktschion<br />

gefreut, aber: Pustekuchen!<br />

Nichts dergleichen. Zwischendurch<br />

eine KI, die ein Künstler<br />

ist. Und dieser geile Titel: Mona<br />

Lisa Overdrive. Mehr ist über die<br />

Jahre bei mir nicht hängengeblieben,<br />

bloß dieser erste Drogentrip,<br />

den Gibson, soweit ich<br />

weiß, von einer Kurzgeschichte<br />

zum Roman gestreckt hat, und<br />

das merkt man auch – bin aber<br />

immer noch voll drauf!<br />

»Cyberspace war die letzte Grenze.<br />

Das grelle, verwobene Gitternetz der<br />

Daten in den größten Computernetzwerken<br />

der Welt wartete nur<br />

darauf, geplündert zu werden.«<br />

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Burning Chrome<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Autor: William Gibson<br />

Verlag: Heyne (2015)<br />

Genre: Cyberpunk<br />

eBook (epub)<br />

28 Seiten; 0,99 EUR<br />

ISBN: 978-3-641-16902-2<br />

(Cyberspace: eBook (epub)<br />

circa 200 Seiten; 5,99 EUR<br />

ISBN: 978-3-641-11638-5)<br />

„Es war heiß in der Nacht, als wir<br />

Chrom verbrannten.“<br />

Bevor Case in Neuromancer sich<br />

die Neuronen verbrannte, machten<br />

sich die Hacker Bobby Quine<br />

und Automatic Jack daran, einen<br />

der dicksten Fische der Schattenwirtschaft<br />

zu vernichten:<br />

Chrome. Sie sieht aus wie ein<br />

Mädchen, ist aber eine skrupellose<br />

und vor allem unermesslich<br />

reiche Puffmutter. Und Geld ist<br />

nun einmal das Problem von<br />

Bobby und Jack, denn die beiden<br />

kommen gerade so über die<br />

Runden. Mit fast dreißig gelten<br />

sie als zu alt fürs Hacken, über<br />

Bobby wird gar gemunkelt, er<br />

habe seinen Biss verloren.<br />

Da lernt er Rikki kennen, ein<br />

heißes Mädchen um die 20, das<br />

davon träumt, SimStim-Star zu<br />

werden. Sie ist Bobbys neuer<br />

Glücksbringer, sein Leuchtfeuer,<br />

das ihm den Weg zur Vernichtung<br />

Chromes weisen wird.<br />

Auch Jack mag Rikki, und im<br />

Gegensatz zu Bobby, der sie abgöttisch<br />

liebt und sich keine Gedanken<br />

um ihre Wünsche macht,<br />

sorgt er dafür, dass sie notfalls<br />

verschwinden kann. Falls er und<br />

Bobby die Verbrennung verkacken<br />

...<br />

„Wir räumten Glasfaserleitungen<br />

mit der kybernetischen Entsprechung<br />

eines Martinhorns frei.“<br />

„Burning Chrome“ ist 1982 im<br />

Omni-Magazin und später in<br />

Deutschland in der Sammlung<br />

Cyberspace erschienen. Inzwischen<br />

sind die darin enthaltenen<br />

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Kurzgeschichten von William<br />

Gibson als eShorts bei Heyne<br />

erhältlich, sodass man sich die<br />

Werke einzeln zulegen kann (oder<br />

die komplette eVersion von<br />

Cyberspace).<br />

„Burning Chrome“ gehört zu<br />

den Cyberpunkstorys, die man<br />

unbedingt gelesen haben sollte,<br />

und stellt gleichzeitig einen<br />

wunderbaren Einstieg ins Genre<br />

dar. Auf knapp dreißig Seiten<br />

entfaltet sich ein verrücktes Cyberspaceabenteuer<br />

mit zwei derben<br />

Protagonisten, die man irgendwie<br />

sympathisch findet,<br />

auch wenn es sich um zwei abgewrackte<br />

Kriminelle handelt.<br />

Die beiden sind ein Team, und<br />

die Arbeitsteilung ist klar: „Bobby<br />

ist Software, Jack Hardware; Bobby<br />

traktiert die Konsole, Jack treibt die<br />

netten Kleinigkeiten auf, mit denen<br />

man am Ball bleibt.“<br />

Die Konsole bzw. der Matrix-<br />

Simulator ist ein sogenannter<br />

Ono-Sendai VII, der von Jack<br />

mehrmals umgebaut wurde.<br />

Heute würde man schnöde von<br />

einem umgebauten PC oder auch<br />

einem Mac sprechen. Und man<br />

würde kein diskettenähnliches<br />

Programm mehr in einen Schlitz<br />

schieben, sondern einen USB<br />

nutzen oder sich das Programm<br />

aus dem Netz laden. Abgesehen<br />

davon liest sich „Burning Chrome“<br />

immer noch aktuell, denn<br />

dass Hacker Konten leerräumen,<br />

ist Alltag geworden.<br />

Bobby und Jack haben es ausgerechnet<br />

auf das größte Miststück<br />

ihres Reviers abgesehen, eine<br />

knallharte Lady, die die beiden<br />

eiskalt beseitigen würde. Also<br />

können sie Chrome nicht einfach<br />

ein bisschen was von ihrer Kohle<br />

klauen, sondern müssen sie<br />

komplett verbrennen.<br />

„Ich kam mir vor wie ein Punk, der<br />

loszieht, um sich ein Springmesser<br />

zu kaufen, und mit einer kleinen<br />

Neutronenbombe nach Hause<br />

kommt.“<br />

Während uns die Hardware heute<br />

eher veraltet erscheint, ist der<br />

Cyberspace aus „Burning Chrome“<br />

immer noch Fiktion. Die<br />

Matrix (quasi das Internet) ist<br />

eine „abstrakte Darstellung der<br />

Beziehungen zwischen Datensystemen“<br />

bzw. eine „elektronische<br />

Konsenshalluzination“, die es<br />

den Benutzern ermöglicht, über<br />

das weltweite Netz zu interagieren.<br />

Gibson beschreibt diese virtuelle<br />

Welt sehr plastisch mit geometrischen<br />

Formen und Strukturen,<br />

sodass aus einfachen Befehlsketten<br />

eine gewisse Action entsteht.<br />

Man kann gut nachvollziehen,<br />

was Bobby und Jack bei ihrem<br />

Hackerangriff tun, wobei sich<br />

„Burning Chrome“ für Leute, die<br />

sich so gar nicht mit Soft- und<br />

Hardware auskennen, sicherlich<br />

schwierig liest. Auch wer die<br />

Achtziger nicht miterlebt oder<br />

sich nicht näher mit ihnen beschäftigt<br />

hat, wird so manches<br />

Mal die Stirn runzeln, denn die<br />

futuristische Technologie basiert<br />

auf einer gedachten Weiterentwicklung<br />

der Möglichkeiten der<br />

Achtziger und erscheint daher<br />

relativ retro.<br />

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„Schwarzes Eis. Bloß nicht daran<br />

denken … Schwarzes Eis gehört zu<br />

den Mythen des Geschäfts. Eis, das<br />

tötet. Illegal, aber sind wir das nicht<br />

alle?“<br />

Die Sprache changiert zwischen<br />

Slang und kreativen metaphorischen<br />

Beschreibungen. William<br />

Gibson hat das Talent, in einem<br />

einzigen Satz die tiefere Wahrheit<br />

einer ganzen Geschichte zu<br />

verdichten.<br />

„Burning Chrome“ weist zudem<br />

eine äußerst gelungene Erzählstruktur<br />

auf, denn es werden<br />

zwei Geschichten parallel erzählt:<br />

der Ablauf des Hackerangriffs<br />

auf Chrome und die Vorbereitungen<br />

für diesen Angriff.<br />

Die Story wird aus Jacks Sicht<br />

erzählt, der abwechselnd beschreibt,<br />

was sich im Cyberspace<br />

abspielt und was er alles im Vorfeld<br />

erledigen musste, damit die<br />

Aktion eine Aussicht auf Erfolg<br />

hat. Dabei schweift er auch hin<br />

und wieder ab und erzählt, wie<br />

Bobby Rikki aufgegabelt hat. Bis<br />

zum Schluss kommt dabei keine<br />

Langeweile auf, auch wenn eigentlich<br />

nicht viel passiert. Die<br />

Beschreibungen der zukünftigen<br />

Welt (die unserer Gegenwart<br />

teilweise sehr ähnlich ist) sind so<br />

gekonnt und eindringlich, dass<br />

man unbedingt mehr darüber<br />

erfahren will – und natürlich, ob<br />

Bobby und Jack der Coup ihres<br />

Lebens gelingt oder ob Chrome<br />

ihnen für ihre Dreistigkeit den<br />

Arsch aufreißen wird.<br />

Fazit<br />

„Burning Chrome“ muss man als<br />

Cyberpunkfan einfach gelesen<br />

haben, denn die Kurzgeschichte<br />

stellt quasi die kleine Version<br />

von Neuromancer dar. Zudem<br />

eignet sich die Story perfekt für<br />

Neueinsteiger, die wissen wollen,<br />

was Cyberpunk ist und ob er<br />

ihnen gefällt.<br />

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Ridley Scotts Blade Runner – visuelle Blaupause für den Cyberpunk<br />

Ein Artikel von Jeremy Iskandar<br />

Wir nehmen unser Leben hin,<br />

ohne an unserer Menschlichkeit<br />

zu zweifeln. Was aber, wenn<br />

wir keine Menschen wären?<br />

Nicht geboren, sondern konstruiert?<br />

Könnten wir trotzdem<br />

menschlich sein?<br />

Im Science-Fiction-Klassiker<br />

Blade Runner wird die Hauptfigur<br />

des Filmes in einer Szene<br />

genau mit dieser existentialistischen<br />

Fragestellung konfrontiert.<br />

Nur leider gestaltet sich<br />

die Antwort schwieriger als<br />

eingangs gedacht. Und der<br />

Zweifel, der uns zuvor als die<br />

glorreiche Errungenschaft unseres<br />

Denkens vorkam, wird<br />

qualvoller Motor einer düsteren<br />

und gefährlichen Welt, in der<br />

nichts so ist, wie es scheint.<br />

1982 erschuf der britische Film-<br />

Regisseur Ridley Scott mit Blade<br />

Runner einen Meilenstein unter<br />

den Science-Fiction-Filmen. Obwohl<br />

er bei seinem Erscheinen<br />

weder von der Kritik gepriesen<br />

wurde noch an den Kinokassen<br />

große Erfolge verbuchen konnte,<br />

gilt Blade Runner heute als<br />

filmisches Meisterwerk und hat<br />

über die Jahre hinweg einen<br />

regelrechten Kultstatus erlangt.<br />

Zu verdanken hat der Film dies<br />

unter anderem seinem einzigartigen<br />

Produktionsdesign und<br />

seiner damit einhergehenden<br />

bildgewaltigen und detailreichen<br />

visuellen Stilistik. Für das<br />

Cyberpunk-Genre ist Blade Runner<br />

deshalb ein prägendes Element<br />

gewesen, vor allem in Bezug<br />

auf seine visuelle Ästhetik.<br />

Ridley Scotts Blade Runner basiert<br />

inhaltlich auf dem 1968<br />

erschienenen Science-Fiction-<br />

Roman Do Androids Dream of<br />

Electric Sheep? des visionären<br />

Science-Fiction-Autors Philip K.<br />

Dick, dessen Romane und<br />

Kurzgeschichten seit den Achtzigerjahren<br />

als Vorbild für viele<br />

bekannte Science-Fiction-Filme<br />

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dienten. Der Erfolg des Films<br />

führte in der Publikationsgeschichte<br />

der Romanvorlage sogar<br />

dazu, dass neuere Auflagen<br />

seither unter dem Titel Blade<br />

Runner firmieren. Genau wie<br />

seine Vorlage ist auch der Film<br />

ein enorm vielschichtiges Werk,<br />

in dessen Zentrum Dicks zentrale<br />

Fragestellung „Was ist der<br />

Mensch? Was zeichnet ihn aus?“<br />

steht.<br />

Rick Deckard, gespielt von Harrison<br />

Ford, ist ein sogenannter<br />

„Blade Runner“, Mitglied einer<br />

speziellen Polizeitruppe, die im<br />

Los Angeles des Jahres 2019<br />

illegal eingewanderte Replikanten<br />

jagt und zur Strecke bringt.<br />

Bei diesen handelt es sich um<br />

künstliche Menschen, die äußerlich<br />

in nichts von einem echten<br />

Menschen zu unterscheiden<br />

sind. Sie sind allerdings weitaus<br />

stärker, schneller und ausdauernder,<br />

als ein Mensch es sein<br />

könnte, sind ihrem Vorbild also<br />

physisch überlegen, obwohl sie<br />

in der Gesellschaft der Zukunft<br />

die Rolle der Sklaven erfüllen.<br />

Eine Gruppe aus vier Replikanten<br />

unter der Führung des sowohl<br />

geistig als auch körperlich<br />

beeindruckenden Roy Batty<br />

kommt mit einem gekaperten<br />

Raumschiff aus den Kolonien,<br />

die im Film als ein glücklicher<br />

Ort neuer Hoffnung angepriesen<br />

werden, zur Erde. Dort gedenken<br />

sie ihren Schöpfer zu<br />

finden, um von ihm das Recht<br />

auf mehr Leben zu fordern,<br />

wurde ihnen doch aus Sicherheitsgründen<br />

eine festgelegte<br />

Lebenszeit von nur wenigen<br />

Jahren implementiert. Dies führt<br />

die Replikanten zur Tyrell Corporation,<br />

einem gewaltigen<br />

Konzern, dessen Firmenzentrale,<br />

einer eigenen kleinen Stadt<br />

gleichend, über den anderen<br />

Gebäuden von Los Angeles<br />

thront. Deren Gründer, Eldon<br />

Tyrell, zeichnet für die Erschaffung<br />

der Replikanten verantwortlich.<br />

Bei seinen Nachforschungen<br />

trifft deshalb auch Deckard mit<br />

Tyrell zusammen. Mittels eines<br />

Testverfahrens, das Fragen beinhaltet,<br />

die auf die Emotionalität<br />

des Befragten abzielen, ist es<br />

Deckard möglich, Replikanten<br />

von wahren Menschen zu unterscheiden.<br />

Als er den Test auf<br />

Bitten Tyrells zuerst an einem<br />

Menschen, der jungen Rachael,<br />

ausprobiert, stellt sich heraus,<br />

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dass auch sie in Wahrheit ein<br />

Replikant ist, sich dieser Tatsache<br />

allerdings überhaupt nicht<br />

bewusst war. Künstlich induzierte<br />

Erinnerungen haben ihr<br />

das Selbstbewusstsein eines<br />

wirklichen Menschen verliehen,<br />

dessen Identität sich darauf<br />

gründet, dass er über eine eigene<br />

Vergangenheit verfügt.<br />

Nachdem Deckard ihr wahres<br />

Wesen offenbart hat, sucht sie<br />

ihn in seinem kleinen Apartment<br />

auf, um ihn mit dieser<br />

Erkenntnis, die sie vorerst noch<br />

für falsch hält, zu konfrontieren.<br />

Es kommt schließlich zur<br />

Schlüsselszene des Filmes, in<br />

der Rachael Deckard fragt, ob er<br />

sich selbst jemals dem Test unterzogen<br />

habe. Der Film spielt<br />

damit bewusst mit der Frage, ob<br />

Deckard nicht sogar selbst ein<br />

Replikant ist. Tatsächlich deuten<br />

einige Hinweise im Film genau<br />

auf diese Tatsache hin. Obwohl<br />

die Frage nach Deckards eigener<br />

Identität letztlich offen bleibt,<br />

zeigt sich doch in den Gemeinsamkeiten<br />

zu den Replikanten<br />

der eigentliche Wesenskern des<br />

Films: Dicks Frage, was der<br />

Mensch denn überhaupt sei und<br />

wodurch er sich auszeichne.<br />

Auch Deckard lebt in seinen –<br />

vielleicht künstlichen – Erinnerungen,<br />

ist Getriebener seiner –<br />

vielleicht künstlichen – Vergangenheit,<br />

ist auf der Suche nach<br />

seinem eigenen Selbst. In dieser<br />

Hinsicht unterscheidet er sich in<br />

nichts von den Replikanten, die<br />

er jagt. Als Folge wirken die<br />

Motive und Handlungen der<br />

Replikanten im Film noch<br />

menschlicher. Ist es überhaupt<br />

von Bedeutung, dass sie künstlich<br />

und nicht natürlich sind?<br />

Sind sie deshalb weniger<br />

Mensch als der wirkliche<br />

Mensch, oder, andersherum<br />

gefragt, ist der wahre Mensch<br />

tatsächlich nur deshalb Mensch,<br />

weil er natürlichen Ursprungs<br />

ist? Die Beantwortung dieser<br />

zentralen Fragestellung lässt der<br />

Film in seinem zunehmend undurchsichtigen<br />

und von zahllosen<br />

Motiven philosophischer,<br />

religiöser und psychologischer<br />

Art gespickten Verlauf bewusst<br />

offen, sodass er auch als – zuweilen<br />

etwas langatmige – Jagd<br />

Deckards nach den Replikanten<br />

konsumiert werden kann.<br />

Da der Film, wie bereits erwähnt,<br />

auf einer philosophi-<br />

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26


_______________________________________________________________________________________________<br />

schen, theologischen und psychologischen<br />

Ebene arbeitet, ist<br />

es im Prinzip unmöglich, alle<br />

seine Facetten in einem einzigen<br />

Artikel behandeln zu wollen, ist<br />

er doch sogar bereits Gegenstand<br />

zahlreicher wissenschaftlicher<br />

Abschlussarbeiten und<br />

filmtheoretischer Abhandlungen<br />

gewesen (siehe zum Beispiel:<br />

Theoretische und filmanalytische<br />

Aspekte in Ridley Scotts<br />

Blade Runner von Johannes Sievert<br />

oder Ridley Scotts Blade<br />

Runner von Frank Schnelle). Im<br />

Folgenden liegt der Fokus deshalb<br />

besonders auf der Bedeutung<br />

der visuellen Gestaltung<br />

des Films für das Genre des Cyberpunk<br />

und auf dem Aspekt<br />

des Dualismus von Natürlichem<br />

und Künstlichem.<br />

In Blade Runner ist das Los Angeles<br />

des Jahres 2019 ein urbaner<br />

Moloch, ein Schmelztiegel<br />

der Kulturen, in Zwielicht getaucht<br />

und von einem steten<br />

Regen heimgesucht. Bildgewaltig<br />

und detailreich wird die Megastadt<br />

im Film inszeniert. Sie<br />

verkörpert damit das Konzept<br />

des „Sprawl“, das sein literarisches<br />

Äquivalent in William<br />

Gibsons Debüt-Roman Neuromancer<br />

findet, einem der maßgeblichen<br />

Werke der Cyberpunk-Bewegung<br />

der Achtzigerjahre.<br />

Darin ist Sprawl die Bezeichnung<br />

für eine riesige urbane<br />

Agglomeration, die sich<br />

durch gewaltige Gebäudekomplexe,<br />

eine enorm dichte Bebauung,<br />

hohe Kriminalität, ein eigenes<br />

Mikroklima und die Verschmelzung<br />

zahlreicher urbaner<br />

Kulturen auszeichnet.<br />

Die High-Tech-Errungenschaften<br />

dieser zukünftigen Stadt<br />

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haben das Leben der Menschen<br />

allerdings nicht wirklich verbessert,<br />

sondern eher ärmer gemacht.<br />

Die Stadt dient nicht<br />

mehr den Bedürfnissen des<br />

Menschen, sondern folgt ihren<br />

ganz eigenen Regeln, denen sich<br />

der Mensch in seinem Kampf<br />

ums Dasein untergeordnet hat.<br />

Auch ist sie bei Weitem kein<br />

makelloses Zukunftsutopia,<br />

sondern krankt vielmehr am<br />

Alter ihrer Eingeweide, die wie<br />

ein Krebsgeschwür dahinwuchern<br />

und zum städteplanerischen<br />

Alptraum verkommen<br />

sind.<br />

Ein ganz ähnliches Konzept<br />

verfolgt Ridley Scott mit der<br />

Darstellung seines Los Angeles<br />

in Blade Runner. In Anlehnung<br />

an asiatische Großstädte zeichnet<br />

Scott das Bild eines überbevölkerten,<br />

chaotischen und<br />

zwielichtigen Ortes, an dem es<br />

ewig Nacht zu sein scheint.<br />

Derart hoch haben sich die Gebäude<br />

aufgetürmt, dass nur<br />

noch selten natürliches Tageslicht<br />

in ihre Straßen dringt. Allgegenwärtig<br />

fällt der Regen.<br />

Zahllose Subkulturen fristen in<br />

diesen Häuserschluchten ihr<br />

Dasein, die Sprachenvielfalt ist<br />

Legion, und es hat sich aus ihr<br />

sogar eine eigene Art der Stadtsprache<br />

entwickelt, eine Lingua<br />

franca der Bewohner dieses düsteren<br />

Ortes.<br />

Hierbei versteht es Ridley Scott<br />

meisterhaft, das zukünftige Los<br />

Angeles als eine Stadt zu inszenieren,<br />

die zwar über zukünftige<br />

High Tech wie Schwebefahrzeuge<br />

und autarke Gebäudekomplexe<br />

verfügt, letztlich aber<br />

auf einem alten Gemäuer steht,<br />

einem Schatten ihrer Vergangenheit.<br />

Erreicht wurde dies auf<br />

visueller Ebene durch die Technik<br />

des sogenannten „retrofitting“.<br />

Bei diesem Vorgehen im<br />

Produktionsdesign des Filmes<br />

wurden den Fassaden der modernen<br />

Gebäudestrukturen in<br />

liebevoller Kleinstarbeit zahlreiche<br />

Details hinzugefügt: alte<br />

Wärmeaustauscher, Aufbauten,<br />

Windräder, Verbindungsrohre,<br />

Silos usw. Dies erzeugt ein eindrucksvolles<br />

Bild einer Stadt,<br />

deren verschiedene zeitliche<br />

Ausprägungen gleichzeitig präsent<br />

sind.<br />

Scott hielt es für unwahrscheinlich,<br />

dass die gewaltigen Gebäudekomplexe<br />

völlig eingerissen<br />

würden, um neuen Platz zu<br />

machen. Wahrscheinlicher sei<br />

es, dass man immer nur wieder<br />

Ausbesserungen vornehmen<br />

würde, einzelne Teile ergänzt<br />

oder ausgetauscht würden. Ein<br />

urbanes Flickenwerk gewaltigen<br />

Ausmaßes. Dieses Konzept trägt<br />

wesentlich zu dem düsteren<br />

Charme bei, den die Stadt bei<br />

Blade Runner verströmt und der<br />

seitdem hartnäckig in den Darstellungen<br />

der urbanen Orte<br />

nachfolgender Cyberpunk-<br />

Werke, seien es nun Bücher,<br />

Filme oder Videospiele, seinen<br />

Niederschlag gefunden hat.<br />

Im Bereich der Lichtgestaltung<br />

setzt Blade Runner auf starke,<br />

überzeichnete Kontraste. Der<br />

Tradition des Film Noir folgend,<br />

nutzt Ridley Scott die gestochen<br />

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scharfen Scheinwerferkegel dahingleitender<br />

Werbezeppeline,<br />

Suchscheinwerfer vorüberfliegender<br />

Polizeifahrzeuge und<br />

das schimmernde Licht haushoher<br />

Neonreklamen, um die<br />

Dunkelheit des Sprawl zu<br />

durchstoßen und starke Kontraste<br />

aus Licht und Schatten zu<br />

schaffen. Dieses Konzept verfolgt<br />

der Film auch in den Szenen<br />

innerhalb der Gebäude konsequent<br />

weiter, wenn einzelne<br />

Lichtstrahlen mit Brettern zugenagelte<br />

Fenster oder Risse in<br />

den Wänden durchstoßen, um<br />

die Dunkelheit dahinter förmlich<br />

zu zerschneiden. Natürliches<br />

Licht wird damit weitestgehend<br />

vermieden, die Künstlichkeit<br />

der Stadtkulisse betont<br />

und ihr zwielichtiger Charakter<br />

gezeichnet.<br />

mehr oder weniger Getriebene,<br />

sowohl Deckard als auch die<br />

von ihm gejagten Replikanten.<br />

Die zwielichtige, von stetem<br />

Regen beherrschte, chaotische,<br />

ausufernde Stadt repräsentiert<br />

damit das zerrüttete, ins Ungewisse<br />

gestürzte Seelenleben der<br />

Filmfiguren, das nirgendwo<br />

verortet scheint.<br />

Mit der Straße als zentralem Ort<br />

des Geschehens wird in Blade<br />

Runner ein weiteres typisches<br />

Cyberpunk-Merkmal illustriert.<br />

Auf ihr herrscht ein Chaos aus<br />

wildgewordener Technisierung<br />

und einem undurchsichtigen<br />

Gefüge kultureller Versatzstücke.<br />

Sie ist gleichzeitig Ort der<br />

Gewalt, der Sünde und eine<br />

Metapher für den gnadenlosen<br />

kapitalistischen Fortschritt, der<br />

den Menschen längst überholt<br />

hat. Zwei der drei Replikanten-<br />

Tötungen, die Deckard im Film<br />

vollzieht, spielen auf der Straße.<br />

In einer Szene versucht eine<br />

Straßengang Teile von Deckards<br />

Wagen zu klauen, was die allgegenwärtige<br />

Kriminalität verdeutlicht.<br />

Die Straßenszenen sind stets<br />

von einem Sammelsurium aus<br />

Fahrzeugen und einem buntgemischten<br />

Menschenschlag belebt,<br />

die sich visuell dem sich<br />

zeitlich überlagernden Konzept<br />

der Stadt anpassen. Das dermaßen<br />

suggerierte Chaos wird<br />

In Blade Runner ist die Stadt<br />

nämlich nicht nur Kulisse für<br />

die Handlungen, die sich in ihr<br />

abspielen, sondern auch visuelle<br />

Darstellung des Innenlebens der<br />

Protagonisten. Sie alle sind<br />

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über die Tonspur, die sich zahlreicher<br />

Offscreen-Töne und<br />

nicht zuzuordnender Geräuschquellen<br />

bedient, zusätzlich verstärkt.<br />

Gewaltige Neonreklamen<br />

und am Himmel entlangziehende<br />

Werbezeppeline illuminieren<br />

die Straßen mit ihrem Licht und<br />

beschallen sie ohne Unterlass.<br />

Auf der anderen Seite sind sie<br />

trotz all dieser Fülle, dieser<br />

Reizüberflutung Orte der Einsamkeit.<br />

So verkriecht sich Pris,<br />

eine der Replikanten, in einer<br />

Szene in einem Haufen Müll vor<br />

einem verwahrlosten Häusereingang,<br />

einsam und allein wirkend.<br />

Und auch der Gendesigner<br />

Sebastian, den die Replikanten<br />

aufsuchen, um über ihn zu<br />

Eldon Tyrell zu gelangen, lebt<br />

einsam und zurückgezogen in<br />

einem leer stehenden, verwahrlosten<br />

und düsteren Gebäude,<br />

einzig umgeben von den künstlichen<br />

Geschöpfen, die er selbst<br />

geschaffen hat. Die Straße ist<br />

auch der Ort des Geschäfts. Auf<br />

der Straße geht Deckard seinem<br />

Geschäft nach, befragt, stößt<br />

Drohungen aus und feilscht.<br />

Letztlich ist die Straße ein zwielichtiger,<br />

rauer und dreckiger<br />

Ort.<br />

Die düstere Ästhetik des Films<br />

hat das Cyberpunk-Genre geprägt.<br />

Angefangen bei den detailreich<br />

ersonnenen Alltagsgegenständen,<br />

wie Regenschirmen<br />

mit leuchtenden Stäben, bis hin<br />

zu der Art der Kleidung, die die<br />

zahlreichen Statisten im Film<br />

tragen und die mit einem Sammelsurium<br />

an Versatzstücken<br />

aus allen Subkulturen und Accessoires<br />

ausgestattet ist, ist diese<br />

visuelle Ästhetik in den<br />

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nachkommenden Cyberpunk-<br />

Werken und in der Science-<br />

Fiction im Allgemeinen oft kopiert<br />

worden. Dabei übt wie<br />

auch in der Inszenierung der<br />

Stadt der Hauch des Alten, der<br />

mit der futuristischen Technologie<br />

verschmilzt, einen unwiderstehlichen<br />

Reiz aus, so als wäre<br />

die dem Menschen innewohnende<br />

Sehnsucht nach der Vergangenheit<br />

in den Objekten, die<br />

wir nutzen und die uns umgeben,<br />

gefangen. Sie sind gezeichnet,<br />

mit Gebrauchsspuren versehen,<br />

schmutzig und teils sogar<br />

verwahrlost – ein für das Cyberpunk-Genre<br />

absolut typisches<br />

Bild.<br />

Die Frage, welche Bedeutung<br />

dem Unterschied zwischen etwas<br />

Natürlichem und etwas<br />

Künstlichem zukommt, ist nicht<br />

nur im Film eine zentrale, sondern<br />

auch im Cyberpunk-Genre<br />

an sich. Der natürliche, biologische<br />

Körper des Menschen wird<br />

hier oft als schwach und rückständig<br />

gezeichnet, getrieben<br />

von seinen primitiven Bedürfnissen.<br />

In Neuromancer gilt er<br />

den mit dem Cyberspace verbundenen<br />

Hackern gar als Gefängnis,<br />

als ein Kerker des Fleisches<br />

– beschränkt, langsam und<br />

träge.<br />

Oft spielen deshalb im Cyberpunk<br />

technologische Erweiterungen<br />

des Körpers eine Rolle.<br />

Zumeist treten sie in Form von<br />

Implantaten auf, die dem<br />

menschlichen Körper zu mehr<br />

Leistungsfähigkeit verhelfen<br />

sollen. Der natürliche Körper<br />

wird damit zu einer Cyborg-<br />

Gestalt, der starre Dualismus<br />

zwischen Natürlichem und<br />

Künstlichem durchbrochen und<br />

aufgehoben in der wahrhaftigen<br />

Verschmelzung von Mensch<br />

und Technologie. In Blade Runner<br />

spielen zwar solche futuristischen<br />

Implantate keine Rolle,<br />

aber mit der Verschränkung von<br />

natürlichem und künstlichem<br />

Menschen wird auch hier der<br />

Dualismus aufgehoben und<br />

letztlich für nichtig erklärt. Und<br />

in der Überlegenheit der Replikanten<br />

gegenüber dem Menschen<br />

zeigt sich die Unzulänglichkeit<br />

des menschlichen Körpers.<br />

Sein ethischer Wert ist nahezu<br />

zur Bedeutungslosigkeit<br />

verkommen, weshalb er zu einer<br />

austauschbaren Ware geworden<br />

ist.<br />

Abschließend ist zu sagen, dass<br />

der Film trotz seines mittlerweile<br />

fortgeschrittenen Alters nichts<br />

von seiner inhaltlichen und visuellen<br />

Faszination eingebüßt<br />

hat.<br />

Seine düstere visuelle Ästhetik,<br />

seine philosophischen Fragestellungen<br />

und die gekonnte Verschmelzung<br />

aus Film Noir und<br />

dystopischer Science-Fiction<br />

haben ihn zu einem zentralen<br />

Werk des Cyberpunk der Achtzigerjahre<br />

gemacht, das seinen<br />

Einfluss im Laufe der Zeit auch<br />

weit über das Genre hinaus<br />

ausgeübt hat.<br />

Bildmaterial: Copyright by moviescreencaps.com<br />

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Songs of Revolution<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Autor: Emma Trevayne<br />

Übersetzer: Ulrike Nolte<br />

Verlag: Lübbe one (2015)<br />

Genre: Dystopie / Cyberpunk /<br />

Jugendbuch<br />

Gebundene Ausgabe<br />

445 Seiten, 15,99 EUR<br />

ISBN: 978-3-8466-0018-4<br />

Anthem verkauft als „Akku”<br />

sein Leben, um seine Geschwister<br />

durchzubringen und die<br />

akustischen Medikamente für<br />

seinen dahinsiechenden Vater<br />

bezahlen zu können. Wie fast alle<br />

Erwachsenen ist auch Anthem<br />

süchtig – nach Musik, die ihn in<br />

einen Rauschzustand versetzt<br />

und das Alltagsgrau erstickt.<br />

Ursprünglich wurde codierte<br />

Musik als Schmerzmittel verwendet,<br />

doch dann entdeckte der<br />

Konzern, wie er sich die Menschen<br />

mit Hilfe von Musik gefügig<br />

machen konnte. Irgendwann<br />

enden fast alle wie Anthems Vater:<br />

als suchtzerfressene, lebende<br />

Leichen.<br />

Anthem fügt sich öffentlich in<br />

diesen Kreislauf, doch er bewahrt<br />

ein Geheimnis: Mit seinem<br />

besten Freund und drei anderen<br />

jungen Menschen macht er mit<br />

selbst gebastelten Instrumenten<br />

richtige Musik. Ein Vergehen, für<br />

das er hart bestraft werden könnte,<br />

doch die Musik ist Anthems<br />

große Hoffnung – und bald auch<br />

Ausdruck seiner Wut auf den<br />

Konzern …<br />

Songs of Revolution ist erfrischend<br />

anders als die meisten Jugenddystopien<br />

und setzt die originelle<br />

Idee, Musik als bewusstseinsverändernde<br />

Droge – und damit<br />

als Kontrollinstrument – einzusetzen,<br />

gekonnt um. Im zukünftigen<br />

New York gehört es zur<br />

Bürgerpflicht, abends feiern zu<br />

gehen und sich dem Rausch zu<br />

ergeben, damit man das System<br />

auf keinen Fall in Frage stellt.<br />

Wer nicht regelmäßig Musik<br />

konsumiert, bekommt Besuch<br />

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von den Sicherheitsbehörden,<br />

denn selbstverständlich wird<br />

jeder überwacht. Um den Menschen<br />

zumindest ein bisschen<br />

Hoffnung zu geben (und sie damit<br />

noch besser zu kontrollieren),<br />

hat der Konzern Bibliotheken<br />

eingerichtet, in denen die<br />

Erinnerungs-Chips von Verstorbenen<br />

aufbewahrt werden, deren<br />

Aufzeichnungen man sich jederzeit<br />

ansehen kann (natürlich zensiert).<br />

Anthem ist zu Beginn des Romans<br />

stark musikabhängig und<br />

verbringt seine Abende im Club<br />

eines Kumpels, während er tagsüber<br />

seine Energie für das System<br />

opfert. Da nahezu alle Energiequellen<br />

weggebrochen sind,<br />

nutzt der Konzern Menschen wie<br />

Anthem zur Energiegewinnung.<br />

Mit jedem Tag an der Dränage<br />

verkürzt sich sein Leben, doch<br />

das nimmt Anthem in Kauf, um<br />

seinen jüngeren Geschwistern<br />

ein einigermaßen gutes Leben<br />

bieten zu können. Seine geheime<br />

Band ist einer der wenigen<br />

Lichtblicke in seinem Leben –<br />

ebenso wie Haven, ein Mädchen<br />

aus der Oberschicht, das den<br />

Konzern ebenfalls verachtet und<br />

Anthem offensichtlich Gefühle<br />

entgegenbringt. Doch er geht<br />

nicht darauf ein, da er sich als<br />

„Akku“ minderwertig vorkommt<br />

und Haven nicht damit belasten<br />

will, dass er jung sterben wird.<br />

Emma Trevayne ist es wunderbar<br />

gelungen, Musik in ihrem<br />

Roman effektvoll und emotional<br />

zu beschreiben, sodass man das<br />

Gefühl hat, sie tatsächlich zu<br />

hören. Man spürt durchweg die<br />

unbändige Liebe zur Musik,<br />

gleichzeitig ist sie in Songs of Revolution<br />

etwas Gefährliches. Eine<br />

Droge oder sogar ein Tötungsmittel/Bestrafungsmittel.<br />

Denn<br />

es gibt akustische Sequenzen, die<br />

das Gehör eines Menschen auslöschen<br />

können. Die sogenannten<br />

„Ex-Sonics“ sind damit gebrandmarkt<br />

und können nicht<br />

mehr am normalen gesellschaftlichen<br />

Leben teilnehmen. Die<br />

Kontrolle durch den Konzern ist<br />

allgegenwärtig und scheinbar<br />

perfekt. Und genau diese scheinbare<br />

Unverwundbarkeit machen<br />

sich Anthem und seine Band zu<br />

Nutze, als sie beschließen, illegale<br />

Konzerte zu geben.<br />

Die Charaktere in Songs of Revolution<br />

sind im Rahmen ihrer Welt<br />

sehr authentisch, allen voran<br />

Anthem, der zwischen Erschöpfung,<br />

verzweifelter Liebe und<br />

aggressivem Zorn schwankt. Er<br />

macht sich viele Gedanken um<br />

seine Familie und Haven, ist<br />

durch sie erpressbar, doch es fällt<br />

ihm im Laufe des Romans immer<br />

schwerer, ruhig zu bleiben und<br />

den braven, süchtigen Bürger zu<br />

mimen.<br />

Was seine Liebe zu Haven betrifft,<br />

legt er sich selbst Steine in<br />

den Weg. Sie eröffnet ihm genug<br />

Chancen, doch Anthem zweifelt<br />

und glaubt, nicht gut genug für<br />

sie zu sein. Mit seinem besten<br />

Freund Scope hatte Anthem früher<br />

eine Beziehung, deren Feuer<br />

noch nicht ganz erloschen ist.<br />

Dabei erscheint es ganz selbst-<br />

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verständlich, dass Anthem mit<br />

einem Mann zusammen war und<br />

nun in eine Frau verliebt ist. Zu<br />

beiden Menschen kann man seine<br />

Gefühle gut nachvollziehen,<br />

und es ist schade, dass einer der<br />

beiden enttäuscht wird.<br />

Songs of Revolution zeigt, wie Cyberpunk<br />

als Jugendbuch im 21.<br />

Jahrhundert aussehen kann,<br />

denn Emma Trevayne hat das<br />

derbe Grundgefühl des Genres<br />

sowie die starken Kontraste verinnerlicht.<br />

Viele kreative Ideen, wie beispielsweise<br />

Implantate in der<br />

Haut, die durch akustische Reize<br />

aufleuchten und ihre Farbe<br />

wechseln, oder auch Chrome-<br />

Tätowierungen und Glasfaserhaarschmuck<br />

machen Anthems<br />

triste Welt bunt, exzentrisch und<br />

ein bisschen cyberpunkig.<br />

Auch dass Großkonzerne die<br />

herrschende Macht darstellen, ist<br />

ein typisches Cyberpunkthema,<br />

wobei in Songs of Revolution ein<br />

Megakonzern die diktierende<br />

Regierung darstellt. Er dient als<br />

Feindbild, gegen das sich die<br />

jungen Protagonisten auflehnen.<br />

Leider fällt die Führung des<br />

Konzerns mit ihrem Machtstreben<br />

sehr eindimensional aus.<br />

Lediglich die einfachen Mitarbeiter<br />

zeigen etwas Tiefe, während<br />

die Befehlsgebenden eher klischeehaft<br />

rüberkommen. Obwohl<br />

die Autorin, vor allem in<br />

der zweiten Hälfte, mit vielen<br />

Überraschungen aufwartet,<br />

kommt sie nicht ohne die gängigen<br />

Jugendbuchklischees aus.<br />

Zudem trüben die sehr traurigen<br />

Entwicklungen zum Ende hin<br />

den Lesespaß, da einige davon<br />

unnötig und erzwungen dramatisch<br />

erscheinen. Nichtsdestotrotz<br />

bleibt der Roman mitreißend<br />

und einmalig.<br />

Fazit<br />

Songs of Revolution ist eine wahnsinnig<br />

leidenschaftliche und kreative<br />

Dystopie, in der (codierte)<br />

Musik als Droge und Kontrollinstrument<br />

eingesetzt wird.<br />

Emma Trevayne begeistert ihre<br />

Leser vor allem mit ihrem authentischen<br />

Protagonisten Anthem,<br />

der viel ertragen muss,<br />

Fehler macht und aus ihnen<br />

lernt.<br />

Viele originelle Ideen machen die<br />

düstere Zukunftsvision zu einem<br />

erfrischenden Leseerlebnis, das<br />

mitreißt und hungrig auf mehr<br />

macht.<br />

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Cyberpunk in Deutschland – Die Sehnsucht nach der Heimat<br />

Ein Artikel von Christian Günther<br />

Eine ganz persönliche Reise durch<br />

die Jahre, in denen der Cyberpunk<br />

nach Deutschland kam.<br />

Atomic Avenue war der Titel einer<br />

umfangreichen Sammlung<br />

amerikanischer Cyberpunk-<br />

Kurzgeschichten, die für mich<br />

den ersten Kontakt mit dem<br />

Genre darstellte. Das war 1990.<br />

Dieser Band aus dem Heyne-<br />

Verlag bot neben den Geschichten<br />

auch Illustrationen von H. R.<br />

Giger, diverse sekundärliterarische<br />

Artikel sowie eine Bibliographie<br />

der bedeutendsten Cyberpunk-Romane.<br />

Selbst eine<br />

„Playlist“ mit zum Genre passender<br />

Musik fehlte nicht. Von<br />

den Herausgebern wurde der<br />

Begriff sehr eng gefasst, die Zeit<br />

des Cyberpunk auf die Jahre<br />

zwischen 1977 und 1986 festgelegt,<br />

alles danach nur noch als<br />

Derivat der eigentlichen Strömung<br />

des Cyberpunk gesehen.<br />

Ebenso wurden bei den Geschichten<br />

ausschließlich USamerikanische<br />

Autoren berücksichtigt.<br />

Sicher hat sich der Cyberpunk<br />

im Laufe der folgenden Jahre<br />

gewandelt, häufig wurden seine<br />

Motive als Versatzstücke in<br />

Kombination mit anderen Genres<br />

verwendet, bis viele seiner<br />

Themen später in der Alltagswelt<br />

der Realität aufgingen,<br />

sozusagen von der Wirklichkeit<br />

eingeholt wurden.<br />

Dennoch gab es immer wieder<br />

Autoren, die ihre Liebe zum<br />

Genre sehr deutlich ins Zentrum<br />

ihrer Werke gestellt haben. So<br />

entwickelte sich seit Anfang der<br />

neunziger Jahre auch in<br />

Deutschland eine zwar sehr<br />

kleine, aber dennoch bemerkenswerte<br />

Zahl von Werken, die<br />

sich mal mehr, mal weniger der<br />

Themen des Cyberpunk bedien-<br />

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ten. Einige dieser Titel möchte<br />

ich hier vorstellen, sicher ist die<br />

Auswahl sehr persönlich und<br />

nicht vollständig, bietet aber<br />

vielleicht dem einen oder anderen<br />

einige Bücher, die einen näheren<br />

Blick wert sind.<br />

Wenn es um Cyberpunk in<br />

Deutschland geht, kommt man<br />

an Shadowrun nicht vorbei. Das<br />

Rollenspiel, das bereits Anfang<br />

der neunziger Jahre erschien,<br />

war ursprünglich für den nordamerikanischen<br />

Markt konzipiert<br />

und präsentierte hauptsächlich<br />

Schauplätze auf dem<br />

Gebiet der heutigen USA. Kurz<br />

nach Erscheinen der deutschen<br />

Übersetzung ergänzte die umtriebige<br />

deutsche Redaktion bei<br />

Fantasy Productions den Shadowrun-Kosmos<br />

um den Band<br />

Deutschland in den Schatten, mit<br />

dessen Hilfe ein detailliertes<br />

Bild des ehemaligen Deutschland<br />

um das Jahr 2055 entstehen<br />

konnte.<br />

Die ersten Cyberpunk-Romane<br />

mit Schauplätzen in Deutschland<br />

stammten in der Folge<br />

ebenfalls aus dem Verlag Fantasy<br />

Productions und schilderten<br />

die Welt von Shadowrun.<br />

Jedoch war dies von Haus aus<br />

eine knallbunte Action-Kulisse,<br />

mit Trollen, Orks und Elfen,<br />

Magie und Schamanismus. Dieser<br />

Hintergrund entsprach nicht<br />

den klassischen Bildern des Cyberpunk,<br />

wie sie von den Romanen<br />

eines William Gibson<br />

oder den unvergesslichen Bildern<br />

aus Blade Runner geprägt<br />

wurde. Somit waren die Cyberpunk-Anteile<br />

in diesen Geschichten<br />

nur ein Teilaspekt.<br />

Der Kampf von Underdogs gegen<br />

übermächtige Konzerne, die<br />

Benutzung fortschrittlicher<br />

Computertechnik, die düsteren<br />

Straßen und glitzernden Paläste<br />

aus den Fugen geratener Städte<br />

– typische Motive des Cyberpunk,<br />

ergänzt um Metamenschen<br />

und Magie.<br />

Auch ein inzwischen bekannter<br />

Fantasyautor wie Markus Heitz<br />

verdiente sich hier seine ersten<br />

Sporen. Bis zum Jahr 2008 erschienen<br />

regelmäßig neue Romane<br />

aus der Welt von Shadowrun.<br />

Doch auch jenseits der Rollenspielwelt<br />

beschäftigten sich<br />

deutsche Autoren mit der nahen<br />

Zukunft.<br />

Der bekannte SF-Autor Markus<br />

Hammerschmitt veröffentlichte<br />

1997 im Suhrkamp-Verlag seinen<br />

Kurzroman Wind – Schau-<br />

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platz ist eine Windinsel im Meer<br />

nahe Emden. Dieses Setting ist<br />

durchaus vergleichbar mit heutigen<br />

Windparks, allerdings<br />

kombiniert er es mit den romantischen<br />

Motiven des einsamen<br />

Leuchtturmwächters. Aber auch<br />

hier: die Protagonisten als kleine<br />

Rädchen im Getriebe der großen<br />

Konzerne.<br />

Der Ariadne Verlag, ein Hamburger<br />

Verlag, der sich auf<br />

Frauenliteratur spezialisiert hat,<br />

brachte in den 2000er Jahren in<br />

der Reihe „Social Fantasies“<br />

zahlreiche Titel der sozialkritischen<br />

SF heraus. Neben Übersetzungen<br />

bekannter Genre-<br />

Autoren wie John Shirley oder<br />

Ursula K. Le Guin setzte man<br />

dabei auch auf deutsche Autoren.<br />

Bekanntestes Beispiel der<br />

Reihe ist die Hamburger Autorin<br />

Myra Çakan, die mit ihrem<br />

Roman When The Music’s Over<br />

eine der ersten in Deutschland<br />

angesiedelten Cyberpunk-<br />

Geschichten erzählt. Darauf<br />

folgte im Jahr 2001 der zweite<br />

Roman der Autorin, Downtown<br />

Blues.<br />

Weitere Titel aus der „Social<br />

Fantasies“-Reihe sind Digitale<br />

Tänzer von Hartwig Hilgenstein<br />

und Kalter Frühling von Florian<br />

Nelle, spannende Berlin-<br />

Dystopien, die ihre lebendigen<br />

Settings mit Krimi-Handlungen<br />

verbinden. Sie nutzten ihre in<br />

der nahen Zukunft angesiedelten<br />

Schauplätze, um eine an den<br />

klassischen Noir-Krimi erinnernde<br />

Handlung zu erzählen,<br />

die einen beträchtlichen Teil<br />

ihrer Faszination aus der Verknüpfung<br />

dieser Elemente mit<br />

„typisch Deutschem“ ziehen, so<br />

beispielsweise Mietskasernen in<br />

Berlin, die inzwischen unter<br />

einer Betonkuppel liegen.<br />

„Wer keinen Netz-Zugang hat, ist<br />

unterprivilegiert und lebt fleischlich<br />

in den Straßen Berlins unter<br />

dem Kunsthimmel oder in Vororten<br />

mit Beton-Überbauung.“ Hartwig<br />

Hilgenstein, Digitale Tänzer<br />

Im Jahr 2003 brachte ich selbst<br />

meinen Beitrag zum Thema<br />

„Cyberpunk in Deutschland“<br />

heraus, meinen Erstlingsroman<br />

under the black rainbow. Eine wilde<br />

Geschichte, die ich mit der<br />

Motivation schrieb, all das, was<br />

ich schon immer mal in einem<br />

Cyberpunk-Roman lesen wollte,<br />

unterzubringen. Und, was mir<br />

ebenso wichtig war, die Handlung<br />

an Schauplätzen in<br />

Deutschland anzusiedeln. Das<br />

Ergebnis ist wild und bunt, damals<br />

habe ich die handwerkli-<br />

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38


_______________________________________________________________________________________________<br />

chen Unzulänglichkeiten noch<br />

als roh und ursprünglich, eben<br />

„Punk“, zu verkaufen versucht.<br />

Auch geht das Setting über den<br />

Cyberpunk hinaus in den Bereich<br />

der Dystopie, so wie bei<br />

vielen neueren Werken des<br />

Genres, wobei dieser Übergang<br />

sicher fließend ist. Doch die<br />

Faszination, die aus der Verbindung<br />

bekannter Orte mit Motiven<br />

des Cyberpunk erwächst,<br />

hat mich nie losgelassen. Ebenso<br />

wie eine der spannendsten Fragen,<br />

die sich Leser und Autoren<br />

immer wieder stellen: Wie<br />

könnte meine Heimat in der<br />

Zukunft aussehen?<br />

Habe ich mich bislang nur auf<br />

Romane konzentriert, so möchte<br />

ich den Bereich der Kurzgeschichten<br />

natürlich nicht unerwähnt<br />

lassen, immerhin ist diese<br />

kondensierte Form der Erzählung<br />

ein zur knappen Sprache<br />

des Cyberpunk hervorragend<br />

passendes Vehikel. In den vergangenen<br />

Jahren haben sich<br />

einige Autoren aus dem deutschen<br />

Sprachraum aufgemacht,<br />

dem totgesagten Genre neues<br />

Leben einzuhauchen, stellvertretend<br />

seien hier Frank Hebben<br />

und Thorsten Küper erwähnt,<br />

die der Welt des Cyberpunk<br />

zahlreiche neue Geschichten<br />

hinzugefügt haben. Die Sammlungen<br />

Fieberglasträume und<br />

Tiefraumphasen zeugen von der<br />

Vielfalt an Cyberpunk-Stories,<br />

die jene Festlegung aus Atomic<br />

Avenue, die das Ende des Genres<br />

im Jahr 1986 verortet hat, eindrucksvoll<br />

widerlegen. Man<br />

muss lediglich auf Kabelverbindungen<br />

und Röhrenmonitore<br />

verzichten – die Essenz lebt weiter.<br />

Atomic Avenue – Michael Nagula<br />

(Hrsg.) – Heyne Verlag, 1990 –<br />

ISBN 3453042875<br />

Wind – Marcus Hammerschmidt –<br />

Suhrkamp Verlag, 1997 – ISBN<br />

3518392786<br />

Digitale Tänzer – Hartwig Hilgenstein<br />

– Ariadne/Argument Verlag,<br />

1998 – ISBN 3886199347<br />

Kalter Frühling – Florian Nelle –<br />

Ariadne/Argument Verlag, 1998 –<br />

ISBN 3886199320<br />

When The Music’s Over – Myra<br />

Çakan – Ariadne/Argument Verlag,<br />

1999 – ISBN 3886199452<br />

Downtown Blues – Myra Çakan –<br />

Ariadne/Argument Verlag, 2001 –<br />

ISBN 3886199657<br />

under the black rainbow – Christian<br />

Günther – Erstveröffentlichung<br />

2003, Neuauflage bei BOD, 2010 –<br />

ISBN 9783839132609<br />

Fieberglasträume – Frank Hebben,<br />

André Skora (Hrsg.) – Begedia Verlag<br />

2013 – ISBN 9783943795400<br />

Tiefraumphasen – André Skora, Armin<br />

Rößler, Frank Hebben (Hrsg.) –<br />

Begedia Verlag 2014 – ISBN<br />

9783957770066<br />

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Nachtbrenner<br />

Eine Rezension von André Skora<br />

Autorin: Myra Çakan<br />

Verlag: Edition Phantasia (2012)<br />

Genre: Cyberpunk<br />

Hardcover<br />

Limitierte Edition<br />

264 Seiten, 45,00 EUR<br />

ISBN: 978-3-924959-86-9<br />

(Taschenbuch: 14,90 EUR<br />

eBook 6,99 EUR)<br />

Myra Çakan dürfte den meisten<br />

Lesern durch ihre Bücher Downtown<br />

Blues und When the Music‘s<br />

over sowie durch einige Hörspielumsetzungen<br />

ein Begriff<br />

sein. Dieses limitierte Hardcover<br />

enthält dreizehn Kurzgeschichten<br />

aus der Tastatur der Autorin.<br />

Das Ganze ist auch als Taschenbuch<br />

und eBook erhältlich! –<br />

Somit ist die Limitierte Edition<br />

nicht Pflicht.<br />

Zum Inhalt<br />

Nachfolgend werde ich auf die<br />

einzelnen Storys eingehen, um so<br />

einen kleinen Einblick ins Buch<br />

zu geben und zu zeigen, worum<br />

es jeweils geht. Das Vorwort, das<br />

einen kurzen Abriss über Musik,<br />

Literatur und Entwicklung gibt,<br />

kommt von Joachim Körber.<br />

„Zufällige Weggefährten“ eröffnet<br />

das Buch. Die Story handelt<br />

von der Leere in einer trostlosen<br />

Zukunft, wobei sie generationsübergreifend<br />

darlegt, dass man<br />

Träume verfolgen sollte und<br />

welche Kraft von Geschichten<br />

ausgeht. Das Ganze gepaart mit<br />

Rock’n‘Roll und man erfährt den<br />

Blues!<br />

Mit „Echtzeit“ geht es weiter.<br />

Hier gibt es einen ungeschminkten<br />

Einblick in den Alltag eines<br />

Roadrunners (Kurierfahrer für<br />

heiße Ware). Dabei werden Abhängigkeiten,<br />

Techniken und der<br />

ganz normale Wahnsinn beleuchtet.<br />

Und dabei gibt’s auf die<br />

Fresse.<br />

Außenmissionen und der anstehende,<br />

zur Belohnung ausge-<br />

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sprochene Landgang bringen<br />

jede Menge Risiken mit sich. In<br />

„Fremde Schatten“ wird auf das<br />

Endresultat ein Blick geworfen.<br />

Man erfährt, wozu der Mensch<br />

in unvorhersehbaren Situationen<br />

fähig ist.<br />

„Hinter der Biegung des Flusses<br />

…“ ist ein kleiner Abriss der Ereignisse<br />

und Illusionen aus Indianersicht.<br />

Als Nächstes folgt „Nachtbrenner“,<br />

die Story, der diese Sammlung<br />

ihren Namen verdankt.<br />

Hierbei handelt es sich um eine<br />

Geschichte, die ‚alte‘ Menschheitsträume<br />

verwirklicht, denn<br />

der Mars wurde besiedelt. Aber<br />

damit nicht genug: Wo Sonne<br />

scheint, muss es auch Schatten<br />

geben, und der ist hier der herrschende<br />

Krieg.<br />

In dieser Situation finden zwei<br />

Ungleiche als Paar zusammen<br />

und zeigen auf, wozu Liebe in<br />

einer ausweglosen Situation führen<br />

kann, und das ist mehr als<br />

Mut!<br />

Damit ist „Nachtbrenner“ aber<br />

noch nicht ‚erledigt‘, denn nun<br />

folgt die Story als Hörspielfassung.<br />

„Im Netz der Silberspinne“<br />

bringt dem Leser mehrere gescheiterte,<br />

süchtige Persönlichkeiten<br />

näher, die ihren Alltag<br />

abschwenken. Wobei einer dieser<br />

Freaks dem Ganzen mit einer<br />

Heldentat entkommen will.<br />

Weiter geht es mit Sportlern,<br />

Cops und jeder Menge anderer<br />

abgewrackter Gestalten. Wir<br />

werden in die Geschehnisse rund<br />

um ein Sportspiel im Jahre 2027<br />

hineingezogen und dürfen dem<br />

verworrenen Alltag der Stadt,<br />

dem „Downtown Blues“, folgen<br />

beziehungsweise lauschen.<br />

Seinerzeit war Natural Born Killers<br />

einer der Filme, die man gesehen<br />

haben sollte. So ist die Story<br />

„Wie Mickey und Mallory“<br />

ein VR-Erlebnisbericht durch<br />

einzelne Filmsequenzen, allerdings<br />

mit Änderungsoptionen.<br />

Der zukünftig besiedelte Mars<br />

dient als Hintergrundwelt für die<br />

nächste Story.<br />

„Callista“ ist eine kurze, schnelle<br />

und wandlungsfähige Beschattungsaktion,<br />

die mit Klischees<br />

spielt.<br />

In „Nachtschicht“ bekommt man<br />

den ganz normalen Wahnsinn<br />

zweier Cops um die Ohren gehauen.<br />

Besonders den Wahnsinn,<br />

den man erlebt, wenn man seine<br />

Nase in Angelegenheiten steckt,<br />

die eine Nummer zu groß sind,<br />

auch wenn man zu den Besten<br />

seiner Einheit zählt. Dazu kommen<br />

noch ein paar Verstrickungen,<br />

die erst auf den zweiten<br />

Blick auffallen, und schon wird<br />

die Luft für Neugierige noch<br />

dünner.<br />

Die Storysammlung wird durch<br />

„Das kalte Licht der Sterne“ beendet.<br />

Hier erlebt man, zwischen<br />

Realität und Wahnsinn, die letzten<br />

Tage, Stunden und Handlungen<br />

eines Astronauten auf<br />

einer verunglückten Raumstati-<br />

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on. Abschließend folgt eine<br />

Nachweisübersicht.<br />

Fazit<br />

Mit Nachtbrenner liefert Myra<br />

Çakan eine gut zusammengestellte<br />

Cyberpunk-Storysammlung<br />

ab. Man bekommt alles,<br />

was den Cyberpunk ausmacht,<br />

vom abgebrannten Junkie über<br />

korrupte Bullen bis zum rechtschaffenen<br />

Bürger.<br />

Die Charaktere zeichnen sich<br />

durch ihre Eigenständigkeit und<br />

durch ihre überraschenden<br />

Handlungen aus. Man hat<br />

schnell ein Bild der einzelnen<br />

Protagonisten und auch des Hintergrundes<br />

vor Augen und erhält<br />

so ein tolles Kopfkinoprogramm.<br />

Auch die Dialoge können größtenteils<br />

überzeugen, wagt Myra<br />

Çakan doch in den meisten Fällen,<br />

‚Straßenslang‘ zu verwenden.<br />

So wird der Leser noch<br />

schneller in die Storys hineingezogen.<br />

Nun möchte ich noch ein paar<br />

Worte zur Aufmachung dieser<br />

limitierten Edition verlieren: Das<br />

Hardcover, die Bindung und das<br />

verwendete Papier machen einen<br />

sehr hochwertigen Eindruck und<br />

fühlen sich in der Hand sehr gut<br />

an. Der Satz ist gelungen, sprich:<br />

Schriftart und Größe passen gut<br />

zusammen. Der Schutzumschlag<br />

fügt sich ins Gesamtbild ein,<br />

könnte aber etwas robuster sein.<br />

Zum Abschluss möchte ich noch<br />

zwei, drei Sachen erwähnen, die<br />

mir ein wenig negativ ins Auge<br />

gefallen sind: Zum einen gibt es<br />

textlich einige Wiederholungen,<br />

die sich durch die Storys ziehen,<br />

so zum Beispiel ist der Himmel<br />

meistens „smoggelb“. Leider<br />

sorgen einige wenige Textfehler<br />

für Lesestolperer. Das ist, in<br />

Hinblick darauf, dass es sich um<br />

eine limitierte Edition handelt,<br />

doch etwas ärgerlich. Auch bei<br />

der inneren Aufmachung hätte<br />

man sich noch einige Gedanken<br />

machen können.<br />

Alles in allem bin ich aber von<br />

den Storys und der Präsentation<br />

angetan und kann Nachtbrenner<br />

nur empfehlen! Alternativ auch<br />

als eBook oder Taschenbuch.<br />

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Shadowrun – Cyberpunk meets Fantasy<br />

Ein Artikel von Jeremy Iskandar<br />

Shadowrun holt den Nervenkitzel<br />

an den heimischen Wohnzimmertisch.<br />

Wer in die Welt der<br />

Schatten abtaucht, braucht gute<br />

Nerven, Durchhaltevermögen<br />

und viel Fantasie. Es ist eine gefährliche<br />

Welt, die man dort betritt,<br />

aber sie verspricht auch eine<br />

Menge Spaß und Unterhaltung.<br />

Shadowrun kann als Hommage<br />

an die großen Werke des Achtzigerjahre-Cyberpunks<br />

und seine<br />

Wegbereiter aus der Science-<br />

Fiction der Sechziger und Siebziger<br />

gesehen werden.<br />

Kenner des Genres finden in der<br />

Welt von Shadowrun zahlreiche<br />

Bezüge zu Werken wie Gibsons<br />

Sprawl-Trilogie (bestehend aus<br />

den Romanen Neuromancer<br />

(1984), Count Zero (1986) und<br />

Mona Lisa Overdrive (1988)), Sterlings<br />

Islands in the Net (1988) oder<br />

Bears Blood Music (1985). Die<br />

Anleihen reichen sogar noch<br />

weiter in die Vergangenheit der<br />

Science-Fiction, wenn inhaltlich<br />

oder zumindest namentlich an<br />

Werke wie Brunners The Shockwave<br />

Rider (1975) oder gar<br />

Delanys Nova (1968) angeknüpft<br />

wird. Die in diesen Werken geschaffenen<br />

Elemente des Cyberpunk<br />

treffen bei Shadowrun auf<br />

klassische Merkmale der Fantasy,<br />

um einen einzigartigen<br />

Genre-Mix zu erzeugen, der<br />

maßgeblich zur enormen Popularität<br />

des Spiels innerhalb seines<br />

Genres beigetragen hat.<br />

Bei Shadowrun handelt es sich um<br />

ein so genanntes Pen-&-Paper-<br />

Rollenspiel, dessen erste Version<br />

im Jahre 1989 beim amerikanischen<br />

Spielehersteller FASA erschien.<br />

Mittlerweile läuft das<br />

Spiel in der 5. Edition und hat<br />

sich dabei von Edition zu Edition<br />

sowohl strukturell als auch inhaltlich<br />

weiterentwickelt. Während<br />

der Hintergrund der 1. Shadowrun-Edition<br />

in einer fiktiven<br />

Zukunft des Jahres 2050 angesie-<br />

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delt ist, startet die aktuellste Edition<br />

des Spieles mit dem Jahr<br />

2075.<br />

Ein Rollenspiel ist ein System,<br />

das es mehreren Spielern ermöglicht,<br />

fiktive Charaktere zu verkörpern,<br />

die mit einem ebenso<br />

fiktiven Setting interagieren, um<br />

dabei im weitesten Sinne Abenteuer<br />

zu erleben. Die Grundlage<br />

dazu bietet eine erzählerische<br />

Darstellung der Handlung. Die<br />

Charaktere der Spieler sind ähnlich<br />

wie in einem Theaterstück<br />

Protagonisten einer Geschichte,<br />

deren Handlung allerdings nicht<br />

durch ein Drehbuch festgelegt<br />

ist, sondern sich wie im Improvisationstheater<br />

erst mit der Geschichte<br />

selbst entwickelt. Um<br />

der Geschichte eine gewisse<br />

Rahmenhandlung und Konsistenz<br />

zu verleihen, übernimmt<br />

einer der Spieler die Rolle des<br />

Spielleiters, der das Spiel anleitet<br />

und die Welt und ihre Reaktionen<br />

auf die Handlungen der<br />

Spielercharaktere beschreibt. Der<br />

Spielleiter übernimmt damit<br />

Shadowrun-Würfel Version 4E von Pegasus Spiele (Harley keen / CC BY-SA 3.0)<br />

auch die Rolle aller Nichtspielercharaktere,<br />

bei denen es sich<br />

um alle Protagonisten einer Geschichte<br />

handelt, mit denen die<br />

Charaktere der Spieler zusammentreffen.<br />

Um die Auswirkungen<br />

von Aktionen und Reaktionen<br />

in der Spielwelt zu ermitteln,<br />

dienen dem Spielleiter und den<br />

Spielern gewisse, zumeist auf<br />

Würfelwurf basierende Regelmechanismen.<br />

Die Welt, die Shadowrun zeichnet,<br />

ist die unsere in der nahen<br />

Zukunft. Sie trägt die für den<br />

Cyberpunk typischen dystopischen<br />

Züge. Einige Teile der<br />

Welt sind aufgrund von Umweltverschmutzung,<br />

Naturkatastrophen<br />

oder kriegerischen<br />

Konflikten unbewohnbar geworden,<br />

zahlreiche staatliche<br />

Strukturen sind zerbrochen oder<br />

haben zumindest an Einfluss<br />

verloren, während gewaltige<br />

Konzerne, in Shadowrun Megakonzerne<br />

genannt, ganze Wirtschaftssysteme<br />

diktieren und<br />

staatengleiche Macht und Kontrolle<br />

ausüben. Dabei ist Shadowrun,<br />

zumindest in seinen ers-<br />

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ten Versionen, von einer Erde<br />

ausgegangen, in der ein wirtschaftlich<br />

übermächtiges Japan<br />

die USA als Weltmacht abgelöst<br />

hat. Dieser Blickwinkel erklärt<br />

sich aus der Entstehungszeit des<br />

Spiels in den Achtzigerjahren, als<br />

das japanische Wirtschaftswachstum<br />

noch grenzenlos und<br />

unaufhaltsam schien. Die zweite<br />

Komponente, die Shadowrun bei<br />

der Zeichnung seiner Welt prägt,<br />

ist die Rückkehr der Magie auf<br />

unsere Erde. Ausgehend von der<br />

Systematik des Maya-Kalenders,<br />

ist die Zeitvorstellung in Shadowrun<br />

auf Zyklen aufgebaut, die<br />

jeweils ein Zeitalter bestimmen.<br />

Mit dem Ende der sogenannten<br />

5. Welt im Jahr 2011 begann in<br />

der Zeitrechnung von Shadowrun<br />

die 6. Welt, die die Rückkehr der<br />

Magie einläutete.<br />

Erklärt wird dies durch das ansteigende<br />

Mana-Niveau, welches<br />

der Welt zwar immanent ist, aber<br />

von Zeitalter zu Zeitalter in seiner<br />

Stärke variiert und deshalb –<br />

ähnlich wie klimatische Bedingungen<br />

die Entwicklung von<br />

Arten beeinflussen – die Nutzung<br />

von Magie einschränkt o-<br />

der verstärkt. So trifft man in<br />

Shadowrun nicht nur auf Hightech<br />

wie Nano- und Biotechnologie,<br />

Cyber-Implantate, eine vollsensorische<br />

Virtual Reality und<br />

gedankengesteuerte Fahrzeuge,<br />

sondern auch auf Magier, Geister,<br />

Drachen und andere, in der<br />

5. Welt zu Mythen erklärte Fabelwesen.<br />

Feste Charakterkonzepte gibt es<br />

in Shadowrun nicht, da es sich bei<br />

dem Regelwerk um ein recht<br />

offenes System handelt, aber<br />

dennoch lassen sich einige Archetypen<br />

ausmachen, die den<br />

Spielern als Rahmen zur Erschaffung<br />

ihres eigenen Charakters<br />

dienen. Ihnen allen ist gemein,<br />

dass sie sogenannte Shadowrunner<br />

sind – Berufskriminelle, die<br />

in den Schatten abseits des Systems<br />

leben und agieren, für<br />

zwielichtige Auftraggeber arbeiten,<br />

die aus den Konzernetagen,<br />

dem Militär, der Unterwelt oder<br />

den um Einfluss ringenden Regierungen<br />

stammen können. Sie<br />

sind im weitesten Sinne Söldner<br />

– Aktivposten, die auf keiner<br />

Gehaltsliste auftauchen und bei<br />

Bedarf auch fallen gelassen werden<br />

können. Das Leben der Shadowrunner<br />

ist demnach ein gefährliches,<br />

aber für gewöhnlich<br />

zahlt es sich aus. Immerhin riskieren<br />

Shadowrunner bei einem<br />

Großteil ihrer Aufträge (in der<br />

Terminologie von Shadowrun als<br />

Runs bezeichnet) ihr Leben. Ihre<br />

Missionsparameter umfassen<br />

Datenklau, Einbruch, Entfüh-<br />

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rung, Schmuggel, Erpressung<br />

und in einigen Fällen sogar Auftragsmord.<br />

Das System Shadowrun ist letztlich<br />

aber dermaßen flexibel und<br />

offen angelegt, dass die Spieler<br />

einer Spielgruppe auch in die<br />

Rollen von Konzernagenten, Regierungsmitarbeitern,<br />

Rettungskräften,<br />

Privatdetektiven usw.<br />

schlüpfen können. Theoretisch<br />

ist es sogar denkbar, dass die<br />

einzelnen Spieler gänzlich unterschiedliche<br />

Rollen verkörpern.<br />

Systemimmanente Grenzen gibt<br />

es hier zumindest keine.<br />

Da die Welt von Shadowrun auf<br />

unserer eigenen basiert, auch<br />

wenn sie eine andere Entwicklung<br />

genommen hat, sind in Bezug<br />

auf das Setting und die Geschichte<br />

der Fantasie und dem<br />

Detailreichtum des Spieles im<br />

Prinzip keine Grenzen gesetzt. Es<br />

besteht die Möglichkeit, reale<br />

Ereignisse unserer Welt in Shadowrun<br />

zur Vorlage zu nehmen,<br />

oder aber rein fiktive Geschichten<br />

zu spinnen.<br />

Shadowrunner arbeiten meist in<br />

kleinen, ausgewogenen Teams,<br />

die alle wichtigen Bereiche ihrer<br />

Arbeit abdecken.<br />

Straßensamurai sind hierbei die<br />

Soldaten der Schatten. Sie sind<br />

unfassbar stark, übermenschlich<br />

schnell und in allen möglichen<br />

Waffenarten geschult. Ihr Körper<br />

wurde stark durch die Segnungen<br />

der modernen Bio- und Gentechnologie<br />

sowie mittels sogenannter<br />

Cyberware, künstlicher<br />

Implantate, verbessert und ist<br />

auf dem besten Wege, mehr Maschine<br />

als Mensch zu werden.<br />

Rigger und Hacker (in einigen<br />

Shadowrun-Editionen auch Decker<br />

genannt) sind die Technikexperten<br />

eines Shadowrunner-<br />

Teams. Das Spezialgebiet der<br />

Rigger umfasst hauptsächlich<br />

das Bedienen, Modifizieren und<br />

Warten von Fahrzeugen und<br />

Drohnen. Mittels Implantaten<br />

stellen sie eine direkte neurale<br />

Verbindung zu ihren Fahrzeugen<br />

her und ersetzen ihre eigenen<br />

Sinne durch die Sensoren der<br />

Maschinen. Per Gedankenbefehl<br />

übernehmen sie somit die Steuerung<br />

ihrer Fahrzeuge, dienen als<br />

überragende Fluchtfahrer für<br />

ihre Teamkollegen oder unterstützen<br />

diese mit Drohnen bei<br />

ihren Operationen.<br />

Hacker sind Computercracks, die<br />

über die nötigen Fähigkeiten und<br />

das Equipment verfügen, das<br />

globale, vollsensorische Computernetzwerk<br />

(in Shadowrun<br />

überwiegend als die Matrix bezeichnet),<br />

durch das der überwiegende<br />

Teil aller Informationen<br />

der Welt läuft, zu ihren<br />

Gunsten zu manipulieren.<br />

Die Matrix bei Shadowrun ist<br />

nach dem Vorbild des Cyberspace<br />

in Gibsons Neuromancer<br />

konzipiert und stellt eine umfassende<br />

virtuelle Realität dar, die<br />

von den Hackern mit allen Sinnen<br />

erfahren werden kann. Während<br />

die ersten drei Editionen<br />

des Rollenspiels noch von einer<br />

auf Kabelverbindungen und stationären<br />

Systemen geprägten<br />

Matrix ausgehen, hat sich in der<br />

4. Edition mit dem Einzug eines<br />

drahtlosen und mobilen Netz-<br />

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werkes Shadowrun der mittlerweile<br />

rasch vorangeschrittenen<br />

realen Kommunikationstechnologie<br />

angepasst. Mit der AR, der<br />

Augmented Reality, welche als<br />

virtuelle Welt die normale<br />

Wahrnehmung ihrer Benutzer<br />

überlagert, beschritt Shadowrun<br />

dann auch den logischen Schritt<br />

für eine wahrhaft vernetzte Hintergrundwelt,<br />

die der mittlerweile<br />

vorhandenen Medienrealität<br />

gerecht wird.<br />

Der letzte der klassischen Archetypen<br />

innerhalb des Spielekonzepts<br />

ist der des Erwachten, wie<br />

ein jeder Bewohner der 6. Welt<br />

bezeichnet wird, der über magisches<br />

Potenzial verfügt. In der<br />

Welt von Shadowrun existieren<br />

hierbei zahlreiche magische Paradigmen,<br />

die sich zum überwiegenden<br />

Teil an realen Traditionen<br />

aus Religion und Mystik<br />

orientieren. Sowohl fernöstliche<br />

Lehren wie Shintoismus oder<br />

Buddhismus als auch Chaostheorie,<br />

germanische Glaubensvorstellungen,<br />

Christentum und<br />

Islam finden in der Welt von<br />

Shadowrun ihren Platz und haben<br />

dabei ihre ganz eigenen Auslegungen<br />

der Magie entwickelt,<br />

die das 6. Zeitalter bestimmt.<br />

Regeltechnisch kann man bei<br />

Shadowrun zwei Konzepte erwachter<br />

Charaktere unterscheiden.<br />

Der Magier ist ein Magiebegabter,<br />

der über die Fähigkeit verfügt,<br />

das Mana dergestalt zu<br />

manipulieren, dass Zaubersprüche<br />

wirksam sind, die verschiedene<br />

Effekte in der Realität hervorrufen.<br />

Er ist außerdem in der<br />

Lage, Geister zu beschwören und<br />

sie in seine Dienste zu binden.<br />

Von zentraler Bedeutung ist<br />

hierbei der Astralraum, eine Art<br />

Parallelwelt, die die physische<br />

Realität überlagert, aber nur von<br />

Wesenheiten wahrgenommen<br />

werden kann, die über die Fähigkeit<br />

der astralen Wahrnehmung<br />

verfügen. Beim Adepten<br />

handelt es sich um Erwachte,<br />

deren magische Begabung eher<br />

nach innen gerichtet ist und deren<br />

Kräfte sich auf ihren eigenen<br />

Körper beziehen. Genau wie jeder<br />

Magier einem bestimmten<br />

Paradigma folgt, das der Tradition<br />

der Kultur entspricht, in der<br />

er aufgewachsen ist oder innerhalb<br />

derer er ausgebildet wurde,<br />

beschreiten auch Adepten verschiedene<br />

Wege, je nachdem<br />

welche Kräfte sie beherrschen. So<br />

gibt es Adepten, die dem Weg<br />

des Kriegers folgen, aber eben<br />

auch solche, die als herausragende<br />

Künstler, Mediatoren oder<br />

Athleten tätig sind.<br />

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Verschiedene Bücher (mittlerweile<br />

auch als PDF zum Download<br />

erhältlich) helfen Spielleiter<br />

und Spielern dabei, die Regeln<br />

und den Hintergrund des Spiels<br />

zu definieren.<br />

Die Bücher, die für das Spiel erhältlich<br />

sind, lassen sich grob in<br />

drei Kategorien unterteilen: Regelwerke,<br />

Quellenbücher und<br />

Abenteuerbände.<br />

Neben dem Grundregelwerk,<br />

das alle Regeln und Hintergründe<br />

enthält, um sofort mit dem<br />

Spiel starten zu können, zeichnet<br />

sich Shadowrun durch ein Baukastensystem<br />

aus, das einzelne<br />

Aspekte des Spiels (die Matrix,<br />

die Magie, Fahrzeuge und Waffen,<br />

Bio- und Cyberware usw.) in<br />

erweiternden Regelbüchern beleuchtet<br />

und ausbaut.<br />

Diese Regelwerke orientieren<br />

sich für gewöhnlich an den bereits<br />

beschriebenen Archetypen,<br />

obwohl letztlich alle Spieler von<br />

den Zusatzwerken profitieren<br />

können. Neben zusätzlichen Regeln,<br />

die dem Spiel einen größeren<br />

Detailreichtum bescheren<br />

sollen, führt jede dieser Publikationen<br />

auch neue Ausrüstungsgegenstände<br />

ein, wie Fahrzeuge,<br />

Waffen, Implantate oder magische<br />

Güter, die Spielleiter und<br />

Spieler zur Ausgestaltung ihres<br />

Spieles nutzen können.<br />

Bei den Quellenbüchern handelt<br />

es sich um mit Hintergrundmaterial<br />

versehene Publikationen,<br />

die die offizielle Shadowrun-<br />

Geschichtsschreibung vorantreiben<br />

und dabei einzelne, ausgewählte<br />

Bereiche der Shadowrun-<br />

Welt (bestimmte Regionen oder<br />

Ereignisse) vorstellen. Die Spielgruppen<br />

sind frei, diese offiziellen<br />

Informationen in ihre Spielwelt<br />

zu integrieren, sie nur teilweise<br />

zu übernehmen, sie abzuändern<br />

oder gänzlich wegzulassen.<br />

Sie dienen hauptsächlich der<br />

Inspiration für die Geschichten<br />

der Spielrunde.<br />

Abenteuerbände (auch Kampagnenbände<br />

genannt) bieten Spielleiter<br />

und Spielern komplett ausgearbeitete<br />

Geschichten oder<br />

zumindest deren Grundlagen<br />

mit allen relevanten Hintergrundinformationen,<br />

Kartenund<br />

Bildmaterial sowie Regelerläuterungen<br />

und den in der Geschichte<br />

auftauchenden Nichtspielercharakteren.<br />

Die Abenteuerbände<br />

beinhalten entweder<br />

Geschichten zu einem bestimmten<br />

Aspekt der Shadowrun-Welt<br />

oder spinnen die offizielle Geschichtsschreibung<br />

des Spiels<br />

weiter, die in Shadowrun auch als<br />

Metaplot bezeichnet wird und<br />

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alle wichtigen, die Spielwelt<br />

stark beeinflussenden Ereignisse<br />

umfasst. Auch hier ist jede Spielgruppe<br />

allerdings frei, diese Informationen<br />

ganz nach eigenem<br />

Geschmack zu ignorieren oder<br />

zu verändern.<br />

Shadowrun ist ein Spiel ohne vorgeschriebene<br />

Spielerzahl. Bewährt<br />

hat sich allerdings in den<br />

meisten Fällen eine Gruppe aus<br />

fünf Spielern, von denen einer<br />

den Part des Spielleiters übernimmt.<br />

Denkbar sind jedoch<br />

auch gänzlich andere Gruppenkonstellationen,<br />

wobei größere<br />

Gruppen jedoch Gefahr laufen,<br />

das Ausspielen der einzelnen<br />

Spielercharaktere, das immerhin<br />

einen der größten Reize eines<br />

Rollenspiels darstellt, zu vernachlässigen.<br />

Möchte man einmal<br />

über den Tellerrand schauen<br />

und den heimischen Spieltisch<br />

verlassen, wird man schnell feststellen,<br />

dass es dort draußen<br />

zahlreiche Shadowrun-Spieler<br />

samt dazugehörenden Gruppen<br />

gibt und sich im Internet im Laufe<br />

der Jahre auch im deutschsprachigen<br />

Raum verschiedene<br />

Internet-Gemeinschaften zum<br />

Hobby Shadowrun gegründet<br />

haben. Die größte Community in<br />

Deutschland stellt der Shadowrun-Nexus<br />

dar, zu erreichen<br />

unter www.sr-nexus.de.<br />

Hier kann man sich mit anderen<br />

Shadowrun-Fans austauschen,<br />

Charakterkonzepte vorstellen,<br />

Regel- und Hintergrundfragen<br />

klären oder an den so genannten<br />

Forenruns teilnehmen, die das<br />

Rollenspiel Shadowrun als<br />

schreibbasierte Version ins Internet<br />

verlagern. Mittlerweile hat<br />

der Erfolg des Spieles dazu geführt,<br />

dass neben dem Rollenspiel<br />

Shadowrun auch Computerspiele,<br />

Kartenspiele und sogar<br />

Merchandising-Artikel zur Verfügung<br />

stehen, die entweder<br />

separat gespielt oder mit dem<br />

klassischen Rollenspiel verwoben<br />

werden können.<br />

Ein Abtauchen in die Schatten<br />

lohnt sich also. In diesem Sinne:<br />

„Halte dir den Rücken frei, spar<br />

Munition und lass dich nie mit<br />

Drachen ein“ (altes Shadowrunner-Sprichwort).<br />

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Interview mit Frank Hebben<br />

geführt von Eva Bergschneider<br />

„Ich habe letzten Monat die 40<br />

geknackt, ich darf über alles ablästern,<br />

was nach mir so kommen<br />

mag.“<br />

PHANTAST: Frank, wir haben<br />

2008 schon einmal ein Interview<br />

miteinander geführt. Damals<br />

hast Du mir erzählt, dass Dich<br />

Fantasy-Klötze wie Der Herr der<br />

Ringe langweilen und Du deshalb<br />

Kurzgeschichten bevorzugst<br />

und schreibst. Ist das immer<br />

noch der Stand der Dinge, oder<br />

hast Du inzwischen mal daran<br />

gedacht, einen Roman zu verfassen?<br />

Oder gar etwas ganz anderes?<br />

Frank Hebben: Tatsächlich breite<br />

ich mich gerade aus, was sich<br />

nicht allein auf mein aktuelles<br />

Kampfgewicht beschränkt, heul,<br />

sondern meine Texte sind tatsächlich<br />

größer geworden, im<br />

Sinne von: komplexer. Schwieriger.<br />

Josefson vom standard.at hat<br />

über mich geschrieben: „Denn<br />

trotz aller Begeisterung über Erzählungen<br />

wie ‚Kinder der großen<br />

Maschine‘ oder ‚Zeit der<br />

Asche #Rheingold‘ ist biomechanoider<br />

Wahnsinn nur an der<br />

Oberfläche das typische Hebben-<br />

Element; in Wirklichkeit ist es<br />

die erzählerische Reduktion aufs<br />

Wesentliche.“<br />

Darum geht es mir: jedes Wort<br />

an die richtige Stelle zu setzen.<br />

Oder, wie Christian Günther es<br />

so hübsch ausgedrückt hat:<br />

„Hebben feilt an jedem Wort, bis<br />

es weg ist.“ Daran arbeite ich<br />

hart: komplexe Handlungen runterzudestillieren,<br />

um maximale<br />

Wirkung beim Lesen zu erzielen.<br />

Wenn man den ganzen Ballast<br />

abwirft, hat man danach viel<br />

Platz für Details – das reicht<br />

zwar nicht für einen Roman, aber<br />

eine längere Erzählung kriege ich<br />

so hin.<br />

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PHANTAST: Würdest Du sagen,<br />

dass Kurzgeschichten zu schreiben<br />

mehr Kreativität und Phantasie<br />

erfordert, weil der Autor<br />

von Kurzgeschichten sich ständig<br />

einen neuen Plot, ein anderes<br />

Szenario einfallen lassen muss,<br />

während der Roman-Autor eine<br />

Weile an einer Idee festhalten<br />

kann.<br />

Frank Hebben: Vor allem mehr<br />

Können. Kurzgeschichten, die<br />

eine Resonanz, einen Nachhall<br />

im Kopf erzeugen, sind selten –<br />

und schwer zu schreiben. Man<br />

kann es nicht erzwingen. Anders<br />

als bei einem Roman, bei dem<br />

man Plotstrukturen wie die Heldenreise<br />

oder den Drei- oder<br />

Fünfakter schamlos anwenden<br />

kann und bei denen auf den ersten<br />

dreißig, vierzig Seiten erst<br />

mal gar nicht viel passieren<br />

muss, leben (!) Kurzgeschichten<br />

von guten Protagonisten, die<br />

sofort fesseln, von einer genialen<br />

Idee – oder eben vom guten<br />

Schreibstil. Ich bastle derzeit an<br />

einer neuen Erzählung, die in der<br />

freien Natur spielt, genauer: Eine<br />

Frau stapft seitenlang durch den<br />

Wald. Interessant? Kommt drauf<br />

an! Das kann man eben mit gutem<br />

Stil hinkriegen, so eine Hintergrundspannung,<br />

eine ‚Tension‘<br />

mitaufbauen, die zwischen<br />

den Zeilen schwebt. Form<br />

follows function. Thematisch<br />

jetzt mehr so: Stalker, Picknick<br />

am Wegesrand. Alles noch recht<br />

wacklig, aber ich glaube, ich<br />

krieg’s hin.<br />

PHANTAST: Hast Du Schreibrituale?<br />

So etwas wie zu einer bestimmten<br />

Tages- oder Nachtzeit<br />

zu schreiben, eine passende Musik<br />

zur Szene zu hören. Oder<br />

schreibst Du ablenkungsfrei in<br />

vollkommener Klausur, allein,<br />

nur Du, Dein Schreibwerkzeug<br />

und die Story?<br />

Frank Hebben: Anders als meine<br />

Kollegen komponiere ich meine<br />

Texte: Ich nehme Beschreibungen,<br />

die Dialoge, die ich schon<br />

vorher aufgeschrieben habe, und<br />

niete sie zusammen. Ich führe<br />

immer ein Notizbuch mit mir, in<br />

das ich jeden Tag neue (Halb-)<br />

Sätze reinschreibe – an der Bushaltestelle,<br />

im Supermarkt.<br />

Überall. Und dann ins Dokument<br />

abtippe, das nach Szenen<br />

geordnet ist. Dafür brauche ich<br />

keine Extra-Software: Die losen<br />

Überschriften, die Suchfunktion<br />

reichen mir.<br />

PHANTAST: Das Vorwort zu<br />

Maschinenkinder hat Myra Ҫakan<br />

geschrieben und erwähnt, dass<br />

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Du gern über Friedhöfe und<br />

durch verlassene Gemäuer<br />

streifst. Ist das ein Ausgleich für<br />

Dich zu den apokalyptischen<br />

Welten in Deinem Kopf? Oder<br />

dient es der Ideenfindung?<br />

Frank Hebben: Ha! Tatsächlich<br />

war ich letzte Woche noch auf<br />

dem Johannisfriedhof in Bielefeld,<br />

bewaffnet mit Kamera und<br />

Stativ, um die holden Grabstatuen<br />

zu fotografieren. Graues<br />

Wetter, leider. Wenn ich fotografiere,<br />

bin ich ‚ganz bei der Sache‘,<br />

ohne zu denken – anders beim<br />

Marsch durch den Teutoburger<br />

Wald: Da kommen die Ideen<br />

automatisch. Vielleicht auch zu<br />

viel Sauerstoff.<br />

PHANTAST: In Deinen Dark-<br />

Industrial- und Cyberpunk-<br />

Geschichten schickst Du zumeist<br />

gebrochene Figuren in verwüstete<br />

und menschenfeindliche Welten,<br />

in ein Abenteuer mit ungewissem,<br />

meist üblen Ende. Könntest<br />

Du trotzdem eine Welt nennen,<br />

in der Du gern mal einen<br />

Tag verbringen würdest? Oder<br />

eine Figur, in deren Haut (sofern<br />

vorhanden) Du mal schlüpfen<br />

würdest?<br />

Frank Hebben: Ich habe – als<br />

Kontrapunkt – den „Algorithmus<br />

des Meeres“ geschrieben:<br />

eine Dystopie, die, für mich, aber<br />

eine Utopie ist: eine Kommune<br />

aus schrägen Typen, die ein gemeinsames<br />

Schicksal teilen,<br />

künstlerisch oder handwerklich<br />

begabt sind, aufeinander achtgeben.<br />

Obwohl es kein fließendes<br />

Wasser gibt. Und alles verfällt.<br />

Da würde ich sehr gerne leben.<br />

Denke ich wohl.<br />

PHANTAST: Die Story<br />

„Schwarz-Weiß“ ist recht deutlich<br />

als Parabel zum Thema Rassismus<br />

erkennbar. Die Gründe<br />

für Rassismus sucht man ja oft in<br />

Emotionen wie Angst oder Neid.<br />

Nun hast du dieses Thema auf<br />

Roboter übertragen und bewusst<br />

darauf geachtet, ihnen keine<br />

Emotionen anzudichten. Sollte<br />

eine Message der Story sein, dass<br />

Rassismus einfach die Folge eines<br />

fehlerhaften Denkprozesses<br />

ist?<br />

Frank Hebben: Es gibt einen<br />

coolen Spruch hierzu: „Ich bin<br />

kein Rassist, ich hasse alle Menschen.“<br />

Das ist ehrlich. Warum?<br />

Weil es alle Menschen auf eine<br />

Linie setzt. Genauso könnte man<br />

sich bewusst machen, dass alle<br />

Menschen – oder eben Roboter<br />

als ihr Spiegelbild – körperlich<br />

und geistig soweit gleich sind,<br />

ohne jetzt die ehernen Menschenrechte<br />

daraus ableiten zu<br />

wollen – hier: „Die Abweichung<br />

lag an der hastig programmierten<br />

Konstruktionsmatrix, spielte<br />

aber für die Funktionalität der<br />

Roboter keine Rolle; ihr Innenleben,<br />

Lichtgehirn und Mechanik,<br />

war absolut identisch.“<br />

Somit, ja: Es ist ein fehlerhafter<br />

Denkprozess, der Gleiches verschieden<br />

macht. Oder, auch ein<br />

schönes Zitat: „Gesetzt den Fall,<br />

wir würden eines Morgens aufwachen<br />

und feststellen, dass<br />

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plötzlich alle Menschen die gleiche<br />

Hautfarbe und den gleichen<br />

Glauben haben, wir hätten garantiert<br />

bis Mittag neue Vorurteile.<br />

[Georg Christoph Lichtenberg]<br />

Darum geht es in<br />

„Schwarz-Weiß“. Um wissenschaftliche<br />

Scheinargumente, die<br />

zur Katastrophe führen.<br />

PHANTAST: In „Elysian“ geht<br />

es darum, dass in einer Reality-<br />

TV-Spielshow Kandidaten Körperteile<br />

als Pfand setzen und<br />

amputieren lassen, wenn sie verlieren.<br />

2004 war das Format Reality-TV<br />

noch vergleichsweise<br />

neu, es hat sich mit den Jahren in<br />

die unterschiedlichsten Richtungen<br />

entwickelt. Warst Du damals<br />

schon der Meinung, dass diese<br />

Art von Shows immer bizarrere<br />

Formen annehmen werden? Und<br />

wie beurteilst Du diese Shows<br />

heute?<br />

Frank Hebben: Da sind der<br />

Phantasie wohl keine Grenzen<br />

gesetzt: Running Man, Die Tribute<br />

von Panem oder eben auch „Elysian“:<br />

„[..] für Geld tut jeder alles!<br />

Das sollten Sie am besten<br />

wissen, Schäfer. Das erleben Sie<br />

gleich hautnah … Machen Sie<br />

mich stolz.“ Ich kann mir diese<br />

Shows nicht angucken. Da ist zu<br />

viel Fremdschämen mit im Spiel<br />

bei mir. Finde sie auch langweilig.<br />

Habe auch gar keine Glotze<br />

mehr. Und das ist gut so.<br />

PHANTAST: „Schwarzfall“ ist<br />

die neueste Geschichte und die<br />

einzige, die nur in der Anthologie<br />

Maschinenkinder veröffentlicht<br />

wurde. Das Setting erinnert an<br />

Steampunk. Der Handlungszeitraum<br />

könnte das frühe 20. Jahrhundert<br />

sein, und in der Story<br />

wird die Tesla-Spule (zwar kein<br />

Dampf, aber trotzdem auch ein<br />

beliebtes Steampunk-Element)<br />

zum fast gottgleichen Fortschrittsmotor<br />

erhoben. Hast du<br />

Dich ein wenig vom Steampunk-<br />

Hype mitreißen lassen und diese<br />

literarische Richtung öfter eingeschlagen?<br />

Frank Hebben: Ein Wort: Teslapunk!<br />

Wobei alles mit *.punk<br />

cool klingt. Arbeite noch an einer<br />

Kartoffelpunk-Anthologie; es<br />

geht um Kartoffeln. Und nein,<br />

ich habe das Thema Steampunk<br />

für mich in der Geschichte „Kinder<br />

der großen Maschine“ bereits<br />

abgehandelt: eine Tour de Force<br />

durch die industrielle Revolution,<br />

mit Maschinenengeln, Zahnrädern,<br />

Webstühlen und Schafen.<br />

Ich liebe sie. Aber so richtig<br />

steampunkig ist die auch nicht.<br />

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PHANTAST: Wir treffen in der<br />

Anthologie Maschinenkinder auf<br />

einige Mensch-Roboter-Hybride.<br />

Oder auf Menschen, die jegliche<br />

Menschlichkeit eingebüßt haben,<br />

beziehungsweise auf Maschinen,<br />

die menschlich erscheinen. Die<br />

Beschaffenheit der ‚Künstlichen<br />

Intelligenz‘ ist immer wieder<br />

Thema in Deinen Geschichten.<br />

Hältst Du es für möglich, dass<br />

KI-Systeme irgendwann eine Art<br />

emotionale Intelligenz haben,<br />

wie zum Beispiel der Automat in<br />

„Brause“?<br />

Frank Hebben: Haben wir doch<br />

schon: Siri! Also fast. Das liegt<br />

wohl daran, dass wir Menschlein<br />

alles empathisch aufladen müssen.<br />

Es gibt eine Doku: „Marsroboter<br />

– Totgesagte leben länger“;<br />

oder der US-Soldat, der geheult<br />

hat, weil seine Drohne abgestürzt<br />

ist.<br />

Das Problem beginnt, wenn<br />

Computer diese Schwachstelle,<br />

diesen menschlichen Exploit<br />

ausnutzen, um uns zu hacken:<br />

Ich bin süß; hab mich lieb!<br />

PHANTAST: Virtuelle Realitäten<br />

ziehen sich durch viele Deiner<br />

Geschichten, in Maschinenkinder<br />

beispielsweise in „Das<br />

Lichtwerk“ und „Machina“. Die<br />

Handlung in „Machina“ kann<br />

man fast schon auf unseren Alltag<br />

übertragen, denn wir sind<br />

inzwischen den ganzen Tag, in<br />

fast jeder Lebenslage online. Sag,<br />

Frank, wie viel Realität außerhalb<br />

des VR brauchen wir eigentlich<br />

noch?<br />

Frank Hebben: Keine. Und jede.<br />

Dadurch, dass ich Computerspiele<br />

wie The Vanishing of Ethan<br />

Carter anschaue, ja: Im Let’s Play<br />

– ich lasse zocken! – habe ich ein<br />

schärferes Auge für unsere Wirklichkeit<br />

gewonnen; die Steine am<br />

Boden, die Zigarette, weggeworfen,<br />

ein Stoppschild. Oder auch:<br />

Das Leben ist doof, aber die Grafik<br />

ist geil!<br />

Diese kleinen Details machen die<br />

Welt so real. Pars pro toto. Nicht<br />

nur in Büchern oder Spielen –<br />

auch ganz in echt. Dass die festgefügte<br />

Realität vielleicht gar<br />

nicht existieren muss, wissen wir<br />

von Philip K. Dick; und während<br />

die Wissenschaftler sich über zigdimensionale<br />

Hologramm-<br />

Universen zanken, schaue ich<br />

mir lieber die nächste Spiele-<br />

Folge auf YouTube an, gerne<br />

auch bei Gronkh.<br />

PHANTAST: Erinnerungen als<br />

gespeicherte Daten, abrufbar<br />

auch nach der Apokalypse, das<br />

ist ein Thema in „Côte Noir“.<br />

Auch das ist nicht mehr so weit<br />

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hergeholt, denn wir vertrauen<br />

heute Tagebucheintragungen,<br />

Bilder, Videos, einfach alles, was<br />

unser Leben dokumentiert, dem<br />

Computer und dem Internet an.<br />

Was wird Deiner Meinung nach<br />

aus unserer Zeit in 500 Jahren<br />

noch erhalten sein? Alles oder<br />

viel weniger als aus der Vergangenheit,<br />

in der wichtige Daten<br />

und Ereignisse auf Schriftstücken<br />

festgehalten wurden, die zum<br />

Teil Jahrhunderte überdauert<br />

haben?<br />

Frank Hebben: Da könnte man<br />

jetzt trennen zwischen Wissenschaft<br />

– und Kunst, Letztere gerade:<br />

Bilder, Bücher, Filme, Musik,<br />

alles in seltsamer Dauerschleife,<br />

oszillierend zwischen<br />

den alten Epochen, ohne etwas<br />

wirklich Neues zu schaffen;<br />

schlimmstenfalls: Leuchtreklame<br />

mit sinnreichen Sprüchen für<br />

3000 Euro aufwärts – *schauder*.<br />

Hauptsache verkaufen! Achtzigerjahre,<br />

Neunzigerjahre, dann<br />

wieder die Sechziger. Und wieder<br />

von vorne. Wobei ich nicht<br />

so laut rumkrakeelen sollte, weil<br />

ich mit meinen Cyberpunk-<br />

Storys auch irgendwie knietief in<br />

den Achtzigern festhänge. Egal.<br />

Dieser ganze Plunder darf gerne<br />

unter einer meterdicken Schicht<br />

aus radioaktivem Wüstensand<br />

begraben liegen – das braucht<br />

kein Mensch! Und auch kein Affe<br />

mit Knochenkeule.<br />

Wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

werden, so hoffe ich, erhalten<br />

bleiben, vielleicht auf einem<br />

staubigen USB-Stick oder in einer<br />

uralten Datenbank, während<br />

die Zombies an den Scheiben<br />

kratzen. Und, so hoffe ich, auch<br />

ein vages Gefühl von Religion;<br />

dass man eben mehr ist als die<br />

Summe seiner Teile: das Staunen,<br />

die Sterne, der Kosmos. Gott.<br />

PHANTAST: Wir haben 2008<br />

auch über Deine Weltsicht gesprochen,<br />

und Du meintest, dass<br />

einem bei der Betrachtung der<br />

Menschheitsgeschichte sterbenselend<br />

zumute wird. Wenn Du<br />

heute in die Zeitung oder die<br />

Nachrichten schaust, wovon<br />

wird Dir schlecht? Und wie wird<br />

dies in Deine zukünftigen Geschichten<br />

einfließen?<br />

Frank Hebben: Ich bin Misanthrop;<br />

Pessimist. Ich glaube – und<br />

nein, ich kann es nicht beweisen<br />

– dass Menschen letztlich für<br />

ihren eigenen Vorteil handeln.<br />

Immer. Bei reinem Altruismus,<br />

bei Nächstenliebe bin ich also<br />

extrem skeptisch. Aber jeder, wie<br />

er will.<br />

PHANTAST: Eine Moral<br />

schimmert zwischen den Zeilen<br />

Deiner Geschichten stets hervor,<br />

doch oft auch eine politische<br />

Message. Wie der Aufruf zum<br />

Widerstand gegen die Tyrannei<br />

eines unmenschlichen, totalitären<br />

Systems, zum Beispiel in „Outage“<br />

oder auch „Krematorium“.<br />

Wie politisch darf oder sollte<br />

Cyberpunk aus Deiner Sicht<br />

sein?<br />

Frank Hebben: So politisch wie<br />

möglich! Ich habe heute die letzte<br />

Folge vom Mr. Robot gesehen:<br />

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Das ist es! Little Brother ist es,<br />

und The Circle ist es – George<br />

Orwell würde sich im Grab umdrehen!<br />

Und er tut es sicher<br />

auch.<br />

PHANTAST: Cyberpunk-<br />

Geschichten sind naturgemäß<br />

mit einer Fülle futuristischer<br />

Technik durchsetzt: Maschinenmenschen,<br />

KIs, virtuelle Welten,<br />

Maschinenwelten. Jetzt mal ganz<br />

ehrlich, wie viel Prozent Nerd<br />

muss man sein, um Deine Geschichten<br />

zu verstehen? Und wie<br />

viel Prozent Nerd, sie zu schreiben?<br />

Frank Hebben: Ich bin weder<br />

Nerd noch Geek – und finde diese<br />

Begriffe mittlerweile recht<br />

albern, weil wir doch alle – zwei,<br />

drei Generationen – mit Computern<br />

aufgewachsen sind. Hipsterbrille<br />

auf, langer Bart? Oder<br />

ganz neu: geflochtene Haare bei<br />

Männern. ARGH! Hauptsache<br />

schlau aussehen. Oder schräg.<br />

Und im Hirnkasten flimmern<br />

dann doch die Logos von irgendwelchen<br />

Markenprodukten<br />

und die neue Soap auf RTL2 –<br />

„In leeren Höhlen haust das<br />

Grauen“ ist ein beliebter Spruch<br />

von meinem Vater.<br />

So sieht es dann wohl also aus<br />

bei dieser Generation Nerd: coole<br />

Haltung, keine Ahnung! Ich habe<br />

letzten Monat die 40 geknackt,<br />

ich darf über alles ablästern, was<br />

nach mir so kommen mag …<br />

Helfen Sie mir bitte über die<br />

Straße.<br />

In meinen Geschichten kommen<br />

die gängigen Cyberpunk-<br />

Themen vor, von VR-Helmen,<br />

Hackern und Graffiti runter bis<br />

zur Neonröhre – wobei Niklas<br />

Peinecke jetzt und hier aus dem<br />

Off rufen würde: „Das ist ‘ne<br />

Leuchtstoffröhre, Alter!“<br />

Also: schön retro alles. Gab es in<br />

den Achtzigern, gibt es auch bei<br />

mir. Da braucht man kein großes<br />

Vorwissen für. Kam sicher auch<br />

letztens noch in einem Hollywood-Blockbuster<br />

vor. Mir geht<br />

es mehr darum, diese Versatzstücke<br />

zu nehmen und daraus<br />

etwas ganz Neues zu schaffen:<br />

eine interessante Variation, die<br />

trotzdem anders ist. Und hoffentlich<br />

schön düster!<br />

PHANTAST: Deine Geschichten<br />

enden fast immer im Chaos, im<br />

Tod, in der Zerstörung. Hattest<br />

Du je das Bedürfnis, mal eine<br />

Geschichte zu schreiben, in der<br />

die Welt gerettet wird? Oder gibt<br />

es eine solche?<br />

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Frank Hebben: Im „Algorithmus“<br />

wird die Welt gerettet.<br />

Happy End. Gott sei Dank! Gut,<br />

auch nicht so wirklich.<br />

PHANTAST: Welche Bücher/Anthologien<br />

sind von Dir<br />

in letzter Zeit auf den Markt gekommen<br />

beziehungsweise kommen<br />

in nächster Zeit?<br />

Frank Hebben: Von mir nicht<br />

sehr viel. Wie gesagt: Ich komponiere<br />

meine Texte, und das<br />

dauert seine Zeit. Hier die aktuelle<br />

Liste:<br />

Prothesengötter (SF-Storys) (2008)<br />

Maschinenkinder (SF-Storys)<br />

(2012)<br />

Das Lied der Grammophonbäume<br />

(Storys, Phantastik) (2013)<br />

Oubliette (Gedichte) (2014)<br />

Der Algorithmus des Meeres (Erzählung)<br />

(2015)<br />

Nächstes Jahr kommt GAMER<br />

bei Begedia heraus, eine SF-<br />

Anthologie, bei der ich – als Mit-<br />

Herausgeber – wie gewohnt die<br />

Grafikredaktion übernommen<br />

habe. Darin ist auch eine Geschichte<br />

von mir enthalten. Es<br />

geht um Computerspiele, auch<br />

viel Retro mit dabei, und: Sie<br />

wird geil! Bitte einmal vormerken.<br />

Danke.<br />

Und vielen Dank für deine Fragen.<br />

PHANTAST: Ich danke für Deine<br />

konkreten Antworten. Es war<br />

mir wieder einmal ein Vergnügen.<br />

Autorenhomepage:<br />

www.schwarzfall.de<br />

Frank Hebben, 1975 in Neuss geboren. Neuromancer, Werbetexter; Technischer<br />

Redakteur (tekom) und Magister der Germanistik/Philosophie. Hat<br />

jahrelang in Düsseldorf zwischen Kunst und Chaos gehaust, lebt nun friedlich<br />

und frei in Bielefeld.<br />

Veröffentlichungen in der c’t, in NOVA, EXODUS, Space View, phantastisch!,<br />

ALIEN CONTACT und diversen Anthologien. Seine erste Story-Sammlung<br />

Prothesengötter ist 2008 bei Wurdack erschienen. Band 2, die Maschinenkinder,<br />

2012 im Shayol-Verlag. Seitdem auch für Begedia aktiv, sowohl als<br />

Herausgeber – Fieberglasträume. Tiefraumphasen – aber auch schriftstellerisch<br />

mit Das Lied der Grammophonbäume und Oubliette, zwei neuen Büchern,<br />

die mehr schwarzromantisch sind als elektrische Ekstase. Im September<br />

2015 dann meine erste, längere Erzählung: „Der Algorithmus des<br />

Meeres“.<br />

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Maschinenkinder<br />

Eine Rezension von Eva Bergschneider<br />

Autor: Frank Hebben<br />

Verlag: Shayol Verlag (2009)<br />

Genre: Science Fiction / Cyberpunk<br />

/ Kurzgeschichten<br />

Taschenbuch<br />

220 Seiten, 16,90 EUR<br />

ISBN: 978-3943279078<br />

Frank Hebben schreibt überwiegend<br />

Dark Industrial und Cyberpunk,<br />

gelegentlich auch<br />

Steampunk und Science-Fiction-<br />

Kurzgeschichten, die überwiegend<br />

in Magazinen wie c’t, NO-<br />

VA, Exodus, Space View und phantastisch!<br />

veröffentlicht werden.<br />

Verschiedene Anthologien bereicherte<br />

Frank Hebben mit seinen<br />

Storys oder fungierte als deren<br />

Herausgeber.<br />

Im Jahr 2008 veröffentlichte der<br />

Wurdack-Verlag seine erste eigene<br />

Story-Sammlung Prothesengötter,<br />

die in der Science-Fictionund<br />

Cyberpunk-Szene gefeiert<br />

wurde. So erhielten die Beiträge<br />

„Imperium Germanicum“, „Das<br />

Fest des Hammers ist der<br />

Schlag“ und „Memories“ Nominierungen<br />

für den Deutschen<br />

Science-Fiction Preis beziehungsweise<br />

den Deutschen<br />

Phantastik Preis.<br />

„Cȏte Noir“ ist eine Story aus<br />

Frank Hebbens hier besprochenem<br />

zweiten Kurzgeschichten-<br />

Band Maschinenkinder, der 2012<br />

vom Shayol-Verlag veröffentlicht<br />

wurde. Die Story wurde 2009<br />

gleichzeitig für den Kurd Laßwitz<br />

Preis, den Deutschen Science-Fiction<br />

Preis und den Deutschen<br />

Phantastik Preis nominiert.<br />

Inzwischen publizierte der<br />

Begedia-Verlag zwei weitere<br />

Anthologien des Autors, 2013<br />

Das Lied der Grammophonbäume<br />

und im September 2015 Der Algorithmus<br />

des Meeres.<br />

Maschinenkinder beschreibt, wie<br />

der Titel schon vermuten lässt,<br />

Welten und Lebensräume, in<br />

denen der Mensch mehr oder<br />

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weniger zur Maschine geworden<br />

ist beziehungsweise sich die Maschine<br />

nicht wesentlich vom<br />

Menschen unterscheidet. In diesem<br />

Spannungsfeld spielen sich<br />

düstere, verwirrende und zum<br />

Teil surreale Szenen ab, die mehr<br />

Fragen aufwerfen als beantworten.<br />

Wer nette, erheiternde und in<br />

sich abgeschlossene Geschichten<br />

bevorzugt, ist bei Frank Hebben<br />

definitiv an den falschen Autor<br />

geraten. Wer aber gern über den<br />

Tellerrand hinaus liest und sinniert,<br />

hinterfragt, Hypothesen<br />

verwirft und vielleicht erst auf<br />

den zweiten Blick versteht, dem<br />

sei die Lektüre des Autors schon<br />

an dieser Stelle wärmstens empfohlen.<br />

Auf was sich der Leser,<br />

der dieser Empfehlung folgt,<br />

einlässt, erfahrt ihr im Folgenden.<br />

In „Das Lichtwerk“ umgibt die<br />

Immernacht die jugendlichen<br />

Überlebenskünstler Paul und<br />

Lisa und den Veteranen Rhombus.<br />

Ihr Lebensraum befindet<br />

sich unter einer verdreckten,<br />

dunklen Glaskuppel. Tagsüber<br />

durchsucht Paul die Reste der<br />

Hafenstadt nach allem, was<br />

Rhombus für den Bau eines<br />

Lichtwerks gebrauchen kann.<br />

Denn des Nachts dringen Gefahren<br />

aus einer anderen Welt in die<br />

Immernacht, derer sie sich erwehren<br />

müssen. Doch wie konnte<br />

es so weit kommen?<br />

„Lichtwerk“ ist zunächst eine<br />

bodenständige postapokalyptische<br />

Cyberpunk-Story. Wir folgen<br />

den Protagonisten durch die<br />

Gefahren ihres Alltags und erfahren<br />

von Rhombus, wie diese<br />

Welt zu dem wurde, was sie ist.<br />

Zum Ende prägen diese Geschichte<br />

zunehmend surreal anmutende<br />

Szenen und Bilder, die<br />

das vom Leser zusammengesetzte<br />

Weltbild in Frage stellen.<br />

Vor dem „Schwarzfall“ kommen<br />

mit den Teslaspulen die industrielle<br />

Revolution und der Wandel<br />

zu einer Gesellschaft der Prothesenmenschen.<br />

Alles, was der<br />

Dame oder dem Herrn an ihrem<br />

oder seinem Körper missfällt,<br />

wird durch Prothesen ersetzt.<br />

Doch dann fällt der Strom aus,<br />

und die Annehmlichkeiten der<br />

Technik bleiben den Menschen<br />

monatelang versagt.<br />

Die Story „Schwarzfall“ lehnt<br />

sich deutlich an das Steampunk-<br />

Genre an, das sich gern der Tesla-Energie<br />

bedient und häufig im<br />

deutschen Kaiserreich spielt.<br />

Mittlerweile verwendet man allerdings<br />

auch den Begriff Tesla-<br />

Punk für Geschichten, die sich<br />

dieser Theorie bedienen. Frank<br />

Hebben zeichnet den Verfall einer<br />

von Technik abhängigen Gesellschaft.<br />

Und erzählt mit sarkastischem<br />

Unterton, was passiert,<br />

als scheinbar Rettung naht.<br />

Der junge Maurice lebt in seiner<br />

virtuellen Computerwelt „Machina“.<br />

Hier kann er kreativ sein,<br />

ist einfach er selbst. Seine<br />

Schwester Sophie zwingt ihn<br />

regelmäßig, in die reale Welt<br />

zurückzukehren. Bis eines Tages<br />

ein Unglück geschieht.<br />

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„Machina“ ist eine der emotionalsten<br />

Geschichten, denn der<br />

Leser kann die Wut und die<br />

Sehnsucht beider Charaktere<br />

nachempfinden. Ihr turning point<br />

verändert die Atmosphäre jedoch<br />

in unerwarteter Weise.<br />

Obwohl „Machina“ in der Form<br />

der Kurzgeschichte das genaue<br />

Gegenteil zu Tad Williams' opulenter<br />

Tetralogie zu sein scheint,<br />

erinnert sie an Orlandos Geschichte<br />

aus Otherland. „Machina“<br />

vermittelt eine ähnliche Gefühlsmischung<br />

aus Verträumtheit<br />

und Trauer.<br />

In „Elysian“ ist Cyrill Schäfer<br />

Quizmaster einer TV-Show, in<br />

der Kandidaten, die Geld brauchen,<br />

ihre Körperteile verwetten,<br />

um zu gewinnen. Wer eine Wettrunde<br />

verliert wird live amputiert.<br />

Ein Zwischenfall stört den<br />

üblichen Ablauf der Show empfindlich.<br />

„Elysian“ mag ein wenig an den<br />

Plot aus Die Tribute von Panem<br />

erinnern, entstand allerdings<br />

Jahre vor dem Bestseller von<br />

Suzanne Collins. Vielmehr stellt<br />

„Elysian“ einen satirischen Gegenentwurf<br />

zu einer Dystopie<br />

dar.<br />

Im Erscheinungsjahr 2004 ging in<br />

Deutschland gerade Big Brother<br />

in die fünfte Staffel, die Lebensbereiche<br />

„Arme“, „Normale“<br />

und „Reiche“ wurden für die<br />

Kandidaten eingerichtet. Heute<br />

sehen wir finanziell angeschlagenen<br />

Möchtegern-Promis beim<br />

Verzehr von Käfern zu. Es stellt<br />

sich damals wie heute die Frage,<br />

wie weit unsere TV-Landschaft<br />

noch von dem in „Elysian“ beschriebenen<br />

menschenverachtenden<br />

Szenario entfernt ist.<br />

In „Byte the Vampire“ lockt das<br />

Mädchen Popcorn Junkies an,<br />

die im Kopf I/O-Buchsen für den<br />

Eintritt in virtuelle Welten implantiert<br />

haben. Ihr Boss Raven<br />

missbraucht sie für einen speziellen,<br />

grausamen Trip.<br />

„Byte the Vampire“ ist die vielleicht<br />

typischste Cyberpunk-<br />

Story in der Anthologie Maschinenkinder.<br />

Bilder aus virtuellen<br />

Spielewelten treffen auf Drogenphantasien<br />

und in Neonlicht<br />

getauchte Asphaltwüsten. Lässigkeit<br />

zeichnet die Sprache aus.<br />

Trotz des düsteren Ambientes<br />

und Themas könnte es sich auch<br />

um eine flippige Coming-of-Age-<br />

Geschichte handeln.<br />

Der Atomkrieg hat ein Paradies<br />

zerstört, die Cȏte Azur hat sich<br />

in die „Cȏte Noir“ verwandelt.<br />

Migränegeplagt und mit rudimentärer<br />

Erinnerung rast Gabriel<br />

auf seinem Motorrad die Küstenstraßen<br />

Südfrankreichs entlang.<br />

Irgendwo in einem Labor oder<br />

auf einem Militärgelände befinden<br />

sich Datenträger mit seinen<br />

Erinnerungen und dem Schlüssel<br />

zu der Katastrophe.<br />

„Cȏte Noir“ spielt in einem typischen<br />

postapokalyptischen Setting,<br />

garniert mit ein wenig obskurer<br />

Religion und KI-<br />

Biotechnologie. Das Rätsel, wer<br />

Gabriel ist und wie es zu der<br />

Apokalypse kam, steht im Mittelpunkt.<br />

Die vergleichsweise<br />

lange Geschichte (36 Seiten) lockt<br />

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den Leser auf einige falsche<br />

Fährten, bevor sie auf das ernüchternde<br />

Finale zusteuert. Auf<br />

eine Ende, das zwar nicht vollkommen<br />

überrascht, aber trotzdem<br />

erschüttert.<br />

In „Schwarz-Weiß“ fertigen Fabriken<br />

auf einem Mond Roboter,<br />

die wiederum Kampfschiffe erbauen.<br />

Eine der Roboterfabriken<br />

produziert schwarze Roboter mit<br />

einem weißen Arm, eine andere<br />

weiße Roboter mit einem<br />

schwarzen Arm. Für die Funktionalität<br />

und Leistung des Roboters<br />

spielt die uneinheitliche<br />

Farbgebung keine Rolle.<br />

„Schwarz-Weiß“ ist eine eindrucksvolle<br />

Parabel zum Thema<br />

Rassismus. Sie beschreibt Ereignisketten<br />

und Konsequenzen, die<br />

den Leser überraschen, obwohl<br />

oder gerade weil sie vollkommen<br />

naheliegend und schlüssig sind.<br />

Eine einfach gehaltene, lineare<br />

Sprache unterstreicht die Unausweichlichkeit<br />

der Entwicklung.<br />

In „Outage“ ist für Singh, Bewohner<br />

einer Zukunftsstadt im<br />

Ruhrgebiet, der entscheidende<br />

Tag gekommen: „Ich sehe aus, wie<br />

ein verdammter Messias-Abklatsch.<br />

[...] Aber glaubt mir, ich bringe<br />

Euch nicht den Frieden.“ [S. 188]<br />

Setzt der Junkie die Revolution<br />

gegen ein System in Gang, das<br />

jeden Lebensbereich seiner Bürger<br />

kontrolliert?<br />

Ähnlich wie in „Byte the Vampire“<br />

spielt „Outage“ im Betondschungel<br />

einer typischen Cyberpunk-Metropole.<br />

Allgegenwärtig<br />

sind TV-Bildschirme, auf denen<br />

rund um die Uhr „Breaking<br />

News“ gesendet werden. Von<br />

einem Moment zum anderen<br />

fällt der Strom aus. Was sich tatsächlich<br />

im Dunkeln abspielt,<br />

wird erst ganz am Ende klar.<br />

Diese Geschichte haben drei Autoren<br />

geschrieben, neben Frank<br />

Hebben Thorsten Küper und<br />

Uwe Post. Das merkt man der<br />

Schreibe nicht an, denn die<br />

Handlung in „Outage“ wird von<br />

vier Ich-Erzählern geschildert,<br />

deren Rollen sicherlich auf die<br />

Autoren verteilt wurden.<br />

Die Verschiedenartigkeit der<br />

abwechselnd auftretenden Protagonisten<br />

wird schnell offensichtlich,<br />

ihre Motive bleiben<br />

zunächst rätselhaft. Bis zum<br />

spektakulären Showdown.<br />

Ein Wesensmerkmal der Literaturgattung<br />

Kurzgeschichte – die<br />

Schnelllebigkeit – steht in vielen<br />

von Frank Hebbens Geschichten<br />

in Maschinenkinder im Vordergrund.<br />

Man erfährt kaum etwas<br />

über die Vorgeschichte der Protagonisten.<br />

Oder darüber, wie<br />

ihre Lebenswelten, ob alternativ,<br />

virtuell oder im Weltraum, zu<br />

dem wurden, was sie sind.<br />

Es ist oft nur ein kurzer Blick,<br />

den der Leser auf die Szenerie<br />

wirft, doch der ist dafür umso<br />

intensiver. Ob in grellen Farben<br />

schillernd oder in dunkelste Tristesse<br />

getaucht, die Schauplätze,<br />

Handlungen und Emotionen<br />

erzeugen nachhaltige Bilder im<br />

Kopf des Lesers. Die Detailgenauigkeit<br />

der Beschreibungen<br />

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geht oft über das hinaus, was<br />

man als „angenehm lesbar“ bezeichnen<br />

möchte. Doch genau<br />

das verleiht diesen Storys ihren<br />

Kick, einen Tiefgang, den viele<br />

weitaus umfassendere Werke oft<br />

vermissen lassen.<br />

Ein häufiges Motiv der Geschichten<br />

ist die Einsamkeit der Protagonisten<br />

– Mensch, Maschine<br />

oder beides – in der technisierten<br />

Welt.<br />

Die Menschen sind ihrer<br />

Menschlichkeit beraubt, während<br />

die Maschinen Freude,<br />

Trauer, Verzweiflung und Wut<br />

empfinden, gar ein Gewissen<br />

haben. Sie kämpfen einen verzweifelten<br />

Kampf, den sie nicht<br />

gewinnen können. Sie begeben<br />

sich auf eine Queste, die allenfalls<br />

zu einer Verschnaufpause<br />

im Zerfallsprozess oder direkt<br />

ins Verderben führt. Ein unmittelbares<br />

oder zumindest langfristiges<br />

Systemversagen ist oft die<br />

Folge ihrer Aktionen, geschieht<br />

manchmal aber auch ohne jegliches<br />

Zutun.<br />

So vielfältig und ideenreich wie<br />

ihre Schauplätze und Figuren ist<br />

auch die Sprache, mit der die<br />

Geschichten erzählt werden. Von<br />

lakonisch-rudimentär über sarkastisch<br />

oder trashig bis hin zu<br />

überschwänglich bildhaft –<br />

Frank Hebben hat ein feines Gespür<br />

dafür, welche Stilelemente<br />

am wirkungsvollsten die Atmosphäre<br />

unterstreichen und prägen.<br />

Und so sind diese Kurzgeschichten<br />

in der Anthologie Maschinenkinder,<br />

genauso wie die der Prothesengötter,<br />

ungemein faszinierende<br />

Ausflüge in schrecklichschöne,<br />

düstere Cyberpunk-<br />

Welten und die Erlebnisse ihrer<br />

Bewohner. Wir begegnen Robotern<br />

und Maschinen mit Identifikationspotential<br />

und fast zur<br />

Unkenntlichkeit verfremdeten<br />

Menschen, die ihre Welt verändern<br />

– oder einfach nur Momentaufnahmen<br />

mit uns teilen.<br />

Sie alle haben etwas zu sagen,<br />

drängen uns ihre Botschaft jedoch<br />

nicht auf. Diese herauszufinden<br />

ist das Spannendste an<br />

den Geschichten der Maschinenkinder.<br />

Inhaltsübersicht:<br />

Seite 9: Vorwort<br />

Seit 11: Das Lichtwerk<br />

Seite 44: Schwarzfall<br />

Seite 55: Machina<br />

Seite 66: Elysian<br />

Seite 78: Krematorium<br />

Seize 89: Kinder der großen<br />

Maschine<br />

Seite 108: Byte the Vampire<br />

Seite 117: Highscore<br />

Seite 119: Cyst<br />

Seite 125: Cȏte Noir<br />

Seite 161: Muschelplanet<br />

Seite 165: Schwarz-Weiß<br />

Seite 180: Brause<br />

Seite 216: Outage<br />

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Ein Blick hinter die Kulissen von Fieberglasträume<br />

Ein Bericht von André Skora<br />

Fieberglasträume (FGT) ist eine<br />

erstmals im März 2013 auf der<br />

DortCon vorgestellte, im Begedia<br />

Verlag erschienene Cyberpunk-<br />

Anthologie, die fünfzehn Kurzgeschichten<br />

zwischen ihren Deckeln<br />

vereint und bei der jede<br />

Story mit einer entsprechenden<br />

Storygrafik versehen wurde. Wie<br />

es zu diesem Projekt kam und<br />

wie sich der Weg bis zur Veröffentlichung<br />

darstellte, soll an<br />

dieser Stelle näher beschrieben<br />

werden.<br />

Neuromancer-Trilogie (Sprawl-<br />

Trilogie) von William Gibson<br />

gab. Auf Nachfrage kam auch<br />

nur ein Schulterzucken, und somit<br />

war der angedachte Kauf<br />

schnell erledigt.<br />

Abends in gemütlicher Runde<br />

kamen wir auf die Thematik zu<br />

sprechen, und ich, naja, frei nach<br />

Schnauze, meinte: „Das kann<br />

doch nicht so schwierig sein,<br />

neuen Cyberpunk auf den Markt<br />

zu bringen ...“<br />

Ein paar Stunden später – mittlerweile<br />

war es Sonntag – machte<br />

ich mich dann frisch ans Werk.<br />

So wurde schnell ein kleines<br />

Konzept (Stichpunkte) zusammengetragen<br />

und gut war es.<br />

Das Team und der Verlag<br />

Die Idee<br />

Anfang März 2012 stand ich in<br />

Duisburg in einer Buchhandlung<br />

vor dem Science-Fiction-Regal<br />

und wollte mir cyberpunkigen<br />

Lesestoff zulegen. Leider musste<br />

ich feststellen, dass es nur die<br />

Voller Tatendrang und mit viel<br />

Selbstbewusstsein setzte ich mich<br />

also an mein Mailprogramm und<br />

versuchte einige mir bekannte<br />

Autoren, in diesem Falle Leute,<br />

die ich über viele Jahre durchs<br />

Pen-&-Paper-Rollenspiel und<br />

Convention-Besuche her kannte,<br />

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anzuschreiben. Ja, eine Neigung<br />

zu Shadowrun ist nicht abzustreiten,<br />

da ich seit ungefähr 1992 die<br />

weltweiten Schatten sicherer<br />

mache und den einen oder anderen<br />

Megakonzern schon in den<br />

Hinterhof * PIEP * …<br />

Schnell kamen damals die ersten<br />

Zusagen zurück, sodass ich anfing,<br />

auf Verlagssuche zu gehen.<br />

Zwar waren mir einige Großverlage<br />

und der ein oder andere<br />

RPG-Verlag ein Begriff. Schnell<br />

war aber klar, dass der Versuch<br />

bei einem großen Verlag unterzukommen,<br />

zum Scheitern verurteilt<br />

wäre; also ab ans Buchregal,<br />

mal die Verlage checken.<br />

Anschließend galt es noch eine<br />

Suchmaschine zu befragen.<br />

So fand ich schnell einen Verlag,<br />

welchen ich umgehend anschrieb.<br />

Zu meiner Verwunderung<br />

bekam ich sehr schnell eine<br />

Antwort und, nein, es war keine<br />

automatisch erstellte, sondern<br />

von einem realen Menschen aus<br />

Fleisch und Blut.<br />

Der Verlagsleiter bedankte sich,<br />

musste aber ablehnen, da Anthologien<br />

nicht mehr bei ihm erscheinen<br />

würden. Allerdings gab<br />

er mir den Tipp, dass ich es mal<br />

bei Harald Giersche und seinem<br />

Begedia Verlag probieren solle.<br />

Also schrieb ich Harald kurzerhand<br />

an und hatte nach ein paar<br />

Mails die Zusage, dass das Projekt<br />

wahnsinnig genug sei, um<br />

eine Chance zu bekommen.<br />

Als dies geklärt war, steckten der<br />

Verlag und ich ein wenig die<br />

Terrains ab und stellten fest, dass<br />

noch Autoren an Bord mussten.<br />

So stellte der Verlag den Kontakt<br />

zu Frank Hebben her.<br />

Frank zeigte direkt, dass wir Fieberglasträume<br />

auf einen höheren<br />

Level holen könnten; so beschlossen<br />

wir, uns die Herausgeberschaft<br />

zu teilen. Durch seine<br />

Zeit beim NOVA-Magazin konnte<br />

Frank noch seine Beziehungen<br />

zu einigen Illustratoren mit einbringen.<br />

Da man Beziehungen<br />

nicht nur pflegen, sondern auch<br />

nutzen sollte, beschlossen wir<br />

genau dies zu tun, denn schließlich<br />

lebt Cyberpunk auch viel<br />

vom visuellen Effekt. Ich für<br />

meinen Teil kümmerte mich<br />

dann weiterhin um die Autoren<br />

und sonstige benötigte Leute.<br />

Die Autoren<br />

Wie bereits erwähnt, gestaltete<br />

sich die Autorensuche einfach.<br />

Am Anfang konnten wir auf ein<br />

starkes Feld aus der Rollenspiel-<br />

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szene zurückgreifen. Um aber<br />

auch ein paar andere Aspekte<br />

berücksichtigt zu bekommen,<br />

klopften Frank und ich noch einige<br />

Autoren ab. So erhielten wir<br />

schlussendlich ein gutes Team.<br />

Hier gingen wir, im Nachhinein<br />

betrachtet, auch cyberpunkig<br />

vor, denn die Autoren erhielten<br />

das Konzept, wir dagegen die<br />

Zusage, und so ging es ans Werk<br />

– kein Storykonzept, kaum Hinweise,<br />

einfach freie Entfaltung!<br />

Da Freiheit herrschte, konnten<br />

sich tolle Ansätze entwickeln.<br />

Als Beispiel seien hier die Duo-<br />

Story von Frank Hebben und<br />

Christian Günther erwähnt, welche<br />

sich, durch die entgegengesetzte<br />

Sichtweise, erst richtig<br />

entfalten kann. Ein weiteres Beispiel<br />

ist die Verwendung von<br />

Technik, wie sie Thorsten Küper<br />

vorausschauend verwendete.<br />

Wie geschrieben, das sind Beispiele,<br />

denn ich kann heute noch,<br />

ohne Ausnahme, die Storys empfehlen<br />

und habe die ein oder<br />

andere Idee schon am Rollenspieltisch<br />

genutzt.<br />

Schlussendlich haben wir ein<br />

buntes Autorenteam, sowohl<br />

„alte Hasen“ als auch „Neulinge“,<br />

zwischen die Deckel bekommen,<br />

und das macht u. a.<br />

den Reiz an FGT aus.<br />

„Meinung sagen“ beschränkt,<br />

wobei: Einen der „Stifte“ konnte<br />

ich überzeugen ...<br />

Das Netz und seine Nutzung<br />

Ja, das weltweite Netz hat uns<br />

bei der Entstehung von FGT geholfen.<br />

Nicht nur, dass man einiges<br />

zu den Storys recherchieren<br />

konnte, nein, wir haben auch die<br />

ein oder andere Umfrage, wie<br />

zum Beispiel für die Covergestaltung,<br />

gestartet. Weiterhin wurde<br />

am Klappentext auch ein wenig<br />

durch die Crowd gebastelt.<br />

Aber die größte Hilfe, die das<br />

Netz parat hält, ist die Möglichkeit<br />

der schnellen Kommunikation.<br />

Diese wurde zwischen allen<br />

Beteiligten auch ausgiebig genutzt.<br />

Herausgeber schreiben viel ...<br />

Zu den Illustratoren<br />

Diese wurden durch Frank Hebben<br />

betreut, und so war meine<br />

Aufgabe in diesem Fall auf<br />

Die Kommunikation zwischen<br />

uns Herausgebern lief meist über<br />

Messenger ab. Wenn man die<br />

Texte die wir dort geschrieben<br />

haben, zusammentrüge und als<br />

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Buch veröffentlichte, könnten<br />

wir damit ohne Übertreibung an<br />

die 700 Buchseiten füllen.<br />

Daran kann man schon ablesen,<br />

dass es viel Diskussionsbedarf<br />

gab, aber wir sind immer zu einem<br />

Ergebnis gelangt, und das<br />

ging nur durch ein gewisses Maß<br />

an Kompromissbereitschaft.<br />

Du bist, wen Du kennst …<br />

So in etwa lautet ein altes Schatten-Sprichwort.<br />

Aber dies hat<br />

sich auch bei FGT bewiesen,<br />

denn es stand ja noch die Thematik<br />

von Lektorat und Korrektorat<br />

vor der Türe. Zum Glück konnten<br />

wir hier von dem einen oder<br />

anderen Kontakt – teils aus dem<br />

Team heraus, teils durch Teamkontakte<br />

– profitieren.<br />

Und diese Kontakte nutzten wir<br />

dann auch beim Vorwort,<br />

schließlich sollte das nicht irgendjemand<br />

tippen. Dank Peer<br />

Bieber konnten wir Rob Boyle,<br />

einen Shadowrunner allererster<br />

Stunde, gewinnen. Somit kam<br />

dann nochmals Teamnutzung ins<br />

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Spiel, denn Michael K. Iwoleit<br />

machte sich an die Übersetzung<br />

von Robs Text.<br />

Wie man sieht: Prüfe deine Mitwirkenden<br />

dreimal, denn sie<br />

verbergen Talente!<br />

Der Feinschliff<br />

Am Ende eines solchen Projektes<br />

steht natürlich der Feinschliff.<br />

Hier gab es lange Nächte und<br />

kurze Tage, weil wir Fieberglasträume<br />

pünktlich zur DortCon<br />

präsentieren wollten und somit<br />

einen Drucktermin einhalten<br />

mussten. Nun hieß es, die Storys<br />

zu setzen, die Grafiken einzufügen,<br />

das Vorwort entsprechend<br />

zu platzieren – und die Vitae<br />

mussten selbstverständlich auch<br />

mit rein. All das wurde dann hin<br />

und her geprüft, geändert und<br />

angepasst, bis wir zufrieden waren.<br />

Pünktlich und mit vielen neuen<br />

Erfahrungen konnten wir Fieberglasträume<br />

auf der DortCon 2013<br />

mit Live-Lesungen von Thorsten<br />

Küper und Niklas Peinecke präsentieren.<br />

Bei Interesse kann man<br />

sich dazu auf YouTube einiges<br />

ansehen.<br />

Der Werbetrailer<br />

Thorsten Küpers Lesung<br />

Niklas Peineckes Lesung<br />

Wenn ich so zurückblicke, muss<br />

ich mir selbst eingestehen, dass<br />

ich mich ein wenig wundere, wie<br />

wir das Projekt so gut gestemmt<br />

haben. Natürlich haben wir auch<br />

während der Umsetzung dazugelernt<br />

und haben dies bei unseren<br />

neuen Projekten mit einfließen<br />

lassen. So zum Beispiel bei<br />

Tiefraumphasen, einer Scifi-<br />

Anthologie.<br />

Allerdings möchte ich an dieser<br />

Stelle auch dazu aufrufen, wenn<br />

jemand eine gute Idee mit sich<br />

herumschleppt, sich ans Werk zu<br />

machen; es gibt genügend Verlage,<br />

die nur auf geniale Ideen<br />

warten und die sich nicht scheuen,<br />

etwas auf die Beine zu stellen.<br />

Mit einer guten Idee, einiger<br />

Überzeugungskraft und natürlich<br />

dem richtigem Feuer wird<br />

das dann auch was!<br />

Ansonsten bleibt mir noch zu<br />

sagen: Auch an dieser Stelle einen<br />

Dank ans ganze FGT-Team,<br />

ohne Euch wäre das damals<br />

nicht machbar gewesen.<br />

Und natürlich: LEST MEHR CY-<br />

BERPUNK!<br />

Bildquellen:<br />

Seite 67: Santana Raus<br />

Seite 68: Volker Konrad<br />

Seite 69: Jessica May Dean<br />

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A Song Called Youth<br />

Eine Rezension von Almut Oetjen<br />

Autor: John Shirley<br />

Verlag: Prime Books (2012)<br />

Genre: Cyberpunk / Dystopie<br />

Gebundene Ausgabe<br />

728 Seiten, circa 25,00 EUR<br />

ISBN: 978-1607013303<br />

(eBook ab 6,20 EUR)<br />

In einer nahen Zukunft herrscht<br />

Krieg zwischen Russland und<br />

den Bündnisstaaten der NATO.<br />

In Russland ist es rechten Hardlinern<br />

gelungen, die Demokratisierungsbestrebungen<br />

zu beenden.<br />

Neo-Sowjets sind in Westeuropa<br />

eingedrungen, das in<br />

einem verheerenden konventionellen<br />

Krieg teilweise verwüstet<br />

wurde. Die NATO hat für den<br />

Bereich hinter den Fronten das<br />

größte internationale Privatpolizei-Unternehmen<br />

unter Vertrag<br />

genommen und als Polizeitruppe<br />

eingesetzt, um die Anarchie zu<br />

bekämpfen.<br />

Dieses Unternehmen, die Zweite<br />

Allianz (Second Alliance, SA), ist<br />

eine beängstigende und mächtige<br />

Schutzorganisation mit eigenen<br />

Zielen. Sie besteht aus Neofaschisten<br />

des 21. Jahrhunderts,<br />

hat Teile der USA, Europas und<br />

die Raumkolonie FirStep besetzt<br />

und strebt im Geheimen die<br />

Weltherrschaft an. In einem Internierungslager<br />

im französischen<br />

Lyon hat sie eine abscheuliche<br />

Versuchsanordnung mit<br />

rigider Rassentrennung in Pferchen<br />

und unglaublichem Leid<br />

für die Opfer eingerichtet. Am<br />

Ende herauskommen soll die<br />

Auslöschung aller minderwertigen<br />

Rassen und deren Ersetzung<br />

durch eine Unterrasse von Arbeitern,<br />

die nicht klüger als Hunde<br />

oder Pferde sein sollen, kenntnisreiche<br />

Idioten für niedere technische<br />

Tätigkeiten.<br />

Eine Gruppe von Außenseitern<br />

und Freiheitskämpfern bildet<br />

eine Widerstandsorganisation,<br />

den Neuen Widerstand, und<br />

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bekämpft das sich auf der Erde<br />

ausbreitende faschistische Regime.<br />

Eine düstere Vision Europas im<br />

Niedergang<br />

Shirleys Hauptwerk, die Trilogie<br />

A Song Called Youth, bestehend<br />

aus Eclipse (1985), Eclipse<br />

Penumbra (1988) und Eclipse<br />

Corona (1990), zählt zu den wichtigsten<br />

Werken des Cyberpunk.<br />

Die Bücher wurden 1990/1991<br />

bei Heyne in der Übersetzung<br />

von Peter Robert unter den Originaltiteln<br />

veröffentlicht.<br />

Shirley hat die ursprüngliche<br />

Trilogie überarbeitet und ein<br />

Upgrade aus der Zeit des Kalten<br />

Krieges in die des Millenniums<br />

durchgeführt. Statt im Jahr 2020<br />

beginnt die Geschichte im Jahr<br />

2029. Das Grobe des Ausgangsmaterials<br />

ist dabei erhalten geblieben,<br />

Shirley hat keine Hochglanzlackierung<br />

dieses Upgrades<br />

vorgenommen, das in den Jahren<br />

2000 (Band 1: Eclipse. Sonnenfinsternis<br />

und 2: Eclipse. Halbschatten)<br />

und 2001 (Band 3: Eclipse. Feuersturm)<br />

im Argument Verlag in<br />

deutscher Übersetzung veröffentlicht<br />

wurde. Roberts Übersetzung<br />

wurde mit der Neuausgabe<br />

abgeglichen und überarbeitet.<br />

Die letzte Veröffentlichung<br />

des Originals erfolgte in einem<br />

Sammelband bei Prime Books,<br />

ergänzt um eine Einführung und<br />

einen biografischen Beitrag.<br />

Shirley legt sehr viel Wert auf die<br />

Entwicklung plausibler Charaktere<br />

und Schauplätze. Heutige<br />

Leser mögen mitunter wenig<br />

Zugang haben zu den ideologischen<br />

Sprengkörpern, mit denen<br />

er sein Werk durchsetzt hat.<br />

Aber das wesentlich Interessantere<br />

sind ohnehin die Details.<br />

Gegenwart und Zukunft sind<br />

sich sehr nahe. Die Ausgangslage<br />

aus der Zeit des Kalten Krieges,<br />

wie Shirley sie in der ersten E-<br />

clipse-Veröffentlichung thematisierte,<br />

hat er unter Berücksichtigung<br />

von Entwicklungen aus der<br />

Zeit nach Auflösung der Sowjetunion<br />

modifiziert, Glasnost und<br />

Perestroika sind hier nur zwei<br />

bekannte Schlagworte. Dann hat<br />

er die Handlung in das Jahr 2029<br />

verlegt, den Brennpunkt von<br />

„Cyber“ auf „Punk“ verschoben<br />

und, wie es so schön heißt, die<br />

Hölle entfesselt.<br />

Die Zweite Allianz (Second Alliance,<br />

SA) bedient sich tradierter<br />

Mittel, wie der Unterwanderung,<br />

der Werbung, der wirtschaftlichen<br />

Einflussnahme, arbeitet mit<br />

Instrumenten des Terrorismus<br />

und verwendet den neuesten<br />

Stand verfügbarer Hochtechnologien<br />

zur Zielerreichung. Sie<br />

kauft die größte PR-Firma der<br />

Welt, „Weltsprech“, zur Programmierung<br />

der Öffentlichkeit.<br />

Hier ist natürlich „Neusprech“<br />

die Referenz, aus George Orwells<br />

Klassiker 1984. Und eine Entwicklung<br />

in der Zukunft ist es<br />

auch nicht wirklich.<br />

Die Zweite Allianz träumt von<br />

einer genetisch reinen Welt. Sie<br />

hat die bekannten Feindbilder:<br />

Künstler jenseits des Main-<br />

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streams, Drogenabhängige,<br />

Schwule, Farbige, Linke. Während<br />

die Masse der Menschen<br />

sich in dieser Welt einrichtet und<br />

sich von den herrschenden Medien<br />

beim Denken helfen lässt,<br />

rekrutiert sich aus den Reihen<br />

derer, die dem Feindbild der<br />

Zweiten Allianz entsprechen, der<br />

Neue Widerstand.<br />

Dieser nimmt seinen Ausgang in<br />

Paris unter Führung des früheren<br />

Mossad-Agenten Steinfeld<br />

und wird erweitert um Wissenschaftler,<br />

Ärzte und andere Menschen,<br />

die gegen die neuen Herren<br />

aufbegehren. Eher widerwillig<br />

gerät der ausgebrannte Retro-<br />

Rockmusiker Rickenharp in den<br />

Widerstand, zu dem auch der<br />

frühere Schriftsteller Jack Brendon<br />

Smoke und Dan „Stahlauge“<br />

Torrence, der im Widerstand erst<br />

politisiert wird, gehören.<br />

Das Paar Dan und Claire, er auf<br />

der Erde, sie auf der Station im<br />

All, bildet die Hauptachse in der<br />

Trilogie – die Achse des Guten?<br />

Die Liebe, der Wille, auch unter<br />

den gegebenen Bedingungen<br />

und der räumlichen Distanz aneinander<br />

festzuhalten, machen<br />

sie zu einer Art kosmologischer<br />

Kraft. An der Bedeutung beider<br />

ändert auch nichts, dass Claire<br />

Dan schreibt: „Wenn du Zeit<br />

hast, lebe einfach“ und er kurz<br />

darauf mit der Französin Bibisch<br />

ins Bett steigt.<br />

Ein Reiseführer in die Tiefenschichten<br />

des Menschseins<br />

Shirley bietet den Lesern eine<br />

ausgewogene Mischung von<br />

Material für den Kopf und den<br />

Bauch, die Actionszenen sind<br />

fein choreographiert. Er behauptet<br />

nicht nur, dass die Welt seines<br />

Romans gewalttätig sei, er zeigt<br />

es auch eindrücklich.<br />

Der Aufbau der Handlung hin<br />

zu einem gewalttätigen Konflikt<br />

ist nachvollziehbar, alles wirkt<br />

unausweichlich. Die Erzählperspektive<br />

ist die einer dritten Person,<br />

die sich an verschiedenen<br />

Schauplätzen auf der Erde und<br />

im Weltraum befindet und eine<br />

klare politische Haltung hat, die<br />

zuerst einmal antifaschistisch ist.<br />

In Shirleys Welt gibt es eigenartige<br />

technologische Entwicklungen:<br />

operativ entnommene<br />

menschliche Gehirne als Interfaces;<br />

Attack-and-Kill-Hirnkontrollinstrumente<br />

der Army; Hirnimplantate<br />

zur Verbesserung<br />

bestimmter Funktionen; Junkies<br />

lassen sich im Hollow Head destillierte<br />

Neurochemikalien in die<br />

Venen spritzen, wodurch Gedanken<br />

und Gefühle der ehemaligen<br />

Hirnträger wahrnehmbar<br />

werden; Sauger ermöglichen die<br />

Extraktion von Informationen<br />

aus dem Gehirn; Gangs überfallen<br />

in U-Bahnen Fahrgäste und<br />

entnehmen ihnen Organe für den<br />

Handel; es wird ein Grippevirus<br />

entwickelt, um die Menschen zu<br />

disziplinieren.<br />

In Shirleys Dystopie ist die Welt<br />

ein böser und dreckiger Ort. In<br />

ihr findet nicht einfach Gewalt<br />

statt, sie erscheint vielmehr als<br />

der natürliche Raum der Gewalt.<br />

Folgerichtig haben Shirleys Figu-<br />

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ren auch nur ein begrenztes<br />

Spektrum an Reaktionen. Zuerst<br />

wäre da die Gegengewalt zu<br />

nennen, um die Gewalt zu überwinden.<br />

Außerhalb dieser Welt<br />

lässt sich dieser Ansatz moralisch<br />

in Frage stellen. Innerhalb<br />

dieser Welt jedoch macht man<br />

sich auch mitschuldig, wenn<br />

man der Gewalt gegen Dritte nur<br />

als Zuschauer beiwohnt oder sie<br />

zivilisiert diskutiert.<br />

Es gibt im Wesentlichen vier<br />

Gruppen von Menschen in der<br />

Welt, wie Shirley sie beschreibt:<br />

die Täter, die Opfer, die Zuschauer,<br />

schließlich die, die etwas<br />

unternehmen, sich zur Wehr<br />

setzen gegen die Täter. Also die<br />

Menschen, die nichts zu verlieren<br />

haben und sich deshalb nicht<br />

in dem ihnen gegebenen Status<br />

quo einrichten wollen.<br />

Shirley lehnt die Option ab, die<br />

darin besteht, sich träge zurückzulehnen<br />

und den Dingen ihren<br />

Lauf zu lassen. Der böse Wolf<br />

wird die Schafe immer finden<br />

und in Stücke reißen. Auch wenn<br />

sie sich zu Hause verstecken.<br />

Die Struktur der Eclipse-Trilogie<br />

ist komplex, es gibt sehr viel Personal<br />

(mindestens zwei Dutzend<br />

Figuren, die sich in einem transparenten<br />

Beziehungsgefüge finden,<br />

teils und vorübergehend<br />

eine unklare Rolle in diesem Gefüge<br />

spielen oder aber eine eindeutige<br />

Rolle, die irgendwann<br />

gut vorbereitet und begründet<br />

wechselt) und viele Schauplätze,<br />

zwischen denen häufig gewechselt<br />

wird. Für seine Zukunftsvision<br />

bedient sich Shirley in der<br />

Historie. Institutionen aus der<br />

ersten Hälfte des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts, wie die Gestapo<br />

und Résistance, werden verbunden<br />

mit Institutionen der Nachkriegszeit,<br />

namentlich der<br />

NATO.<br />

Die Trilogie ist somit Ausdruck<br />

von Entwicklungen im Cyberpunk,<br />

die im frühen 21. Jahrhundert<br />

Gestalt annehmen als dunkle<br />

Seite kultureller Entwicklung:<br />

die Rückkehr beziehungsweise<br />

Ausbreitung faschistischer Bewegungen,<br />

wachsende rassistische<br />

Ressentiments, Widerstand<br />

gegen Immigration, Demagogen,<br />

die sich in diesem politischen<br />

Feld manipulativ betätigen. Ein<br />

weiteres Thema ist das Bestreben<br />

von Machteliten, über neue<br />

Technologien die Massen zu<br />

kontrollieren und zu steuern, das<br />

Anliegen von Medien, dergestalt<br />

in das Bewusstsein von Menschen<br />

einzudringen, dass sie darin<br />

ihre Vorstellungen von Realität<br />

implementieren können, um<br />

anschließend Vorteile daraus zu<br />

ziehen.<br />

Die Zukunft ist so intelligent in<br />

ein historisches Bezugssystem<br />

eingebettet, dass wir beim Lesen<br />

den Eindruck gewinnen können,<br />

diese Zukunft stehe direkt vor<br />

unserer Tür, weil uns vieles so<br />

bekannt vorkommt.<br />

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Coming soon: Cyberpunk 2077<br />

Eine Vorschau von Judith Madera<br />

Eine düstere, urbane Kulisse.<br />

Mittendrin eine wunderschöne<br />

Frau, in knappen, blutbesudelten<br />

Stoff gehüllt. Sie blickt in zahlreiche<br />

Gewehrmündungen, als ein<br />

Schuss fällt. Die Kugel fliegt in<br />

Slow Motion auf ihr Gesicht zu –<br />

und zerschellt an ihrer Wange.<br />

Es folgt ein regelrechter Kugelhagel,<br />

der an der Cyborglady<br />

wie Regentropfen zerplatzt. Sie<br />

kniet inmitten von Leichen, aus<br />

ihren Unterarmen ragen blutverschmierte<br />

Sicheln. Warum hat sie<br />

das getan?<br />

Der Trailer zum Rollenspiel Cyberpunk<br />

2077 lässt die Herzen<br />

von Genrefans höher schlagen,<br />

verspricht er doch einen hochtechnisierten<br />

Großstadtdschungel<br />

und reichlich blutige Action.<br />

Verantwortlich für den dystopischen<br />

Augenschmaus zeichnet<br />

das polnische Entwicklerstudio<br />

CD Projekt RED, die kürzlich<br />

The Witcher fertig gestellt haben.<br />

Laut Aussagen der Macher soll<br />

Cyberpunk 2077 wesentlich größer<br />

werden und spätestens 2077<br />

erscheinen (Scherz, geplant ist<br />

2017). Inhaltlich stützt sich das<br />

RPG auf die Pen-&-Paper-<br />

Vorlage Cyberpunk 2020 von<br />

Mike Pondsmith aus dem Jahr<br />

1988. Dessen Zukunft ist düster,<br />

die Gesellschaft degeneriert, die<br />

Straße der Schauplatz zahlloser<br />

Überlebenskämpfe. Der technologische<br />

Fortschritt verhilft den<br />

Reichen zu einem immerwährenden<br />

Rausch, doch er bringt<br />

genauso das Schlechteste im<br />

Menschen zum Vorschein.<br />

Zur Story<br />

Die Technik wurde auch der<br />

bildhübschen Massenmörderin<br />

zum Verhängnis. Zum Vergnü-<br />

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gen hat sie einen sogenannten<br />

„Brain Dance“-Chip genutzt, der<br />

dem User ein virtuelles Leben als<br />

Superstar, Sportlegende oder<br />

was auch immer man will erfüllt<br />

(eine Technologie ähnlich wie<br />

SimStim in Neuromancer). Die<br />

Dame aus dem Trailer wollte<br />

einfach nur berühmt sein, stattdessen<br />

findet sie sich umringt<br />

von einem Sondereinsatzkommando<br />

wieder. Sie hat einfach zu<br />

viel an sich herumpfuschen lassen,<br />

zu viele Upgrades, und nun<br />

ist der Brain-Dance-Chip durchgebrannt<br />

und hat sie zu einem<br />

„Psycho“ gemacht – damit ist sie<br />

auf dem besten Weg, ein fremdgesteuerter<br />

Cyborg zu werden …<br />

Schauplatz der Tragödie ist<br />

Night City, ein urbaner Dschungel,<br />

in dessen Wipfeln die Reichen<br />

im grellen Neonschein feiern,<br />

während es nach unten hin<br />

immer dunkler wird. Kaltes<br />

Kunstlicht flutet die grauen Straßenzüge,<br />

bunte Reklamen versuchen<br />

heller als die brennenden<br />

Mülltonnen zu strahlen. Die Regierung<br />

hat hier längst nichts<br />

mehr zu sagen, stattdessen teilen<br />

Großkonzerne die Stadt mit Hilfe<br />

ihrer Privatarmeen unter sich<br />

auf. Der Konkurrenzkampf hat<br />

sich in einen blutigen Krieg verwandelt,<br />

und die Masse bekommt<br />

davon kaum etwas mit,<br />

da sich die meisten mit Hilfe der<br />

Brain-Dance-Chips in wunderschönen<br />

Träumen verlieren.<br />

Für die Dame aus dem Trailer<br />

hätte das tödlich enden können,<br />

doch ein Polizist namens Hammerman<br />

rettet ihr das Leben und<br />

will sie für seine Einheit rekrutieren.<br />

Wohin das führt, ist allerdings<br />

noch nicht bekannt …<br />

Zum Spiel<br />

Cyberpunk 2077 richtet sich an ein<br />

erwachsenes Publikum, bietet als<br />

RPG mehrere Handlungsstränge,<br />

die nicht komplett linear aneinanderhängen,<br />

und soll wesentlich<br />

größer und komplexer als<br />

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das Mammut-RPG The Witcher 3<br />

werden. Der Spieler kann sich<br />

außerdem in Night City frei bewegen<br />

und diverse Sidequests<br />

und Läden, die Upgrades für<br />

Waffen und Körper anbieten,<br />

entdecken.<br />

Es soll verschiedene Charakterklassen<br />

zur Auswahl geben, die<br />

sich eventuell an der Pen-&-<br />

Paper-Vorlage orientieren (Cop,<br />

Dealer, Konzerner, Netrunner,<br />

Nomade, Reporter, Rockstar,<br />

Solo, Tech sowie MediTech). Ansonsten<br />

gibt es bislang kaum<br />

Informationen, da die Entwickler<br />

noch mit The Witcher 3 beschäftigt<br />

waren. Allerdings wollen sie<br />

sich bald ganz auf Cyberpunk<br />

2077 konzentrieren und spätestens<br />

2017 konkretere Informationen<br />

(und hoffentlich bald darauf<br />

das fertige Spiel) liefern. Da<br />

bleibt nur zu hoffen, dass das<br />

Spiel auch umsetzen kann, was<br />

der Trailer verspricht (und dass<br />

es vor 2077 erscheint) – Potential<br />

ist jedenfalls genug vorhanden.<br />

www.cyberpunk.net<br />

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Ergo Proxy – Mystischer Cyberpunk<br />

Ein Artikel von Judith Madera<br />

Nach einer globalen Katastrophe<br />

leben die letzten Menschen in<br />

Kuppelstädten wie Romdeau,<br />

umsorgt von ihren Autoreivs –<br />

Androiden, die als Arbeitskräfte<br />

oder auch berufliche/private<br />

Begleiter fungieren. Mensch und<br />

Maschine leben friedlich in einem<br />

diktatorischen System, das<br />

seine Bürger permanent überwacht.<br />

Doch die soziale Ordnung<br />

gerät ins Wanken, als immer<br />

mehr Autoreivs am Cogito-Virus<br />

erkranken und dadurch eine<br />

Seele und einen eigenen Willen<br />

erhalten. Viele von ihnen begehren<br />

plötzlich gegen das System<br />

auf und müssen eliminiert werden.<br />

Re-l ist die Enkelin des Regenten<br />

und soll als Inspektorin der Sicherheitsabteilung<br />

die Verbrechen<br />

infizierter Autoreivs untersuchen.<br />

Ihr zur Seite steht ihr<br />

persönlicher Autoreiv Iggy, der<br />

ihr als Bodyguard, Berater und<br />

Freund dient.<br />

Im Zuge ihrer Ermittlungen wird<br />

Re-l auf den Immigranten Vincent<br />

Law aufmerksam, der sich<br />

sehr bemüht, ein vollwertiger<br />

Bürger der Stadt zu werden.<br />

Doch in Vincent schlummert ein<br />

Geheimnis, das er konsequent<br />

verdrängt: Er ist ein sogenannter<br />

Proxy, ein dem Menschen überlegenes<br />

Wesen mit mysteriösen<br />

Kräften. Re-l will unbedingt<br />

mehr über die Proxys herausfinden,<br />

während Vincent nicht<br />

weiß, ob er sich überhaupt an<br />

sein früheres Leben erinnern will<br />

…<br />

Die Charaktere<br />

Re-l ist privilegiert aufgewachsen<br />

und erscheint in ihrer Position<br />

als Inspektorin hart und mürrisch.<br />

Der Autoreiv Iggy ist stets<br />

an ihrer Seite, ansonsten meidet<br />

sie jedoch soziale Kontakte. Ihr<br />

einziger Freund ist der junge<br />

Arzt Daedalus (der aufgrund<br />

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seines androgynen Aussehens<br />

und der hellen Synchronstimme<br />

zunächst für eine Frau gehalten<br />

wird).<br />

In den ersten Episoden scheint<br />

Re-l verwöhnt und gelangweilt,<br />

allerdings offenbart sie bald einen<br />

tiefsinnigen und klugen<br />

Charakter. Als sie das erste Mal<br />

mit einem Proxy in Kontakt<br />

kommt, verändert sich etwas in<br />

ihr und sie will unbedingt die<br />

Wahrheit über dieses Wesen herausfinden.<br />

Dabei wird schnell<br />

klar, dass Romdeau noch mehr<br />

düstere Geheimnisse bereithält.<br />

Re-l ist außerdem fasziniert von<br />

Vincent, der auf den ersten Blick<br />

angepasst, ruhig und unbeholfen<br />

erscheint und gleichzeitig ganz<br />

anders als die Bürger von<br />

Romdeau ist.<br />

kommt, schiebt er sie von sich<br />

und glaubt, das alles könne<br />

nichts mit ihm zu tun haben.<br />

Aus dem unsicheren und etwas<br />

tollpatschigen Vincent wird jedoch<br />

schnell ein sympathischer<br />

junger Mann, der viel Menschlichkeit<br />

zeigt und mit anderen<br />

rücksichtsvoll umgeht. Er akzeptiert<br />

sogar den Autoreiv Pino als<br />

lebendiges Wesen mit Herz und<br />

Verstand.<br />

Pino ist die dritte Protagonistin<br />

der Serie, ein mit dem Cogito-<br />

Virus infiziertes Androidenmädchen,<br />

das als Kindersatz herhalten<br />

musste. Sie schließt sich Vincent<br />

und Re-l bei deren Suche<br />

nach Antworten an.<br />

Als Autoreiv kann Pino mehr als<br />

gleichaltrige Menschenkinder<br />

und verfügt über diverse Zusatzfunktionen,<br />

allerdings verhält sie<br />

sich meist wie ein Grundschulkind,<br />

für das die triste Außenwelt<br />

ein großer Spielplatz ist. Sie<br />

schlüpft gerne in ein Hasenkostüm<br />

und ist äußerst wissbegierig.<br />

Dabei erfährt sie auch die Grenzen<br />

ihrer Programmierung, denn<br />

sie kann beispielsweise keine<br />

Vincent Law will unbedingt als<br />

Bürger anerkannt werden und<br />

ein ganz normales Leben führen.<br />

Dabei ist ihm nicht bewusst, dass<br />

er sich aus der Zeit vor Romdeau<br />

an nichts erinnert. Selbst als die<br />

Wahrheit allmählich ans Licht<br />

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eigenen Bilder malen, sondern<br />

nur andere kopieren. Dafür kann<br />

sie jedoch sehr offen und herzlich<br />

lächeln.<br />

Romdeau<br />

Die Zukunft in Ergo Proxy ist<br />

kein typisches Cyberpunkszenario:<br />

Die Erde wurde größtenteils<br />

verwüstet, und nur in Kuppelstädten<br />

wie Romdeau ist ein<br />

Überleben überhaupt noch möglich.<br />

Die Stadt selbst wirkt hell<br />

und eintönig, ein blühender<br />

Schwarzmarkt und Computerkriminalität<br />

sind in dieser streng<br />

überwachten Umgebung nicht<br />

möglich. Die Regierung kontrolliert<br />

einfach alles und schreibt<br />

den Bürgern vor, wann es Zeit ist<br />

zu konsumieren und wann man<br />

zu Gunsten der Gemeinschaft<br />

verzichten soll.<br />

Ein ganz typisches Cyberpunkthema<br />

hingegen stellen die<br />

Autoreivs dar: In Romdeau<br />

scheint es mindestens so viele<br />

Autoreivs zu geben wie Menschen.<br />

Die Androiden sind in alle<br />

Lebensbereiche eingebunden, sei<br />

es als Dienstmädchen, Fabrikarbeiter<br />

oder gar als Ehepartner<br />

und Kind. Jeder Autoreiv wird<br />

den Bedürfnissen seines Besitzers<br />

angepasst und kann von<br />

diesem seinen Wünschen entsprechend<br />

umprogrammiert<br />

werden. Das Cogito-Virus führt<br />

jedoch zu einer Art Beseelung<br />

der Autoreivs, die fortan keine<br />

Maschinen mehr sind, sondern<br />

denkende und fühlende Wesen.<br />

Die Regierung merzt solche Fehlfunktionen<br />

aus, doch schnell<br />

stellt sich die Frage, mit welchem<br />

Recht sie das tut und ob das Cogito-Virus<br />

tatsächlich eine<br />

Krankheit oder eine natürliche<br />

Evolution der hochentwickelten<br />

Maschinen ist. Das Verhältnis<br />

zwischen Mensch und Maschine<br />

wird im Verlauf der Serie zu einem<br />

der zentralen Themen von<br />

Ergo Proxy und wird vor allem<br />

über Pino vielschichtig aufgearbeitet.<br />

Die Außenwelt<br />

Ihre Suche nach Antworten führt<br />

Vincent und Re-l in die triste und<br />

verseuchte Außenwelt. Unweit<br />

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von Romdeau hat sich eine kleine<br />

Gruppe Abtrünniger niedergelassen,<br />

die gegen das System<br />

aufbegehrt haben.<br />

Inzwischen wollen jedoch die<br />

meisten von ihnen zurück unter<br />

die schützende Kuppel, denn<br />

außerhalb davon haben sie nichts<br />

außer ihrer vermeintlichen Freiheit,<br />

die in ihrer perspektivlosen<br />

Lebenssituation belanglos erscheint.<br />

Je weiter Re-l und Vincent in die<br />

äußere Welt vordringen, desto<br />

seltsamer erscheint einem die<br />

zukünftige Erde. Es gibt zwar<br />

noch andere Kuppelstädte, doch<br />

die meisten von ihnen sind verlassen.<br />

In einer sehr ländlich gehaltenen<br />

Kleinstadt beispielsweise<br />

verrichten die Maschinen weiter<br />

ihre Arbeit, während es schon<br />

lange keine Menschen mehr gibt,<br />

die sie umsorgen könnten.<br />

Trotzdem werden weiterhin<br />

Pflanzen gegossen, Straßen gekehrt<br />

und Zeitungen ausgetragen.<br />

Die grüne, menschenleere<br />

Stadt erzeugt ein beklemmendes<br />

Gefühl – und sie ist nur der erste<br />

von weiteren geisterhaften Orten.<br />

Gentechnologie<br />

Ein weiteres typisches Cyberpunkthema<br />

in Ergo Proxy ist die<br />

Gentechnologie, mit deren Hilfe<br />

die Bevölkerung von Romdeau<br />

reguliert wird. Menschen werden<br />

nicht mehr geboren, sondern<br />

designt. Kinder werden nicht<br />

gezeugt, sie werden einem auf<br />

Antrag zugeteilt. Wessen Antrag<br />

nicht bewilligt wird, der erhält<br />

einen Autoreiv als Kindersatz.<br />

Zwischen der Gentechnologie<br />

und den Proxys scheint ein enger<br />

Zusammenhang zu bestehen,<br />

doch es ist lange nicht klar, ob<br />

die mysteriösen Wesen gentechnisch<br />

erzeugt wurden oder eine<br />

natürliche Erscheinung sind. Da<br />

Proxys als unsterblich gelten, ist<br />

Romdeau bemüht, einen von<br />

ihnen zu fangen und zu untersuchen,<br />

um die menschliche Rasse<br />

robuster und vielleicht sogar<br />

unsterblich zu machen.<br />

Die Thematik wird im Verlauf<br />

der Serie zunehmend philosophischer,<br />

und bald fragt man<br />

sich, was in dieser tristen Zu-<br />

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kunftsvision überhaupt noch<br />

natürlich ist und worin der Unterschied<br />

zwischen designten<br />

Menschen und denkenden/fühlenden<br />

Autoreivs besteht.<br />

Die Schöne und das Biest<br />

Ähnlich wie Texhnolyze wird<br />

Ergo Proxy mit zunehmender<br />

Episodenzahl tiefsinniger und<br />

verworrener. Anfangs ist noch<br />

eine klare Storyführung zu erkennen,<br />

doch dann wird die Serie<br />

sehr philosophisch und<br />

künstlerisch. Einzelne Episoden<br />

erscheinen gar ganz aus dem<br />

Rahmen gerissen, beinhalten<br />

aber wichtige Informationen<br />

über die Hintergründe der Geschichte.<br />

Zudem stellt sich immer<br />

mehr die Frage, wer und<br />

was Vincent genau ist und in<br />

welcher Beziehung Re-l zu ihm<br />

und den Proxys steht.<br />

Zwischen den beiden entwickelt<br />

sich eine seltsame Liebesgeschichte,<br />

in der Vincent offen zu<br />

seinen Gefühlen steht, während<br />

Re-l ihre verleugnet und darauf<br />

beharrt, Vincent zu töten, sobald<br />

sie ihre Antworten hat. Dem Zuschauer<br />

fällt es dabei schwer, Rels<br />

abweisende und oftmals<br />

kratzbürstige Art nachzuvollziehen.<br />

Sie ist zerrissen zwischen<br />

ihrer Faszination für Vincent und<br />

ihrer Angst vor dem, was in ihm<br />

schlummert. Auch wenn es den<br />

einen oder anderen Moment der<br />

Nähe gibt, erscheint das Verhältnis<br />

zwischen Vincent und Re-l<br />

lange Zeit unterkühlt und einseitig.<br />

Ein wenig erinnert ihre Beziehung<br />

an Die Schöne und das<br />

Biest, wobei hier oftmals nicht<br />

klar ist, wer welche Rolle einnimmt.<br />

Der Stil<br />

Ergo Proxy orientiert sich visuell<br />

am Stil eines Comics und arbeitet<br />

bewusst bestimmte Details heraus,<br />

während unwichtige Elemente<br />

unscharf und blass erscheinen.<br />

Es dominieren matte<br />

Grau- und Brauntöne, sodass<br />

Farben extrem auffallen, wie<br />

beispielsweise Re-ls blau geschminkte<br />

Augen, die orange<br />

Arbeitskleidung von Vincent<br />

oder auch Pinos violettes Haar.<br />

Auch dadurch unterscheidet sich<br />

Ergo Proxy von anderen Cyberpunkanimes,<br />

die mehr zwischen<br />

Dunkel und Bunt changieren.<br />

Die Serie enthält zudem diverse<br />

europäische Zeichenelemente,<br />

was dem westlichen Betrachter<br />

nicht unbedingt auffällt, da Ergo<br />

Proxy trotzdem noch ziemlich<br />

japanisch aussieht. Für den Genrefan<br />

sind die Unterschiede je-<br />

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doch offensichtlich, insbesondere<br />

was das Design der Charaktere<br />

betrifft. Vincent hat dabei auch<br />

optisch zwei Gesichter: Als braver<br />

Bürger hat er glattes Haar<br />

und lächelt verhalten, während<br />

er in der Außenwelt durchwühltes<br />

Haar und einen eher ernsten<br />

Gesichtsausdruck hat. Re-l hingegen<br />

lächelt selten, sie wirkt<br />

meist genervt und nachdenklich.<br />

Umso intensiver sind die Momente,<br />

in denen ein Lächeln ihre<br />

kalte Fassade aufbricht.<br />

Ergo Proxy ist 2008 auf DVD mit<br />

deutscher Synchronisation und<br />

sattem DTS-Sound erschienen.<br />

Die Bildqualität ist dem Format<br />

entsprechend für neuere TV-<br />

Geräte akzeptabel, der Sound<br />

hingegen brilliert mit einem<br />

schönen Volumen und Hintergrundeffekten.<br />

Inzwischen werden alle sechs<br />

Volumes der Serie als Komplettset<br />

für circa 79,95 € bei nipponart<br />

angeboten. Die limitierte Collector’s<br />

Edition mit schickem<br />

Schmuckkarton, Postkarten,<br />

Booklet und anderen Extras ist<br />

vergriffen, kann jedoch auf eBay<br />

erstanden werden. Bei der normalen<br />

Ausgabe gibt es zu jeder<br />

DVD lediglich ein Miniposter als<br />

Extra.<br />

Szenenbilder: Copyright by manglobe / GENEON / GENEON (USA) / WOWOW / SPVision<br />

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Zeromancer: Sex, Drugs und Cyberpunk<br />

Ein Artikel von Judith Madera<br />

Schillernde Synthies und harte<br />

Gitarren, schräge, düstere Texte,<br />

Melancholie, Gesellschaftskritik,<br />

Aggression und Romantik –<br />

kaum jemand verkörpert den<br />

dreckigen Sound des Cyberpunk<br />

so perfekt wie die norwegische<br />

Band Zeromancer. Wie unschwer<br />

zu erkennen ist, basiert der<br />

Bandname auf William Gibsons<br />

Neuromancer (und Less than Zero<br />

von Bret Easton Ellis).<br />

Bassist und Bandgründer Kim<br />

Ljung ist bekennender Cyberpunk-Fan,<br />

was sich in seinen<br />

tiefschürfenden, kritischen und<br />

oftmals nicht unbedingt leicht<br />

verständlichen Texten spiegelt.<br />

Vordergründig geht es oftmals<br />

um kaputte Liebe und negative<br />

Emotionen, doch zwischen den<br />

Zeilen schimmert als Ursache für<br />

die zwischenmenschliche Misere<br />

das moderne Leben hindurch,<br />

die Fokussierung auf das eigene<br />

Ego und das Gefühl, in unserer<br />

schnelllebigen Zeit etwas zu verpassen.<br />

Der (Liebes-)Schmerz bei<br />

Zeromancer entsteht überwiegend<br />

aus der emotionalen Abstumpfung<br />

und der Verlorenheit<br />

in einer Zeit, die den Menschen<br />

gnadenlos überrennt.<br />

Zwar spielen diverse Texte von<br />

Zeromancer auf typische Cyberpunkelemente<br />

an, doch was die<br />

Band vor allem auszeichnet, ist<br />

das Gefühl, das sie mit ihrem<br />

einzigartigen Sound heraufbeschwört.<br />

Eine Einordnung fällt<br />

relativ schwer, am treffendsten<br />

ist wohl die Bezeichnung Synth<br />

Rock, da zwischen den harten<br />

Gitarrenriffs stets klare Synthesizerklänge<br />

hindurchklingen, die<br />

an die Achtzigerjahre (und damit<br />

an den Ursprung des Cyberpunk)<br />

erinnern. Andere sprechen<br />

bei Zeromancer auch von „Industrial/Alternative<br />

Rock“ oder<br />

auch – abwertend – von „Emo<br />

Rock“, wegen der Fokussierung<br />

aufs Negative.<br />

In vielen Songs spürt man die<br />

Einsamkeit im Angesicht der<br />

rasanten technologischen Entwicklung,<br />

die zunehmend einer<br />

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Entmenschlichung gleicht, während<br />

sie ebenso neue Möglichkeiten<br />

eröffnet. Das Individuum<br />

bleibt dabei auf der Strecke, und<br />

in den grauen Schluchten des<br />

urbanen Molochs regieren Depression<br />

und Wut auf eine Welt,<br />

die ebenso cool wie kalt ist.<br />

Zeromancer bedienen sich dabei<br />

cyberpunktypisch außergewöhnlicher,<br />

teils technologischer Metaphern<br />

ebenso wie unschöner<br />

Kraftausdrücke und derber Gossensprache.<br />

Trotz vieler wiederkehrender<br />

Elemente, sowohl was<br />

Sound als auch Texte betrifft, ist<br />

jedes Album eine kleine, düstere<br />

Cyberpunkwelt für sich. Die außergewöhnliche<br />

Stimme von<br />

Leadsänger Alex Møklebust<br />

changiert dabei zwischen verzweifelt,<br />

aggressiv, verführerisch<br />

und wahnsinnig un d stellt eines<br />

der Wiedererkennungsmerkmale<br />

der Band dar. Møklebust setzt<br />

die verqueren Texte von Kim<br />

Ljung perfekt um, als würden sie<br />

seine eigenen dunklen Gedanken<br />

spiegeln.<br />

Flagellation Flagellation<br />

Take the pain of a modern nation<br />

Bereits mit ihrem Debüt Clone<br />

Your Lover griffen Zeromancer<br />

Motive des Cyberpunk auf und<br />

setzten sie, damals noch ungeschliffen,<br />

in einer verqueren Mischung<br />

aus kreativem Trash,<br />

Industrial und eingängigem<br />

Synth Rock um. Harte Gitarrenriffs<br />

treffen auf leicht technoide<br />

Rhythmen, melodische Passagen<br />

wechseln sich mit dissonantem<br />

Wahnsinn ab. Schon damals<br />

konnte man sich die Band wunderbar<br />

in düsteren Bars, wie sie<br />

Alex Møklebust (NRK P3 / CC BY-NC-SA 2.0)<br />

beispielsweise William Gibson in<br />

Neuromancer beschrieb, vorstellen,<br />

gleich einem tosenden Hintergrundrauschen,<br />

während Case<br />

sein geschädigtes Nervensystem<br />

betrauert.<br />

Clone Your Lover handelt von<br />

verschmähter Liebe, vom Abstumpfen<br />

der Gefühle, von der<br />

Verlorenheit des Individuums in<br />

der modernen Welt, inklusive<br />

Wut und (Auto-)Aggression.<br />

Songs wie „Clone Your Lover“<br />

und „Need You Like a Drug“<br />

klingen rotzig-frech und erinnern<br />

an cyberpunkigen Elektrorock,<br />

während „Something for<br />

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the Pain“ mit seinen coolen Gesangsparts<br />

wie ein Virus in die<br />

Gehörgänge kriecht.<br />

„House of Cards“ stellt die einzige<br />

Ballade des Albums dar,<br />

eine Tradition, die die kommenden<br />

Alben fortsetzen. Dabei<br />

handelt es sich um keinen klassischen<br />

Lovesong, sondern um<br />

eine melancholische, düstere<br />

Komposition über Selbstverleugnung<br />

und das Zerbrechen<br />

der Liebe/Freundschaft.<br />

We are nothing but Eurotrash<br />

We take Plastic and we take Cash<br />

We sell our hearts second class<br />

We slit our throats on tinted glass<br />

Während sich Clone Your Lover<br />

vor allem auf negative Emotionen<br />

stützte, treten beim zweiten<br />

Album, Eurotrash, die gesellschaftskritischen<br />

Aspekte deutlicher<br />

hervor. So handelt der titelgebende<br />

Song „Eurotrash“ beispielsweise<br />

vom Verfall der Werte<br />

und maßloser Vergnügungssucht,<br />

die im Gefühl, absolut<br />

alles haben zu können, gipfelt:<br />

The future is here / Dreams have no<br />

end / Everything must go. Doch<br />

der Rausch hat eine dunkle Seite,<br />

und während sich der industrialisierte<br />

Mensch alles nimmt, was<br />

er kriegen kann, verkauft er sich<br />

selbst und zerbricht in seiner<br />

Scheinwelt aus Glaspalästen und<br />

Neonglanz. Der Synthiesound<br />

klingt, als würde er schmerzhaft<br />

leicht durch eine hell erleuchtete<br />

Megacity hallen, und die Ironie<br />

des Textes spiegelt sich wunderbar<br />

in Møklebusts pseudofreudigem<br />

Gesang wieder.<br />

In „Doctor Online“ wird dieses<br />

Bild weiter auf die Spitze getrieben,<br />

und die Selbstbestimmung<br />

des Menschen endet in seiner<br />

absoluten Wertlosigkeit. Synthies<br />

und brachiale E-Gitarren ergänzen<br />

sich perfekt und kreieren<br />

einen finsteren, druckvollen<br />

Song. „Plasmatic“ hingegen<br />

überzeugt mit technoidem<br />

Rhythmus und schrägen Gesangparts.<br />

Die Ballade des Albums ist das<br />

düstere und endzeitlich klingende<br />

„Cupola“, das Motive aus<br />

„House of Cards“ aufgreift. Die<br />

leisen, melancholischen Töne, die<br />

nach einem deprimierten Blick<br />

über den Hafen von Chiba City<br />

klingen, werden von brutalen<br />

Gitarrenriffs und Schreien aufgebrochen,<br />

ehe diese sich im ungewohnt<br />

sanften Gesang auflösen.<br />

Kill your senses<br />

It can't be right<br />

Isn't it funny how it hurts<br />

Mit ZZYZX gaben sich Zeromancer<br />

plötzlich unerwartet<br />

poppig, und auch emotional beklemmende<br />

Balladen wie „Famous<br />

Last Words“ konnten nicht<br />

über die Schwäche des dritten<br />

Albums hinwegtäuschen. Zu<br />

belanglos und zahm klangen<br />

Zeromancer plötzlich, es mangelte<br />

schlicht an harten, dissonanten<br />

Passagen, die einen Kontrast zu<br />

den durchaus spannenden, elektronischen<br />

Melodien boten. Bei<br />

ZZYZX ist das Gefühl des Cyberpunk<br />

nahezu verloren gegangen,<br />

und auch der eingängige<br />

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Track „Blood Music“, offenbar<br />

angelehnt an Greg Bears gleichnamigen<br />

Roman, konnte daran<br />

nichts ändern. Nachdem ZZYZX<br />

scheiterte, vergingen sechs lange<br />

Jahre, in denen mancher Fan<br />

bereits befürchtete, die Band habe<br />

sich aufgelöst. Doch dann …<br />

Sinners International<br />

Hello<br />

You don't know the meaning of the<br />

word<br />

Pain<br />

… kehrten Zeromancer 2009 mit<br />

ihrem vierten Album Sinners<br />

International zu ihren Wurzeln<br />

zurück und begeisterten sowohl<br />

mit den Stärken der Anfangszeit<br />

als auch mit einer spürbaren Reifung.<br />

Endlich war Zeromancer<br />

wieder Cyberpunk pur. In der<br />

Singleauskopplung „Doppelgänger<br />

I Love You“ bringt die Band<br />

das Spiel mit den Gegensätzen,<br />

das Sound und Texte (und den<br />

Cyberpunk) auszeichnet, kurz<br />

und knapp auf den Punkt.<br />

Endlich funktioniert die einzigartige<br />

Symbiose aus melodischen<br />

Synthies und harten Gitarrenklängen<br />

wieder. Insbesondere<br />

„It Sounds Like Love (But It<br />

Looks Like Sex)“ ist ein herrlicher<br />

Auf-die-Fresse-Song, während<br />

„Fictional“ mit seinem kühlen<br />

Cyberspacesound begeistert.<br />

Nach wie vor stehen bei Zeromancer<br />

negative Emotionen sowie<br />

tiefe romantische Gefühle im<br />

Vordergrund, garniert mit Gesellschaftskritik<br />

und wirren Gedankengängen,<br />

die einzelne<br />

Songs über viele Jahre hinweg<br />

interessant gestalten. Hervorzuheben<br />

ist hier die schmerzlichleise<br />

Ballade „Ammonite“, die<br />

mit ihrem Wechselspiel aus melancholischer<br />

Ruhe und aggressiven<br />

Brüchen ganz in der Tradition<br />

ihrer Vorgänger steht und<br />

gleichzeitig eine neue Tiefe eröffnet.<br />

We are the Industrypeople<br />

Don't feel anything<br />

Choose your kin<br />

Rendezvous and let the chaos begin<br />

Bereits ein Jahr später knüpften<br />

Zeromancer mit The Death of Romance<br />

an ihre wiedergefundene<br />

Stärke an und ließen unter glatten<br />

Neonklängen die hässliche,<br />

dunkle Wahrheit wie Eiter austreten.<br />

Ausgerechnet der titelgebende<br />

Song „The Death of Romance“<br />

verblasst im Angesicht düsterer<br />

Tracks wie „Revenge Fuck“ und<br />

„The Pygmalion Effect“, wo gar<br />

der „Grand Prix of self destruction“<br />

besungen wird. The Death of<br />

Romance zeichnet sich gleichermaßen<br />

durch finstere Texte und<br />

harte Töne wie durch seine Eingängigkeit<br />

aus, denn nahezu<br />

jeder Song kriecht direkt in die<br />

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Gehörgänge und bleibt darin<br />

hängen.<br />

„Mint“ stellt die bislang romantischste<br />

Ballade von Zeromancer<br />

dar und geht mit dem wie eine<br />

Beschwörung wiederholten You<br />

are the only one … (who can erase<br />

this) direkt unter die Haut. Der<br />

Cyberpunk-Lovesong schlechthin,<br />

sofern man hier überhaupt<br />

von einem Lovesong sprechen<br />

kann.<br />

It’s not the end of the world<br />

It’s just another black hole<br />

Das 2013 erschienene sechste<br />

Album Bye Bye Borderline lässt<br />

derbe Songs weitgehend vermissen<br />

und setzt mehr auf gleichermaßen<br />

emotionale wie eingängige<br />

Klänge.<br />

In der CD-Hülle wird der legendäre<br />

erste Satz aus Neuromancer<br />

zitiert, womit Zeromancer<br />

nochmals ihre Nähe zum Cyberpunk<br />

unterstreichen: The sky<br />

above the port was the color of television,<br />

tuned to a dead channel. Da<br />

werden Erinnerungen wach, und<br />

wer Bye-Bye Borderline hört, spürt<br />

unweigerlich die Stimmung, die<br />

in den stillen Momenten des Cyberpunk<br />

aufkommt, beispielsweise<br />

in den ruhigen Szenen aus<br />

Ghost in the Shell.<br />

Stärker als zuvor stehen bei Zeromancer<br />

die zwischenmenschlichen<br />

Töne im Vordergrund, gescheiterte<br />

Liebe, aber auch verspielte<br />

Freundschaft und die<br />

vernichtende Kraft des Egoismus:<br />

Raise your glas / To pain and<br />

suffering / Let’s make a toast / To<br />

how much I hurt you / Let’s drink to<br />

that / And all sadness. Ähnlich wie<br />

in „Manoeuvres“, woraus das<br />

vorangegangene Zitat stammt,<br />

wird in den zehn Songs der<br />

Schmerz zelebriert, die Bitterkeit<br />

der Erkenntnis angenommen<br />

und subtil Kritik an der modernen<br />

Welt geübt, in der die<br />

menschliche Wärme in den eigenen<br />

Bedürfnissen erstickt.<br />

Die Synthies in „Weakness“ (und<br />

auch anderen Songs) erinnern an<br />

den Sound von New Order aus<br />

den Achtzigern, womit erneut<br />

der Bogen zur Entstehungszeit<br />

des Cyberpunk geschlagen wird.<br />

Zeromancer vermischen den<br />

experimentellen Sound des frühen<br />

Synthie Pop mit modernem<br />

Alternative Rock und Industrial<br />

und schaffen damit Klänge, die<br />

durchweg an grell erleuchtete<br />

Megastädte, das wuchernde<br />

Sprawl oder auch schillernde<br />

Cyberspacewelten erinnern.<br />

Die Ballade des Albums heißt<br />

„Montreal“ und erzeugt die<br />

Stimmung eines trüben Novembermorgens<br />

hinter einer dreckigen<br />

Glasscheibe.<br />

Kurz nach Bye-Bye Borderline ist<br />

übrigens ein Best-Of-Album<br />

(Something For The Pain) erschienen,<br />

welches allerdings nur bedingt<br />

die besten Songs von Zeromancer<br />

enthält. Es fehlen<br />

schlichtweg einige der herausragenden<br />

Stücke, und wer sich<br />

einmal in die Band verliebt hat,<br />

wird damit nicht satt.<br />

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Anspieltipps<br />

Clone Your Lover<br />

Something for the Pain<br />

House of Cards<br />

Doctor Online<br />

Plasmatic<br />

Cupola<br />

Famous Last Words<br />

Blood Music<br />

Sinners International<br />

Fictional<br />

Ammonite<br />

Industrypeople<br />

The Pygmalion Effect<br />

Mint<br />

Manoeuvres<br />

Lcyd<br />

Montreal<br />

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Total Recall<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Darsteller: Colin Farrell, Kate<br />

Beckinsale, Bryan Cranston, Jessica<br />

Biel<br />

Regisseur: Len Wiseman<br />

Format: Dolby Digital 1.5, PAL,<br />

Widescreen, 16:9 - 2.40:1<br />

Sprache: Japanisch, Deutsch ,<br />

Türkisch, Englisch<br />

Sony Pictures Home Entertainment<br />

(2012), Blu-ray, FSK 16, 130<br />

Minuten, circa 8,00 EUR<br />

Wie bereits der SF-Kultfilm Die<br />

totale Erinnerung – Total Recall<br />

mit Arnold Schwarzenegger<br />

basiert auch das Remake Total<br />

Recall von 2012 auf der Kurzgeschichte<br />

„Erinnerungen en gros“<br />

von Philip K. Dick – allerdings<br />

mit einigen Veränderungen, die<br />

aus dem düsteren Marsabenteuer<br />

eine effektvolle Cyberpunkversion<br />

werden lassen. Mancher<br />

spricht da von einem schlechten<br />

Abklatsch und dass Total Recall<br />

niemals an die frühere Umsetzung<br />

herankommen könne; allerdings<br />

wurden Story und Setting<br />

so stark verändert, dass<br />

man beide Filme nur schwer<br />

miteinander vergleichen kann.<br />

Total Recall interpretiert die Geschichte<br />

von Dick auf eine ganz<br />

neue Weise und bedient sich<br />

dabei der Bildästhetik von Blade<br />

Runner, inklusive wuchernder<br />

Architektur, Dauerregen und<br />

einer allgegenwärtigen Düsternis,<br />

die von leuchtenden Farben<br />

(hauptsächlich Rot) aufgebrochen<br />

wird.<br />

Nachdem der dritte Weltkrieg<br />

mit Chemiewaffen ausgetragen<br />

wurde, hat sich ein starkes Ungleichgewicht<br />

zwischen den<br />

letzten bewohnbaren Arealen<br />

entwickelt. In der United Federation<br />

of Britain (UFB) herrscht<br />

Wohlstand, während die Kolonie<br />

(das zukünftige Australien)<br />

einen finsteren Schmelztiegel<br />

verschiedenster Kulturen darstellt.<br />

Douglas Quaid, der von Colin<br />

Farrell gespielt wird, arbeitet in<br />

der UFB an Polizei-Androiden,<br />

kann sich jedoch nur eine kleine<br />

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Wohnung in der Kolonie leisten.<br />

Täglich pendelt er mit dem sogenannten<br />

„Fall“, einem gigantischen<br />

Aufzugsystem, das den<br />

Erdkern durchquert, von einer<br />

Seite der Erde zur anderen,<br />

während er abends sein Gehalt<br />

in Alkohol investiert.<br />

Quaid ist getrieben von dem<br />

Gefühl, dass sein Leben leer und<br />

bedeutungslos ist – und dass es<br />

einmal anders war. In seinen<br />

Träumen ist er ständig auf der<br />

Flucht, aber er tut dort etwas<br />

Sinnvolles. Etwas, woran es sich<br />

lohnt zu glauben. Seine Unzufriedenheit<br />

treibt ihn schließlich<br />

zu Rekall, wo ihm versprochen<br />

wird, ihm mittels künstlicher<br />

Erinnerungen ein ganz neues<br />

Leben zu schenken. Allerdings<br />

müsse er aufpassen, dass sich<br />

seine Wunscherinnerung nicht<br />

auf das reale Leben bezieht.<br />

Quaid entscheidet sich für das<br />

aufregende und unrealistische<br />

Szenario, ein Doppelagent zu<br />

sein.<br />

Kaum wird er an die Maschine,<br />

die seine neuen Erinnerungen<br />

implantieren soll, angeschlossen,<br />

bricht die Hölle los und ein<br />

Sonderkommando stürmt die<br />

Rekall-Niederlassung. Quaid<br />

entdeckt unglaubliche Fähigkeiten<br />

an sich und wird zum Gejagten.<br />

Anscheinend war er<br />

wirklich ein Agent, und seine<br />

Erinnerungen wurden bei Rekall<br />

aktiviert. Denn die Prozedur<br />

hatte noch gar nicht begonnen<br />

– oder etwa doch?<br />

Wie auch der Originalfilm beherrscht<br />

Total Recall das Spiel<br />

mit der Frage, ob irgendetwas<br />

ab dem Besuch bei Rekall wirklich<br />

passiert, geradezu meisterhaft.<br />

Als Quaid zum Gejagten<br />

wird, bleibt kaum Zeit, über<br />

diese Frage nachzudenken, doch<br />

später im Film wird sie sehr<br />

präsent. Seine Verfolger versuchen,<br />

ihm weiszumachen, dass<br />

er immer noch bei Rekall sei<br />

und dass er endlich aufwachen<br />

müsse. Quaid beginnt an der<br />

Echtheit seiner Erlebnisse zu<br />

zweifeln, doch letztlich entscheidet<br />

er sich dafür, weiterzumachen<br />

und dem Mysterium<br />

um seine Agentenvergangenheit<br />

auf den Grund zu gehen.<br />

Total Recall entwickelt sich zu<br />

einem Actionspektakel, das vor<br />

allem visuell überzeugt. Sowohl<br />

die düstere Kolonie als auch die<br />

scheinbar makellose Welt der<br />

UFB werden stimmungsvoll<br />

inszeniert und warten mit allerhand<br />

futuristischen und cyberpunkigen<br />

Details auf.<br />

So erinnert die Kolonie beispielsweise<br />

an eine überfüllte<br />

asiatische Metropole mit florierendem<br />

Schwarzmarkt und<br />

sündigen Vergnügungen, während<br />

die Menschen in der UFB<br />

ihre lichtdurchfluteten Straßen<br />

mit grünen Flecken schmücken,<br />

als hätte die Natur noch irgendeine<br />

Bedeutung. Spannend ist<br />

vor allem die Technologie der<br />

Zukunftsvision, in der Quaid<br />

sein Telefon als Implantat in der<br />

Hand trägt und mittels Druck<br />

auf eine Glasscheibe das passende<br />

Bild dazubekommt. In der<br />

Kolonie sind zudem leuchtende<br />

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Tätowierungen angesagt, und<br />

Schönheitsoperationen kennen<br />

kaum noch Grenzen, wie eine<br />

dreibusige Dame beweist (die<br />

gleichzeitig eine Hommage an<br />

Die totale Erinnerung darstellt).<br />

Die Polizeiarbeit wird währenddessen<br />

von speziell für den<br />

Kampf entwickelten Androiden<br />

übernommen, die zwar stark,<br />

aber noch nicht intelligent genug<br />

für einen Einsatz ohne<br />

menschliche Anführer sind. Was<br />

die wuchernde Architektur betrifft,<br />

geht Total Recall weiter als<br />

Blade Runner, denn die wie ein<br />

Irrgarten in einen dunkelgrauen<br />

Himmel wuchernden Betongebäude<br />

scheinen in der Luft zu<br />

hängen und sind mit allerhand<br />

Metallbrücken verbunden.<br />

der Welt entscheidend wären.<br />

Die beiden Frauen in Quaids<br />

Leben sind (cyberpunktypisch)<br />

taffe Ladys, bestens für den<br />

Kampf ausgebildet und natürlich<br />

verdammt attraktiv. Leider<br />

artet ihre Interaktion in einen an<br />

ein Eifersuchtsdrama erinnernden<br />

Catfight aus.<br />

Die Antagonisten sind recht<br />

stereotyp geraten, und das Ende<br />

könnte man glatt als kitschig<br />

bezeichnen. Dazu mangelt es<br />

Colin Farrell als Quaid an Ecken<br />

und Kanten, er wirkt schlichtweg<br />

zu smart und zu gefällig.<br />

Das bedeutet weniger, dass<br />

Farell keinen guten Job macht,<br />

vielmehr wurde seine Figur<br />

schwach ausgearbeitet, und so<br />

dient er mehr als Frauenschwarm<br />

denn als kantiger Cyberpunkheld.<br />

Wer nicht permanent Vergleiche<br />

mit der früheren Verfilmung<br />

zieht und Lust auf Daueraction<br />

in einem coolen Cyberpunksetting<br />

hat, wird mit Total Recall<br />

seine Freude haben. Zudem<br />

zeigt der Film eindrucksvoll,<br />

dass Cyberpunk nach wie vor<br />

ein aktuelles Thema ist, und<br />

stellt eine gelungene Mischung<br />

aus klassischen Genreelementen<br />

und frischen Ideen dar. Den<br />

Director’s Cut (der länger und<br />

damit empfehlenswert ist) auf<br />

Blu-ray kann man inzwischen<br />

recht günstig bekommen.<br />

Bei all der unterhaltsamen Action<br />

und den visuellen Highlights<br />

lässt Total Recall die inhaltliche<br />

und charakterliche<br />

Tiefe vermissen. Der Film ist<br />

eine durchgängige Hetzjagd, die<br />

kaum Raum für Nebencharaktere<br />

lässt, die für die Lebendigkeit<br />

Copyright by Sony Home Entertainment<br />

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The Diamond Age<br />

Eine Rezension von Almut Oetjen<br />

Autor: Neal Stephenson<br />

Verlag: Goldmann (2014)<br />

Genre: Post-Cyberpunk / Steampunk<br />

eBook (epub)<br />

559 Seiten, 8,49 EUR<br />

ISBN: 978-3-641-14682-5<br />

(es gibt diverse alte Taschenbuchausgaben)<br />

In einer zeitlich unbestimmten<br />

Zukunft erhält der neoviktorianische<br />

Nanotechniker<br />

John Percival Hackworth von<br />

dem Großindustriellen Lord<br />

Alexander Finkle-McGraw den<br />

Auftrag, für dessen vierjährige<br />

Enkelin Elizabeth die „Illustrierte<br />

Fibel für die junge Dame“ zu<br />

erstellen, ein interaktives Buch<br />

als Basis für die Erziehung des<br />

Mädchens. Es soll ein Substitut<br />

für sämtliche erzieherischen Institutionen<br />

sein, das Mädchen<br />

optimal auf seine Zukunft vorbereiten<br />

und es gleichzeitig mit<br />

einem rebellischen Geist ausstatten,<br />

der den Herrschenden von<br />

Nutzen sein kann.<br />

Hackworth erstellt jedoch nicht<br />

nur das gewünschte Unikat,<br />

sondern einen weiteren Band für<br />

seine Tochter. Dieser Band gerät<br />

in den Besitz eines Mädchens aus<br />

der Unterschicht, der vierjährigen<br />

Nell. Nell lernt mithilfe der<br />

Fibel, zu lesen, zu schreiben und<br />

ihr Äußeres sowie ihr Urteilsvermögen<br />

zu entwickeln.<br />

Little Nell und der digitale Erziehungsratgeber<br />

Wie könnten Medien der Zukunft<br />

aussehen, die der Bildung<br />

und Erziehung des Menschengeschlechts<br />

oder dessen Elite dienen<br />

sollen? Stephenson verbindet<br />

dieses alte Anliegen mit einem<br />

Szenario gesellschaftlicher<br />

Entwicklung, die getrieben ist<br />

durch Herstellung und Absicherung<br />

von Machtinteressen. Er<br />

arbeitet die Nanotechnologie<br />

nicht literarisch in Haarwaschmittel<br />

und Tomatenketchup ein,<br />

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sondern überträgt sie in den Sektor<br />

humanistischer Bildung und<br />

politisiert sie konsequent.Die<br />

gesellschaftlichen Folgewirkungen<br />

des Einsatzes nanotechnologischer<br />

Entwicklungen, namentlich<br />

im Erziehungsbereich, sind<br />

eins seiner Themen.<br />

Hierzu verwendet er drei Charaktere<br />

als Hauptfiguren: die<br />

kleine Nell mit der Fibel, John<br />

Percival Hackworth, den Entwickler<br />

der auf Smart-Paper verfassten<br />

Fibel, und Miranda, eine<br />

Schauspielerin, die die Texte der<br />

Figuren in dieser Fibel spricht<br />

und an der Schnittstelle die Verbindungsfigur<br />

für die Netzwerkbeziehung<br />

zu Nell ist. Zusammengefasst<br />

scheint die Fibel die<br />

Hauptfigur zu sein.<br />

The Diamond Age erzählt in zwei<br />

Handlungssträngen vom Niedergang<br />

John Percival Hackworths<br />

und vom Aufstieg Nells.<br />

Die beiden Stränge weisen Querverbindungen<br />

auf, bis sie nach<br />

rund zehn Jahren Handlungszeit<br />

von Stephenson auf ein Gleis<br />

gesetzt und gegeneinander auf<br />

Crashkurs geschickt werden.<br />

Stephenson kombiniert in seiner<br />

Erzählung eine Dickens’sche<br />

Geschichte vom Erwachsenwerden<br />

und gesellschaftlichen Aufstieg<br />

eines Kindes – man erinnere<br />

sich an Little Nell aus dem<br />

Dickens-Roman Der Raritätenladen<br />

(The Old Curiosity Shop) – mit<br />

einer Zukunftswelt, die durch<br />

Nanotechnologie bestimmt wird.<br />

Daraus ist keine der mittlerweile<br />

in beträchtlicher Anzahl existierenden<br />

Parallelweltgeschichten<br />

in viktorianischem Setting geworden,<br />

sondern eine Zukunftsgeschichte,<br />

in der Wertvorstellungen<br />

des 19. Jahrhunderts bestimmend<br />

sind und die Elemente<br />

des Steampunk enthält.<br />

Insoweit er Science Fiction erzählt<br />

und diese gesellschaftspolitisch<br />

verortet, handelt es sich bei<br />

The Diamond Age um Cyberpunk.<br />

(Teile der Rezeption sehen ihn<br />

als Nicht-Cyberpunk, andere als<br />

Post-Cyberpunk.) Wichtige Cyberpunk-Komponenten<br />

sind der<br />

Kollaps der Nationalstaaten und<br />

chirurgisch in den menschlichen<br />

Körper implantierte Technologien:<br />

Kameras, die die Größe von<br />

Mikroorganismen haben, Schusswaffen,<br />

die in den Schädel gearbeitet<br />

sind und über Gedanken<br />

gesteuert werden, phantaskopische<br />

Systeme auf der Retina,<br />

Soundsysteme im Trommelfell.<br />

Es gibt auch in das Rückenmark<br />

implantierte „telæstetics“, die<br />

jedoch nicht unproblematisch<br />

sind. Für Medienkonzerne arbeitende<br />

Hacker können sich Zugang<br />

zu ihnen verschaffen und<br />

Werbung in das periphere Sichtfeld,<br />

manchmal auch direkt auf<br />

die Fovea übertragen.<br />

Stephenson hat den Erzählstrang<br />

um die Fibel so konstruiert, dass<br />

er darin seine Gedanken über<br />

künstliche Intelligenz, die er<br />

auch Pseudo-Intelligenz nennt,<br />

die Unterscheidung zwischen<br />

künstlicher und menschlicher<br />

Intelligenz, insbesondere im<br />

ökonomischen Kontext, und über<br />

Turingmaschinen unterbringen<br />

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kann. Die Fibel ist aber nicht<br />

vollständig und ausschließlich<br />

eine Turingmaschine, wie sich<br />

bald zeigt, weil reale Menschen<br />

hinter den digitalen Konstrukten<br />

stehen.<br />

Weltenbau<br />

In The Diamond Age bildet nicht<br />

mehr Energie, sondern die Nanotechnologie<br />

den Blutkreislauf,<br />

ohne den Wirtschaftsleben nicht<br />

mehr möglich ist. Materie-<br />

Compiler sind die alles beherrschende<br />

und erzeugende Produktionstechnologie.<br />

Die Welt<br />

wird durch freie Märkte bestimmt.<br />

Diese Entwicklung wurde<br />

eingeleitet durch den global<br />

unbeschränkten elektronischen<br />

Transfer von Kapital und Informationen.<br />

Regierungen haben<br />

keinen Zugriff mehr auf Kapitalströme,<br />

die Steuererhebung ist<br />

eine bedeutungslose Restgröße<br />

im politischen Handeln.<br />

Von nennenswerter ökonomischer<br />

Bedeutung sind eigentlich<br />

nur Eigentumsrechte an den<br />

Bauplänen, den Produktionsinformationen<br />

für die Materie-<br />

Compiler, außerdem die Steuereinrichtungen<br />

für die Compiler<br />

und Fabriken für atomare Bausteine,<br />

schließlich die Feeder-<br />

Leitungen für die Versorgung<br />

der Compiler mit Material. Stephenson<br />

greift hier auch die in<br />

den 1990er-Jahren intensiv geführte<br />

Diskussion um Eigentumsrechte<br />

und freien Zugang<br />

bei Internettechnologien (besonders<br />

Software) auf.<br />

Die Welt von The Diamond Age<br />

wird in ihrer Struktur bestimmt<br />

durch Phyles, Stammeskulturen,<br />

die mitunter von Stephenson<br />

auch als Tribes bezeichnet werden.<br />

Sie haben Nationalstaaten<br />

ersetzt und grenzen sich gegeneinander<br />

ab durch vor allem ethnische<br />

Herkunft, Religion und<br />

einen Moralkodex.<br />

Die Phyles verhalten sich zueinander<br />

wie Nationalstaaten.<br />

Grundlage ihres friedlichen Zusammenlebens<br />

ist das „Common<br />

Economic Protocol“ (CEP). Dieses<br />

Protokoll ist eine rechtsverbindliche<br />

Vereinbarung, durch<br />

die Handlungen bis hin zum<br />

wirtschaftlich bewerteten Tötungsdelikt<br />

geregelt sind.<br />

Stephenson unterscheidet drei<br />

große Phyles: die Han-Chinesen,<br />

die Neo-Viktorianer und Nippon.<br />

Als möglicher vierter Phyle<br />

diskutiert wird Hindustan, wobei<br />

unklar ist, ob es sich um eine<br />

Ansammlung kleinerer Stämme<br />

handelt. Weiter gibt es hunderte<br />

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kleiner und weltpolitisch unbedeutender<br />

Phyles, darunter<br />

CryptNet und die Drummers.<br />

Während Neu-Atlantis und Nippon<br />

territorial nicht gebundene<br />

Konstrukte sind, die sich nach<br />

Bedarf dank vorhandener Technologien<br />

einfach neue Offshore-<br />

Inseln schaffen können, sind die<br />

meisten Chinesen territorial gebunden.<br />

Die Neo-Viktorianer, zu denen<br />

John Percival Hackworth gehört,<br />

sind eine wirtschaftsaristokratische<br />

Elite, deren Mitglieder sich<br />

Dividenden-Lords nennen. Sie<br />

sprechen einen gepflegten Dialekt,<br />

den sie dem viktorianischen<br />

Englisch entlehnt haben. Sie kontrollieren<br />

die Weltproduktion an<br />

Konsumgütern und Immobilien,<br />

befinden sich in wirtschaftlicher<br />

Konkurrenzbeziehung mit Nippon<br />

und betreiben Außenposten<br />

in der Küstenrepublik im Südchinesischen<br />

Meer, von wo aus<br />

sie den letzten Nationalstaat<br />

wirtschaftlich erschließen wollen,<br />

das Reich der Han-Chinesen.<br />

In Leasing-Parzellen, die in der<br />

Küstenrepublik bestehen, existiert<br />

eine ökonomische Unterschicht,<br />

die durch Alimentierung<br />

abgesichert und ruhig gestellt ist.<br />

Die Befriedigung von Grundbedürfnissen<br />

schließt jedoch Bildung<br />

und einen sozialen Aufstieg<br />

in einen der Stämme aus.<br />

Fazit<br />

Neal Stephensons vierter Roman,<br />

The Diamond Age, ist ein breit<br />

angelegtes Werk, dessen Lektüre<br />

eine hohe Aufmerksamkeit erfordert.<br />

Auf den ersten Blick<br />

wirkt er etwas verwirrend, viele<br />

neue beziehungsweise fremde<br />

Begriffe werden nicht erklärt und<br />

erst später im erzählerischen<br />

Zusammenhang deutlich. Der<br />

Autor entwirft eine feine Erziehungs-<br />

und Bildungsgeschichte,<br />

die in einer durch die Nanotechnologie<br />

geprägten Zukunft<br />

spielt. Neal Stephenson zu lesen<br />

bedeutet immer Arbeit, macht<br />

aber auch immer Spaß.<br />

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Interview mit Francis Knight<br />

geführt von Judith Madera<br />

PHANTAST: Hallo, Francis! In<br />

unserer aktuellen Ausgabe<br />

dreht sich alles um Cyberpunk –<br />

was verbindest Du persönlich<br />

mit dem Genre?<br />

Francis Knight: Ich glaube, am<br />

meisten verbinde ich damit den<br />

Gebrauch von Technik (jeglicher<br />

Art) und seine negativen Auswirkungen<br />

auf die gewöhnlich<br />

dystopische Gesellschaft.<br />

Was die Atmosphäre angeht,<br />

erinnert der Cyberpunk oft an<br />

den Film noir und die Kriminalliteratur.<br />

Hauptfiguren sind<br />

meist Einzelgänger oder auf<br />

eine andere Weise Außenseiter.<br />

So in der Art von Raymond<br />

Chandler trifft auf SF über die<br />

nahe Zukunft.<br />

PHANTAST: Welche Cyberpunkromane/-autoren<br />

hast Du<br />

gelesen? Und was / wer hat Dir<br />

am besten gefallen?<br />

Francis Knight: William Gibson,<br />

Phillip K. Dick, Richard K. Morgan<br />

und Charlie Stross kommen<br />

mir da in den Sinn – ich bewege<br />

mich als Leser in allen Genres,<br />

konzentriere mich also eher<br />

nicht auf ein einziges.<br />

Am meisten mag ich Phillip K.<br />

Dick. Ich liebe, wie er Erfindung<br />

oder Entwicklung X eine Gesellschaft<br />

verändern lässt, vor allem<br />

wie sie anfangs gut erscheinen<br />

kann und letztlich ungeahnte<br />

Auswirkungen zeitigt.<br />

PHANTAST: Die ersten Kapitel<br />

von Weg ins Nichts lesen sich<br />

durchaus wie Cyberpunk, später<br />

klingt die Story eher wie<br />

dreckige Dark Fantasy. Kannst<br />

Du grob umreißen, was die Leser<br />

erwartet?<br />

Francis Knight: Es finden sich<br />

durchaus Elemente des Cyberpunk<br />

– etwa bei der Atmosphäre<br />

und der Hauptfigur. Auch<br />

Technik spielt eine Rolle, aber<br />

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der Unterschied ist, dass der<br />

Technik eine unvollständig verstandene<br />

Magie zugrunde lag,<br />

zumindest bis Magie verbannt<br />

wurde – Magie trieb Kutschen<br />

an, beleuchtete Häuser usw.<br />

Als jedoch Synth erfunden wurde,<br />

benötigte man nicht länger<br />

Magier, da diese synthetische<br />

Energiequelle für alles brauchbar<br />

war. Leider ergaben sich –<br />

wie bei vielen Erfindungen –<br />

unbeabsichtigte Folgen! Man hat<br />

eine Notlösung gefunden, aber<br />

die ist nicht perfekt. Man versucht<br />

davon abzugehen, die<br />

Magie als Energiequelle fürs<br />

alltägliche Leben zu benutzen,<br />

und forscht ausgiebig in dieser<br />

Richtung – jüngst wurden<br />

Schusswaffen entwickelt, und<br />

einige wirklich gute Alchimisten<br />

stehen kurz vor einem Durchbruch<br />

im Bereich der Elektrizität<br />

–, aber dann beginnt das Buch,<br />

und es sieht so aus, als werde<br />

die Magie mehr benötigt, als<br />

man dachte ...<br />

ihn wenig von Bedeutung (inklusive<br />

er selbst), und er denkt<br />

äußerst zynisch von der Gesellschaft,<br />

in der er lebt. Im Verlauf<br />

der Serie lernt er dann ständig<br />

dazu und beginnt den Wert anderer<br />

Menschen – und den eigenen<br />

– zu erkennen. Zynisch<br />

bleibt er aber trotzdem!<br />

Ich glaube, was mir an Rojan am<br />

besten gefällt, ist der Gegensatz<br />

aus ruppigem Auftreten und<br />

einem ganz anderen Innenleben.<br />

Er ist einfach ein Mensch, der<br />

versucht, die konfuse Welt zu<br />

verstehen, in der er lebt, und<br />

damit kaum Erfolg hat.<br />

Vielleicht kann man das Buch<br />

als eine Art Fantasy-Cyberpunk<br />

mit Noir-Elementen beschreiben.<br />

PHANTAST: Welchen der Charaktere<br />

Deiner Rojan Dizon-Serie<br />

magst Du am liebsten? Und was<br />

sagen Deine Leser?<br />

PHANTAST: Was ist Dein Protagonist<br />

Rojan für ein Typ? Anfangs<br />

erscheint er recht egoistisch<br />

und depressiv …<br />

Francis Knight: Das beschreibt<br />

ihn haargenau! Zu Beginn ist für<br />

Francis Knight: Ich glaube, Rojan<br />

ist jemand, mit dem man gut<br />

rumwitzeln könnte. Meine Lieblingsfigur<br />

(und die der meisten<br />

Emails, die ich erhalten habe) ist<br />

jedoch Pasha. Der ist sich auch<br />

nicht für witzige Sprüche zu<br />

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fein, aber vor allem hat er ein<br />

weiches Herz und ist fast schon<br />

das Gewissen, das Rojan anfangs<br />

fehlt.<br />

Pasha trägt tiefe emotionale<br />

Narben mit sich herum, aber er<br />

tut sein Bestes, damit klarzukommen.<br />

Während Rojan aufgrund<br />

seiner Erfahrungen die<br />

herrschende Religion ablehnt,<br />

findet Pasha Trost darin, leidenschaftlich<br />

an sie zu glauben,<br />

obwohl in seiner Heimat die<br />

Göttin eigentlich ganz anders<br />

verehrt wird. Er sieht in Rojan<br />

den bitteren Mann, der er selbst<br />

hätte werden können, dank harter<br />

Arbeit an sich aber nicht geworden<br />

ist. Er ist im Wesentlichen<br />

ein von moralischem Denken<br />

geleiteter Mensch, und Rojan<br />

ist ziemlich neidisch auf ihn.<br />

PHANTAST: Wie ist die Gesellschaft<br />

in Weg ins Nichts aufgebaut?<br />

Und welchen Stellenwert<br />

haben die Magier?<br />

Francis Knight: Zu Beginn des<br />

Buches genießen Magier keinerlei<br />

Ansehen – sie sind Ausgestoßene.<br />

Schon deshalb benutzt<br />

Rojan Magie sehr umsichtig<br />

(ganz abgesehen davon tut sie<br />

weh, und er ist in Sachen<br />

Schmerz ein Feigling).<br />

Vor vielen Jahren übten die Magier<br />

– ziemlich repressiv – die<br />

Herrschaft aus. Als Folge kam<br />

es zu einem Staatsstreich, und<br />

die Priester übernahmen die<br />

Macht. Unglücklicherweise erwiesen<br />

die sich als ebensolche<br />

Gewaltherrscher.<br />

Da die Stadt vertikal aufgebaut<br />

ist, lebt es sich am besten ganz<br />

oben, wo man regelmäßig die<br />

Sonne scheinen sieht. Dort leben<br />

auch all die Bischöfe und Kardinäle.<br />

Unterhalb befinden sich<br />

verschiedene Schichten – je ärmer<br />

man ist, desto näher kommt<br />

man dem Boden und dem tödlichen<br />

Synthtox.<br />

PHANTAST: Magie wird in<br />

Weg ins Nichts mit Hilfe von<br />

Schmerz gewirkt. Wie funktioniert<br />

das? Und gibt es auch andere<br />

Formen von Magie?<br />

Francis Knight: Hm, für mich<br />

muss jede Magie eine Kraftquelle<br />

besitzen, sei sie nun innerlich<br />

oder äußerlich. Ich spielte mit<br />

einigen Ideen herum, die Magie<br />

als Energie mit Eigenschaften<br />

wie Elektrizität behandeln: Ist<br />

sie einmal erzeugt, fließt sie unter<br />

bestimmten Bedingungen,<br />

entlädt sich sogar in einer Art<br />

Überspannung, wenn man sie<br />

lässt. Schmerz ist die innerliche<br />

Turbi ne, die sie in Gang setzt.<br />

Es gibt noch andere, schwächere<br />

Formen von Magie, aber die<br />

kommen ziemlich selten vor. So<br />

kann ein Magier Magie mittels<br />

Schmerz wirken, und das muss<br />

nicht der eigene sein. Was offensichtlich<br />

Möglichkeiten des<br />

Missbrauchs eröffnet ...<br />

Rojan benutzt nur seinen eigenen<br />

Schmerz, aber eigentlich hat<br />

er Angst vor seiner Magie, und<br />

das nicht nur, weil sie wehtut.<br />

Bei zu häufigem Magiegebrauch<br />

kann ein Magier ins Nichts fallen<br />

– und ist dann verloren. Die<br />

Geschichte der Stadt ist übersät<br />

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mit Magiern, die völlig wahnsinnig<br />

wurden.<br />

PHANTAST: Nach welchem<br />

Vorbild hast Du den urbanen<br />

Moloch Mahala geschaffen? Wie<br />

ist die Stadt aufgebaut?<br />

Francis Knight: Mir scheint,<br />

dass Mahala einerseits von<br />

[Judge] Dredds Mega-City One<br />

und zum anderen von der Stadt<br />

aus Blade Runner inspiriert wurde.<br />

Im ersten Fall durch ihre<br />

Größe und die Art, wie sie gewachsen<br />

und gewuchert ist, im<br />

zweiten durch ihre Atmosphäre.<br />

Ursprünglich einmal war die<br />

Stadt eine Burg in einem tiefeingeschnittenen<br />

Gebirgstal, das als<br />

Pass zwischen zwei großen<br />

Staaten diente.<br />

Diese konnten nur über Mahala<br />

miteinander Handel treiben,<br />

wodurch die Stadt stetig wuchs.<br />

Ohne Raum sich auszubreiten,<br />

füllte sie schließlich das Tal aus<br />

bis zu seinem oberen Rand –<br />

und noch höher. Eine Gebäudeschicht<br />

über der anderen, und<br />

die besten und exklusivsten<br />

Gebäude ganz oben an der<br />

freien Luft.<br />

PHANTAST: Was befindet sich<br />

eigentlich außerhalb von Mahala?<br />

Gehst Du darauf im zweiten<br />

oder dritten Band ein?<br />

Francis Knight: Die Theokratie,<br />

die in Mahala herrscht, erzählt<br />

den Menschen (die sonst womöglich<br />

fortziehen wollten)<br />

gern, es gebe nichts außerhalb<br />

der Stadt. Obwohl es logischerweise<br />

eine Außenwelt geben<br />

muss, immerhin treibt man<br />

Handel. Aber, wie Rojan sagt:<br />

Man kann gleichzeitig an zwei<br />

sich widersprechende Sachen<br />

glauben, etwa den Sonnenschein<br />

und den Regen. Zweifellos gibt<br />

es keinen Weg aus der Stadt<br />

hinaus, zumindest am Anfang<br />

des Buches. Im weiteren Verlauf<br />

der Bücher werden aber Menschen<br />

von außerhalb auftreten,<br />

wenn die Theokratie die Täuschung<br />

nicht mehr aufrechterhalten<br />

kann.<br />

PHANTAST: Du erwähntest<br />

Blade Runner als Inspiration.<br />

Was gefiel Dir an der Geschichte?<br />

Was gefällt Dir besser: Phil<br />

K. Dicks Roman oder Ridley<br />

Scotts Film?<br />

Francis Knight: Blade Runner ist<br />

einer meiner absoluten Lieblingsfilme,<br />

aber ich bin mir nicht<br />

sicher, ob ich das näher begrün-<br />

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den könnte. Vielleicht liegt es<br />

am düsteren Stil? Dass die ganze<br />

Gesellschaft ̶ mithilfe kleiner<br />

Einzelheiten hier und dort ̶<br />

lebendig wird, wodurch letztlich<br />

eine pulsierende, sehr reale<br />

Welt entsteht. Wie der Film mit<br />

Vorstellungen davon, was unsere<br />

Menschlichkeit ausmacht,<br />

umgeht (und spielt). Wie er diese<br />

bösartigen Killer einführt ...<br />

und dann unser Mitleid (auf<br />

jeden Fall meines) für sie erweckt.<br />

Das ist ein Meisterwerk<br />

der Erzählkunst.<br />

Do Androids Dream of Electric<br />

Sheep? ist da ganz anders ̶ obwohl<br />

gleichzeitig sehr ähnlich.<br />

Das Buch befasst sich mit denselben<br />

Themen, nur auf andere<br />

Art, und fügt ihnen noch die<br />

religiöse Bewegung des Mercerismus<br />

hinzu, um die Vorstellung<br />

zu untersuchen, dass das<br />

Leiden eines Einzelnen die Welt<br />

empathisch vereinen kann.<br />

Ich könnte mich nicht zwischen<br />

beiden Werken entscheiden ̶<br />

mir gefallen an ihnen ihre Unterschiede<br />

genauso wie ihre<br />

Ähnlichkeiten.<br />

PHANTAST: Kannst Du Dir<br />

eine Verfilmung der Rojan-<br />

Dizon-Romane vorstellen? Welchen<br />

Schauspieler sähest Du<br />

gern als Rojan?<br />

Francis Knight: Oh, ein<br />

Wunschtraum! Das könnte ich<br />

mir gut vorstellen. Ich bin ein<br />

sehr visuell denkender Autor,<br />

das heißt, die Geschichte läuft<br />

beim Schreiben wie ein Film vor<br />

meinen Augen ab. Das ist ja<br />

schon der halbe Weg.<br />

Was die Schauspieler angeht ̶<br />

alle, die für mich perfekt passen<br />

würde, sind heute schon ein<br />

bisschen zu alt.<br />

Eigentlich ist es eine ziemlich<br />

schwierige Frage, weil ich so ein<br />

genaues Bild in meinem Kopf<br />

habe ̶ ich würde also die Entscheidung<br />

dem Regisseur überlassen!<br />

Aber ich könnte mit<br />

Pedro Pascal leben (dem Oberyn<br />

Martell in Game of Thrones).<br />

PHANTAST: Hast Du Feedback<br />

aus Deutschland erhalten,<br />

von Fans oder Deinem deutschen<br />

Verlag?<br />

Francis Knight: Ja, und sehr<br />

positives. Besonders gefiel mir<br />

die Nachricht der Übersetzerin<br />

(Melanie Vogltanz), die schrieb,<br />

sie hätten die letzten Seiten von<br />

Buch drei in einer Marathonsitzung<br />

fertiggestellt, weil sie un-<br />

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bedingt wissen wollten, wie es<br />

ausgeht!<br />

PHANTAST: Last but not least<br />

eine der wichtigsten Fragen:<br />

Wann und warum begannst Du<br />

zu schreiben? Und wovon handelte<br />

Deine erste Geschichte?<br />

Francis Knight: Ich habe schon<br />

immer kleine Geschichten in<br />

meinem Kopf erfunden; mir war<br />

nur nicht klar, dass irgendjemand<br />

mir Geld dafür geben<br />

würde, sie lesen zu dürfen.<br />

Dann wurde ich jahrelang von<br />

ME umgeworfen (Myalgische<br />

Enzephalomyelitis ̶ das Chronische<br />

Erschöpfungssyndrom).<br />

Körperliche Anstrengung war<br />

mir fast unmöglich, ich war<br />

praktisch ans Haus gebunden.<br />

Ich war bei Tabletop-Rollenspielen<br />

immer Spielleiter gewesen,<br />

darum fing ich an ̶ als Verteidigungsstrategie<br />

gegen die<br />

Erbärmlichkeit des Nachmittagsfernsehens<br />

̶ , eine ausführlichere<br />

Geschichte zu schreiben.<br />

So entstand mein erstes Buch:<br />

Ein lang verschollener Zauberer,<br />

der mit einem Bann belegt wurde,<br />

wird zufällig von einer jungen<br />

Frau von geheimnisvoller<br />

Herkunft herbeibeschworen.<br />

Das war ... nicht das originellste<br />

Konzept aller Zeiten, aber die<br />

Lust am Schreiben hatte mich<br />

gepackt und ich habe seitdem<br />

einfach immer weitergemacht.<br />

Ich fand einen Kleinverlag, der<br />

das Buch veröffentlichte. Und es<br />

gewann sogar einen klitzekleinen<br />

Preis!<br />

PHANTAST: Herzlichen Dank<br />

für das schöne Interview, Francis!<br />

Francis Knight: Danke gleichfalls!<br />

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Weg ins Nichts<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Autorin: Francis Knight<br />

Verlag: Papierverzierer (2014)<br />

Cover: Tony Andreas Rudolph<br />

Übersetzerin: Melanie Vogltanz<br />

Genre: Fantasy / Cyberpunk<br />

Klappenbroschur<br />

416 Seiten; 14,95 EUR<br />

ISBN: 9783944544205<br />

Als Kopfgeldjäger fängt Rojan<br />

Dizon hauptsächlich Ausreißer<br />

und Kleinkriminelle ein und<br />

versucht sich aus großem Ärger<br />

herauszuhalten. Er lebt in den<br />

tieferen Ebenen der Stadt, um<br />

nicht als Schmerzmagier erkannt<br />

zu werden, da Magie offiziell<br />

verboten ist. Wirklich unglücklich<br />

ist er damit nicht, er<br />

nutzt seine Kräfte ohnehin nur<br />

für simple Tricks und will seine<br />

Grenzen nicht ausloten – viel<br />

lieber betrinkt er sich und geht<br />

mit mehreren Mädchen gleichzeitig<br />

aus.<br />

Als jedoch sein Bruder angeschossen<br />

und dessen Tochter<br />

entführt wird, ist Rojan gezwungen,<br />

sein bequemes, egozentrisches<br />

Leben aufzugeben<br />

und seine Nichte in der düsteren<br />

Unterstadt zu suchen …<br />

Weg ins Nichts spielt in der fiktiven<br />

Stadt Mahala, einem zwischen<br />

hohen Bergen eingekesselten<br />

Handelszentrum, das<br />

statt in die Breite in die Höhe<br />

gewachsen ist.<br />

Häuser wurden auf Häuser gebaut,<br />

und die Reichen leben in<br />

Höhen, die wie Inseln über der<br />

Stadt hängen, verbunden durch<br />

schwingende Straßen. Mahala<br />

ist ein riesiges architektonisches<br />

Durcheinander, doch die Gesellschaftsschichten<br />

sind klar abgegrenzt:<br />

Unten leben die Verlierer<br />

des Systems, in der Mitte die<br />

Händler und Arbeiter und oben,<br />

wie zu erwarten, die Reichen<br />

und Führer des Ministeriums,<br />

das einer Kirche gleicht und im<br />

Namen der Göttin hart durchgreift.<br />

Früher lieferte die<br />

Schmerzmagie die Energie für<br />

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Maschinen, Fahrzeuge, Beleuchtung<br />

etc., danach war es das<br />

Synth, welches sich als hochgiftig<br />

herausstellte und durch einen<br />

Stoff namens Glimm ersetzt<br />

wurde.<br />

Rojans Mutter ist an einer Synthvergiftung<br />

langsam und qualvoll<br />

gestorben, während sich<br />

sein Vater verpisst hat. Geprägt<br />

von dieser unglücklichen Kindheit,<br />

ist Rojan ein zynischer Egoist<br />

geworden, der seine wahre<br />

Natur vor dem Ministerium<br />

verbirgt und durch die Abgründe<br />

der Stadt schleicht, um sich<br />

mit Alkohol und Frauen abzulenken.<br />

Der Roman ist aus seiner<br />

Sicht in Ich-Perspektive geschrieben,<br />

wodurch man in den<br />

Genuss einer herrlich derben<br />

Sprache kommt, die perfekt zu<br />

Rojan als selbstsüchtigem Anti-<br />

Helden mit einem kleinen Funken<br />

Anstand passt.<br />

Als seine Nichte, von der er bisher<br />

nichts ahnte, entführt wird,<br />

beginnt Rojan sich zu verändern,<br />

schließlich tut er zum ersten<br />

Mal etwas Uneigennütziges.<br />

Zudem taucht er in die dunkelsten<br />

Geheimnisse Mahalas ein<br />

und entdeckt, dass in der Höhle<br />

unter der Stadt, dem früheren<br />

Mahala, immer noch Menschen<br />

leben – und ihr Leben erscheint<br />

ihm trotz der katastrophalen<br />

Zustände lebenswerter als das<br />

der abgerichteten Bevölkerung<br />

der Oberstadt.<br />

In der Unterstadt wird Rojan<br />

relativ schnell vom Ministerium<br />

verfolgt, doch er erhält Hilfe<br />

von zwei Bewohnern der finsteren<br />

Höhle, Jake und Pasha, die<br />

ihren Einfluss nutzen, um entführte<br />

Kinder zu befreien. Denn<br />

in der Höhle verschwinden<br />

ständig Mädchen und Jungen<br />

und werden von Schmerzmagiern<br />

gequält.<br />

Um ihre Rettungsmissionen zu<br />

finanzieren, kämpft die taffe<br />

Jake in einer Arena zur Belustigung<br />

der Bevölkerung. Man<br />

merkt früh, dass sie eine hochemotionale<br />

Frau mit Geheimnissen<br />

ist, doch diese versteckt sie<br />

unter einer kühlen und steinharten<br />

Fassade. Pasha wird dagegen<br />

von Rojan als „Äffchen“<br />

beschrieben, er ist freundlich<br />

und zurückhaltend. Doch Pasha<br />

hat noch eine andere Seite und<br />

kann von einer Sekunde auf die<br />

andere jemandem den Lauf einer<br />

Waffe ins Gesicht halten<br />

und eiskalt drohen.<br />

Zwischen Rojan, Pasha und Jake<br />

entwickelt sich langsam ein<br />

freundschaftliches Verhältnis,<br />

doch in diesem Dreiergespann<br />

gibt es bald diverse Konflikte,<br />

die neben der dramatischen<br />

Entführungsgeschichte zusätzliche<br />

Spannung in die Handlung<br />

bringen.<br />

In den letzten Kapiteln verliert<br />

sich die Autorin allerdings etwas<br />

im Gefühlschaos, das im<br />

harten Thrillerplot deplatziert<br />

wirkt. Auch scheint es Francis<br />

Knight schwer zu fallen, Szenen<br />

mit vielen Charakteren zu<br />

schreiben, denn sobald mehr als<br />

drei die Handlung tragende<br />

Personen anwesend sind, gehen<br />

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die restlichen unter, und man<br />

wundert sich, wenn diese plötzlich<br />

etwas sagen. Das betrifft<br />

sogar den großen Antagonisten<br />

am Ende, der beinahe in Vergessenheit<br />

gerät und nur durch<br />

eingestreute gehässige Kommentare<br />

auffällt.<br />

Die ersten Kapitel von Weg ins<br />

Nichts lesen sich wie Cyberpunk,<br />

wobei sich nach und nach<br />

Fantasyelemente in die dystopische<br />

Geschichte mischen. Mahala<br />

erinnert dabei, wie von Francis<br />

Knight beabsichtigt, an düstere<br />

Cyberpunkstädte à la Blade<br />

Runner, während Jake genretypisch<br />

eine starke Frau ist, ähnlich<br />

wie Molly aus Neuromancer.<br />

Überhaupt werden Genrefans<br />

einige Parallelen zu bekannten<br />

Cyberpunkwerken entdecken.<br />

Schmerzmagie scheint die einzige<br />

Form von Magie zu sein, allerdings<br />

kann jeder seinen oder<br />

auch den Schmerz anderer für<br />

verschiedene Begabungen nutzen.<br />

Rojan kann beispielsweise<br />

Menschen ausfindig machen,<br />

und er kann sein Gesicht verändern<br />

– Fähigkeiten, die sich für<br />

das Gelingen seiner Mission als<br />

essentiell erweisen. Auf der<br />

Grundlage dieser Magie hat<br />

Francis Knight einen sehr eigenwilligen,<br />

dreckigen Roman<br />

verfasst, dessen zentrales Thema<br />

die Wandlung des Protagonisten<br />

Rojan ist. Gleichzeitig ist<br />

sein Weg eng mit dem Schicksal<br />

Mahalas verwoben, wo die<br />

technische Entwicklung zu<br />

schnell zu weit getrieben wurde.<br />

Die Geschichte lässt sich als<br />

Einzelroman lesen, endet aber<br />

offen und schafft damit Raum<br />

für die kommenden Bände. Der<br />

Papierverzierer-Verlag hat Weg<br />

ins Nichts als „besondere“ Klappenbroschur<br />

veröffentlicht,<br />

womit die erweiterte Rückseite<br />

des Buches gemeint ist. Diese<br />

lässt sich nämlich um das Buch<br />

herumklappen, sodass es von<br />

allen Seiten geschlossen ist, und<br />

als Lesezeichen nutzen (wobei<br />

das auf den letzten Seiten<br />

schwierig wird, zumindest<br />

wenn man den Umschlag nicht<br />

zerknittern will). Leider stört<br />

diese erweiterte Klappe beim<br />

Lesen.<br />

Fazit<br />

Weg ins Nichts ist eine dreckige<br />

Fantasy-Dystopie mit Cyberpunkelementen,<br />

die die Leserschaft<br />

durch eine knackig-derbe<br />

Sprache und einen egozentrischen<br />

Anti-Helden mit gutem<br />

Kern überzeugt. Rojan muss<br />

sein mieses, aber bequemes Leben<br />

verlassen und sich seiner<br />

größten Angst stellen: seiner<br />

Magie. Seine Entscheidungen<br />

beeinflussen das Schicksal einer<br />

Stadt, die ihren Zenit überschritten<br />

hat und aufs Chaos zusteuert<br />

– Hochspannung für weitere<br />

Bände garantiert!<br />

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Sky Doll – Die gelbe Stadt<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Autorin: Barbara Canepa<br />

Zeichner: Alessandro Barbucci<br />

Verlag: Splitter (2014)<br />

Genre: Science Fiction / Cyberpunk<br />

Hardcover<br />

48 Seiten; 14,80 EUR<br />

ISBN: 978-3-86869-710-0<br />

Sky Doll ist wieder da! Noch dazu<br />

in einer schicken Hardcoverausgabe,<br />

inklusive Ankündigung<br />

des lang ersehnten vierten Bandes<br />

Sudra. Aber kommen wir erst<br />

einmal zum Auftakt, der bei<br />

Splitter in neuem Glanz erstrahlt:<br />

Noa ist eine sogenannte Sky<br />

Doll, vollkommen rechtlos und<br />

den Launen ihres Besitzers Gott,<br />

des Eigentümers einer Astrowaschanlage,<br />

ausgeliefert. Ihr<br />

Versuch, für sich und die anderen<br />

Sky Dolls bessere Arbeitsbedingungen<br />

zu schaffen, scheitert<br />

kläglich. Trotzdem geht sie ihrer<br />

Arbeit mit professioneller Freude<br />

nach – bis einige Kunden ablehnend<br />

auf ihren reizvollen Körper<br />

reagieren und damit einen Unfall<br />

verursachen. Gott gibt Noa die<br />

Schuld und will sie umprogrammieren<br />

– da wagt sie den<br />

Sprung in die Freiheit …<br />

Auch die beiden Diplomaten<br />

Jahu und Roy sind in den Unfall<br />

in der Waschanlage verwickelt<br />

und freunden sich später mit<br />

Noa an. Sie sind unterwegs zum<br />

Planeten Aqua, um eine Mission<br />

für die Päpstin Ludowika zu<br />

erfüllen. Diese herrscht auf dem<br />

Planeten Papathea und beeindruckt<br />

ihre Gläubigen mit Wundern<br />

– die allerdings nichts weiter<br />

sind als eine ausgeklügelte<br />

und übertriebene Show.<br />

Trotzdem gelingt es Ludowika,<br />

große Teile der Bevölkerung für<br />

sich einzunehmen – doch es gibt<br />

auch Widersacher, die der verschollenen<br />

Päpstin Agape dienen.<br />

Dabei handelt es sich um<br />

niemand Geringeren als Ludo-<br />

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wikas Schwester, mit der sie<br />

einst gemeinsam regierte. Doch<br />

die Anhängerschaft der Schwestern<br />

bekriegte sich untereinander,<br />

und letztlich wurden<br />

dadurch auch Ludowika und<br />

Agape entzweit. Die Feindschaft<br />

der Päpstinnen ist das zentrale<br />

Motiv der Reihe, und Noa gerät<br />

zwischen die Fronten.<br />

Die Mischung aus dreckiger Science<br />

Fiction, schwarzem Humor<br />

und beiläufiger Erotik wird von<br />

kritischen und nachdenklichen<br />

Tönen ergänzt. Die Welt ist stark<br />

überzeichnet, doch gleichzeitig<br />

nicht ganz an der Wirklichkeit<br />

vorbei. Im Chaos der technischen<br />

Möglichkeiten und im Auseinanderklaffen<br />

der gesellschaftlichen<br />

Schichten klammern sich<br />

viele an den Pop-Art-Kult der<br />

Päpstin Ludowika, während sich<br />

andere vor der grausamen Herrscherin<br />

fürchten und ihre Liebe<br />

zur abtrünnigen Agape im Verborgenen<br />

ausleben.<br />

Neben der Gesellschaftskritik<br />

wird zudem der Frage nachgegangen,<br />

wie Persönlichkeit entsteht<br />

und inwiefern ein Androide<br />

wie eine Sky Doll ein lebendiges<br />

Wesen mit Gedanken und<br />

Gefühlen ist.<br />

Auch nach all den Jahren, die<br />

zwischen der deutschen Erstausgabe<br />

und dem Erscheinen der<br />

Neuauflage liegen, ist es erstaunlich,<br />

wie viel dieser Comic seinen<br />

Lesern bietet. Obwohl Barbucci<br />

mit Ekhö und Canepa mit END<br />

zwei wundervolle neue Reihen<br />

begonnen haben, bleibt Sky Doll<br />

ihr grelles Glanzstück.<br />

Sky Doll fällt vor allem durch die<br />

schrillen, knallbunten Zeichnungen<br />

auf, die in hartem Kontrast<br />

zu den sterilen Metallictönen der<br />

Hintergründe stehen. Visuell<br />

erinnert der Comic stark an Cyberpunk<br />

à la William Gibson, der<br />

ebenfalls einen gewissen Hang<br />

zur Farbe Pink hat.<br />

Hinzu kommen Elemente, die<br />

leicht an die siebziger Jahre erinnern<br />

und perfekt in diese schrille<br />

Welt passen. Die Sky Dolls verfügen<br />

trotz Serienproduktion<br />

allesamt über individuelle<br />

Merkmale. Noa sticht dabei am<br />

meisten heraus, denn im Gegensatz<br />

zu den anderen ziert ihr<br />

hübsches Gesicht kein Dauerlächeln.<br />

Allein durch ihre vielfältige<br />

Mimik trifft sie den Leser mitten<br />

ins Herz.<br />

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Sehr schick ist zudem das Design<br />

der Gebäude und der fliegenden,<br />

teils weltraumtauglichen Gefährte.<br />

Im Vergleich zur früheren Carlsen-Ausgabe<br />

kommen die Zeichnungen<br />

im größeren Albenformat<br />

besser zur Geltung. Zudem<br />

wurde für den Dialogtext eine<br />

andere Schriftart verwendet, die<br />

besser zum Comic passt.<br />

Fazit<br />

Sky Doll ist und bleibt ein plastisches<br />

Meisterwerk: Als rechtlose<br />

Puppe in einer dystopischen<br />

Welt kämpft Noa für ihr Recht<br />

auf Persönlichkeit. Die supersympathische<br />

Sky Doll wächst<br />

dem Leser rasend schnell ans<br />

Herz, und ihre Geschichte wird<br />

mit so viel Humor, Nachdenklichkeit<br />

und beiläufiger Erotik<br />

erzählt, dass man sich einfach<br />

unsterblich in diesen Comic verlieben<br />

muss. Die schreiend bunten<br />

Farben mit den kühlen Hintergründen<br />

erzeugen eine bizarre<br />

Cyberpunk-Atmosphäre, wie<br />

man sie selten geboten bekommt.<br />

Ein Must-have für alle, die Andersartigkeit<br />

lieben und sowohl<br />

den oberflächlichen Glanz als<br />

auch den tiefsinnigen Dreck zu<br />

schätzen wissen!<br />

Bildausschnitte: Copyright by Alessandro Barbucci und Barbara Canepa / Splitter Verlag 2014<br />

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Interview mit Marko Djurdjevic<br />

geführt von André Skora<br />

PHANTAST: Hallo, Marko, vielen<br />

Dank, dass Du Dir die Zeit<br />

für dieses Interview genommen<br />

hast. Stellst Du Dich bitte kurz<br />

vor?<br />

Marko Djurdjevic: Mein Name<br />

ist Marko Djurdjevic, 1979 in<br />

Koblenz geboren, seit 1996 als<br />

freischaffender Illustrator tätig.<br />

Ich habe seit meinen frühen Anfangstagen<br />

als Illustrator für die<br />

Feder&Schwert-Produkte von<br />

White Wolf gezeichnet, später<br />

für Shadowrun, englische White-<br />

Wolf-Produkte und vieles mehr.<br />

2004 habe ich zusammen mit<br />

Christian Günther Degenesis auf<br />

den deutschen Markt gebracht<br />

und bis 2005 begleitet.<br />

Seit zehn Jahren arbeite ich als<br />

Conceptartist für Videospiele &<br />

Filme und habe gute fünf Jahre<br />

unter Exklusivvertrag bei Marvel<br />

Comics hunderte von Titelbildern<br />

entworfen, unter anderem<br />

für Spider Man, X-Men, Avengers,<br />

Thor und viele andere namhafte<br />

Titel. Vor vier Jahren habe ich<br />

SIXMOREVODKA in Berlin gegründet.<br />

Meine Firma produziert<br />

Conceptart, Ideen, kreative Entwürfe<br />

für Videospiele, Titelbilder<br />

von Magazinen, Filmen etc. und<br />

beliefert damit einige der wichtigsten<br />

Kunden im Entertainment-Bereich<br />

– von Warner<br />

Brothers, Sony, Riot Games bis<br />

Hasbro ist alles dabei.<br />

Ich bin selbst leidenschaftlicher<br />

Rollenspieler und habe mich mit<br />

dem Hobby, seit ich dreizehn<br />

bin, intensiv beschäftigt. Rollenspiele<br />

sind in meinen Augen das<br />

einzige Medium, das von den<br />

Entwicklern erfordert, gesamte<br />

funktionierende und in sich geschlossene<br />

Settings und Welten<br />

zu entwerfen. Während andere<br />

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Medien durch ihren auf Charaktere<br />

und Protagonisten bezogenen<br />

Blickwinkel nur Ausschnitte<br />

aus einem Setting zeigen müssen,<br />

erfordert es viel mehr Weitblick<br />

und Detailreichtum, ein<br />

Rollenspielsetting einzufangen.<br />

Die Kameralinse ist weitwinklig<br />

eingestellt, und man muss das<br />

gesamte Panorama einer Welt in<br />

einem Buch einfangen.<br />

Meine Lieblingssettings, die<br />

mich jahrelang begleitet haben,<br />

sind RuneQuest/Glorantha, Vampire:<br />

Die Maskerade und natürlich<br />

Degenesis.<br />

PHANTAST: Du und Christian<br />

Günther habt für einigen Wirbel<br />

gesorgt, als Ihr anhand eines<br />

Trailers bekanntgegeben habt,<br />

dass es zum Pen-&-Paper-<br />

Rollenspiel Degenesis eine Neuauflage<br />

geben wird. Wie kam es<br />

zu dieser Entscheidung?<br />

Marko Djurdjevic: Der Trailer<br />

war von langer Hand geplant.<br />

Wir haben den bereits im Mai<br />

2013 geschossen und produziert.<br />

Die Rebirth Edition war über zwei<br />

Jahre in Arbeit. Wir wussten von<br />

Anfang an, dass es sich nur<br />

lohnt, mit dem Produkt zurückzukommen,<br />

wenn wir das mit<br />

dem größtmöglichen Begleitorchester,<br />

das uns zur Verfügung<br />

steht, durchziehen.<br />

Durch meine Arbeit als Concept-<br />

Artist habe ich ein gewaltiges<br />

Netzwerk aus kreativen Menschen,<br />

auf die ich zurückgreifen<br />

kann, um solche Projekte zu<br />

stemmen, und es war seit langer<br />

Zeit ein Traum, auch filmisch<br />

unserer Idee einen Stempel aufzudrücken.<br />

Als visueller Mensch<br />

fällt es mir extrem leicht, die<br />

Welt von Degenesis im bewegten<br />

Bild vor Augen zu haben. Diese<br />

Welt wollte ich mit den mir zur<br />

Verfügung stehenden Mitteln<br />

auch unseren Fans und Supportern<br />

überreichen.<br />

PHANTAST: Hat der Trailer<br />

seine Wirkung erzielt, sprich:<br />

Wie war aus Eurer Sicht die Resonanz?<br />

Marko Djurdjevic: Ich denke,<br />

seine Wirkung konnte der Trailer<br />

gar nicht verfehlen. Es war vor<br />

allen Dingen eine verrückte Idee,<br />

so etwas zu realisieren, weil es so<br />

etwas für ein klassisches Pen-&-<br />

Paper-RPG noch nicht gab, und<br />

verrückte Ideen sind immer gut.<br />

Der Trailer ist inzwischen über<br />

40.000 Mal auf Youtube angeklickt<br />

worden, wir haben ein<br />

starkes und breites Medienecho<br />

bekommen, vor allen Dingen<br />

international, und, was noch viel<br />

wichtiger ist, wir haben Aufmerksamkeit<br />

außerhalb der relativ<br />

isolierten RPG-Szene erregt.<br />

Das ist für mich ein gutes Zeichen.<br />

Das Interesse an dem Medium<br />

ist nach wie vor da. Was<br />

wir als Entwickler langfristig<br />

schaffen müssen, ist, Leuten, die<br />

wenige Berührungspunkte mit<br />

der Szene haben, den Einstieg zu<br />

erleichtern.<br />

Das funktioniert immer gut<br />

durch das Einbinden anderer<br />

Medien. Ein Trailer ist schneller<br />

konsumiert als unsere beiden<br />

Bücher und kann neue Leute auf<br />

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ein Produkt neugierig machen,<br />

das außerhalb ihrer Wahrnehmung<br />

liegt.<br />

PHANTAST: Nach dem Trailer<br />

folgten dann die ersten Ausstattungsdetails<br />

zu den Büchern. Da<br />

habt Ihr die Messlatte hoch angesetzt,<br />

oder?<br />

Marko Djurdjevic: Na ja, ich<br />

sehe das aus einem etwas anderen<br />

Blickwinkel. Wir haben mit<br />

dem uns zur Verfügung stehenden<br />

Budget und unserer Expertise<br />

das Beste rausgeholt, was<br />

unserem Team möglich war. Die<br />

Frage sollte doch aber eher sein,<br />

warum man so ein Maß an Qualität<br />

nicht überall und ständig<br />

bekommt.<br />

sich Käufer und Konsumenten<br />

von Rollenspielen stellen sollten,<br />

denn schließlich geben sie eine<br />

Menge Geld für ihr Hobby aus.<br />

Was ihnen im Gegenzug dafür<br />

geboten wird, finde ich fast<br />

schon eine Frechheit.<br />

Gerade vor ein paar Wochen<br />

habe ich durch ein Konkurrenzprodukt<br />

geblättert. 400+ Seiten.<br />

Gerade mal ca. 40 Illustrationen<br />

im A6-Format. Davon einige an<br />

mehreren Stellen des Buches<br />

recycelt. Da muss ich doch die<br />

Augenbraue hochziehen und<br />

ehrlich fragen, wie so etwas 2014<br />

noch durchgehen kann.<br />

PHANTAST: Wie kam es zu der<br />

Entscheidung, Degenesis einen<br />

kompletten Facelift zu verpassen<br />

und in dieser Version auf den<br />

Markt zu bringen?<br />

Warum setzen wir als Außenseiter<br />

die Messlatte hoch? Sollten es<br />

nicht wir sein, die sich mit etablierten<br />

Verlagen messen müssen?<br />

Warum ist die Messlatte im Bereich<br />

RPG so niedrig angesetzt,<br />

dass ein Buch wie Degenesis sofort<br />

auffällt? Das sind Fragen, die<br />

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Marko Djurdjevic: Weil wir Rollenspiele<br />

lieben und weil wir an<br />

unser Produkt glauben. Weil wir<br />

zehn Jahre später reifer und mit<br />

mehr Planung an unser Projekt<br />

gehen können. Weil wir eine<br />

Geschichte weitererzählen wollen,<br />

die wir damals begonnen<br />

haben und die uns umgetrieben<br />

hat. Und weil wir Degenesis endlich<br />

so aussehen lassen wollten,<br />

wie wir glauben, dass es sich für<br />

dieses Projekt gehört. Es ist weniger<br />

ein Facelift als eine Version<br />

des Spiels, wie es damals schon<br />

hätte sein können, wenn wir<br />

Budget, Erfahrung und Zeit gehabt<br />

hätten.<br />

Was Leute immer gerne vergessen:<br />

Die alte Edition ist damals<br />

als Garagenprojekt von zwei<br />

Idealisten aus dem Boden gestampft<br />

worden. Ohne nennenswertes<br />

Produktionsbudget und<br />

nur mit Hilfe unserer Fans. Denen<br />

schulden wir diese neue<br />

Version am allermeisten.<br />

PHANTAST: Degenesis Rebirth<br />

basiert ja auf einem postapokalyptischen<br />

Hintergrund und<br />

trägt auch den Beinamen „Primal<br />

Punk“. Was ist darunter zu verstehen?<br />

Marko Djurdjevic: Primal Punk<br />

ist ein definierender Genrebegriff,<br />

den wir benutzen, um das<br />

Setting zu beschreiben. Urtümliche<br />

Wildheit, die Abkehr von<br />

zivilisatorischen Normen, primitive<br />

Instinkte, Waffen, Ziele in<br />

Kombination mit organisierten,<br />

kultischen Handlungen, Gruppierungen<br />

und der Umkehr von<br />

klassischen Hierarchien.<br />

PHANTAST: Die Kultur und<br />

das Miteinander haben sich verändert.<br />

Was ist unter Kulturkreis<br />

zu verstehen?<br />

Marko Djurdjevic: Kulturen,<br />

wie wir sie in Degenesis präsentieren,<br />

sind übriggebliebene Gemeinschaften<br />

von menschlichen<br />

Gruppen, die miteinander verschmolzen<br />

sind und nun über<br />

einen großen Landstrich hinweg<br />

die Kultur, deren Eigenheiten<br />

und Mentalität dominieren. Diese<br />

Kulturen sind keineswegs<br />

homogen zu verstehen, sondern<br />

sind eine Folge von Vermischung<br />

der Überlebenden des Eshatons.<br />

Die Kultur Frankas beispielsweise<br />

ist eine Mischung, die aus<br />

französischen, englischen, walisischen<br />

und belgischen Überlebenden<br />

hervorgegangen ist.<br />

Was nach 500 Jahren von diesen<br />

Menschen übriggeblieben ist,<br />

nennen wir im Spiel die Kultur<br />

Franka.<br />

PHANTAST: Tektonisch hat sich<br />

einiges getan, so sind das heutige<br />

Europa und Afrika nicht mehr<br />

wiederzuerkennen. D:RE spielt<br />

da auch mit Ängsten, Hoffnungen<br />

bzw. auch Vorhersagen<br />

(Klimawandel als Beispiel). Was<br />

war der Hintergedanke?<br />

Marko Djurdjevic: Degenesis ist<br />

eine rein fiktive Welt. Wir machen<br />

keine Zukunftsprognosen,<br />

aber wir diagnostizieren heutige<br />

Zustände, die wir überspitzt in<br />

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die Zukunft projizieren. Das gibt<br />

uns die Möglichkeit, eine realistische<br />

Welt zu zeichnen, was definitiv<br />

ein starkes Stilmittel ist, das<br />

wir in unserem Setting benutzen<br />

können.<br />

Nahe an der Realität zu sein<br />

macht es für Spieler einfacher,<br />

sich in der Spielwelt zurechtzufinden,<br />

wenn man einen Anker<br />

zurück in die Gegenwart auswerfen<br />

kann.<br />

PHANTAST: Ihr habt D:RE ein<br />

neues Regelsystem verpasst. Warum,<br />

und was erwartet uns nun?<br />

Marko Djurdjevic: Das alte Regelsystem<br />

war seinerzeit etwas,<br />

mit dem wir komplett zufrieden<br />

waren. Auch wenn es seine<br />

Schwierigkeiten hatte, haben wir<br />

gerne damit gespielt. Es erfüllte<br />

seinen Zweck, nämlich, seinen<br />

Charakter innerhalb der Welt<br />

von Degenesis zu manövrieren.<br />

Mehr sollte es damals nicht tun,<br />

und einen größeren Anspruch<br />

daran hatten wir nicht.<br />

Mit den Jahren haben wir aber<br />

festgestellt, dass es diesbezüglich<br />

Unmut gab und nicht alle Fans<br />

damit zufrieden waren bzw. dass<br />

es viel Jammer nach sich zog.<br />

Also haben wir das Katharsys<br />

völlig neu erdacht, samt Würfelmechanismus,<br />

Charaktererschaffung<br />

und Kampfsystem.<br />

Wir wollten es über das Setting<br />

hinaus schaffen, den Spielern<br />

Freude am Spieltisch zu bereiten.<br />

Diesen Spielspaß haben wir früher<br />

nur im Setting vermutet und<br />

das Spielsystem zu wenig mit<br />

einbezogen.<br />

Das neue Katharsys erfüllt diese<br />

Aufgabe viel besser, es verbindet<br />

Setting und Regeln miteinander<br />

und erlaubt eine größere Vielfalt,<br />

die sich eben auch aus den Regeln<br />

ergibt und nicht nur aus<br />

dem erzählerischen Aspekt des<br />

Spiels.<br />

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PHANTAST: Wie viele Stunden<br />

Arbeit habt Ihr, über den Daumen<br />

gepeilt, in die Rebirth Edition<br />

investiert, und hat es sich aus<br />

Deiner Sicht gelohnt?<br />

Marko Djurdjevic: Stunden? Ha.<br />

Das kann ich nicht sagen. Die<br />

Rechnung hat noch niemand<br />

aufgestellt. Aber wir haben zwei<br />

volle Jahre daran gesessen. Im<br />

Endeffekt könnte man sagen, wir<br />

haben eine Seite pro Tag fertiggestellt,<br />

auch wenn es sicher<br />

nicht so pauschalisierbar ist.<br />

Manche Sachen gehen leichter<br />

von der Hand, andere Bereiche<br />

dauern ewig. Die Geißler beispielsweise<br />

waren einer der härtesten<br />

Brocken überhaupt. Chris<br />

und ich haben bestimmt zwei<br />

Wochen nur damit zugebracht,<br />

den Kult auseinanderzunehmen,<br />

wieder zusammenzusetzen und<br />

dann trotzdem alles zu verwerfen.<br />

Es gab so viele Anläufe, die<br />

am Ende alle in der Tonne gelandet<br />

sind, während andere<br />

Bereiche wie selbstverständlich<br />

mit neuen Ideen bestückt werden<br />

konnten.<br />

Und ob sich die Investition in ein<br />

RPG lohnt, steht wirklich außerhalb<br />

jeder Debatte. Degenesis ist<br />

ein Liebhaberprojekt mit größtmöglicher<br />

Ambition, jede Stunde,<br />

die man investiert, macht das<br />

Produkt nur besser und schöner.<br />

Das ist das Lohnenswerteste an<br />

dem ganzen Produkt.<br />

PHANTAST: Wie schwer war<br />

es, die Motivation zu behalten?<br />

Marko Djurdjevic: Sehr schwer.<br />

Gerade weil das Ausmaß nicht<br />

immer von vornherein abschätzbar<br />

war. Ursprünglich hatten wir<br />

500 Seiten veranschlagt, um die<br />

D:RE neu aufzulegen, aber<br />

schnell wurde klar, dass sie an<br />

allen Ecken und Enden immer<br />

dicker wurde. Fast wöchentlich<br />

mussten wir die Seitenzahl neu<br />

festlegen und neue Kostenvoranschläge<br />

beim Drucker bestellen.<br />

Das kann auf Dauer demoralisierend<br />

wirken, vor allem wenn<br />

man den Punkt erreicht, an dem<br />

man zu glauben beginnt, dass<br />

dieses Projekt niemals fertig<br />

werden wird. Wenn man dann<br />

bedenkt, dass man zwei Jahre<br />

Arbeit in etwas investiert hat,<br />

das inzwischen jeden Rahmen<br />

sprengt, schlägt das schon aufs<br />

Gemüt.<br />

Der Vorteil an Teamarbeit wiederum<br />

ist, dass man solche Motivationslöcher<br />

gemeinsam<br />

überwinden kann und dann<br />

trotzdem wieder aufsteht und<br />

weitermacht.<br />

PHANTAST: Ausstattungstechnisch<br />

kommt D:RE gewaltig daher.<br />

War Dir/Euch schnell klar,<br />

dass die Rebirth so gewaltig daherkommen<br />

soll?<br />

Marko Djurdjevic: Der Plan war<br />

von Anfang an, es optisch so<br />

eindrucksvoll wie möglich zu<br />

gestalten. Dadurch, dass die Seitenzahl<br />

jedoch immer weiter<br />

nach oben ging, wirkte sich das<br />

ebenfalls auf den Illustrationscount<br />

aus, was dazu führte, dass<br />

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wir viel mehr Graphiken und<br />

Bilder erstellen mussten als ursprünglich<br />

geplant. Weil aber<br />

auch die reine Textmasse immer<br />

größer wurde, mussten wir im<br />

Nachgang circa 40 Illustrationen<br />

wieder rausnehmen und werden<br />

diese nun anderweitig verwerten<br />

müssen. Wir hoffen, dass wir sie<br />

in Nachfolgeprodukten entsprechend<br />

unterkriegen.<br />

PHANTAST: Was ist für Degenesis<br />

Rebirth noch geplant?<br />

Marko Djurdjevic: Eine ganze<br />

Menge. Unser Verlagsplan ist<br />

relativ weit aufgefächert. Degenesis:<br />

Black Atlantic wird unser erstes<br />

Nachfolgeprodukt für das<br />

Rollenspiel. Ein intensiver Kampagnenband,<br />

der die Spieler an<br />

die Westküste Frankas entführt<br />

und einige der großen Geheimnisse<br />

enthüllt, die wir schon in<br />

der Rebirth Edition gestreut haben.<br />

Weiterhin arbeiten wir an<br />

zwei sehr aufwendigen Quellenbüchern,<br />

zu denen ich in diesem<br />

Augenblick noch nichts verraten<br />

möchte. Da wird es in den kommenden<br />

Wochen und Monaten<br />

noch spannende Enthüllungen<br />

geben. Einfach die Füße still halten,<br />

wir geben Bescheid, wenn es<br />

etwas zu gucken und kaufen<br />

gibt.<br />

PHANTAST: Was steckt hinter<br />

dem Label SIXMOREVODKA?<br />

Marko Djurdjevic: SIXMORE-<br />

VODKA ist meine Firma, ein<br />

Conceptart- und Designstudio in<br />

Berlin, 2010 gegründet. Früher<br />

habe ich das Label schon für<br />

mich selbst genutzt, der Name ist<br />

relativ alt – bereits 2004 in Amsterdam<br />

nach einer durchzechten<br />

Nacht entstanden. Ich hatte mir<br />

immer vorgenommen, später<br />

irgendetwas mit dem Namen zu<br />

machen, schlussendlich wurde es<br />

der Firmenname selbst.<br />

SIXMOREVODKA produziert<br />

Konzepte, Ideen, Skizzen, Marketing-Artwork,<br />

Illustrationen<br />

für eine riesige Bandbreite internationaler<br />

Kunden. Wir beliefern<br />

Größen wie Warner Brothers,<br />

Sony und Riot Games mit einer<br />

Vielfalt an Artwork, Konzeptionszeichnungen<br />

und dergleichen,<br />

die wiederum in die Preproduction<br />

von Videospielen<br />

oder Filmen einfließen. Das ist<br />

streckenweise eine sehr spannende<br />

und vielfältige Arbeit, da<br />

wir unsere Fähigkeiten in verschiedenen<br />

Genres anwenden<br />

müssen und meist bei den ersten<br />

Schritten, die ein Videospiel oder<br />

Film auf sich nimmt, mit dabei<br />

sind.<br />

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118


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PHANTAST: Was hältst Du Leuten<br />

entgegen, die sagen, dass das<br />

Ganze nur als Imageprojekt für<br />

SIXMOREVODKA zu sehen ist?<br />

Marko Djurdjevic: Also, so gesagt<br />

hat mir das noch niemand,<br />

aber was soll es denn auch anderes<br />

sein? Kein Imageprojekt für<br />

die Firma? Ich wäre ja schön<br />

blöd, etwas zu produzieren, wofür<br />

ich mich im Nachhinein<br />

schämen muss. Wenn mit der<br />

Frage gemeint ist, ob wir Rollenspiele<br />

ernst nehmen, dann kann<br />

ich getrost „Ja” sagen.<br />

Ich liebe RPGs, bin selbst damit<br />

groß geworden. Ich habe meine<br />

Kindheit und Jugend damit verbracht,<br />

Rollenspiele zu wälzen,<br />

zu spielen und zu lesen. Ich finde,<br />

es gibt kaum ein Medium,<br />

das so reich an Inspirationen ist<br />

wie Rollenspiel, und ich bin froh,<br />

dass wir die Möglichkeiten besitzen,<br />

unser eigenes Projekt zum<br />

Leben zu erwecken.<br />

Das machen wir natürlich mit<br />

dem höchsten Anspruch an uns<br />

selbst, denn es soll ja auch der<br />

Liebe für das Medium gerecht<br />

werden. Nichts wäre bescheuerter,<br />

als so ein Nischenprodukt<br />

herauszubringen und es zu behandeln,<br />

als ob es ein Nischenprodukt<br />

wäre. Welchen Sinn<br />

würde das machen?<br />

PHANTAST: Wie bist Du zum<br />

Rollenspiel gekommen?<br />

Marko Djurdjevic: Als 13-<br />

jähriger in einem kleinen verstaubten<br />

Spielwarenladen in<br />

meiner Heimatstadt. Das Regal<br />

war gefüllt mit DSA-Boxen und<br />

einer einzigen RuneQuest-<br />

Ausgabe, die mich förmlich hypnotisierte.<br />

Von DSA wusste ich,<br />

dass Freunde es spielten, aber<br />

von RuneQuest hatte ich zuvor<br />

nie gehört. Das Cover und den<br />

marmorierten Einband fand ich<br />

moderner als die DSA-<br />

Titelbilder, es wirkte extravaganter<br />

neben all den anderen Boxen.<br />

Ich schlug also zu und verbrachte<br />

die nächsten zwei Wochen<br />

damit, das Regelwerk zu lesen<br />

und meinen Schulfreund Lars<br />

zum Spielen zu überreden. Kurze<br />

Zeit später hatten wir eine<br />

vierköpfige Gruppe und spielten<br />

unsere erste Kampagne über<br />

gute drei Jahre, in den Sommerferien<br />

fast jeden Tag im Garten<br />

oder auf dem Balkon und im<br />

Winter am Küchentisch. Von<br />

allen Hobbys begleiten mich Rollenspiele<br />

am längsten, und ich<br />

habe damit vielleicht den Großteil<br />

meiner Jugend verbracht.<br />

PHANTAST: Findest Du heute<br />

noch die Zeit zum Spielen?<br />

Marko Djurdjevic: Leider kaum,<br />

wobei wir gerade versuchen, im<br />

Studio wieder eine Gruppe entstehen<br />

zu lassen. Ich leite Kampagnen<br />

enorm gerne, aber ich<br />

tendiere auch zu einem sehr<br />

aufwändigen Perfektionismus in<br />

der Vorbereitungsphase. Bereits<br />

Wochen vor Spielbeginn zeichne<br />

ich tonnenweise Ingame-<br />

Kartenmaterial, altere es mit Kaffee<br />

und backe es dann im Ofen,<br />

um es wie echte Filmrequisiten<br />

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aussehen zu lassen. Ich mache<br />

Aufnahmen von Tonträgern,<br />

stelle die perfekte Musik für jedes<br />

Abenteuer zusammen,<br />

zeichne Portraits für NSCs oder<br />

schreibe ganze Zeitungen, die<br />

von den Spielern im Spiel erworben<br />

werden können. Das ist extrem<br />

zeitraubend, und das kann<br />

man nur mit einer vernünftigen<br />

Gruppe lange Zeit durchhalten.<br />

PHANTAST: Du hast auch bei<br />

einigen anderen Rollenspielprojekten<br />

neben Degenesis Deine<br />

Spuren hinterlassen. Wie kam es<br />

dazu, dass Du Dein Talent zum<br />

Zeichnen entdeckt hast?<br />

Marko Djurdjevic: Ich habe von<br />

Kindesbeinen an gerne gezeichnet.<br />

Das war mein großes Hobby,<br />

und ich habe viel von meiner<br />

Freizeit damit verbracht, Dinge<br />

zu entwerfen, zu denen es keine<br />

Bilder gab. Nehmen wir das RuneQuest-Beispiel<br />

von vorhin. Im<br />

Regelwerk gab es kaum Bilder,<br />

doch viele Kreaturen und Charaktere<br />

hatten tolle Namen:<br />

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Bruus, Oger, Wyvern etc. Die<br />

Beschreibungen weckten bestimmte<br />

Ideen in meinem Kopf,<br />

die ich auf dem Papier umgesetzt<br />

sehen wollte.<br />

Dass ich als Illustrator zuerst im<br />

Bereich der Rollenspiele tätig<br />

war, ist vielleicht am meisten<br />

Vampire: Die Maskerade geschuldet.<br />

Das Buch hat mich von der<br />

Aufmachung her damals als 15-<br />

jähriger sprichwörtlich vom Hocker<br />

gehauen. Waren Rollenspielbücher<br />

bis zu dem Zeitpunkt<br />

oft Textwüsten und Tabellenlandschaften<br />

gewesen, gab es<br />

plötzlich eine kleine Revolution:<br />

Bücher voller Bilder, ganzseitige<br />

Darstellungen von Charakteren,<br />

eigene Logos für Fraktionen und<br />

vieles mehr. Das war mein Einstieg,<br />

da wollte ich mit dabei sein<br />

und meine Ideen beisteuern.<br />

Marko Djurdjevic: Das will ich<br />

wirklich hoffen bzw. ich finde,<br />

dass die Verlage es dem Medium<br />

schuldig geblieben sind. Seit<br />

D&D 3 habe ich keine echte optische<br />

Revolution mehr im RPG-<br />

Bereich gesehen.<br />

Vielmehr gibt es einen Rückschritt<br />

in der generellen Qualität<br />

der Bücher, vor allem in<br />

Deutschland. Das ist ein Armutszeugnis<br />

für das Medium.<br />

Schlechte Typographie, schlechte<br />

Produktqualität; Textwüsten wie<br />

vor 25 Jahren werden als das<br />

Nonplusultra gepriesen, sind es<br />

aber nicht.<br />

Das Schlimmste ist, dass den<br />

Fans eingebläut wird, es gehe gar<br />

nicht anders und man solle gefälligst<br />

glücklich sein mit dem, was<br />

man hat. Das finde ich im Kern<br />

falsch, denn ohne Risiko und<br />

Einsatz entwickelt sich nichts<br />

weiter.<br />

Und dass man Rollenspiel nicht<br />

auf hohem Niveau produzieren<br />

kann, ist ebenfalls Quatsch. Die<br />

Riesensummen, die bei Kickstarter<br />

für manch ein Projekt an<br />

Land gezogen werden, sollten<br />

die Erwartungshaltung der Fans<br />

gehörig nach oben schrauben<br />

und sie fragen lassen, warum es<br />

dann nicht möglich ist, ähnlich<br />

hohe oder sogar höhere Qualität<br />

zu erwarten als von einem Independent-Projekt<br />

wie Degenesis.<br />

PHANTAST: Wie beurteilst Du<br />

die Entwicklung auf dem deutschen<br />

Rollenspielmarkt bzw.<br />

siehst Du da eine Entwicklung?<br />

PHANTAST: Da sind wir dann<br />

wieder bei Degenesis angekommen.<br />

Da legt Ihr ja die Messlatte<br />

extrem hoch. Meinst Du, dass die<br />

anderen Verlage folgen werden/können?<br />

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Marko Djurdjevic: Mit dem<br />

deutschen RPG-Markt habe ich<br />

persönlich nicht viel am Hut<br />

bzw. er interessiert mich auch<br />

nicht wirklich. Mir sind unsere<br />

Fans wichtig. Diese Leute liegen<br />

uns am Herzen, und unser Rollenspiel<br />

bedeutet uns viel.<br />

Der Markt selbst ist träge, konservativ<br />

und zu sehr mit sich<br />

selbst beschäftigt. Ihm fehlt auch<br />

das Verlangen, dass es besser<br />

werden könnte, denn in einer<br />

kleinen gemütlichen Mulde suhlt<br />

es sich besser.<br />

Degenesis erfährt viel mehr Support,<br />

Zustimmung und Lob aus<br />

dem Ausland, als es in Deutschland<br />

je möglich wäre. Die Voreingenommenheit<br />

gegenüber<br />

Neuerungen und der Hang zum<br />

nostalgisch Altmodischen ist eine<br />

typisch deutsche Affekthaltung.<br />

PHANTAST: Was wünschst Du<br />

Dir für die Zukunft unseres gemeinsamen<br />

Hobbys?<br />

Marko Djurdjevic: Mehr Qualität.<br />

In Text und Bild. Und Fans,<br />

die sich nicht mit schlechtem<br />

Material zufriedengeben, sondern<br />

die Verlage unterstützen,<br />

die sich Mühe mit ihren Produkten<br />

geben.<br />

PHANTAST: Vielen Dank für<br />

das Interview!<br />

Rezension zu Degenesis Rebirth -<br />

Limited Edition<br />

Bildmaterial: Copyright by SIX-<br />

MOREVODKA<br />

Degensis Rebirth Edition:<br />

Verlag: SIXMOREVODKA<br />

Gebundene Ausgabe<br />

704 Seiten, 99,00 EUR<br />

ISBN: 978-3000463365<br />

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HUMANEMY – Das Chamäleon<br />

Eine Rezension von André Skora<br />

Verlag: Lindenblatt Records<br />

(2013)<br />

Sprecher: diverse<br />

Genre: Cyberpunk / Dark Future<br />

Laufzeit: 65 Minuten<br />

ASIN: B00BLMIZ0S<br />

Digipack: 12,00 EUR<br />

Download: 6,90 EUR<br />

Als ich in letzter Zeit ein wenig<br />

Ausschau nach Hörspielen aus<br />

dem Bereich Cyberpunk hielt,<br />

stieß ich unweigerlich auf HU-<br />

MANEMY. Die gefundenen<br />

Informationen und Besprechungen<br />

machten mich neugierig.<br />

Somit wanderte Das Chamäleon,<br />

der erste Teil, schnell in<br />

meinen Player und wurde konsumiert.<br />

Zur Story<br />

Bei HUMANEMY handelt es<br />

sich um eine vierteilige Cyberpunk-Hörspielserie<br />

aus dem<br />

Hause Lindenblatt Records.<br />

Die Geschichte beginnt in einem<br />

Hotel, in dem das Chamäleon<br />

verwertbares Material gegen<br />

den aufmüpfigen Reporter<br />

Yamal sucht. Bei seiner Suche<br />

wird es allerdings von besagtem<br />

Reporter und seiner angeheuerten<br />

Security-Tussi überrascht.<br />

Seine Flucht in den Schrank endet<br />

mit einer Spannerei bei Umschnalldildo-Spielchen.<br />

Dadurch erhält er das korrumpierende<br />

Material. Allerdings<br />

wird der Agent fast im selben<br />

Augenblick darüber in Kenntnis<br />

gesetzt, dass der Reporter „safe“<br />

sei und er somit alles vergessen,<br />

löschen usw. solle. Und das<br />

Chamäleon sei nun auf sich gestellt.<br />

Als ob das nicht schlimm<br />

genug wäre, wird er von den<br />

Dildospielern entdeckt, was<br />

diese das Leben kostet. So wird<br />

das Chamäleon innerhalb einiger<br />

Augenblicken vom Jäger<br />

zum Gejagten.<br />

Um seine aktuelle Situation zu<br />

verstehen, wendet er sich an<br />

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fragwürdige Geschäftspartner<br />

und alte Freunde. Die Jagd nach<br />

der Wahrheit kann beginnen.<br />

Zum Feeling<br />

HUMANEMY versetzt einen in<br />

eine nahe Zukunft, in der das<br />

Gesetz des Stärkeren noch mehr<br />

ausgeprägt ist als heute. Dabei<br />

gibt es etliche Anlehnungen an<br />

die bekannten Welten aus den<br />

Filmen Blade Runner und Vernetzt<br />

oder das Pen-&-Paper-<br />

Rollenspiel Shadowrun. Wobei<br />

Letzteres wohl auch Pate für<br />

den Ablauf stand, denn einiges<br />

erinnert daran, wie etwa die<br />

Hinterhältigkeit, der Schmidt<br />

(Auftraggeber), die Ganger, das<br />

Anwerben und das Chaos.<br />

Zu den Klängen<br />

HUMANEMY braucht sich bei<br />

der Klangkulisse nicht zu verstecken,<br />

sind die über siebzig<br />

Rollen doch mit etlichen bekannten<br />

Persönlichkeiten, wie<br />

etwa Holly Loose, Martin Duckstein<br />

oder auch Alex Wesselsky<br />

besetzt worden. Aber auch<br />

Stimmen, die sonst über die<br />

Mattscheibe in unsere Gehörgänge<br />

transportiert werden,<br />

sind dabei.<br />

Der Soundtrack und die Geräuschkulisse<br />

passen sich gut in<br />

das stimmliche Aufgebot ein<br />

und sorgen so für eine durchweg<br />

gleichbleibende Qualität.<br />

Mein Fazit<br />

HUMANEMY - Das Chamäleon<br />

ist ein gut gelungener Auftakt<br />

zur vierteiligen Cyberpunk-<br />

Hörspielserie.<br />

Das düstere Feeling, das verzweifelte<br />

Freistrampeln des Protagonisten<br />

und der Sound haben<br />

mich wirklich gut unterhalten<br />

und wussten an einigen Stellen<br />

zu punkten.<br />

Leider erinnert mich das Ganze<br />

aber zu sehr an Shadowrun.<br />

Auch die ein oder andere gezwungene<br />

Coolness oder Steifigkeit<br />

der Charaktere fühlt sich<br />

falsch an, da wäre „einfach machen<br />

lassen“ besser als „scripten“<br />

gewesen. Auch manch abgenudelter<br />

Spruch sorgt für<br />

Haareraufen. Aber die auf der<br />

anderen Seite reingesteckte Leidenschaft<br />

ist spürbar und lässt<br />

hoffen.<br />

Alles in allem hat mich der Auftakt<br />

zu HUMANEMY gut unterhalten.<br />

Es ist eines der Cyberpunk-<br />

Hörspiele, die man<br />

sich auf jeden Fall mal anhören<br />

sollte! Meine Wertung: 4 von 5<br />

Kopfschüssen<br />

Zur Hörspielreihe im Netz<br />

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HUMANEMY – Der Fahrer<br />

Eine Rezension von André Skora<br />

Verlag: Lindenblatt Records<br />

(2013)<br />

Sprecher: diverse<br />

Genre: Cyberpunk / Dark Future<br />

Laufzeit: 78 Minuten<br />

ASIN: B00DCNW97Y<br />

Digipack: 12,00 EUR<br />

Download: 6,90 EUR<br />

Der erste Teil der Cyberpunk-<br />

Hörspielserie kam bei mir gut<br />

an, sodass es mir nicht schwer<br />

fiel, den zweiten Teil ins Abspielgerät<br />

zu schieben und die<br />

Ohren zu spitzen.<br />

Zur Story<br />

Die Geschichte beginnt mit einem<br />

Drohneneinsatz. Hier wird<br />

dann auch direkt einer der Protagonisten<br />

auf eine harte Bewährungsprobe<br />

gestellt, nämlich<br />

vor die Wahl zwischen Gehorsam<br />

und Moral.<br />

Das Chamäleon, ehemaliger<br />

Staatsagent auf der Flucht, stellt<br />

ein Team zusammen, um brisante<br />

Daten zu beschaffen und<br />

so ein wenig Geld in seine Kasse<br />

zu spülen. Wie sich herausstellt,<br />

müssen die Daten durch einen<br />

Einbruch in die Oberstaatsanwaltschaft<br />

beschafft werden.<br />

Um sein Ziel zu erreichen, geht<br />

das Team auch den Weg der<br />

Liebe.<br />

Der Einbruch wird gut geplant<br />

und läuft wie am Schnürchen.<br />

Als dann aber verbotenerweise<br />

Blicke in die Daten geworfen<br />

werden, entsteht ein Konflikt im<br />

Team, denn auch Kriminelle<br />

haben ein Gewissen.<br />

Zum Feeling<br />

HUMANEMY - Der Fahrer versetzt<br />

einen wieder in die düstere<br />

Zukunft, die aus dem ersten Teil<br />

bekannt ist. Der Übergang erfolgt<br />

reibungslos, da man einige<br />

alte Bekannte aus dem ersten<br />

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Teil wiedertrifft und somit direkt<br />

wieder im HUMANEMY-<br />

Universum ankommt.<br />

Zu den Klängen<br />

HUMANEMY - Der Fahrer bietet<br />

hier noch mehr Individualität<br />

und „Auf die Fresse“-Sound als<br />

im ersten Teil. So werden hier<br />

die einzelnen Frequenzen mit<br />

den unterschiedlichsten Musikgenres<br />

unterlegt, und der Hörer<br />

wird noch schneller in die jeweilige<br />

Szene versetzt.<br />

Der zweite Teil bietet wieder<br />

eine hohe Vielzahl an Stimmen,<br />

wobei auch hier der Mix stimmt,<br />

denn man stößt auf alte Bekannte.<br />

Und keine der Stimmen liegt<br />

quer im Gehörgang.<br />

Mein Fazit<br />

HUMANEMY - Der Fahrer ist<br />

eine gelungene Fortsetzung der<br />

Serie. Das liegt aus meiner Sicht<br />

zum einem daran, dass man auf<br />

alte Bekannte trifft, die ihrer<br />

Rolle treu bleiben und nicht zu<br />

„Superhelden“ oder „Guten/Bösen“<br />

mutieren.<br />

Zum anderen wurden der<br />

Soundtrack beziehungsweise<br />

die Geräuschkulisse erweitert.<br />

Dadurch sind einzelne Szenen<br />

schnell voneinander zu unterscheiden<br />

und das Erlebnisfeeling<br />

steigt an.<br />

Der Ablauf der Story ist bis zu<br />

einer gewissen Stelle sehr geradlinig<br />

– und erhält dann doch<br />

noch einen guten Twist und ein<br />

schönes Ende, das genügend<br />

Spielraum für den dritten Teil<br />

lässt.<br />

Ob beabsichtigt oder nicht,<br />

sticht der Anfang von HU-<br />

MANEMY - Der Fahrer aufgrund<br />

seiner Aktualität, nämlich<br />

Drohnenangriffe, etwas hervor.<br />

Obwohl das im Cyberpunk „alltäglicher<br />

Stoff“ ist, zeigt es die<br />

andere Seite sehr gut! Der<br />

Teamkonflikt ist gut dargestellt,<br />

und man nimmt den Protagonisten<br />

ihre Handlungsweise<br />

auch ab.<br />

Eine kleine Vorahnung befiel<br />

mich aber schon. Allerdings<br />

macht die Geradlinigkeit die<br />

Story an manchen Stellen zu<br />

vorhersehbar und weckt, wie<br />

der erste Teil, Erinnerungen an<br />

einen Shadowrun-Spieleabend.<br />

Alles in allem bin ich vom zweiten<br />

Teil gut unterhalten worden,<br />

sogar besser als vom Ersten,<br />

und freue mich nun auf die<br />

Fortsetzung! Meine Wertung:<br />

4,25 von 5 geplatzten Airbags.<br />

Zur Rezension von Teil 3 und 4<br />

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Psycho-Pass 2<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Daten Volume 1:<br />

Verlag: KAZÉ (September 2015)<br />

Regie: Kiyotaka Suzuki<br />

Format und Sprache: 16:9 –<br />

1920 x 1080 p, PAL, Region 2,<br />

Deutsch / Japanisch (DTS-HD 2.0)<br />

Genre: Science Fiction / Psychological<br />

/ Cyberpunk<br />

Blu-ray Digibox mit Sammelschuber,<br />

circa 150 Minuten<br />

UVP 46,95 EUR, FSK 16<br />

EAN: 7630017501752<br />

Verbrechen gehören der Vergangenheit<br />

an, denn das Sibyl<br />

System überwacht permanent<br />

die psychische Gesundheit der<br />

Menschen und sortiert potentielle<br />

Verbrecher aus, bevor sie<br />

überhaupt ein Verbrechen begehen<br />

können. Die Inspektoren<br />

und Vollstrecker der Einheit 1<br />

sind dafür zuständig, Menschen<br />

aufzuspüren, deren Psycho-Pass<br />

sich verfärbt hat, und sie entweder<br />

einer Besserungsanstalt<br />

zuzuführen oder an Ort und<br />

Stelle zu eliminieren. Akane ist<br />

die Leiterin der Spezialeinheit<br />

und wurde in ihrer kurzen<br />

Amtszeit bereits auf mehrere<br />

harte Proben gestellt …<br />

Inzwischen kennt Akane die<br />

Wahrheit über das Sybil System<br />

– und arbeitet dennoch weiterhin<br />

als Inspektorin. Sie ist fest<br />

davon überzeugt, die Welt nur<br />

verbessern zu können, indem<br />

sie sich richtig verhält.<br />

Gemeinsam mit ihrer neu besetzten<br />

Einheit 1 macht Akane<br />

wieder Jagd auf latente Verbrecher<br />

und wird prompt mit dem<br />

nächsten großen Fall konfrontiert:<br />

Ein Bombenleger stiftet<br />

Unruhe in der Stadt, kurz darauf<br />

verschwindet eine Inspektorin,<br />

und überall taucht die<br />

mysteriöse Nachricht „WC?“<br />

auf.<br />

Zudem treten immer häufiger<br />

Fälle auf, in denen sich Psycho-<br />

Pässe sehr plötzlich trüben –<br />

und all diese Personen behaupten,<br />

ein gewisser Kamui könne<br />

sie wieder hell machen. Während<br />

die meisten Inspektoren<br />

und Vollstrecker Kamui als er-<br />

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fundenes Phantom abtun,<br />

glaubt Akane an seine Existenz<br />

– und steht bald einem Gegner<br />

gegenüber, der das System<br />

durch blutige Grausamkeiten<br />

zugrunde richten will …<br />

Psycho-Pass 2 spielt nach dem<br />

dramatischen Finale der ersten<br />

Staffel, in dem die Einheit 1 auseinander<br />

gerissen und dezimiert<br />

wurde. Der Psycho-Pass eines<br />

ehemaligen Inspektors ist inzwischen<br />

stark getrübt, weshalb<br />

er nun als Vollstrecker für Akane<br />

arbeitet. Er selbst ist damit<br />

sogar recht zufrieden, muss sich<br />

aber mit Anfeindungen auseinandersetzen,<br />

u. a. von Seiten<br />

der neuen Inspektorin<br />

Shimotsuki, die dem System<br />

absolut treu ergeben ist und<br />

Vollstrecker als minderwertige<br />

Menschen – eben latente Verbrecher<br />

– betrachtet. Akane hingegen<br />

pflegt weiterhin einen<br />

respektvollen Umgang mit ihren<br />

Vollstreckern und bezieht auch<br />

die beiden neuen in ihre Entscheidungen<br />

mit ein.<br />

Im Vergleich zur ersten Staffel<br />

wird die zweite von vielen Fans<br />

schlechter bewertet, was wohl<br />

vor allem daran liegt, dass bestimmte<br />

Charaktere nicht mehr<br />

dabei sind. Lässt man sich auf<br />

die neue Besetzung ein, kann<br />

man jedoch einen ebenso perfekt<br />

inszenierten Cyberthriller<br />

wie in der ersten Staffel genießen.<br />

Der neue Fall wird von der ersten<br />

Episode an mit hohem Tempo<br />

aufgebaut, sodass man als<br />

Zuschauer kaum zum Durchatmen<br />

kommt und alle elf Episoden<br />

am Stück verschlingen will.<br />

Die Geschichte bietet fortlaufend<br />

Überraschungen sowie<br />

eine intelligente und unerwartete<br />

Auflösung, die die Schwächen<br />

des Systems gnadenlos<br />

aufdeckt und gleichzeitig dessen<br />

Fortentwicklung beinhaltet.<br />

Akane ist spürbar reifer und<br />

härter geworden (und damit<br />

mehr eine klassische Cyberpunk-Heldin).<br />

Trotz neuer<br />

schlechter Angewohnheiten und<br />

der vielen emotionalen Tiefschläge,<br />

die sie verkraften musste,<br />

bleibt Akanes Psycho-Pass<br />

hell und rein. Nichts scheint ihn<br />

trüben zu können. Trotzdem<br />

erscheint sie oftmals abgekämpft<br />

und leicht verbittert.<br />

Hinzu kommt, dass ihr zunächst<br />

niemand glauben will, dass<br />

Kamui wirklich existiert,<br />

wodurch Akane an sich selbst<br />

zu zweifeln beginnt.<br />

Letztlich siegt jedoch ihr Gerechtigkeitssinn<br />

und sie tut alles<br />

dafür, um Kamui einer gerechten<br />

Bestrafung zuzuführen.<br />

Ähnlich wie im Fall Makishima<br />

in der ersten Staffel gibt es auch<br />

in der zweiten Staffel Fälle, in<br />

denen ein Psycho-Pass sich trotz<br />

brutaler Gewalttaten nicht trübt<br />

bzw. wieder hell wird.<br />

Allerdings ist der Ansatz dieses<br />

Mal ein ganz anderer: Kamui<br />

testet zunächst aus, was möglich<br />

ist, und startet schließlich einen<br />

Feldzug, der sich erst gegen<br />

Inspektoren und Vollstrecker<br />

und schließlich gegen das Sys-<br />

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tem richtet. Seine kranken Experimente<br />

zeigen früh Wirkung,<br />

beispielsweise als Vollstrecker<br />

und Inspektoren mehrere Menschen<br />

eliminieren, da sich deren<br />

Psycho-Pass als Folge emotionaler<br />

Belastung getrübt hat. Dabei<br />

wird keinerlei Unterscheidung<br />

zwischen einem echten Verbrecher<br />

und einer traumatisierten<br />

Person, die (noch) niemandem<br />

etwas zu Leide getan hat, getroffen<br />

– und man fragt sich unweigerlich,<br />

wie lange dieses System<br />

noch bestehen kann?<br />

Animationen, Soundtrack und<br />

Synchronisation<br />

Dass hier ein neues Produktionsstudio<br />

(Tatsunoko Production)<br />

samt neuem Regisseur<br />

(Kiyotaka Suzuki) am Werke<br />

war, merkt man kaum, denn<br />

auch Psycho-Pass 2 ist allerfeinster<br />

Cyberpunk auf der Höhe der<br />

Zeit. Die Animationen sind superflüssig<br />

und zeigen die futuristische<br />

Stadt mit Licht- und<br />

Schattenseiten, wie man sie sich<br />

von heute an weitergedacht vorstellen<br />

könnte (und wie man sie<br />

in der ersten Staffel bereits kennen<br />

gelernt hat). Klassische Cyberpunkelemente<br />

treffen auf<br />

frische Ideen, die visuell mit viel<br />

Liebe zum Detail umgesetzt<br />

wurden.<br />

Verspiegelte Wolkenkratzer,<br />

viel Grün und Neonglanz treffen<br />

auf heruntergekommene<br />

Ghettos und düstere Hafenkulissen,<br />

so wie man sie sich in<br />

William Gibsons Neuromancer<br />

vorstellen könnte. Hinzu kommen<br />

die Alltagstechnologien der<br />

Zukunft, die ein Spiegel der<br />

aktuellen Entwicklung sind.<br />

Auch die Charaktere sind überdurchschnittlich<br />

gut animiert<br />

und punkten neben dem individuellen<br />

Style mit natürlichen<br />

Bewegungen und einer lebhaften<br />

Mimik und Gestik. Lediglich<br />

bei Ginoza hat man das Gefühl,<br />

dass er etwas anders aussieht als<br />

in der ersten Staffel, aber der<br />

Unterschied ist minimal.<br />

Der Soundtrack fügt sich ebenso<br />

wie in der ersten Staffel perfekt<br />

in die düstere Zukunftsvision<br />

ein, wobei Opening- und<br />

Ending-Theme relativ belanglos<br />

sind. Im direkten Vergleich zur<br />

ersten Staffel ist das Opening<br />

allerdings etwas melodischer.<br />

Als Untermalung eignet sich der<br />

Soundtrack perfekt, doch ohne<br />

Bilder funktioniert er nicht. Die<br />

Synchronsprecher bei den bereits<br />

bekannten Charakteren<br />

wurden glücklicherweise beibehalten,<br />

und auch die Stimmen<br />

der neuen Figuren fügen sich<br />

gut ein.<br />

Blu-Ray-Ausgabe<br />

Wie bereits sein Vorgänger wartet<br />

Psycho-Pass 2 als Blu-Ray mit<br />

einer hervorragenden Bild- und<br />

Klangqualität auf. Die Farben<br />

sind kräftig, und jedes Detail<br />

der wuchernden Stadt ist sichtbar.<br />

Die Lautstärkedifferenz<br />

zwischen Dialogen und Actionszenen<br />

ist angenehm, sodass<br />

man nicht ständig nach der<br />

Fernbedienung langen muss.<br />

Die Möglichkeiten des DTS-<br />

_______________________________________________________________________________________________<br />

130


_______________________________________________________________________________________________<br />

Sound-formats werden dabei<br />

auch dieses Mal nicht gänzlich<br />

ausgereizt, dafür ist der Klang<br />

jederzeit klar und voluminös.<br />

Psycho-Pass 2 kommt in der limitierten<br />

Erstauflage in einem<br />

schicken Digipack samt stabilem<br />

und beidseitig bedrucktem<br />

Sammelschuber daher (auf dem<br />

das FSK zum Glück nicht fest<br />

aufgedruckt ist).<br />

Als Extra gibt es jeweils drei<br />

Postkarten und auf der Disk das<br />

Clear Opening und Ending.<br />

Leider fehlt auch dieses Mal ein<br />

Booklet. Das ist aber auch der<br />

einzige Kritikpunkt an dieser<br />

rundum gelungenen Ausgabe.<br />

Fazit<br />

Schockierender, härter und<br />

temporeicher – Psycho-Pass 2<br />

geht von der ersten Episode an<br />

in die Vollen und bietet einen<br />

wahnsinnig spannenden Cyberthriller<br />

auf der Höhe der Zeit.<br />

Erneut wird das Sybil System<br />

von einem kriminellen Genie<br />

angegriffen und auf den Prüfstand<br />

gestellt. Psycho-Pass ist<br />

heute das, was Ghost in the Shell<br />

1995 war – allerfeinster Cyberpunk<br />

mit Tiefgang und einer<br />

grandiosen Optik.<br />

Ein Artikel zur ersten Staffel von<br />

Psycho-Pass findet ihr im<br />

PHANTAST #12 „Fernost“<br />

Copyright by PSYCHO-PASS Committee / KAZÉ<br />

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Skinned<br />

Eine Rezension von Jessica Idczak<br />

Autorin: Robin Wasserman<br />

Verlag: Script5 (2010)<br />

Übersetzerin: Claudia Max<br />

Genre: Science Fiction / Cyberpunk<br />

/ Jugendbuch<br />

Hardcover mit Schutzumschlag<br />

376 Seiten, 16,90 EUR<br />

ISBN: 978-3-839-00106-6<br />

Lia ist siebzehn, als sie bei einem<br />

Autounfall beinahe getötet<br />

wird. Nur der deutliche technologische<br />

Fortschritt im Vergleich<br />

zur heutigen Zeit verschafft ihr<br />

– im wahrsten Sinne des Wortes<br />

– ein neues Leben: Indem ihr<br />

Gehirn aus dem toten menschlichen<br />

Körper entfernt und auf<br />

Datenchips geladen wird, kann<br />

ihr Erinnerungsvermögen erhalten<br />

und auf einen neuen, künstlichen<br />

Körper übertragen werden.<br />

Einen Körper, der nach außen<br />

hin zwar völlig normal erscheint,<br />

innerlich aber rein mechanisch<br />

ist – Lia ist nicht länger<br />

ein Mensch, sondern eine Maschine.<br />

Damit umzugehen, muss<br />

Lia erst lernen, und es ist ein<br />

langer Weg, vor allem ohne die<br />

Unterstützung ihrer Freunde<br />

und Familie, die sich abwenden,<br />

weil Lia einfach nicht mehr die<br />

Alte ist und sie lange gegen diese<br />

Tatsache ankämpft.<br />

Ihre Freunde werden schnell zu<br />

Leuten von früher, von „vor<br />

dem Unfall“, einzig der ewige<br />

Außenseiter Auden steht ihr zur<br />

Seite und zeigt ihr, dass sie noch<br />

immer liebenswert ist. Außerdem<br />

ist da auch Quinn, die Lia<br />

im Krankenhaus kennen lernt<br />

und die sie zu einer Gruppe<br />

weiterer Mechs führt, deren<br />

Anführer Jude noch eine wichtige<br />

Rolle für Lia spielen wird.<br />

Gemeinsam mit diesen Charakteren<br />

geht Lia die ersten Schritte<br />

ihres neuen Lebens, immer in<br />

der Trauer um ihr altes Ich. Sie<br />

schafft es nicht, die Vergangen-<br />

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132


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heit loszulassen, und bringt<br />

damit alle in Gefahr, die ihr etwas<br />

bedeuten.<br />

Der erste Teil einer geplanten<br />

Trilogie, Robin Wassermans<br />

Debüt, spielt in einer Welt, die<br />

lange nach unserer Zeit Realität<br />

sein könnte. Radioaktiv verseuchte<br />

Städte, sämtliches Leben<br />

passiert virtuell, das Network ist<br />

24 Stunden am Tag eingeschaltet,<br />

reale Veranstaltungen sind<br />

uninteressant, Nachwuchs gibt<br />

es sozusagen auf Bestellung. Die<br />

Welt, in der Lia Kahn aufwächst,<br />

ist unwirklich und oberflächlich;<br />

solange genügend<br />

Bonus auf dem eigenen Konto<br />

liegt, ist alles möglich. Als hübsches<br />

und intelligentes Mädchen<br />

gehört Lia zu den Beliebtesten<br />

ihrer Schule, ihre Schwester Zo<br />

hingegen schert sich nicht um<br />

Trends und läuft lieber in Retro-<br />

Klamotten rum.<br />

Lia und Zo hatten nie eine wirklich<br />

schwesterliche Beziehung,<br />

und man sollte meinen, dass der<br />

Unfall mit dem computergesteuerten<br />

Wagen – in dem eigentlich<br />

Zo sitzen sollte – etwas<br />

daran ändern würde. Doch weit<br />

gefehlt, denn Zo nimmt plötzlich<br />

den Platz ihrer Schwester<br />

ein. Das ist nur einer der ersten<br />

Schritte auf Lias mühsamem<br />

Weg hin zu der Erkenntnis, dass<br />

ihr Leben nie wieder so sein<br />

wird wie vor dem Unfall.<br />

In einem Amerika, das nach<br />

Atomkrieg und zahllosen Naturkatastrophen<br />

eine neue<br />

Menschheit hervorgebracht hat,<br />

lässt Robin Wasserman ihre<br />

Charaktere ein überwiegend<br />

virtuelles Leben führen. Network,<br />

EgoZones, nahezu von<br />

überall mögliches Einlinken –<br />

das ist die Welt, in die der Leser<br />

entführt wird und die unserer<br />

heutigen Zeit zumindest in Teilen<br />

zu ähneln scheint.<br />

Die Autorin zeigt dem Leser<br />

eine Welt, zu der die unsere<br />

werden könnte, irgendwann in<br />

ferner Zukunft. Fast ein wenig<br />

beängstigend, aber auch seltsam<br />

anmutend sind die Aussichten,<br />

die in Skinned vermittelt werden.<br />

Mit einem nicht wirklich neuen<br />

Thema, aber einer jugend- und<br />

erwachsenenfreundlichen Umsetzung,<br />

teilweise poetischer<br />

Sprache, realistischen Schauplätzen<br />

und lebensnahen Charakteren<br />

wird der Debütroman<br />

der Autorin zu einem sehr speziellen<br />

Werk der Science Fiction,<br />

das nicht nur während des Lesens<br />

erschüttert, sondern auch<br />

in den Lesepausen nachdenklich<br />

macht. Welche Möglichkeiten<br />

wird es in den nächsten Jahren,<br />

Jahrzehnten und Jahrhunderten<br />

geben? Was erwartet die<br />

Menschheit, wenn sie weiter so<br />

mit der Erde umgeht, wie sie es<br />

in den letzten Jahren getan hat?<br />

Und der einzelne Leser fragt<br />

sich, wie er sich an Lias Stelle<br />

fühlen, wie er handeln würde.<br />

Als Einstieg in eine Trilogie eignet<br />

sich Skinned sehr gut. Die<br />

ersten Schritte im neuen Leben<br />

Lias und Einblicke in die Welt,<br />

wie sie irgendwann sein könnte,<br />

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fesseln ausreichend und bieten<br />

eine Grundlage, um neugierig<br />

nach dem nächsten Band zu<br />

greifen und sich bereits jetzt auf<br />

das Erscheinen des dritten Teils<br />

zu freuen. Selbst für Leser, die<br />

der Science Fiction sonst nichts<br />

abgewinnen können, präsentiert<br />

der Roman eine Geschichte, die<br />

neben der passenden Aufmachung<br />

(der Schutzumschlag<br />

erinnert entfernt an Schlangenhaut)<br />

nicht nur unterhält, sondern<br />

auch nachdenklich macht.<br />

Robin Wasserman ist auf dem<br />

richtigen Weg, zu einem wichtigen<br />

Bestandteil der Science Fiction,<br />

vor allem im Jugendbereich,<br />

zu werden. Bereits mit<br />

ihrem Debüt kann sie die Leserschaft<br />

überzeugen – man darf<br />

gespannt auf weitere Werke<br />

sein.<br />

Fazit<br />

Robin Wasserman bietet mit<br />

ihrem Debüt Skinned einen Einblick<br />

in eine mögliche Zukunft<br />

und zeigt, dass auch in einer<br />

hochentwickelten Gesellschaft<br />

nicht alles reibungslos verläuft.<br />

Ein Science-Fiction-Roman für<br />

Jugendliche und Erwachsene,<br />

der nicht nur unterhält, sondern<br />

auch nachdenklich stimmt.<br />

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Cyberpunk<br />

Eine Rezension von Judith Madera<br />

Interpret: Billy Idol<br />

Label: Chrysalis (1993)<br />

Producer: Robin Hancock<br />

Genre: Hard Rock / Dance Rock<br />

Audio-CD, je nach Zustand für 3<br />

bis 20 EUR erhältlich<br />

I'm bathing in warm liquid colour<br />

Feel every cell in my body is music<br />

Floating in hyperspacial sound<br />

Visualizing the landscapes of my<br />

mind<br />

I'm opening the door to inner space<br />

I'm feeling the vibrasound<br />

Mit dem 1993 erschienenen Konzeptalbum<br />

Cyberpunk entfernte<br />

sich Billy Idol von seinem bisherigen<br />

Sound und überraschte die<br />

Fans mit experimentellen elektronischen<br />

Klängen. Cyberpunk ist<br />

Idols Interpretation des Nischengenres,<br />

ein Versuch, futuristische<br />

Elektroklänge mit dem derben<br />

Gefühl des Cyberpunk zu kombinieren.<br />

Aus heutiger Sicht wandelt Cyberpunk<br />

an der Grenze zwischen<br />

dem Hard Rock und Synthie-Pop<br />

der Achtziger und der aufblühenden<br />

Techno- und Elektrokultur<br />

der Neunziger. Damit klingt<br />

das Album gleichermaßen modern<br />

wie retro und fängt die<br />

Stimmung des ursprünglichen<br />

Cyberpunk durchaus ein.<br />

Was Cyberpunk vor allem auszeichnet,<br />

ist seine Experimentierfreudigkeit.<br />

Das Album ist ein<br />

verrücktes Crossover aus verschiedenen<br />

Spielarten des Rock,<br />

Synthie-Pop und frühen Techno,<br />

kombiniert mit experimentellen<br />

Klangeffekten, die teilweise cool<br />

und teilweise etwas lächerlich<br />

daherkommen, wie beispielsweise<br />

die dunkel verzerrte, pseudospirituelle<br />

Stimme bei „Adam in<br />

Chains“.<br />

Wer sich mit dem Thema Cyberpunk<br />

beschäftigt, sollte dieses<br />

Album dennoch zumindest ein-<br />

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_______________________________________________________________________________________________<br />

mal gehört haben. Neben vielen<br />

Songs, die zwar interessant sind,<br />

aber schnell vergessen werden,<br />

gibt es auch einige eingängige<br />

und cyberspacige Stücke.<br />

Eine Inspirationsquelle für Cyberpunk<br />

war – kaum verwunderlich<br />

– William Gibsons Neuromancer,<br />

dem Idol auch einen<br />

Track auf dem Album widmet.<br />

Thematisch orientiert sich der<br />

Song an den düsteren Seiten des<br />

Romans, an der Tristesse des<br />

urbanen Molochs und der zunehmenden<br />

Entmenschlichung:<br />

„It's the age of destruction / In a<br />

world of corruption.“ Der treibende<br />

Elektrobeat reibt sich an<br />

schroffen Gitarrenklängen, was<br />

„Neuromancer“ einen ungeschliffenen<br />

Touch verleiht.<br />

„Shangrila“ ist einer der ruhigeren<br />

Tracks und erinnert ein wenig<br />

an Ethno-Pop oder auch an<br />

den Psychedelic Rock aus den<br />

Siebzigern. Der Text hebt sich<br />

vom pessimistischen und teils<br />

aggressiven Ton des Albums ab,<br />

da er Liebe und Freiheit in den<br />

Mittelpunkt stellt. Die erste Strophe<br />

liest sich dabei wie ein Eintauchen<br />

in den Cyberspace –<br />

oder auch wie ein beginnender<br />

Drogentrip, was einer Cyberspaceerfahrung<br />

allerdings recht nahekommt.<br />

Zu den eingängigen Songs des<br />

Albums zählt auch das melancholische<br />

„Concrete Kingdom“,<br />

das durch seinen ruhigen, leicht<br />

orientalisch anmutenden Gesang<br />

und wunderschöne Synthesizermelodien<br />

überzeugt. Untermalt<br />

von einem sanften, aber<br />

dennoch treibenden Beat – ein<br />

herrliches Stück zum Sichtreibenlassen.<br />

Auch „Power Junkie“ wartet mit<br />

coolen Synthesizersequenzen<br />

auf, die teilweise an Videospiele<br />

aus den frühen Neunzigern erinnern.<br />

Aufgebrochen durch harte<br />

Gitarrensounds und einen leicht<br />

irren Gesangspart (Idol singt<br />

schließlich „I’m going crazy“),<br />

stellt der Song zudem schön die<br />

Kontraste dar, die den Cyberpunk<br />

auszeichnen.<br />

„Tomorrow People“ klingt<br />

schon mehr nach Billy Idol,<br />

ebenso wie das rockige und<br />

schnelle „Shock to the System“.<br />

Cyberpunkthemen sind hier eher<br />

versteckt zu erkennen, da sich<br />

beide Songs stärker um Emotionen<br />

wie Hoffnungslosigkeit und<br />

Aggression als um Gesellschaftskritik<br />

oder Beschreibungen des<br />

zukünftigen Lebens drehen.<br />

Cyberpunk wurde damals relativ<br />

kritisch aufgenommen und verursachte<br />

unter anderem eine Art<br />

Shitstorm in einem Onlineforum,<br />

in dem Idol vorgeworfen wurde,<br />

auf einen Trend aufspringen zu<br />

wollen und nichts über Themen<br />

wie Cyberpunk und Computertechnologie<br />

zu wissen. Das Argument,<br />

Idol habe nur Dollarzeichen<br />

in den Augen gehabt, war<br />

fraglich, da der Zenit des Cyberpunk<br />

1993 längst überschritten<br />

war und das Genre ohnehin nie<br />

einen Boom wie beispielsweise<br />

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die Fantasy nach der Verfilmung<br />

von Der Herr der Ringe erlebte.<br />

Auch klingt Cyberpunk für den<br />

Massengeschmack der Neunziger<br />

zu experimentell und elektronisch.<br />

William Gibson äußerste sich<br />

übrigens irritiert über Cyberpunk,<br />

da für ihn eine Verbindung zur<br />

Literatur nicht erkennbar war. Er<br />

hält ohnehin wenig von einer<br />

sogenannten „Cyberkultur“, die<br />

Idol in seinem Album sieht.<br />

Fazit<br />

Cyberpunk ist ein extrem ausgefallenes<br />

und gewöhnungsbedürftiges<br />

Konzeptalbum, das neben<br />

einigen sehr melodischen und<br />

cyberspacigen Stücken experimentelle<br />

Rock- und Elektrotracks<br />

bereithält, die mindestens interessant<br />

sind. Die Kombination<br />

aus Synthesizern und harten<br />

Gitarrenriffs passt eigentlich gut<br />

zum Cyberpunk, allerdings<br />

klingt Billy Idol für das derbe<br />

Gefühl des Genres zu lasch und<br />

rockig.<br />

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Nacht in Neo Tokyo<br />

von Jeremy Iskandar (2005)<br />

I.<br />

Das Wasser in der Bucht von<br />

Neo Tokyo glich einem schwarzen<br />

Spiegel, auf dessen düsterer<br />

Oberfläche die verwaschenen<br />

Lichter des Sprawl zu zerfließen<br />

schienen. Vom Meer her wehte<br />

eine leichte Brise durch die Bucht<br />

und ließ die dünnen Signalmasten<br />

des Frachters mit einem blechernen<br />

Scheppern erbeben.<br />

Cross stand an der Reling, sein<br />

Mantel flatterte leicht im Wind.<br />

Die Nachtluft wirkte erfrischend<br />

und hätte ihn fast vergessen lassen,<br />

warum er hier war. Als sich<br />

der alte Frachter den gigantischen,<br />

automatisierten Hafenanlagen<br />

des Sprawl näherte und<br />

Cross das Licht des Kerns förmlich<br />

dabei beobachten konnte,<br />

wie es in wirren Bahnen in die<br />

Bucht hinabfloss, überkam ihn<br />

ein eigenartiges Gefühl. Es war<br />

dieser Hauch, der einem durch<br />

den ganzen Körper fährt, sanft,<br />

aber dennoch kühl, erregend,<br />

aber beängstigend. Er war schon<br />

lange nicht mehr hier gewesen,<br />

verdammt lange. Und hätte er<br />

vor zwei Nächten nicht diesen<br />

eigenartigen Traum von seiner<br />

kleinen Schwester gehabt, er wäre<br />

sicherlich nicht wieder hierher<br />

zurückgekehrt.<br />

Neo Tokyo ist ein düsteres Pflaster,<br />

ein Moloch, getaucht in<br />

Zwielicht, hatte man ihm damals<br />

gesagt, und Cross wusste, dass<br />

es die Wahrheit war. Im Schein<br />

endloser Kaskaden aus animierten,<br />

grell leuchtenden Neonreklamen<br />

und in den Schatten glitzernder<br />

Stahl- und Glasbauten<br />

stand der Mensch zerrissen zwischen<br />

Tradition und Moderne,<br />

wogte er in der Masse dahin und<br />

war doch einsam und hilflos im<br />

Strom der Veränderung gefangen.<br />

Neo Tokyo war ihm fremd und<br />

vertraut zugleich. Wie so oft seit<br />

gestern Nacht fragte er sich nun,<br />

ob es in einem urbanen Labyrinth<br />

wie diesem überhaupt<br />

möglich war, einen einzelnen<br />

Menschen ausfindig zu machen.<br />

Aber er hatte schließlich keine<br />

andere Wahl. Die Überfahrt auf<br />

dem chinesischen Frachter hatte<br />

seinen Stick fast gänzlich geleert,<br />

und Neo Tokyo war berüchtigt<br />

für seine enormen Preise. Ein<br />

Zurück gab es für ihn nun also<br />

nicht mehr, und abgesehen davon<br />

war er auch einfach nicht<br />

der Typ, der angefangene Sachen<br />

nicht zu Ende brachte.<br />

Trotzdem, der Traum hatte ihn<br />

stutzig gemacht. Er hatte noch<br />

nie von seiner Schwester ge-<br />

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138


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träumt, geschweige denn an sie<br />

gedacht. Doch seit einigen Tagen<br />

stiegen immer häufiger die<br />

dunklen Fragmente ihrer gemeinsamen<br />

Zeit in ihm empor,<br />

erinnerten ihn an ihre gemeinsame<br />

Kindheit auf den staubgepeitschten<br />

Straßenzügen des<br />

Ostküsten-Sprawl. Die Bilder<br />

schienen ihm unbewusst und<br />

ungewollt, doch sie kamen und<br />

ließen ihn nicht mehr in Ruhe.<br />

Wie war das noch gleich? Man<br />

kann seiner Vergangenheit nicht<br />

davonlaufen. Cross erinnerte sich<br />

daran, diesen Spruch schon einmal<br />

gehört zu haben. Vergangenheit.<br />

Was ist das schon? Vielleicht<br />

eine endlose Spirale aufgereihter<br />

Momente, Erinnerungsfetzen, zerfließender<br />

Bilder? Aber ganz egal,<br />

was es war, es ließ ihn schwindeln.<br />

Und er erinnerte sich, ohne dass<br />

er es wollte: Dreckige Wände<br />

hatte ihre Bude damals gehabt<br />

und ein einzelnes Fenster zum<br />

Hinterhof hin, das sich nicht<br />

mehr richtig schließen ließ. Die<br />

Nachbarschaft war das reinste<br />

Loch gewesen. Altmodische<br />

Drogendealer, Neo-Kommunisten,<br />

Prostituierte. Sie hieß<br />

Stacy, seine Schwester. Ein verdammter<br />

hübscher Name, fiel<br />

ihm nun auf. Warum ihm das<br />

nicht schon früher aufgefallen<br />

war, wusste er nicht.<br />

Stacy war sechs Jahre jünger als<br />

er, und er war ihr nie ein guter<br />

Vater gewesen. Warum auch,<br />

schließlich war er nur ihr Bruder<br />

und hatte keine Ahnung davon,<br />

was es hieß, ein Kind großzuziehen,<br />

noch dazu ein Mädchen.<br />

Aber dennoch schien es ihm, als<br />

wäre es eine unvergessliche Zeit<br />

gewesen. Die Jungs hatten sich<br />

ständig um Stacy gekümmert,<br />

wenn er wieder einmal damit<br />

beschäftigt gewesen war, eine<br />

Kurierfahrt für die örtlichen<br />

Syndikatsbosse durchzuführen.<br />

Irgendwoher musste die Kohle<br />

schließlich kommen.<br />

Dann war seine Schwester älter<br />

geworden, hatte sich im Untergrund<br />

herumgetrieben und ihre<br />

Nächte in den Discotheken alter<br />

Bunkeranlagen verbracht, die<br />

aus Zeiten stammten, in denen<br />

man Krieg noch mit Raketen und<br />

Flugzeugen geführt hatte. Er<br />

hatte sie nie verstanden, sie waren<br />

einfach zu verschieden gewesen.<br />

Hatte er sie überhaupt<br />

gekannt? Aber wann kennt man<br />

schon jemanden, sagte er sich,<br />

versuchte sein Gewissen, oder<br />

was auch immer ihn zum Nachdenken<br />

antrieb, zu beruhigen,<br />

wusste aber nicht, ob es ihm<br />

auch gelang.<br />

Zumindest hatte er sich alle Mühe<br />

gegeben, sie zu beschützen. Es<br />

war gefährlich, einen heißen<br />

Körper sein Eigen zu nennen,<br />

vor allem wenn man ein Mädchen<br />

war. Und einen heißen<br />

Körper, ja, den hatte sie gehabt,<br />

sie war wunderschön gewesen.<br />

Aber auch er war schließlich<br />

machtlos gewesen, als dieser<br />

Japaner aufgetaucht war.<br />

Ein merkwürdiger Typ, so wie<br />

alle Japaner eben merkwürdige<br />

Typen waren. Dann war sie gegangen,<br />

war ihm gefolgt ins düstere,<br />

von Zwielicht gebadete Neo<br />

Tokyo und hatte Cross allein<br />

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gelassen. Er hatte sie schon fast<br />

vergessen gehabt, als er plötzlich<br />

diesen Fetzen Wirklichkeit geträumt<br />

hatte.<br />

Es musste einfach wirklich gewesen<br />

sein, er hatte es irgendwie<br />

tief in sich gespürt. Am Tag zuvor<br />

hatte er sich von Lenny eine<br />

Dosis Resire besorgen lassen und<br />

natürlich auch gleich davon gekostet.<br />

Resire war der neueste<br />

Schrei und erst seit einigen Monaten<br />

auf dem freien Markt erhältlich.<br />

Trotzdem hatte Cross<br />

seine erste Dosis bereits vor über<br />

einem Jahr intus gehabt.<br />

Von den Konzernfabriken<br />

schwamm das Zeug praktisch<br />

direkt auf die Schwarzmärkte<br />

der Straße, wo die Stammkundschaft<br />

es testen konnte. Waren<br />

die Abteilungsleiter der Multis<br />

dann mit der Wirkung zufrieden,<br />

erließen sie neue Verbrauchergesetze<br />

und schafften das Produkt<br />

auf die großen Märkte der urbanen<br />

Moloche, allen voran natürlich<br />

ins grell schimmernde, am<br />

Rande ständiger Ekstase bebende<br />

Neo Tokyo.<br />

Angeblich machte Resire nicht<br />

abhängig, zumindest nicht mehr,<br />

als es Cyberspace-Spiele, virtuelle<br />

Welten und SimStim taten.<br />

Aber Resire war anders, hatte<br />

einen anderen Thrill. Erleben Sie<br />

eine völlig neue Form der Wahrnehmung,<br />

einen neuen Zustand<br />

berauschender Erfahrung, hieß es<br />

in einem der Slogans, die man<br />

tagtäglich auf den Holoschirmen<br />

der zahllosen Werbedrohnen<br />

entlang des grauen Himmels<br />

erhaschen konnte. Vielleicht hatte<br />

er deswegen geträumt, und<br />

vielleicht war es ihm deshalb so<br />

wirklich vorgekommen.<br />

Vage erinnerte er sich daran, im<br />

Trid postanalytische Forscher<br />

davon reden gehört zu haben,<br />

wie sich Resire auf die Traumwelt<br />

des Menschen auswirken<br />

konnte, aber an Einzelheiten<br />

konnte er sich bereits gar nicht<br />

mehr erinnern. Wo käme man<br />

auch hin, wenn man den ganzen<br />

Mist aus dem Trid ständig mit<br />

sich herumschleppen würde. Es<br />

spielte keine Rolle, sagte sich<br />

Cross. So oder so. Ich kann nicht<br />

mehr zurück. Also, warum nicht<br />

sein Glück versuchen? Einfach<br />

nur eintauchen in den hypnotischen<br />

Reigen des japanischen<br />

Asphaltdschungels und sich von<br />

ihm treiben lassen.<br />

Die Hafenanlagen Neo-Tokyos<br />

erinnerten Cross an die düstere<br />

Version eines Spielplatzes für<br />

metallene Giganten. Überall ragten<br />

sie über ihm empor, gewaltige<br />

Lastkräne, vollautomatische<br />

Arbeitsdrohnen und Lagerhäuser,<br />

soweit das Auge reichte. Nur<br />

vereinzelt konnte er in den grellen<br />

Flutlichtern der Verladedocks<br />

einen Menschen erkennen. Meist<br />

waren es Konzernarbeiter, die<br />

das Heer aus Robotern und<br />

Drohnen überwachten, das sich<br />

um das Be- und Entladen der<br />

Containerschiffe kümmerte, die<br />

tagtäglich zu Hunderten in die<br />

Bucht des Sprawl einliefen und<br />

damit dessen Versorgung gewährleisteten.<br />

Die Hände tief in die Taschen<br />

seines Mantels vergraben,<br />

schlenderte Cross durch die fins-<br />

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teren Gassen zwischen den hoch<br />

aufragenden Lagerhäusern und<br />

folgte dem bunten Licht, das ihm<br />

entgegenfloss. Langsam fing er<br />

an, sich darüber Gedanken zu<br />

machen, was er hier eigentlich<br />

tat. Bisher hatte er nämlich nicht<br />

den geringsten Schimmer, wie er<br />

die Sache angehen konnte. Oder<br />

sollte er sich einfach nur treiben<br />

lassen? So, wie er es in den letzten<br />

beiden Tagen getan hatte, als<br />

er beschlossen hatte, auf dem<br />

chinesischen Frachter anzuheuern.<br />

Der Kapitän des Schiffes, ein<br />

hagerer Asiat mit grellrotem<br />

Haar, hatte sich als alter Hase im<br />

Schmuggelgeschäft herausgestellt.<br />

Natürlich ging es um Drogen.<br />

Die Yakuza, hatte er Cross<br />

erklärt. Wenn du im Sprawl etwas<br />

erreichen möchtest, dann musst du<br />

dich mit den Yaks organisieren.<br />

Und so lief auch das Geschäft.<br />

Gehüllt in ihre teuren, schnittigen<br />

schwarzen Anzüge, tauchten<br />

die Yaks auf, waren Geschäftsleute<br />

und Kriminelle in einem<br />

und sorgten dafür, dass ganze<br />

Schiffsladungen an Porno-Stims,<br />

psychotropen Softs und<br />

Headburnern ihren Weg auf den<br />

Schwarzmarkt oder die Chefetagen<br />

der Konglomerate fanden.<br />

Die Yakuza. Aber wie sollte<br />

Cross an diese verschwiegenen,<br />

traditionsgeilen Geschäftsleute<br />

herankommen? Er hatte den<br />

Chinesen zwar dafür bezahlen<br />

können, seine ID im japanischen<br />

Verwaltungssystem für registriert<br />

erklären zu lassen, aber für<br />

einen Kontrakt mit den Yaks war<br />

sein Stick dann doch nicht prall<br />

genug gefüllt gewesen.<br />

Ich werde sie schon noch finden,<br />

redete er sich ein. Ich muss einfach<br />

nur in den heißesten,<br />

schmutzigsten und aufregendsten<br />

Club im Sprawl gelangen,<br />

dann wird sich das eine schon<br />

aus dem anderen ergeben.<br />

Endlich hatte er den Hafen hinter<br />

sich. In der Grauzone vermischte<br />

sich der eigenartige Geruch aus<br />

Metall und Meer, der ihm am<br />

Hafen allgegenwärtig erschienen<br />

war, mit dem Regen der Straße.<br />

Ein elektrischer Wald breitete<br />

sich nun um ihn herum aus und<br />

brannte sich förmlich als Abbild<br />

auf seiner Retina ein. Geblendet<br />

vom künstlichen Licht, rauschte<br />

er durch die Straßen, ließ sich<br />

vom Strom tragen. Die Menschen<br />

waren überall und schienen doch<br />

nirgendwo. Ihre Körper wogten<br />

unentwegt, aber ihre Geister<br />

blieben ihm verschlossen. Er kam<br />

an endlosen Galeriefassaden<br />

vorbei, in denen jede nur erdenkliche<br />

Ware angepriesen wurde,<br />

zuzüglich zu einigen Dingen, die<br />

er in seinem Leben noch nie zuvor<br />

gesehen hatte.<br />

Auf den Straßen mühte sich ein<br />

Strom chromblitzender Fahrzeuge<br />

damit ab, endlich vorwärtszukommen,<br />

während an jeder<br />

Straßenecke zahlreiche Drohnen<br />

den Verkehr zu regeln versuchten<br />

oder mit großflächigen Videoschirmen,<br />

auf denen Nachrichten<br />

und Werbespots flimmerten,<br />

die Menge beschallten.<br />

Cross taumelte orientierungslos<br />

umher, marschierte einige Blocks<br />

weit und warf dabei immer wieder<br />

einen Blick zu den pulsie-<br />

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141


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renden Glasfassaden der Arkologien,<br />

die wie bizarre Skulpturen<br />

aus dem betonierten Boden<br />

zu ragen schienen. Dann erreichte<br />

er einen Taxistand. Am Rande<br />

der Straße gab es eine kleine<br />

Bucht mit mehreren Terminals<br />

und einer Leinwand, auf der er<br />

ein Geflimmer aus japanischen<br />

Schriftzeichen erkennen konnte.<br />

Hastig umrundete er eine Gruppe<br />

schwarz gekleideter Konzernarbeiter<br />

und hielt auf die Parkbucht<br />

zu. In einer fein säuberlichen<br />

Reihe standen hier die Taxis<br />

entlang der Terminals.<br />

Cross wählte das erstbeste Drohnenfahrzeug,<br />

verschaffte sich mit<br />

seinem Stick Zugang und atmete<br />

tief durch. Für einen Moment<br />

war ihm das Chaos des Sprawl<br />

entschwunden. Mit leicht zitternden<br />

Fingern kramte er in<br />

seiner Manteltasche und führte<br />

die Sprachsoft, die er vom Chinesen<br />

erhalten hatte, in die Buchse<br />

unter seinem schwarzen Haar<br />

ein. In fehlerfreiem Japanisch<br />

wies er den Drohnenpiloten des<br />

Fahrzeugs dazu an loszufahren<br />

und versuchte sich dabei auf<br />

dem Navigationsdisplay eine<br />

grobe Orientierung zu verschaffen.<br />

Erst mal raus hier, sagte er<br />

sich. Seine Blicke glitten über den<br />

schimmernden Schirm, der mit<br />

wild blinkenden Icons dermaßen<br />

überladen war, dass es Cross<br />

schwer fiel, ihm einzelne Informationen<br />

zu entnehmen. Dann<br />

hatte er sein Ziel gefunden. In<br />

einem schattigen Blau stach ihm<br />

das Logo des Clubs entgegen,<br />

den er anzusteuern gedachte.<br />

Moon Lady. Hört sich gut an,<br />

dachte er zufrieden und spürte<br />

eine Woge neuer Kraft in sich<br />

emporsteigen. Die Augen geschlossen<br />

lehnte Cross sich im<br />

Sitz zurück, ließ das wogende<br />

Spiel der Leuchtreklamen an den<br />

Scheiben des Taxis vorbeiziehen<br />

und genehmigte sich seine erste<br />

Dosis Resire im pulsierenden<br />

Neo Tokyo.<br />

II.<br />

Im Schneidersitz auf einem kleinen<br />

Kunststoffteppich auf dem<br />

Boden hockend, atmete Musashi<br />

ein letztes Mal tief ein und wieder<br />

aus. Langsam öffneten sich<br />

seine Sinne, und sein Geist füllte<br />

sich mit den Eindrücken der ihn<br />

umgebenden Realität. Er spürte,<br />

wie der Boden in gleichförmigen,<br />

rhythmischen Mustern erzitterte,<br />

und hörte den wogenden Klangteppich,<br />

der ihm von unten aus<br />

dem Clubraum entgegenkam.<br />

Noch vor dem Beginn seiner<br />

Meditation hatte Musashi den<br />

Raum in Dunkelheit gehüllt und<br />

seine hölzernen Schalen um sich<br />

herum auf dem kahlen Boden<br />

aufgestellt. Nun stieg ihm der<br />

Geruch verbrannter Kräuter in<br />

die Nase, reizte seine Sinne, so<br />

als wären sie von neuem erwacht,<br />

wie neugeboren. Dann<br />

öffnete der junge Samurai die<br />

Augen und erhob sich, das lange<br />

schwarze Haar noch immer straff<br />

zu einem altmodischen Zopf<br />

gebunden.<br />

Das Zimmer, in das er sich zurückgezogen<br />

hatte, konnte man<br />

schwerlich mit der Ruhe eines<br />

Tempels vergleichen, aber es<br />

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142


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erfüllte trotzdem seinen Zweck<br />

und war zudem auch noch äußerst<br />

preisgünstig. Schweigsam<br />

schritt der Samurai zum Bett, das<br />

im Grunde genommen nicht<br />

mehr als ein gespanntes Kunststofftuch<br />

war, welches sich automatisch<br />

an Gewicht, Größe<br />

und Schlafgewohnheiten des<br />

Gastes anpasste. Aber Musashi<br />

benötigte kein Bett, denn er<br />

schlief grundsätzlich im Sitzen,<br />

und das auch nur, wenn er festen<br />

Boden unter den Füßen hatte.<br />

Mit einem geübten Griff<br />

schnappte sich der junge, athletisch<br />

gebaute Japaner sein Bündel<br />

vom Bett und schlüpfte in<br />

seinen Urban Survival Suit, den<br />

er wie immer das Aussehen<br />

schlichter traditioneller Kleidung<br />

annehmen ließ.<br />

Das Letzte, was er tat, bevor er<br />

dem Raum den Rücken kehrte,<br />

war das Befestigen seiner beiden<br />

Schwerter am Gürtel und das<br />

Einsammeln seiner kleinen Holzschalen,<br />

die noch immer auf dem<br />

Boden des Zimmers verteilt<br />

standen. Dann schritt er gemächlichen<br />

Tempos wieder nach unten<br />

und betrat den Innenraum<br />

des Moon Lady.<br />

Mittlerweile hatte sich der Club<br />

gut gefüllt. Musashi hockte sich<br />

im Schneidersitz auf den letzten<br />

freien Barhocker direkt an der<br />

Wand und erntete dafür einige<br />

belustigte Blicke von den Typen<br />

an der Bar. Ohne darauf einzugehen,<br />

aber sich dennoch jeder<br />

Präsenz in seinem näheren Umfeld<br />

bewusst, musterte der junge<br />

Samurai eingehend das vor ihm<br />

ausgebreitete Treiben.<br />

Die trockenen Elektrobässe einer<br />

neumodischen Clubmusik ließen<br />

die leeren Gläser auf dem transparenten<br />

Tresen in schnellen<br />

Schlagfolgen erbeben. Musashi<br />

kannte den Titel des Songs zwar<br />

nicht, aber von dem Interpreten<br />

hatte er bereits gehört. Li-X250,<br />

wobei die Ziffernfolge gleichzeitig<br />

Seriennummer der künstlichen<br />

Intelligenz war, von der<br />

auch der heutige Hit stammte.<br />

Sicherlich war er nicht der Einzige<br />

hier, der den Titel nicht beim<br />

Namen nennen konnte. Was war<br />

schon ein einzelner Name, wenn<br />

sich ein Hit im Sprawl ja sowieso<br />

nie länger als nur einen Tag lang<br />

halten konnte? Und morgen<br />

würden sie wieder hier sein. Dieselben<br />

Leute, derselbe Thrill, und<br />

sie würden tanzen und feiern zu<br />

einem Song ähnlich wie diesem,<br />

dessen Namen niemand kannte.<br />

Ob dieses Gedankenganges<br />

konnte Musashi sich ein leichtes<br />

Grinsen nicht verkneifen. Immer<br />

mehr junge Leute strömten nun<br />

auf die Tanzfläche aus bebendem<br />

Neonlicht.<br />

Wie in den meisten Clubs war sie<br />

auch hier ein interaktiver Raum.<br />

Je mehr Menschen den gläsernen,<br />

in Licht fließenden Boden<br />

betraten, desto wilder, unberechenbarer<br />

und schneller zuckte<br />

das Farbenspektrum und desto<br />

hypnotisierender gestalteten sich<br />

die Animationen auf den gläsernen<br />

Säulen um die Tanzfläche<br />

herum, wanden und räkelten sie<br />

sich, bis sie schließlich zu einem<br />

verzerrten Abbild ihrer Tänzer<br />

verkommen waren.<br />

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Doch das Moon Lady hatte weitaus<br />

mehr zu bieten als nur Effekthascherei.<br />

In Zwielicht getaucht<br />

verteilten sich traditionell<br />

geschmückte Logen für die verschwiegeneren<br />

Gäste, und im<br />

Hintergrund konnte Musashi die<br />

Umrisse der Cyberspacekonsolen<br />

erkennen, die an der gegenüberliegenden<br />

Wand angebracht waren.<br />

Abgesehen davon war es im<br />

Club faktisch die Regel, dass die<br />

Gäste selbst zum Dekor wurden.<br />

Und wenn Musashi einen Blick<br />

auf die jungen, sich räkelnden<br />

Mädchen mit ihrem schimmernden<br />

Glasfaserhaar und den animierten<br />

Ganzkörper-Tattoos<br />

warf, dann konnte der junge Japaner<br />

dieser Einschätzung<br />

durchaus das ein oder andere<br />

abgewinnen.<br />

Nachdem Musashi seinen Blick<br />

wieder zur Bar hatte zurückschweifen<br />

lassen, mixte er sich<br />

mit Hilfe des Displays, das im<br />

gläsernen Tresen eingelassen<br />

war, seinen Wunschdrink und<br />

lehnte sich entspannt zurück, in<br />

dem Wissen, dass in dieser<br />

Nacht sicherlich noch einiges<br />

passieren würde.<br />

Die Fahrt durch den Sprawl war<br />

Cross wie eine halbe Ewigkeit<br />

vorgekommen. Während das<br />

automatisierte Taxi sich seinen<br />

Weg durch den Strom an Fahrzeugen<br />

entlang der japanischen<br />

Schnellstraßen gesucht hatte, war<br />

in Cross die Müdigkeit emporgestiegen.<br />

Wann hatte er eigentlich<br />

das letzte Mal geschlafen? Er<br />

wusste es nicht mehr, und es<br />

schien ihm auch belanglos.<br />

Ich muss wach sein, wenn ich meine<br />

Schwester in diesem Betondschungel<br />

finden will. Und vor allem muss ich<br />

vorsichtig sein, mich vor den urbanen<br />

Raubtieren schützen, die hinter<br />

den schattigen Fassaden der Häuserzeilen<br />

auf mich warten könnten.<br />

Gewiss sind sie dort und warten auf<br />

mich, den Fremden, der in ihr Land<br />

gekommen ist. Unbewusst glitten<br />

seine Finger unter den Mantel,<br />

wo seine beiden Waffen gut versteckt<br />

in zwei Holstern bereit<br />

lagen, um von ihm benutzt zu<br />

werden.<br />

In den letzten Zügen der Resire-<br />

Dosis schwelgend, wurde Cross<br />

durch ein Piepen im Taxi darauf<br />

aufmerksam gemacht, dass er<br />

sein Ziel fast erreicht hatte. Mit<br />

einem misstrauischen Blick musterte<br />

er das Treiben der Nacht.<br />

Das Moon Lady war ein großes,<br />

säulenförmiges Gebäude, dessen<br />

Oberfläche eine einzige, riesige<br />

Projektionsfläche zu sein schien,<br />

die auf gekonnte Weise mit den<br />

Blicken des Beobachters spielte<br />

und ihn zum Narren hielt. Immer<br />

wieder verschwand das<br />

große Gebäude scheinbar spurlos<br />

im Schleier der Dunkelheit, nur<br />

um kurze Zeit später als gläserne<br />

Hülle oder brennender Wald<br />

wieder aufzutauchen.<br />

Das Taxi hatte seine Fahrt verlangsamt<br />

und glitt nun seicht<br />

durch die Einfahrt in den Tiefgaragenkomplex<br />

des Clubs. In<br />

konzentrischen Kreisen reihte<br />

sich hier unten, im Schein greller<br />

Neonröhren, eine Luxuskarosse<br />

an die nächste. Vor einem ebenfalls<br />

kreisrunden, gläsernen Aufzug<br />

hielt das Taxi schließlich an,<br />

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und Cross stieg aus. Ob sie die<br />

Waffen bemerken werden? Cross<br />

wusste, dass die Waffen mit<br />

Standarttechnik nicht zu entdecken<br />

waren, aber er befürchtete,<br />

dass dieser Club hier mehr zu<br />

bieten hatte. So oder so. Ich muss<br />

hier rein. Also, warum es nicht<br />

einfach drauf ankommen lassen?<br />

Es wäre nicht das erste Mal in<br />

seinem Leben, dass er jemanden<br />

umlegen müsste. Mit vorsichtigen<br />

Schritten betrat Cross den<br />

Aufzug und glitt in der gläsernen<br />

Röhre nach oben.<br />

Bereits bei seinen ersten paar<br />

Schritten in den Club hinein<br />

spürte Cross die Blicke der Leute<br />

auf sich haften. Interessiert wurde<br />

er von einigen japanischen<br />

Mädchen angetanzt, deren Augen<br />

wie leuchtende Röhren<br />

glänzten und um deren Fingernägel<br />

eigenartiges Licht tanzte.<br />

Unbeeindruckt bahnte sich Cross<br />

seinen Weg durch den Laden,<br />

während die dumpfen Schläge<br />

des Basses tief durch seinen Körper<br />

fuhren. Dann sah er es. Es<br />

war eine Art Skulptur mitten im<br />

Raum, die ein aufrecht stehendes<br />

Einhorn zeigte. Das Fabeltier<br />

überragte ihn um gut einen halben<br />

Meter und war gänzlich aus<br />

Glas. Kaskadenartige blaue Blitze<br />

zuckten in seinem durchsichtigen<br />

Körper umher, unkontrolliert<br />

und völlig unberechenbar.<br />

Stacy, kam es ihm plötzlich in<br />

den Sinn. Stacy hatte Einhörner<br />

über alles geliebt. Einmal hatte<br />

sie gar die Holotapete ihres<br />

Zimmers das Motiv eines durch<br />

den Schnee laufenden Einhornes<br />

zeigen lassen, und Cross hatte in<br />

dem anmutigen, durch Schneewehen<br />

preschenden Tier stets sie<br />

gesehen. Sie muss hier gewesen<br />

sein, sagte er sich nun. Ich weiß es.<br />

Mit neuem Antrieb blickte er sich<br />

um. Vor ihm lag die Tanzfläche,<br />

ein undurchsichtiger Wald aus<br />

Lichtblitzen und heißen Körpern.<br />

Rechts konnte er die auf einer<br />

erhöhten Plattform liegende Bar<br />

erkennen, weiter hinten einzelne<br />

Logen, die fein geschmückt<br />

durch altmodische Reispapierwände<br />

voneinander getrennt<br />

waren. Die Logen: genau das<br />

Richtige für solch verschwiegene<br />

Leute wie die Yakuza. Innerlich<br />

spürte er, wie er seinem Ziel<br />

immer näherkam. Langsam<br />

nahm ein Plan in ihm Gestalt an.<br />

Wenn Stacy tatsächlich hier gewesen<br />

war, und dessen war er<br />

sich mittlerweile ziemlich sicher,<br />

dann würden es die Yakuza wissen.<br />

Und sie würden es ihm sagen.<br />

Cross schritt an der Bar vorbei,<br />

schenkte dem gläsernen Tresen<br />

nicht mehr als nur einen flüchtigen<br />

Blick und erreichte dann den<br />

hinteren Bereich des Raumes.<br />

Die geschickt angelegte Architektur<br />

des Clubs machte es möglich,<br />

dass man in diesem Bereich<br />

des Raumes zwar noch etwas<br />

von der Musik mitbekam, der<br />

Geräuschpegel aber bereits soweit<br />

heruntergefahren war, dass<br />

man sich in annehmbarer Lautstärke<br />

miteinander unterhalten<br />

konnte. Nur wenige rotschimmernde<br />

Lichter, die als japanische<br />

Laternen verkleidet waren,<br />

erleuchteten die Sitzecken zwi-<br />

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schen den aufgestellten Reispapierwänden,<br />

hinter denen man<br />

die schwarzen Schatten der dort<br />

versammelten Gäste erkennen<br />

konnte. Noch einmal ließ Cross<br />

seine Hand zu den Waffen unter<br />

seinem Mantel gleiten und<br />

schöpfte Kraft aus ihrer Anwesenheit.<br />

Bisher hatte niemand<br />

versucht ihn aufzuhalten. Niemand<br />

war gekommen, um ihn<br />

wegen seiner Waffen festzunehmen,<br />

oder hatte ihn, außer wegen<br />

seines unpassenden Bekleidungsstils,<br />

schief angesehen. Die<br />

Ruhe war fast trügerisch, doch<br />

Cross ließ sich nicht davon beirren.<br />

Irgendwo hier lauerten sie,<br />

die urbanen Raubtiere, und er<br />

würde von ihnen schon noch<br />

erfahren, was mit seiner kleinen<br />

Schwester geschehen war und<br />

was sie ihr angetan hatten.<br />

Musashi hatte den unpassend<br />

gekleideten Mann bereits in dem<br />

Augenblick wahrgenommen, als<br />

dieser die Aufzugsröhre verlassen<br />

hatte. Immer wieder kurz an<br />

seinem Drink nippend, verbannte<br />

der Samurai das Rauschen des<br />

Clubs in den Hintergrund seiner<br />

Wahrnehmung und fokussierte<br />

seine Aufmerksamkeit auf den<br />

hageren Typen, der in seinen<br />

Mantel gehüllt mit eiligen Schritten<br />

den Laden durchquerte.<br />

Noch bevor Musashi hätte wissen<br />

können, dass der Typ auf<br />

den Bereich der Logen zugehen<br />

würde, wusste er bereits, dass es<br />

Ärger geben würde. Instinktiv<br />

legte er die Hände ruhig in die<br />

Nähe seiner Schwertgriffe und<br />

wartete ab, tat so, als nippte er<br />

weiterhin nur an seinem Getränk.<br />

Der fremde Mann war kein Japaner,<br />

wie Musashi sofort erkannt<br />

hatte. Er trug ebenfalls<br />

nicht die Kleidung, die ihn als<br />

einen Konglomeratsangehörigen<br />

auswies, sondern eher einen<br />

leicht heruntergekommenen<br />

Straßenstil, der typisch für die<br />

raueren Gegenden des Sprawl<br />

war. Sein Gang verriet dem Samurai,<br />

dass der Fremde körperlich<br />

gut in Form war, und die<br />

Bewegungsabläufe ließen ihn<br />

wissen, dass sich der Mann<br />

wahrscheinlich sehr wohl zu<br />

verteidigen wusste.<br />

Aber irgendetwas stimmte mit<br />

ihm nicht. Es waren diese kurzen<br />

Aussetzer in der ansonsten flüssigen<br />

Bewegung des Fremden,<br />

die Musashi stutzig machten. Es<br />

schien dem Samurai, als hätte<br />

der Mann eine Art Wahrnehmungsstörung,<br />

die sein Gehirn<br />

erst einmal verarbeiten musste.<br />

Eine Verzögerung in der Koordination<br />

zwischen Rezeption<br />

und Aktion. Dann hatte der Typ<br />

den in fades rotes Licht getauchten<br />

Logenbereich des Moon Lady<br />

erreicht. In dem Moment, wo der<br />

Fremde seine Hand leicht unter<br />

seinen Mantel hatte gleiten lassen,<br />

wusste Musashi, dass er<br />

bewaffnet war. Und bereits jetzt<br />

hatte er eine Entscheidung gefällt.<br />

Cross tauchte ein in den Schein<br />

rot fließenden Lichts. Auf dem<br />

Boden der Loge lag eine Tatami<br />

ausgebreitet, auf der sich ein<br />

kleiner, schwarzer Kunststoff-<br />

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tisch befand, um den herum sich<br />

eine Gruppe gepflegt gekleideter<br />

Japaner versammelt hatte.<br />

Erste verschlossene Blicke musterten<br />

ihn, als er sich der Loge<br />

näherte und keine Anstalten<br />

machte stehenzubleiben. Unter<br />

treibendem Zigarettennebel<br />

starrten ihn die Japaner an, und<br />

ihre Körper schienen bis zum<br />

Zerreißen angespannt zu sein,<br />

obwohl sie immer noch ruhig auf<br />

dem Boden saßen und sich in<br />

lautstarkem Japanisch miteinander<br />

unterhielten. Ohne zu zögern,<br />

stellte sich Cross vor den<br />

Tisch. „Konnichiwa“, grüßte er<br />

auf Japanisch und deutete eine<br />

leichte Verbeugung an. Schwitzende,<br />

in Falten gelegte Gesichter<br />

starrten ihn an. Die meisten<br />

davon zierte mehr als nur eine<br />

Narbe, und dass, obwohl es<br />

heutzutage bereits Routine war,<br />

ganze Gesichtsabschnitte praktisch<br />

nach Belieben verändern zu<br />

können. Bei einem der Männer<br />

konnte Cross die kunstvolle,<br />

animierte Tätowierung eines<br />

asiatischen Drachen erkennen,<br />

der sich in einem wilden Farbensturm<br />

vom Halsansatz abwärts<br />

auf der Haut des Japaners bewegte.<br />

Stille. Die Yakuza hatten ihre<br />

Gespräche verklingen lassen,<br />

aber niemand schien auf Cross<br />

eingehen zu wollen. Also redete<br />

er einfach weiter.<br />

„Stacy. Ich suche Stacy. Ich glaube,<br />

dass sie hier war ... sie ...“,<br />

krampfhaft versuchte sich Cross<br />

daran zu erinnern, wie seine<br />

Schwester ausgesehen hatte.<br />

Schwarzes Haar? Nein, es muss<br />

blond gewesen sein. Groß und<br />

schlank war sie sicher auch und<br />

natürlich im neuesten Hype gekleidet.<br />

Aber auf wen traf das hier<br />

nicht zu? „Blond. Sie hat blondes<br />

Haar. Sehr hübsch. Von der Ostküste.<br />

Sie kommt von der Ostküste.“<br />

Keine Reaktion. Nur die<br />

schwitzenden Gesichter und der<br />

treibende Rauch der Zigaretten.<br />

Mittlerweile spürte auch Cross<br />

den Schweiß an seinem Gesicht<br />

herablaufen, aber er dachte gar<br />

nicht daran, jetzt noch aufzugeben.<br />

„Seid ihr taub, ihr Wichser, oder<br />

wollt ihr nur nicht mit mir reden?<br />

Ich suche Stacy, verdammt,<br />

meine kleine Schwester. Und<br />

sollte ich erfahren, dass ihr etwas<br />

angetan wurde, dann werde ich<br />

euch eure kleinen, dreckigen<br />

japanischen Ärsche aufreißen ...“<br />

Mittlerweile hatte Cross seine<br />

Hände starr zu Fäusten geballt,<br />

und die letzten Worte kamen<br />

ihm so bitter über die Lippen,<br />

dass er die Japaner dabei fast<br />

angespuckt hätte.<br />

Dann kam Bewegung in die Szenerie.<br />

Na ja, zumindest etwas,<br />

dachte sich Cross, der im Augenwinkel<br />

wahrnahm, wie einer<br />

der Japaner seine Hand langsam<br />

und kontrolliert zu dem Katana<br />

neben seinem Sitzkissen gleiten<br />

ließ. Ihm blieb nicht mehr viel<br />

Zeit. Anscheinend waren die<br />

Yaks nicht kooperationswillig.<br />

Wenn ich hier jetzt noch lebend raus<br />

will, sagte sich Cross, dann muss<br />

ich handeln. Einfach mal schauen,<br />

was geschieht. So oder so. Eine Wahl<br />

habe ich jetzt nicht mehr. Blitzschnell<br />

stürzte Cross zur Seite,<br />

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riss seinen Mantel auf und langte<br />

nach seinen Waffen. In einer Bewegung,<br />

die er in seinem Leben<br />

sicherlich schon Tausende von<br />

Malen vollbracht hatte, spürte<br />

Cross, wie sich seine Finger um<br />

das kalte Gehäuse seiner Waffen<br />

legten und diese aus den<br />

Schnellziehholstern rissen.<br />

Wie ein Mann sprangen die Japaner<br />

nun auf, ließen altmodische<br />

Teetassen und schwarze<br />

Plastikaschenbecher zu Boden<br />

fallen, während sie ebenso gewandt<br />

wie Cross nach ihren Waffen<br />

griffen. Dann drückte Cross<br />

ab, mehrmals.<br />

Das Donnern seiner Waffen gesellte<br />

sich zu dem trockenen Beat<br />

des Basses hinzu, und aus nächster<br />

Nähe fetzten die Hochgeschwindigkeitsprojektile<br />

in die<br />

Brust des Yaks, der genau vor<br />

ihm stand. Obwohl dessen makelloser<br />

Anzug sicherlich gepanzert<br />

war, hatten die panzerbrechenden<br />

Geschosse nicht die<br />

geringste Mühe, tief in dessen<br />

Fleisch einzudringen und dort zu<br />

detonieren. Blutüberströmt ging<br />

der tote Japaner zu Boden. Doch<br />

seine Landsleute waren nicht<br />

untätig geblieben.<br />

Zwei von ihnen waren mit einem<br />

gekonnten Satz über den kleinen<br />

Tisch gesprungen und hatten<br />

ihre Schwerter zum Ausholen<br />

angehoben. Ein schrilles Pfeifen<br />

ging durch die Luft, als Cross die<br />

Klingen zu sich hinabsausen hörte<br />

und instinktiv versuchte, sich<br />

von ihnen wegzudrehen, während<br />

er weiter rückwärts taumelte.<br />

Es gelang ihm, einer der Klingen<br />

gänzlich auszuweichen,<br />

während sich die zweite wie ein<br />

Rasiermesser durch den Mantel<br />

schnitt und seinen Oberarm aufschlitzte.<br />

Eine Welle des Schmerzes<br />

schoss ihm durch den Körper<br />

und Cross biss die Zähne zusammen.<br />

Erneut brachte er seine<br />

Waffen in Anschlag und betätigte<br />

wieder und wieder die Auslösesensoren,<br />

die auf die Biometrie<br />

seiner Fingerabdrücke reagierten.<br />

Der Mann vor ihm wurde<br />

mehrmals getroffen, nach hinten<br />

geschleudert und regelrecht zerfetzt.<br />

Dann spürte Cross, wie er<br />

das Gleichgewicht verlor und<br />

rücklings durch eine der Reispapierwände<br />

taumelte.<br />

Das Imitatholz brach sofort und<br />

ging mit ihm zu Boden. Über das<br />

Rauschen der Musik hinweg<br />

konnte er erste Entsetzensschreie<br />

neben sich hören. Der andere<br />

Yak war nun genau über ihm<br />

und seine silberne Klinge glänzte<br />

unwirklich im bunten Neonlicht<br />

der Clubbeleuchtung. Wie ein<br />

elektrischer Blitz fuhr sie auf ihn<br />

hinab, und Cross schloss in der<br />

Erwartung seines nahen Todes<br />

die Augen.<br />

Ein Klirren von Metall auf Metall<br />

ließ ihn wieder zu sich kommen.<br />

Über ihm stand ein anderer<br />

Mann, ebenso unpassend gekleidet<br />

wie er selbst, und hatte den<br />

Hieb des Yaks mit seiner eigenen<br />

Klinge, einem kunstvoll verzierten<br />

Katana, pariert.<br />

Noch immer lag Cross auf dem<br />

Boden und starrte wie hypnotisiert<br />

auf das Schwert des Fremden,<br />

in dessen Klinge ein wütendes<br />

Feuer zu brennen schien.<br />

Mit einer wilden, aber vollkom-<br />

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men kontrollierten Attacke,<br />

drängte der Fremde den Yak<br />

zurück, sodass es Cross gelang,<br />

sich langsam wieder aufzurichten.<br />

Um ihn herum hatte sich ein<br />

Halbkreis gebildet. Immer mehr<br />

Leute nahmen nun wahr, was<br />

sich hinter ihrem Rücken im<br />

Club abspielte. Sicherlich würde<br />

es nicht mehr lange dauern, bis<br />

die Sicherheit auftauchte. Cross<br />

schaute sich um, sein Schweiß<br />

nahm ihm nun fast jede Sicht,<br />

und in seinem Arm breitete sich<br />

allmählich eine unangenehme<br />

Taubheit aus. Der Fremde war<br />

durch die zerfetzte Reispapierwand<br />

getreten und focht gleichzeitig<br />

gegen zwei seiner Gegner.<br />

Anmutig und tödlich zugleich<br />

erschien Cross dieses Klingenspiel,<br />

so völlig losgelöst von<br />

Raum und Zeit.<br />

Es musste nur wenige Augenblicke<br />

gedauert haben, obwohl es<br />

Cross wie eine Ewigkeit vorgekommen<br />

war. Dann konnte er<br />

erkennen, wie der Fremde dem<br />

ersten Yak den Bauch sauber<br />

aufgeschlitzt hatte und dem<br />

zweiten einen kräftigen Schlag<br />

versetzte, sodass dieser rücklings<br />

zu Boden fiel und den Tisch unter<br />

sich begrub.<br />

Der Fremde blickte sich um,<br />

starrte ihn an und gab Cross mit<br />

einem Wink zu verstehen, dass<br />

er ihm folgen sollte.<br />

Natürlich folgte er ihm.<br />

III.<br />

Irgendwann hatte Cross die Orientierung<br />

verloren. Nachdem<br />

der Fremde ihn aus dem Club<br />

gelotst hatte, waren sie auf dessen<br />

Motorrad in bahnbrechender<br />

Geschwindigkeit durch den Kern<br />

gerauscht, hatten die große Masse<br />

des Verkehrs hinter sich gelassen<br />

und kilometerlange, trostlose<br />

Tunnelröhren durchfahren. Dann<br />

hatte die Intensität des Lichtes<br />

langsam abgenommen. Als sie<br />

langsamer geworden waren, hatte<br />

Cross Stacheldrahtzäune erkennen<br />

können, die im Schein<br />

einiger weniger Neonröhren im<br />

Wind leicht hin und her<br />

schwankten. Die Ladenfronten in<br />

diesem Teil des Sprawl waren<br />

dreckig und größtenteils zerstört.<br />

Der Asphalt der Straße war grobem<br />

Kies gewichen, der ihre<br />

Fahrt weiter verlangsamt hatte.<br />

Dann hatte der Fremde plötzlich<br />

gestoppt. Irgendwo im Hintergrund<br />

konnte Cross die Umrisse<br />

alter Fabrikgebäude erkennen,<br />

und er spürte jetzt zum ersten<br />

Mal, seitdem sie losgefahren waren,<br />

dass er zitterte. Sein Arm<br />

war mittlerweile ganz taub geworden,<br />

er konnte ihn kaum<br />

noch bewegen. Als er sich umblickte,<br />

sah er nicht viel mehr als<br />

Finsternis. Irgendwo, weit entfernt,<br />

nahm er ein schimmerndes<br />

Licht wahr, das vermutlich aus<br />

den Arkologien im Zentrum<br />

stammte.<br />

„Dein Arm. Du bist dort getroffen<br />

worden, nicht wahr?“, hörte<br />

er plötzlich den Fremden sagen.<br />

Er nickte nur, während er unbeholfen<br />

von dem schnittigen Motorrad<br />

stieg.<br />

„Weißt du, unsere Gesellschaft<br />

ist hochtechnisiert, aber Leute<br />

wie die Yakuza benutzen immer<br />

_______________________________________________________________________________________________<br />

149


_______________________________________________________________________________________________<br />

noch altmodische Klingen. Das<br />

spirituelle Band zwischen einem<br />

Krieger und seinem Schwert<br />

kann man nun einmal nicht<br />

durch industrielle Fertigung erreichen.“<br />

Cross schüttelte den Kopf. Was,<br />

zum Henker, erzählte ihm der<br />

Typ da? Verschwommen hallten<br />

die Worte in seinem Kopf nach,<br />

aber Cross konnte ihre Bedeutung<br />

nicht wirklich zuordnen,<br />

also gab er wieder nur ein Nicken<br />

von sich. Langsam kam der<br />

Japaner auf ihn zu und half ihm,<br />

seinen Mantel abzulegen. Cross<br />

wusste nicht, ob er dies wollte,<br />

aber er war einfach zu schwach,<br />

sich dagegen zu wehren, also<br />

ließ er es geschehen. Scheinbar<br />

fachmännisch verarztete der andere<br />

Cross‘ Schnittwunde mit<br />

einigen wenigen Habseligkeiten,<br />

die er dem Fach seines Motorrads<br />

entnahm. Als der Blutverlust<br />

langsam abebbte, fühlte sich<br />

Cross schon wesentlich besser.<br />

Unbewusst, so als würde er es<br />

brauchen, griff er nach seinem<br />

Mantel, durchwühlte kurz dessen<br />

Taschen und fand sie endlich:<br />

seine Resire-Rationen.<br />

Schnell nahm er gleich zwei Dosen<br />

direkt hintereinander.<br />

„Was ist das für ein Zeug?“, fragte<br />

der Fremde ihn.<br />

„Resire. Kennst du es?“, antwortete<br />

ihm Cross, während er spürte,<br />

wie die Kraft und das Leben<br />

zu ihm zurückkamen. Neue<br />

Kraft, neue Gedanken. Es geht<br />

weiter, sagte er sich.<br />

„Ja, ich habe davon gehört. Aber<br />

ich bevorzuge das innere Wesen<br />

der Dinge ...“, ließ der Fremde<br />

ihn nach einiger Zeit wissen,<br />

aber in der Woge neuer Existenz<br />

schwelgend, hatte Cross ihn einfach<br />

überhört.<br />

„Cross. Man nennt mich Cross.<br />

Ach, und danke. Du hast mir den<br />

Arsch gerettet.“<br />

Der Fremde deutete eine leichte<br />

Verbeugung an und stellte sich<br />

ihm dann ebenfalls vor.<br />

„Musashi. Das ist der Name, den<br />

ich angenommen habe, zu Ehren<br />

eines großen Kriegers aus den<br />

Tagen, die vergangen sind. Und<br />

dank mir nicht, Cross-San. Der<br />

Kampf war unfair, und ich habe<br />

etwas gegen unfaire Kämpfe. Sie<br />

beschämen mein Gefühl von der<br />

Ansicht einer rechten Ordnung.“<br />

Erneut konnte Cross mit dem<br />

Gefasel des Japaners nicht viel<br />

anfangen, aber er ließ es dennoch<br />

auf sich beruhen. Dann schoss es<br />

ihm wie ein Blitz wieder durch<br />

den Kopf. Stacy! Er war hier, um<br />

Stacy zu finden. Er hatte diesen<br />

Traum gehabt. Wie war er nur<br />

hierhergekommen? In diesen<br />

fremden Sprawl, diesen Neonwald?<br />

Vage erinnerte er sich an<br />

einen Traum, in dem er auf einem<br />

Schiff gewesen war. Ein<br />

alter chinesischer Frachter. Überall<br />

um ihn herum hatte das finstere<br />

Meer gewogt, und matte<br />

Lichterzeilen waren am Horizont<br />

zu erkennen gewesen. Unwichtig.<br />

So oder so. Ich muss Stacy<br />

finden.<br />

„Stacy“, sagte er dann, weil er<br />

Angst hatte, Musashi könne sich,<br />

ob seiner langen Stille, einfach<br />

dazu entscheiden, ohne ihn weiterzufahren.<br />

„Ist das die Frau, nach der du<br />

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150


_______________________________________________________________________________________________<br />

suchst?“, fragte der andere ruhig.<br />

Cross nickte bestätigend.<br />

„Sie muss sicherlich eine schöne<br />

Frau sein, wenn du eine so weite<br />

Reise wegen ihr gemacht hast.“<br />

Woher wusste der Typ, woher<br />

Cross kam? Aber nein. Er vermutete<br />

nur, dass Cross ein Fremder<br />

war. Es war ja auch nicht schwer,<br />

auf diese Schlussfolgerung zu<br />

kommen, schließlich war er kein<br />

Japaner. Und waren nicht alle<br />

irgendwie fremd in der Wahrnehmung<br />

des jeweils anderen?<br />

Cross schüttelte den Kopf.<br />

Zu viel Wirklichkeit ist benebelnd,<br />

schien es ihm, aber er<br />

wusste nicht, warum er daran<br />

dachte.<br />

„Also. Wenn du sie finden möchtest,<br />

dann müssen wir los“, sagte<br />

Musashi und schritt wieder zu<br />

seinem Motorrad. „Hast du denn<br />

einen Anhaltspunkt, dem wir<br />

folgen können?“ Cross dachte<br />

nach, während er sich ebenfalls<br />

wieder auf das Motorrad setzte.<br />

Als er Musashi allerdings nicht<br />

antwortete, startete dieser, ohne<br />

etwas Weiteres zu sagen, den<br />

Motor und fuhr mit Cross auf<br />

der Maschine in die Dunkelheit<br />

davon.<br />

Du musst dich erinnern, Cross.<br />

Wenn du sie finden willst, dann<br />

brauchst du deine Erinnerungen.<br />

Der Fahrtwind trieb ihm Tränen<br />

in die Augen. Langsam rannen<br />

sie sein kaltes Gesicht entlang,<br />

dehnten sich zu einem kleinen,<br />

filigranen Rinnsal aus und verschwanden<br />

schließlich in der<br />

grauen Röhre des Tunnels, durch<br />

den sie hindurchrauschten. Genauso<br />

wie seine Erinnerungen.<br />

Sie perlen davon, werden eingesogen<br />

in den düsteren Schlund der Vergessenheit.<br />

Und wenn sie alle fort<br />

sind, dann werde ich sie niemals<br />

wiederfinden. Mich selbst finden.<br />

Erinnere dich, Cross.<br />

Stacy hatte SimStim geliebt. Sie<br />

hatte davon geträumt, ein Sim-<br />

Stim-Star zu werden, so wie es<br />

wohl jedes Mädchen mindestens<br />

einmal im ihrem Leben träumte.<br />

Aber wenn man aus einer trostlosen<br />

Asphaltwüste kam, in den<br />

Tag hinein lebte, von einem Bild<br />

ins nächste, aneinandergereihte,<br />

einsame Momente, ohne Sinn<br />

und Verstand, dann blieb es<br />

meist ein Traum. Aber war dieser<br />

Traum denn weniger wirklich<br />

als das Dasein selbst, das<br />

man tagtäglich über sich ergehen<br />

ließ?<br />

Mit einem Schulterklopfen machte<br />

Cross sich bei dem Japaner<br />

bemerkbar. Langsam drosselte<br />

dieser die Geschwindigkeit, und<br />

sie kamen zwischen den hoch<br />

aufragenden Schatten gleichförmiger<br />

Wohnblocks, die aus der<br />

Luft vom sprawlweiten Drohnennetzwerk<br />

versorgt wurden,<br />

zum Stehen. Irgendwo über<br />

ihnen zog ein Zeppelin lautlos<br />

seine Bahnen, und sein leuchtender<br />

Reklameschirm sah aus wie<br />

ein Gemälde, das einsam über<br />

den Himmel zog.<br />

„SimStim. Stacy kannte diesen<br />

Typen, einen Japaner. Er hat sie<br />

mit nach Neo Tokyo genommen.<br />

Er stellt SimStims her. Hat da so<br />

einen Laden in Shinjuku, in der<br />

Nähe des alten Bahnhofs. Glaube<br />

ich zumindest. Es muss einfach<br />

stimmen ...“<br />

_______________________________________________________________________________________________<br />

151


_______________________________________________________________________________________________<br />

Musashi nickte. „Shinjuku ist<br />

nicht weit von hier. Ich kenne<br />

das Bahnhofsviertel. Dort sind<br />

schon viele Träume zerflossen.“<br />

Dann fuhren sie weiter, und in<br />

Cross hallte noch lange dieser<br />

letzte Satz des Japaners nach,<br />

während er sich innerlich zu fragen<br />

begann, ob vielleicht auch<br />

sein Traum dort endlich enden<br />

würde.<br />

IV.<br />

Der alte Bahnhof von Shinjuku<br />

hatte etwas Düsteres an sich. Es<br />

war dieser Schatten, in das ein<br />

lange verfallenes Gebäude getaucht<br />

war, wenn sich in seinen<br />

Eingeweiden der Staub der Zeit<br />

zu neuem, zwielichtigem Leben<br />

erhoben hatte. Auf den großen<br />

elektronischen Anzeigetafeln<br />

flimmerten die Szenen eines gewaltsamen<br />

Vorgehens von Konzernmilitär<br />

gegen demonstrierende<br />

Arbeiter, die von den Hackern<br />

einer der zahlreichen Piratenkanäle<br />

in den Schlund des<br />

Neo-Tokyo-Cyberspace geladen<br />

worden waren. Auf den metallenen<br />

Treppenstufen zu den einzelnen<br />

Terminals hin konnte<br />

Cross eine Gang aus japanischen<br />

Teenagern erkennen, die Sim-<br />

Stim-Decks bei sich trugen und<br />

gerade dabei waren, eine Verkehrsleitdrohne<br />

auseinanderzunehmen,<br />

um deren Einzelteile<br />

auf dem Schwarzmarkt unter der<br />

Bahnhofshalle verkaufen zu<br />

können.<br />

Es hatte wieder zu regnen angefangen,<br />

sodass das allgegenwärtige<br />

Licht der Neonreklamen<br />

verwaschen auf den Platz strömte,<br />

der sich vor dem alten Bahnhofsgebäude<br />

ausbreitete.<br />

Musashi hatte das Motorrad in<br />

einer Gasse zum Stehen gebracht<br />

und die Diebstahlsicherung eingeschaltet,<br />

die jeden röste würde,<br />

der sich ohne gültigen Zugangscode<br />

an dem Motorrad zu schaffen<br />

machte.<br />

Cross schaute sich um, während<br />

er spürte, wie das Resire seine<br />

Synapsen emporstieg, sie elektrisierte<br />

und neue Bilder der Wirklichkeit<br />

in ihm heraufbeschwor.<br />

Er war hier schon einmal gewesen,<br />

wusste er nun. Aber vielleicht<br />

hatte er es auch nur geträumt.<br />

Schwer zu sagen. Langsam<br />

schritt er los, einfach so, und<br />

hörte dann nach einiger Zeit, wie<br />

der Japaner ihm still folgte. Von<br />

der Straße gelangte Cross auf<br />

den Platz, der wegen des Regens<br />

nun wie blank poliert aussah<br />

und auf dem sich verzerrte Abbilder<br />

der Leuchtreklamen widerspiegelten.<br />

All diese Bilder. Fragmente meines<br />

Lebens. Verwaschen, verzerrt<br />

und unleserlich. Ich muss<br />

sie wieder zu mir holen, mich<br />

daran erinnern, was ich hier tue.<br />

Schritt für Schritt marschierte er<br />

über den Platz, während der Regen<br />

sein Haar durchnässte,<br />

durchquerte die verschwommenen<br />

Bilder und ließ sie hinter sich<br />

zurück.<br />

Seine Knie fingen wieder zu zittern<br />

an. Alles sah plötzlich so<br />

gestochen scharf aus, spiegelte<br />

sich gar deutlich im Regen wider,<br />

so als würde das Gefüge der<br />

Wirklichkeit sich lösen, abblät-<br />

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_______________________________________________________________________________________________<br />

tern wie der Putz auf einer alten<br />

grauen Betonwand.<br />

Er taumelte. Und dann sah er sie.<br />

Aber er sah sie nicht nur mit seinen<br />

Augen, nein, es war vielmehr,<br />

als würde er sie spüren.<br />

Sein Ziel. Es musste dieses Ziel<br />

einfach geben, diese letzte Instanz,<br />

in der sich alles verlor.<br />

Oder sollte sein Leben tatsächlich<br />

nur eine wirre Abfolge verschwommener<br />

Bilder gewesen<br />

sein, ein neonfarbenes Meer, so<br />

wie jenes auf dem Platz, über<br />

den er sich nun bewegte?<br />

Als er stehen blieb, blickte er auf<br />

den Laden. Über dem Eingang<br />

blinkte in leuchtenden Lettern<br />

ein Schriftzug. Tempel der<br />

Träume – SimStim made by<br />

Anaki Fukama.<br />

Wie in wiederkehrenden Phasen<br />

sah er nun die langmähnige<br />

Blondine durch den Ladeneingang<br />

schreiten, nach der er schon<br />

so lange gesucht hatte. „Stacy!“,<br />

brüllte er, aber sie war bereits im<br />

Gebäude verschwunden. Von<br />

den Treppenabsätzen her schauten<br />

die japanischen Kids tuschelnd<br />

zu ihm hinüber. Ein<br />

leichtes Anschwellen der Geräuschkulisse<br />

ließ ihn nach<br />

rechts blicken. Durch den Regen<br />

und das Licht tauchte in gemächlichem<br />

Tempo eine schwarze<br />

Limousine auf und näherte sich<br />

dem Platz.<br />

„Cross-San. Wir kriegen Besuch.<br />

Yakuza ...“, ließ ihn Musashi<br />

wissen, der bereits mit einer fließenden<br />

Bewegung seine Schwerter<br />

zog.<br />

„Stacy ... ich, sie war dort. Sie ist<br />

den Laden gegangen ...“, stammelte<br />

Cross, vergaß dabei aber<br />

nicht, ebenfalls seine Waffen zu<br />

ziehen. Die Limousine war stehengeblieben.<br />

Bedrohlich wirkte<br />

ihre düstere Front, als die<br />

Scheinwerfer erloschen. „Lauf!“,<br />

hörte Cross den Japaner plötzlich<br />

rufen, und er gehorchte sofort.<br />

Die Türen des großen Wagens<br />

öffneten sich, und ein Yak nach<br />

dem anderen erschien im prasselnden<br />

Regen, bewaffnet,<br />

kampfbereit und mit ausdrucksloser<br />

Miene. Cross fing an zu<br />

laufen, hechtete, so schnell er<br />

konnte, über den Platz und feuerte<br />

wahllos einige Schüsse in<br />

Richtung der Limousine ab. In<br />

einem unwirklichen Klang donnerten<br />

seine Waffen durch den<br />

Regen und trieben die Yakuza<br />

dazu, sich in Deckung zu werfen.<br />

Das Letzte, was er sah, bevor er<br />

durch den Eingang des Tempels<br />

der Träume hechtete, war ein<br />

lautlos durch den Regen sprintender<br />

Musashi, der seine beiden<br />

kunstvoll verzierten Schwerter<br />

zum Angriff erhoben hatte.<br />

Das Innere des Gebäudes war<br />

geheimnisvoll wie ein Labyrinth.<br />

Überall aufgestellte altmodische<br />

Wandspiegel und monoton<br />

summende Holoprojektoren<br />

verwandelten den zugestellten<br />

Raum in ein Kaleidoskop aus<br />

Illusion und Wirklichkeit.<br />

Cross‘ Atem ging schnell, er hörte<br />

das Blut in seinem Kopf rauschen,<br />

und die Schärfe seiner<br />

Wahrnehmung raubte ihm fast<br />

den Verstand. Ziellos schritt er<br />

umher, tastete sich mit seinen<br />

Händen, die die Waffen immer<br />

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153


_______________________________________________________________________________________________<br />

noch fest umgriffen hatten,<br />

durch ein Labyrinth aus buntem<br />

Licht und konnte einfach nicht<br />

mehr erkennen, was Hologramm<br />

und was wirklich war.<br />

Am Ende seiner Kräfte angekommen,<br />

ging er schließlich in<br />

einem Durchgang zum nächsten<br />

Raum auf die Knie nieder. Das<br />

vor ihm liegende Gewölbe schien<br />

eine Art Testraum zu sein. In den<br />

zahlreichen Sitzecken lagen oder<br />

saßen junge Frauen, die gerade<br />

dabei waren, neue Stims auszuprobieren.<br />

Viele von ihnen waren<br />

japanischer Herkunft, aber<br />

ebenso viele schienen aus dem<br />

Ausland zu stammen. Einige<br />

trugen durchsichtige Regenmäntel,<br />

andere moderne Kunststoffdamenjacken<br />

oder langärmelige<br />

Pullover mit integrierten Holoschirmen<br />

in Brusthöhe. Niemand<br />

schien ihn zu beachten, sie<br />

alle waren ihren Träumen erlegen,<br />

während sie in einem virtuellen<br />

Meer dahinglitten, auf<br />

dem auch er sich lange Zeit hatte<br />

treiben lassen. Das blonde Mädchen,<br />

das er noch vor wenigen<br />

Momenten am Eingang beobachtet<br />

hatte, hockte nun in einem<br />

großen, sich der Körperform anpassenden<br />

Sessel, das SimStim-<br />

Deck vor sich auf dem Schoß<br />

seiner schwarzen, ausgefranzten<br />

Jeans.<br />

Es war nicht Stacy, wusste er<br />

nun. Das hieß, sie war zumindest<br />

nicht mehr Stacy, als es jede andere<br />

Frau hier oder sonst wo in<br />

Neo Tokyo hätte sein können.<br />

Aber wenn Stacy gar nicht existierte,<br />

wenn das Bild von ihr nur<br />

ein verwaschener Traum aus<br />

zerfließendem Licht war, was<br />

war dann mit ihm selbst? Mit all<br />

den anderen Bildern in seinem<br />

Kopf, den Erinnerungen, Gefühlen<br />

und seinem Leben.<br />

Hatte Stacy seine Sehnsucht nach<br />

dem Ziel entfacht, oder hatte<br />

seine Sehnsucht Stacy erst entstehen<br />

lassen? Cross schloss die<br />

Augen, spürte seinen heißen<br />

Atem aus sich herausströmen,<br />

das Schlagen seines Herzens. Es<br />

ist doch egal, ob ich weiß, ob es<br />

wirklich war oder nicht. Ich bin<br />

hier und damit muss ich nun<br />

zurechtkommen.<br />

Hinter sich hörte er Schritte, und<br />

als er sich umblickte, noch immer<br />

auf dem Boden kniend, sah<br />

er Musashi, durchnässt und in<br />

Blut getränkt, die beiden Schwerter<br />

in seinen starren Händen haltend.<br />

„Komm mit mir, Cross-San. Ich<br />

werde dir zeigen, wie du das<br />

innere Wesen der Dinge finden<br />

kannst. Komm mit mir.“<br />

Stumm erhob er sich und ging<br />

hinaus, folgte dem Japaner über<br />

den Platz, der nun, wo es zu regnen<br />

aufgehört hatte, ihm keine<br />

verschwommenen Bilder mehr<br />

zu zeigen vermochte.<br />

So oder so. Die Wahl lag bei ihm.<br />

Warum sich also nicht einfach<br />

treiben lassen?<br />

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Haus aus rotem Licht<br />

von Judith Madera (2012)<br />

Blutiges Licht und ein Kuss für<br />

die Nacht.<br />

Sang stützte sich auf das blau<br />

glimmende Glasgeländer, das<br />

sein unverschämt teures Apartment<br />

von der Wirklichkeit trennte.<br />

Hier, am Rande des leuchtenden<br />

Stadtkerns, wirkte das<br />

Sprawl wie eine endlose graue<br />

Masse, durchflackert von Neonfunken.<br />

Eigentümlich trist und<br />

schön. Vor einem Jahr noch war<br />

ihm diese Welt fremd gewesen,<br />

nur der trübe Schatten seiner<br />

sterilen Existenz. Nun war es die<br />

Wahrheit, die seine Sehnsucht<br />

stillte.<br />

Cherrys Wahrheit.<br />

Sang konnte das Erythra von hier<br />

oben aus sehen, ein Gebäude aus<br />

rotem Glanz, das in der ewigen<br />

Finsternis des Sprawl in einer<br />

steten Supernova strahlte. Dort<br />

verglühte Cherrys Leben im<br />

Rausch niederer Begierden. Ihm<br />

wurde kotzübel, wenn er daran<br />

dachte, wie dreckige Hände ihre<br />

weiße Haut zerkratzten, wie sich<br />

gescheiterte Gestalten schwitzend<br />

und keuchend in sie ergossen.<br />

Sang würde sie da rausholen.<br />

Bald schon.<br />

Er schenkte der Nacht einen letzten<br />

Kuss und betrat sein kleines<br />

Stück Chaos in der geordneten<br />

Welt des Kerns. Instant-Nudel-<br />

Packungen in verschiedenen<br />

Grüntönen lagen auf dem Boden,<br />

und die pinke Plexiglasscheibe<br />

seines Tisches war unter dem<br />

Wust von Holochips und Mikro-<br />

Festplatten kaum noch zu erkennen.<br />

Über vierzehn Bildschirme<br />

flossen verschlüsselte Datenströme,<br />

aus denen seine Programme<br />

Informationen nagten<br />

und sie dem Alterreal-Netzwerk<br />

zur Verfügung stellten. Sang<br />

erledigte währenddessen die<br />

wichtigen Jobs.<br />

Er ließ sich aufs Sofa fallen und<br />

tastete nach den Verbindungskabeln.<br />

Zärtlich führte er sich die<br />

mit Platinkuppen versehenen<br />

Glasfaserschlangen in seine<br />

Headbuchse ein, zwei für Wahrnehmung<br />

und Interaktion und<br />

eine für den Datentransfer zu<br />

seinem Deck. Ein Samsung Xtasy<br />

VII, Spezialanfertigung für Alterreal.<br />

Ein Designerteil, das die<br />

Synchronisation mit vierzehn<br />

anderen Decks ermöglichte und<br />

mit einer wahnsinnigen Simulationsqualität<br />

aufwartete.<br />

Erregung schoss durch Sangs<br />

Körper, als das Netz zu einem<br />

glühenden Datenstrom erblühte,<br />

visualisiert in lichtfarbenen Pho-<br />

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_______________________________________________________________________________________________<br />

tismen. Kantige Programmstrukturen<br />

schoben sich in sein Sichtfeld.<br />

Sangs Finger vollführten<br />

einen bizarren Tanz auf dem<br />

Touchscreen, während neue<br />

Anweisungen von Alterreal sein<br />

Bewusstsein fluteten.<br />

Ihre nächste Zielperson war ein<br />

gewisser Michael Donelli, Leiter<br />

der Beta-Forschungsabteilung<br />

der Telti Corporation. Sang sollte<br />

dafür sorgen, dass er bald ungestörten<br />

Besuch empfangen konnte.<br />

Ein Spaziergang. Der neue<br />

Vollstrecker war ein Junge aus<br />

dem Kern, naiv und unerfahren,<br />

leicht steuerbar und bei bester<br />

Gesundheit. Man konnte den<br />

Kerl richtig hoch dosieren, sodass<br />

er die wahnsinnige Fluchtroute<br />

mit Leichtigkeit schaffen<br />

würde. Und wenn nicht – Pech<br />

gehabt. Er war ein guter Fang,<br />

aber sicher nicht der letzte.<br />

Sang wählte sich ins Telti-<br />

Firmennetz ein, das sich in<br />

schimmernden Rottönen vor ihm<br />

entblätterte. Ein grauenhaftes<br />

Design für den öffentlichen Bereich.<br />

Sang kratzte an der Oberfläche<br />

und überschrieb seine<br />

Identität mit der eines Verwaltungsangestellten,<br />

der offenbar<br />

das letzte Sicherheitsupdate verpasst<br />

hatte. Mit einem schiefen<br />

Grinsen auf den Lippen checkte<br />

Sang die Überwachungssysteme.<br />

Brandneue Software, die er in<br />

seinem Tagleben mitentwickelt<br />

hatte. Es war geradezu lachhaft<br />

leicht.<br />

Bis er zu tief eindrang und eine<br />

aggressive Firewall aktivierte.<br />

Wie ein kristallblauer Panzer<br />

legte sich das EIS um die internen<br />

Kontrollen der Kameraüberwachung.<br />

Sang registrierte<br />

einen sprunghaften Anstieg der<br />

Datentransferrate. Schwarzes EIS<br />

also. Früher hatte man sich erzählt,<br />

dass es töten könne. Das<br />

Deck grillen – ja. Den User killen?<br />

Schwachsinn.<br />

Die kristallene Wand vor Sang<br />

blieb eisblau. Unscheinbar. Unerfahrene<br />

Idioten würden jetzt versuchen<br />

durchzubrechen. Doch<br />

Sang aktivierte sein Reflektorprogramm<br />

und leitete den vergifteten<br />

Datenstrom auf ein anderes<br />

Deck. Während das EIS<br />

seinen Dummy zerstörte, hackte<br />

sich Sang eine Lücke in den Kristallpanzer.<br />

Kaltes Violett umgab<br />

ihn. Mit ruhiger Präzision platzierte<br />

er einige Cookies im System<br />

und tarnte sie als alte Aufzeichnungen.<br />

Danach schlich er<br />

durch dieselbe Lücke wieder<br />

heraus und nahm geringfügige<br />

Veränderungen an den Dienstplänen<br />

vor. Zufällig würde Michael<br />

Donelli allein auf dem gesamten<br />

Stockwerk sein, wenn<br />

der Tod an seine Tür klopfte.<br />

Sang atmete tief durch, als er<br />

durch die Verbindungsröhre<br />

hinaus ins Sprawl trat. Noch<br />

immer war der Übergang ein<br />

Schock für ihn, ein harter Wechsel<br />

von der sterilen Konturlosigkeit<br />

in den scharfkantigen Dreck.<br />

Kaum hatte er den Betonwall des<br />

Stadtkerns hinter sich gelassen,<br />

wurde er von einem fahrigen<br />

Kleindealer angequatscht.<br />

„Alter, brauchst du Synth? Explosion?<br />

Guter Stoff aus der alten<br />

Zeit, knallt dich total weg.“<br />

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157


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Er grinste Sang mit seinen gelben,<br />

stumpfen Zähnen an. Eine<br />

weitere gescheiterte Gestalt.<br />

Synth war ein blasses Nichts gegen<br />

das, was Alterreal ihm bot.<br />

Sang drängte sich an dem stinkenden<br />

Kerl vorbei und zog seinen<br />

Mantel etwas enger um seinen<br />

dürren Körper. Er brauchte<br />

keine Drogen. Er brauchte Cherry.<br />

Ihre süßen Lippen.<br />

Der rote Glanz der Erythra<br />

schien sich an den feuchten Häuserwänden<br />

zu spiegeln. In den<br />

zahllosen Pfützen des Kondenswassers,<br />

das aus einer höheren<br />

Ebene herabrieselte. Im Plastikmüll,<br />

der sich wie Eingeweide<br />

aus einem aufgebrochenen Container<br />

ergoss. Selbst in den Pupillen<br />

der grauen Gestalten, die<br />

träge an ihm vorüberwogten.<br />

Viele trugen Atemmasken, doch<br />

Sang liebte das Brennen in seinen<br />

Lungen. Es war das Brennen<br />

jener Welt, in der Cherry lebte.<br />

Zwischen den hohen Betonbauten<br />

des Sprawl war das Erythra<br />

ein Tempel aus rotem Glas. Im<br />

Stil einer altertümlichen Villa<br />

leuchtete das Etablissement die<br />

triste Umgebung aus, lockte die<br />

Verlierer der Zukunft aus ihren<br />

Löchern. An Säulen rannen Bilderströme<br />

hinab, Mädchen in<br />

obszönen Posen, sinnlich geöffnete<br />

Lippen. Circle Eyes, wie<br />

Cherry sie hatte. Wunderschöne<br />

pink-schwarz gesprenkelte Iriden.<br />

Sang schluckte schwer und trat<br />

durch das flackernde Portal. Ein<br />

enger Flur aus dunkelrotem<br />

Samt und eine Finsternis, die der<br />

strahlenden Fassade spottete,<br />

erwarteten ihn. Sang schob sich<br />

an betrunkenen Typen vorbei in<br />

die Table Dance Bar, wo Cherry<br />

bereits auf einem Podest ihren<br />

traumhaften Körper präsentierte.<br />

Musik rauschte, ein elektronischer<br />

Genremix. Hypnotisch und<br />

einlullend, so wie Cherrys Bewegungen.<br />

Das Auf- und Abwogen<br />

ihrer milchweißen Brüste.<br />

Sang schob einen zugedröhnten<br />

Kerl zur Seite und machte es sich<br />

vor dem Podest bequem. Cherry<br />

zwinkerte ihm zu und leckte sich<br />

über die blutrot geschminkten<br />

Lippen. Ein schwarzer Fetzen<br />

bedeckte ihre Scham. Glitzernde<br />

Tätowierungen schimmerten auf<br />

ihrem schweißnassen Körper. Ihr<br />

Erdbeerhaar war zu einem<br />

schwindelerregenden Lockenstrudel<br />

aufgetürmt. Cherry war<br />

eine Göttin.<br />

Sie hatte die Beine weit gespreizt,<br />

als der Sound sich schlagartig<br />

veränderte und sie ihr Podest für<br />

eine finstere Vampirlady räumte.<br />

Sang zog sein Mädchen zur Seite,<br />

durch enge Flure, vorbei an gaffenden<br />

Gesichtern. In ihr herrlich<br />

kitschiges Separee, voller Plüsch<br />

und roter Seide. Ihre Lippen fanden<br />

sich, und er verlor sich in<br />

ihrem süßen Geschmack. In ihren<br />

riesigen Augen zerrann die<br />

Wirklichkeit zu einem trüben<br />

Nebel. Sang spürte ihre zierlichen<br />

Hände, die seine Erektion<br />

massierten. Ihren feuchten<br />

Schoß, der sich hungrig auf ihn<br />

senkte und ihn in einem blutroten<br />

Orgasmus verschlang.<br />

„Bist immer noch mein bester<br />

Kunde“, flüsterte Cherry. Unendlich<br />

zärtlich. Sie schmiegte<br />

_______________________________________________________________________________________________<br />

158


_______________________________________________________________________________________________<br />

sich näher an ihn. War so viel<br />

weicher als das herzförmige<br />

Plüschbett, auf dem er lag, nassgeschwitzt<br />

und mit rasendem<br />

Herzen.<br />

„Bald gibt‘s keine anderen Kunden<br />

mehr“, sagte Sang. „Ich hol<br />

dich hier raus. Wie ich‘s versprochen<br />

hab.“<br />

„Wie du’s versprochen hast.“<br />

Als er aufwachte, zitterten seine<br />

Hände wie nach einem Stromschlag.<br />

Diffuses Licht brannte in<br />

seinen Augen. Sang spürte die<br />

trügerische Weichheit einer<br />

Kunststoffliege unter sich. Der<br />

Alterreal-Tempel. Er musste hergekommen<br />

sein, als Cherry ihn<br />

für einen anderen Freier verlassen<br />

hatte. Sang setzte sich auf.<br />

Böser Fehler. Der ganze Raum<br />

drehte sich. Oder drehte sich nur<br />

sein Gehirn?<br />

„Scheiße.“<br />

Er übergab sich auf den gekachelten<br />

Boden. Erst als er sich die<br />

Reste vom Mund wischte, bemerkte<br />

er, dass er nicht allein<br />

war. Ein Kerl mit grünen Dreadlocks<br />

hatte ihn die ganze Zeit<br />

beobachtet.<br />

„Hey, du bist doch der, der mich<br />

rekrutiert hat?“, stellte Sang erstaunt<br />

fest. Ihm wollte der Name<br />

des Hackers nicht mehr einfallen.<br />

Case? Nein. Aber so ähnlich.<br />

„Du hättest den Kelch nicht leertrinken<br />

sollen, Sang. Tut dir nicht<br />

gut.“<br />

Sein Gegenüber sah verdammt<br />

jung aus. Die grünen Dreads<br />

waren gut gepflegt, was man von<br />

seinen Klamotten nicht behaupten<br />

konnte. Sang wuchtete seinen<br />

zittrigen Körper von der Liege<br />

und ging auf den Hacker zu.<br />

Chain. Der Name war Sang ganz<br />

plötzlich in den Sinn gekommen.<br />

Doch nun war er sich ganz sicher.<br />

Der Kerl hieß Chain und<br />

war eine Traumgeburt des<br />

Kerns, genau wie er.<br />

„Setzt dich lieber wieder“, meinte<br />

Chain und machte sich an seiner<br />

Manteltasche zu schaffen.<br />

Sang nickte verständnislos. Die<br />

ganze beschissene Welt rotierte<br />

in seinem Schädel. Sitzen war<br />

gut. Sang sah eine Nadel aufblitzen<br />

und verstand. Beobachtete<br />

stumm, wie Chain eine rötliche<br />

Flüssigkeit aufzog und ihm<br />

spritzte. Schlagartig blieb die<br />

Welt stehen. Sein Herz setzte aus<br />

– und schlug in einem ruhigeren<br />

Takt weiter.<br />

„Komm mit“, sagte Chain.<br />

Der Boden schwankte noch ein<br />

wenig, doch Sang schaffte es,<br />

dem Hacker zu folgen. Sie traten<br />

durch einen Saal aus blau<br />

schimmerndem Licht, das sich in<br />

den gläsernen Säulen und dem<br />

Boden tausendfach spiegelte.<br />

Eine kleine Gruppe verhüllter<br />

Personen stimmte in der Mitte<br />

des Raumes einen tiefen Gesang<br />

an. Ein paar andere, Leute von<br />

der Straße, bestaunten den religiösen<br />

Akt. Damit lockte Alterreal<br />

neue Anhänger. Sang war<br />

immer noch fasziniert von der<br />

okkulten Beschwörung, die ein<br />

neues Leben versprach. Auch er<br />

hatte ein neues Leben erhalten –<br />

ein besseres als diese ahnungslosen<br />

Schafe, die sich dem technoiden<br />

Kult opferten. Sie konnten<br />

nicht einmal im Ansatz erahnen,<br />

_______________________________________________________________________________________________<br />

159


_______________________________________________________________________________________________<br />

zu was Alterreal fähig war. Die<br />

ganze Welt würde in Flammen<br />

aufgehen, und Sang würde mit<br />

Cherry aus der Asche steigen.<br />

„Im Gegensatz zu denen da“,<br />

Chain deutete auf die neue<br />

Kundschaft, „weißt du, dass man<br />

nicht zu viel aus dem Kelch trinken<br />

sollte.“ Er klang sauer. „Du<br />

hast einen verdammten Job zu<br />

machen. Oder kriegst du das<br />

nicht hin?“<br />

Schales Misstrauen.<br />

„Klar krieg ich das hin.“ Sang<br />

bemühte sich um Gleichgültigkeit.<br />

Als wäre es lachhaft, an<br />

seinen Fähigkeiten zu zweifeln.<br />

Er hatte nur seine Dosis gebraucht,<br />

um einen klaren Kopf<br />

zu bewahren. Sie alle mussten<br />

hin und wieder aus dem Kelch<br />

trinken.<br />

„Hab schon alles vorbereitet“,<br />

erklärte Sang, als Chain ihn weiter<br />

skeptisch musterte. „Alles<br />

easy, wird ein Spaziergang morgen.“<br />

„Morgen? Die Party steigt in fünf<br />

Stunden!“ Scheiße, war er so<br />

lange weggetreten gewesen?<br />

„Kein Problem. Bringt ihr euren<br />

Killer an den Start, ich mach den<br />

Rest.“<br />

Er grinste, doch Chain war offensichtlich<br />

nicht zu Scherzen<br />

aufgelegt.<br />

„Wir verlassen uns auf dich,<br />

Sang. Und Cherry tut das auch.<br />

Du willst sie doch da rausholen?<br />

Wir sind unseren Zielen so nah.<br />

Alterreal wird alles regeln. Also<br />

enttäusch uns nicht.“<br />

Der Alterreal-Tempel kotzte ihn<br />

aus, und Sang fand sich allein in<br />

der ewigen Dunkelheit des<br />

Sprawl wieder.<br />

In seinen Gedanken leuchtete<br />

das Erythra wie Sternenfeuer.<br />

Ein Haus aus Glas, hinter dessen<br />

flackernder Fassade Cherry tanzte.<br />

Sang wollte ihre Hitze spüren,<br />

sich in ihren wunderschönen<br />

Augen verlieren. Circle Eyes.<br />

Doch es galt, einen guten Job zu<br />

machen. Damit Alterreal diese<br />

beschissene Welt ins Chaos stürzen<br />

konnte. Die Grenzen würden<br />

fallen. Die Grenzen zwischen<br />

dem Kern und dem Sprawl, zwischen<br />

seiner Welt und Cherrys<br />

Welt. Und sie würde frei sein.<br />

Sang konzentrierte sich auf die<br />

flackernden Strukturen vor ihm.<br />

Die Cookies hatten ihn problemlos<br />

durchs EIS gleiten lassen,<br />

sodass er die präparierten Aufnahmen<br />

leerer Gänge ins Überwachungssystem<br />

einspielen<br />

konnte.<br />

Lange würden diese das System<br />

nicht täuschen können, aber lange<br />

genug, um dem Vollstrecker<br />

sicheren Zugang zu ermöglichen.<br />

Wenn der Alarm losschrillte,<br />

wäre der Kerl längst entkommen.<br />

Oder in den Abgrund gestürzt.<br />

Egal – Michael Donelli<br />

wäre dann tot.<br />

Sang war erstaunt, wie zierlich<br />

der Typ war, den Alterreal geschickt<br />

hatte. Ein hagerer Junge<br />

mit pinken Haaren, wie Neonblut.<br />

Er sah ihn durch die Gänge<br />

marschieren und lenkte die KI<br />

des Sicherheitssystems mit harmlosen<br />

Angriffen ab, damit sie erst<br />

gar nicht auf die Idee kam, etwas<br />

Seltsames an seinen gefälschten<br />

Kamerabildern zu finden.<br />

_______________________________________________________________________________________________<br />

160


_______________________________________________________________________________________________<br />

Der Junge hatte den irren Blick<br />

eines Junkies, doch seine Bewegungen<br />

waren koordiniert. Er<br />

ging ruhig, fast schon unnatürlich<br />

aufrecht. Verschwendete<br />

keine Sekunde mit einem Blick<br />

zur Seite. Wie Alterreal Sang<br />

angekündigt hatte, war der Vollstrecker<br />

mit einer gefälschten<br />

Identität durch den unterirdischen<br />

Personaleingang gekommen.<br />

Nun war er im zentralen<br />

Aufzugsschacht und kletterte<br />

doch tatsächlich die Drahtseile<br />

hoch. Die Linsen in den Röhrenwänden<br />

zeichneten alles auf,<br />

aber das System bekam nur die<br />

leeren Schächte zu sehen. Sang<br />

schaffte inzwischen die echten<br />

Bilder beiseite.<br />

Doch plötzlich rauschte seine<br />

Verbindung, das Telti-System<br />

färbte sich schlagartig dunkel.<br />

Scheiße, der Kerl hatte eine der<br />

Fallen ausgelöst. Die KI wusste<br />

jetzt, dass etwas nicht stimmte.<br />

Sang wechselte sein Sichtfeld<br />

und startete einen Frontalangriff<br />

auf das EIS des internen Forschungsnetzwerks.<br />

Er musste der<br />

verdammten KI mehr bieten,<br />

und wenn der Kerl mit Michael<br />

Donelli fertig war, waren die<br />

Forschungsdaten ohnehin fällig.<br />

Also warum nicht jetzt damit<br />

anfangen.<br />

Die KI wehrte sich, wie erwartet.<br />

Aber sie biss an. Die Forschungsergebnisse<br />

waren wichtiger als<br />

ein Freak, der durch die Aufzugsschächte<br />

kletterte. Natürlich<br />

wurden die Sicherheitsleute<br />

alarmiert, aber den meisten hatte<br />

Sang freigegeben oder ihre<br />

Schichten getauscht. Niemand<br />

würde rechtzeitig da sein.<br />

„Zeig mir, was du kannst.“<br />

Sang schickte der KI ein paar<br />

seiner neuesten Viren zum Spielen,<br />

während er sich am EIS zu<br />

schaffen machte. Schneeweiß,<br />

wesentlich dichtere Struktur als<br />

beim Überwachungssystem.<br />

Keine Chance, eine Lücke reinzuschießen.<br />

Er musste den Panzer<br />

zerbrechen. Mit schwarzem<br />

Code, nicht ganz ungefährlich,<br />

da hochinfektiös, aber durchschlagend.<br />

Sangs Finger kratzten<br />

über den Touchscreen seines<br />

Decks, sein Herzschlag pulste<br />

unter seiner Schläfen. Das Netz<br />

wurde von dunklen Schatten<br />

durchlöchert, ebenso wie das<br />

EIS. Sang glaubte, das Knirschen<br />

zu hören. Seine Finger zuckten in<br />

einem wilden Tanz. Und dann<br />

brach das beschissene weiße EIS<br />

zu einem glitzernden Scherbenhaufen<br />

zusammen.<br />

Nachdem der Panzer durchbrochen<br />

war, radierte er Donellis<br />

Daten aus dem System aus und<br />

hinterließ ein paar fiese Tretminen<br />

für die armen Schweine, die<br />

den Kram restaurieren sollten.<br />

Währenddessen war der Vollstrecker<br />

bei seinem Ziel. Sang<br />

sah zu, wie der Junge die Laserwaffe<br />

zog und Donelli knallhart<br />

zwischen die Beine schoss. Seine<br />

Mundwinkel zuckten nicht einmal.<br />

Dann ein weiterer Schuss,<br />

mitten in die Fresse. Eine blutige<br />

Explosion.<br />

Plötzlich flog die Tür auf, Sicherheitspersonal<br />

stürmte den Raum.<br />

Doch der Junge sprang einfach<br />

durchs Fenster und war weg.<br />

Genauso wie Sang, der sich aus<br />

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161


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dem System ausklinkte und seine<br />

Spuren verwischte.<br />

Rot glitzernde Schatten begleiteten<br />

Sang durch die labyrinthartigen<br />

Gassen des Sprawl. Unten,<br />

wo die alten Asphaltstraßen verliefen,<br />

war es immer dunkel. Die<br />

oberen Ebenen fraßen das Sonnenlicht,<br />

bevor es auf den Grund<br />

der Stadt treffen konnte. Umso<br />

schöner blühte das Erythra, wie<br />

eine Neonrose im Dreck. Auch<br />

andere Etablissements hatten<br />

gläserne Fassaden, über die versaute<br />

Bilderströme rannen.<br />

Schrilles und doch wärmendes<br />

Licht. Viel echter als die Makellosigkeit<br />

des Kerns. Doch nur<br />

das Erythra glühte in diesem<br />

wundervollen, blutigen Rot.<br />

Die Reflektionen auf den Häuserwänden<br />

erschienen Sang intensiver<br />

als sonst. Ihr Funkeln<br />

hatte etwas Unheilvolles. Dabei<br />

war er in Hochstimmung. Hatte<br />

den Job locker über die Bühne<br />

gebracht. Würde Cherry gleich<br />

tanzen sehen und sich anschließend<br />

in ihren heißen Schoß versenken.<br />

Alterreal würde alles<br />

regeln. Würde die Welt in<br />

Flammen aufgehen lassen, und<br />

Cherry würde mit ihm ein neues<br />

Leben beginnen.<br />

Sang lächelte, als er das Erythra<br />

sah. Ein Glaspalast, der seine<br />

niederen Sehnsüchte gestillt hatte.<br />

Bis Cherry dort eingezogen<br />

war. Nun gab es nur noch sie.<br />

Sang schritt an den Säulen vorbei,<br />

über die Bilder von Mädchen<br />

mit erdbeerroten Haaren flossen.<br />

Sein Herzschlag beschleunigte<br />

sich. Das Erythra verschluckte<br />

Sang, zog ihn unweigerlich in<br />

seine Gedärme, in deren Windungen<br />

Cherry ihren sündigen<br />

Körper schwang. Die sonst so<br />

dunklen Flure waren hell erleuchtet,<br />

die Wände von Hologrammen<br />

übersät. Circle Eyes in<br />

verschiedensten Farben.<br />

Sang zitterte und schwitzte,<br />

während er sich durch die Gänge<br />

schob. Kein anderer Gast begegnete<br />

ihm. Keines der leichtbekleideten<br />

Mädchen. Nur Datenströme<br />

in mannigfaltigem Rot.<br />

Das Gefühl, dass irgendetwas<br />

nicht stimmte, klopfte dumpf an<br />

seine Schädelknochen. Doch<br />

Sang verdrängte es, konzentrierte<br />

sich nur auf das Bild seiner<br />

tanzenden Cherry. Auch die Table<br />

Dance Bar war leer. Das Licht<br />

flackerte, wurde von Codefragmenten<br />

aufgebrochen. Cherry<br />

war nicht da. Sie war einfach<br />

nicht da.<br />

Sang konnte nicht begreifen, was<br />

hier passierte. Panisch rannte er<br />

durch die Flure, deren flackernde<br />

Wände lebendig geworden waren.<br />

Flammen züngelten an nackten<br />

Körpern empor. Sang stolperte<br />

in ihr Separee und sah Cherry<br />

auf dem herzförmigen Bett liegen.<br />

Umgeben von blutrotem<br />

Feuer, das sie knisternd und fauchend<br />

verbrannte.<br />

„Cherry!!!“<br />

Sang stürzte in den Raum, wurde<br />

vom Feuer zurückgeworfen.<br />

Alles brannte lichterloh. Die Bilder<br />

brachen aus den Wänden,<br />

spuckten Flammen und unmögliche<br />

Farben. Sang schrie mit<br />

brennender Kehle. Alles zerfiel<br />

in purpurrote Scherben, er spür-<br />

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te, wie sein Körper krampfte und<br />

zuckte, wie er sich auf die Zunge<br />

biss. Er schmeckte heißes Blut.<br />

Rotes Licht zerstob in seinen Gedanken<br />

– und dann war alles<br />

schwarz.<br />

Sangs Arm glitt vom Sofa. Er<br />

spürte, wie jemand seinen Kopf<br />

berührte, ihn unsanft drehte. Vor<br />

seinen Augen nichts als Dunkelheit<br />

und blutrote Blitze.<br />

„Du hast eine Überwachungsdrohne<br />

übersehen, Sang.“<br />

War das Chain?<br />

„Solche Fehler kann sich Alterreal<br />

nicht leisten. Das verstehst du<br />

doch?“<br />

Nein. Er verstand gar nichts.<br />

„Cherry …“ Seine Worte waren<br />

ein blutiges Keuchen. Jemand<br />

lachte. Es waren noch andere da,<br />

mindestens zwei. Ein Krachen<br />

erfüllte den Raum, dumpfes Gepolter<br />

und Splittern.<br />

„Vernichtet den ganzen Schrott“,<br />

hörte er Chain sagen.<br />

Sang spürte, wie der Hacker sich<br />

neben ihn setzte, konnte sein<br />

Gesicht jedoch nicht erkennen.<br />

Alles zuckte unkontrolliert in<br />

blutigem Rot.<br />

„Armer Sang, hast dich in eine<br />

Idoru verknallt.“<br />

Was quatschte der Kerl da?<br />

„Ganz schön heiß, deine Cherry,<br />

was? Viele Alterreal-Priester genießen<br />

ihre Dienste, ist ein richtig<br />

geiles Luder.“<br />

Chain lachte.<br />

„Tja, wir hatten gedacht, du krepierst<br />

an dem Schock. Aber du<br />

lebst immer noch, dumme Sache.“<br />

Kaltes Metall schmiegte sich an<br />

Sangs Schläfen.<br />

„Lässt sich aber schnell bereinigen,<br />

meinst du nicht?“<br />

Klick<br />

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163


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Impressum<br />

PHANTAST 14<br />

„Cyberpunk“<br />

kostenlose PDF-Version<br />

Erschienen im Januar 2016<br />

PHANTAST ist das gemeinsame<br />

Magazin der phantastischen<br />

Internetportale literatopia und<br />

fictionfantasy<br />

www.literatopia.de<br />

www.fictionfantasy.de<br />

Herausgeberin dieser Ausgabe:<br />

Judith Madera<br />

Satz und Layout: Judith Madera<br />

Lektorat: Rainer Skupsch<br />

Das PHANTAST-Logo wurde<br />

von Lena Braun entworfen<br />

______________________________________________________________________________________________<br />

Kontakt zur PHANTAST-Redaktion<br />

Mitarbeiter dieser Ausgabe:<br />

Eva Bergschneider, Christian Günther,<br />

Jessica Idczak, Jeremy Iskandar,<br />

Almut Oetjen, André Skora,<br />

Judith Madera<br />

Bildquellen:<br />

Christian Günther: Cover und Seiten<br />

5, 6, 12, 20, 32, 50, 59, 65, 90, 98,<br />

108, 127, 137, 155<br />

Alle Bilder mit Creative-Commons-<br />

Lizenzen sind direkt als solche gekennzeichnet.<br />

Bitte die jeweilige<br />

Lizenz beachten!<br />

Alle Autorenfotos unterliegen dem<br />

Copyright der jeweils darauf Abgebildeten.<br />

Alle Cover unterliegen<br />

dem Copyright der entsprechenden<br />

Verlage bzw. des jeweiligen Künstlers.<br />

Alle Szenenbilder aus Filmen und<br />

Serien unterliegen dem Copyright<br />

der Rechteinhaber, die jeweils am<br />

Ende des Textes / beim letzten Bild<br />

angegeben sind.<br />

Das Urheberrecht der einzelnen<br />

Texte liegt bei den jeweiligen Autoren.<br />

Nachdruck, Vervielfältigung,<br />

Bearbeitung, Übersetzung, Mikroverfilmung,<br />

Auswertung durch Datenbanken<br />

und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen<br />

Systemen bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des Copyrightinhabers.<br />

Literatopia Judith Madera www.literatopia.de madera@literatopia.de<br />

fictionfantasy Jürgen Eglseer www.fictionfantasy.de eglseer@fictionfantasy.de<br />

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