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AUSGABE <strong>23</strong> 4. Juni <strong>2022</strong><br />

EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />

70 JAHRE<br />

Elizabeth II.<br />

Queen of<br />

Cool<br />

Medizin<br />

für SIE<br />

und IHN<br />

Warum für jedes Geschlecht<br />

eine eigene Therapie so wichtig ist<br />

GESELLSCHAFT<br />

Liebesgrüße nach<br />

Moskau<br />

POLITIK<br />

Der Neid des Kanzlers<br />

auf die Grünen<br />

KULTUR<br />

Das Alphabet der<br />

Julia Stoschek


Alle <strong>FOCUS</strong>-Titel to go.<br />

focus-shop.de<br />

JETZT<br />

E-PAPER LESEN:


Seite 5<br />

Seite 6<br />

EDITORIAL<br />

Ein Wort wie ein Impfstoff<br />

Von Markus Krischer, stv. Chefredakteur<br />

Fo t o s : M a r k u s C . H u r e k , u l l s t e i n b i l d / G e t t y I m a g e s<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

es gibt Wörter, die könnten einen<br />

Beipackzettel gebrauchen. Sie<br />

haben starke Nebenwirkungen.<br />

Bei falscher Dosierung sind sie<br />

giftig. Sie können aber auch<br />

vor Siechtum und großem Leid<br />

bewahren. Sie können Leben<br />

retten. Wie ein Impfstoff.<br />

Eines dieser gefahrvollen und<br />

segensreichen Wörter träufelte<br />

vor ziemlich genau 75 Jahren<br />

erstmals in Augen und Ohren der<br />

Menschen. Natürlich gab es das<br />

Wort schon vorher, aber so, wie<br />

es Ende Juni 1947 in einem Artikel des<br />

US-Magazins „Foreign Affairs“ stand, war<br />

es neu. Irritierend. Aufregend. Und von<br />

durchschlagender Kraft. „Containment“<br />

war da zu lesen. Eindämmung. Der Autor<br />

des Beitrags, ein ominöser „Mister X“,<br />

fordert die Führung der Vereinigten Staaten<br />

dringend dazu auf, die Sowjetunion als<br />

machtvollen und skrupellosen Gegenspieler<br />

zu erkennen und ihren Expansionsplänen<br />

mit einer Strategie der „Eindämmung“<br />

zu begegnen. Die Identität<br />

des Mister X war rasch enthüllt, es handelte<br />

sich um den Diplomaten George<br />

F. Kennan, der im US-Außenministerium<br />

den Planungsstab leitete. Ein Jahr<br />

zuvor schon hatte Kennan, damals als<br />

Ge sandter in Moskau, in einem legen -<br />

dären „langen Telegramm“ geschrieben,<br />

das fanatische Sowjetregime verweigere<br />

sich zwar der Logik der Vernunft, sei aber<br />

der Logik der Macht in „hohem Maße zugänglich“.<br />

Wenn es auf „starken Widerstand“<br />

treffe, weiche es zurück.<br />

In seinen geradezu schmerzhaft deutlichen<br />

Mahnworten, die er selbst später<br />

mit protestantischen Predigten verglich,<br />

zeigte Kennan wohl als Erster den wahren<br />

Zustand der Welt nach dem Krieg.<br />

Und weil er diese Welt als Erster<br />

begriff, prägte er sie auch. Kennans<br />

Forderung nach „Eindämmung“<br />

wurde zum Fundament<br />

Kalter Krieger wider Willen Der US-Diplomat George F. Kennan<br />

forderte 1947 die „Eindämmung“ der sowjetischen Expansion<br />

einer neuen Strategie des Westens. Auch<br />

wenn Kennan klagte, man habe ihn falsch<br />

verstanden und er habe keineswegs eine<br />

militärische Eskalation herbeireden wollen,<br />

so gilt er doch als Vordenker des Kalten<br />

Krieges. Der Wiederaufbau Westdeutschlands,<br />

das Schmieden der europäischen<br />

und atlantischen Bündnisse, die Teilung<br />

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VERHEIZT<br />

Inge Kloepfer<br />

über den Irrtum<br />

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DER HAUPTSTADTBRIEF<br />

EXKLUSIV<br />

FÜR<br />

<strong>FOCUS</strong><br />

ABONNENTEN<br />

Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />

Herzlich Ihr<br />

der Welt – ohne die Doktrin des<br />

„Containment“ ist die Geschichte<br />

der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

nicht zu verstehen.<br />

Nach dem Fall der Mauer und<br />

dem Untergang der Sowjetunion<br />

dachte niemand mehr an Eindämmung.<br />

Kennans Worte setzten<br />

Staub an. Doch sie blieben<br />

wahr. Sein Urteil etwa über den<br />

Kremlherrscher Josef Stalin,<br />

dem er die Attribute „unbarmherzig,<br />

schamlos, gerissen, unendlich<br />

gefährlich“ verlieh, gilt<br />

ohne Abstriche auch für den<br />

Stalin-Wiedergänger Putin.<br />

Heute reiben wir uns die Augen. Das<br />

Embargo gegen Moskau, die finanziellen<br />

und militärischen Hilfen für Kiew, die Wiederbelebung<br />

der Bundeswehr, der Weg<br />

Finnlands und Schwedens in die Nato – all<br />

diese Maßnahmen gelten der Abwehr, der<br />

Eindämmung einer Gefahr. Eine neue Ära<br />

des „Containment“ hat begonnen. Nicht<br />

nur wegen Russland. In Washington<br />

benutzt man den Begriff des<br />

längst verblichenen Diplomaten<br />

auch, um die neue Haltung des<br />

Westens gegenüber Peking zu<br />

beschreiben.<br />

AUSVERTEILT<br />

Elmar Wiesendahl über<br />

die Volksparteien<br />

nach der Zeitenwende<br />

Tu' uns das nicht an *<br />

Schuld an allem sind die Amerikaner?<br />

Claus Leggewie über ein ewig junges Feindbild<br />

Seite 2<br />

4. Juni <strong>2022</strong> | #30<br />

Schon wahr – jede Doktrin hat<br />

etwas Doktrinäres. Sie greift zu<br />

kurz, sie ist missverständlich, sie<br />

engt ein. Aber sie hilft auch. Sie<br />

klärt den Blick. Sie fordert zum<br />

Handeln auf. So wie jene Doktrin, die<br />

zurückgeht auf ein Wort, das jetzt 75 Jahre<br />

alt ist. Ein Wort, das – im Guten wie im<br />

Schlechten – nichts von seiner Wirksamkeit<br />

verloren hat. Ein Wort, das gegen tödliche<br />

Gefahren immunisieren kann. Wie<br />

ein Impfstoff. Der Westen, so scheint es,<br />

verabreicht sich gerade eine Auffrischung<br />

mit Kennans Vakzin.<br />

Jasper Johns, Flags 1, 1973<br />

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<strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong> 3


Aus der Traum?<br />

Olaf Scholz tut<br />

sich nach wie<br />

vor schwer, die<br />

„Zeitenwende“<br />

zu erklären<br />

Seite 28<br />

Aussehen<br />

Andy Warhol,<br />

Banksy und Lucian<br />

Freud: Sie alle<br />

ließen sich von<br />

ihr inspirieren<br />

Seite 22<br />

Ausstellung<br />

Julia Stoschek<br />

sammelt Medienkunst,<br />

und das<br />

seit 15 Jahren sehr<br />

erfolgreich. Zeit<br />

für ein Gespräch<br />

Seite 78<br />

Auszeit<br />

Zwischen Geschlechterkampf,<br />

Tinder und #MeToo:<br />

wie Intimität<br />

und Liebe gelingen<br />

Seite 98<br />

Ausnahme<br />

Vom Angeber zum<br />

Hoffnungsträger:<br />

der britische Fußballer<br />

Raheem Sterling<br />

Seite 102<br />

Ausgezeichnet Aston Martin Bulldog von 1979 Seite 108<br />

4 <strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong>


INHALT NR. <strong>23</strong> | 4. JUNI <strong>2022</strong><br />

Fo t o s : photothek/dpa, dpa, Peter Rigaud für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Lena Giovanazzi, picture alliance/dmg media Licensing, Hardy Mutschler,<br />

Louise Hagger/Photography, Emily Kydd/Food Styling, Jennifer Kay/Prop Styling, Katy Gilhooly/Food Stylist Assistant Titel: Getty Images, Shutterstock/dana press<br />

Titelthema<br />

66 Der große Unterschied<br />

Männer und Frauen sind verschieden –<br />

die Medizin behandelt beide gleich.<br />

Warum das gefährlich sein kann<br />

Agenda<br />

22 Queen of Cool<br />

Monarchin, Fashionlady, Pop-Ikone.<br />

Königin Elizabeth II. feiert<br />

ihr 70. Jubiläum auf dem britischen<br />

Thron. Eine Würdigung<br />

Politik<br />

28 Beziehungsstatus: kompliziert<br />

Der SPD fällt es schwer, ihre Politik<br />

zu vermitteln. Davon profitieren vor<br />

allem die Grünen<br />

32 „Das kann Scholz nicht<br />

kompensieren“<br />

Peter Matuschek erklärt im Interview,<br />

warum die Grünen die SPD in<br />

den Umfragen überholt haben<br />

34 Das Moskau-Syndrom<br />

In Ostdeutschland schaut man<br />

immer kritischer auf die Russland-<br />

Politik der Regierung<br />

38 Fisch oder Strom<br />

Kleine Wasserkraftwerke sollen künftig<br />

nicht mehr gefördert werden.<br />

Damit wäre Franz Hirschmann ein<br />

Verlierer der Energiewende<br />

40 Datenstrudel<br />

Steinmeier gratuliert, Wagenknecht<br />

liegt vorn<br />

42 Beim Geld hört das<br />

Gewissen auf<br />

Wie der Republikaner Ted Cruz<br />

sich seine Wahlkämpfe von der Waffenindustrie<br />

finanzieren lässt<br />

46 Der Tod kommt aus dem Nichts<br />

Die Moral der freiwilligen Verteidiger<br />

im Donbass bröckelt<br />

48 Das vergessene Leid<br />

Die neuen, alten Taliban führen Afghanistan<br />

an den Abgrund<br />

Wirtschaft<br />

52 „Hochladen reicht nicht“<br />

Abba als Avatare, Hits für Videospiele:<br />

Universal-Topmanager Frank Briegmann<br />

über das Musikgeschäft von morgen<br />

58 Mensch, Maschine!<br />

Chatbots werden dank künstlicher<br />

Intelligenz immer schlauer.<br />

Manche sind kaum von Angestellten<br />

zu unterscheiden<br />

62 Radeln ohne Risiko<br />

E-Bikes werden immer beliebter.<br />

Das Geschäft mit Versicherungen für<br />

die teuren Räder boomt<br />

63 Geldmarkt<br />

Außergewöhnlich<br />

Kochkolumnist Yotam Ottolenghi<br />

legt seine Lammkoteletts erst<br />

in Grüntee und dann auf den Grill<br />

Seite 105<br />

3 Editorial<br />

6 Kolumne von<br />

Jan Fleischhauer<br />

9 Nachrichten<br />

10 Fotos der Woche<br />

16 Grafik der Woche<br />

Waffengewalt<br />

18 Menschen<br />

76 Echt irre<br />

Rubriken<br />

89 Mein Salon<br />

91 Bestseller/<br />

Impressum<br />

110 Die Einflussreichen<br />

112 Leserbriefe<br />

113 Nachrufe/<br />

Servicenummern<br />

114 Tagebuch<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong> 5<br />

Wissen<br />

74 Angriff an der Wurzel<br />

Der kreisrunde Haarausfall ist für Frauen<br />

wie Männer ein Dilemma. Jetzt gibt es ein<br />

neues Medikament, das Hoffnungen weckt<br />

77 Hals über Kopf<br />

Neue Forschungen stellen Darwins Theorie<br />

zu Giraffenhälsen infrage<br />

Kultur<br />

78 Das Abc der Julia Stoschek<br />

Ihre Sammlung zeitgenössischer<br />

Videokunst gehört zu den spektakulärsten<br />

dieser Art. Anlässlich des 15. Jubiläums<br />

eine Würdigung der „Screen Queen“<br />

von A bis Z<br />

88 Die Wahrheit ist uns zumutbar<br />

Die dramatischen Lebenslügen einer<br />

Reporterin und das wahre Todesdrama des<br />

George Floyd – unsere Tipps der Woche<br />

90 Mord nach Maß<br />

Mark Rylance spielt in „The Outfit“ einen<br />

Schneider, der sich mit der Mafia einlässt<br />

Leben<br />

98 Morgen wird Sex wieder gut<br />

Hoffentlich! Die britische Publizistin<br />

Katherine Angel erklärt in ihrem neuen Buch,<br />

wie echte Intimität entsteht<br />

102 70 Millionen Pfund Sterling<br />

Verachtet, verleumdet, verehrt:<br />

die wechselhafte Karriere des englischen<br />

Fußball-Nationalspielers Raheem Sterling<br />

105 Ran an den Grill!<br />

Ottolenghi mariniert Lamm mit Grüntee<br />

106 Die Auswanderer<br />

Thilo Mischke schreibt über Christian,<br />

der Touristen Wale in Island zeigt<br />

108 Preiswürdig, aber nicht preiswert<br />

Auf dem Concorso d’Eleganza am Comer<br />

See werden Autopreziosen prämiert


AGENDA<br />

BLINDBLIND<br />

Königlicher Humor<br />

Queen Elizabeth II. (hier<br />

1978 bei einem Besuch<br />

der Royal Air Force in<br />

Berlin) lacht gerne –<br />

im Zweifel auch laut<br />

22<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong>


MONARCHIE<br />

Queen<br />

of Cool<br />

Vor 70 Jahren bestieg Königin Elizabeth II.<br />

den britischen Thron. Sie überlebte<br />

gleich mehrere Zeitenwenden, die<br />

Skandale ihrer Familie, den Tod ihres<br />

Mannes und schließlich auch Corona.<br />

Keine Monarchin ist so sehr Pop, so<br />

sehr Fashion, so sehr Ikone.<br />

Eine Würdigung<br />

TEXT VON HADLEY HALL MEARES<br />

Fo t o : S h u t t e r s t o c k /d a n a p r e s s<br />

<strong>23</strong>


WISSEN<br />

Langfinger Wie viel<br />

Testosteron ein Embryo<br />

im Mutterleib<br />

abbekommt, lassen<br />

die Hände erahnen.<br />

Männer haben oft<br />

einen längeren Ringund<br />

einen kürzeren<br />

Zeigefinger. Bei<br />

Frauen sind beide<br />

häufiger gleich lang<br />

Anders krank. Warum<br />

Männer und Frauen<br />

eine unterschiedliche<br />

Medizin brauchen<br />

Hormone, Körperbau und Schmerzempfinden sind<br />

bei den Geschlechtern verschieden. Wie sich das auf<br />

ihre Gesundheit auswirkt und was es für die Therapie<br />

von Krankheiten bedeutet, erforscht die junge<br />

Disziplin der Gendermedizin. Große Wissenslücken<br />

kosten noch immer viele Leben<br />

TEXT VON ALINA REICHARDT<br />

66<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong>


TITEL<br />

Hart im Nehmen?<br />

Die Qualen bei der<br />

Geburt gelten als<br />

Beweis, dass Frauen<br />

mehr Schmerzen<br />

ertragen können als<br />

Männer. Studien<br />

widerlegen das. Frauen<br />

empfinden schneller<br />

Schmerz und<br />

halten weniger aus<br />

Fo t o : G e t t y I m a g e s<br />

Idealisiert: Auf dem<br />

Pallas-Athene-Brunnen<br />

in Wien sind die Flüsse<br />

Inn und Donau als<br />

Mann und Frau in<br />

Marmor dargestellt<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong><br />

67


LEBEN<br />

70 Millionen Pfund Sterling<br />

In Jamaika geboren, aufgewachsen auf den Straßen Londons:<br />

Gegen alle Widerstände, vor allem auch die der Fans, hat sich Raheem Sterling<br />

zum Hoffnungsträger des englischen Fußballs entwickelt<br />

TEXT VON JÖRG KRAMER<br />

A<br />

uf Höhe der Mittellinie blieb<br />

Raheem Sterling einfach stehen.<br />

Tatenlos sah er zu, wie<br />

das Schicksal seinen Lauf<br />

nehmen, wie es darüber<br />

bestimmen würde, was jetzt<br />

aus seinem frisch polierten<br />

Leumund werden sollte. Sterling, über<br />

Jahre der Lieblings-Prügelknabe des<br />

britischen Boulevards, hatte England in<br />

Führung gebracht in diesem Achtelfinale<br />

der Europameisterschaft in Wembley<br />

und überhaupt ein vorzügliches Turnier<br />

gespielt. Aber jetzt hatte er diesen Ball<br />

leichtfertig verschludert, mit dem Thomas<br />

Müller aufs englische Tor zustürmte. Wenn<br />

es doch wieder schiefgehen sollte gegen<br />

diese ewigen Deutschen, wie eigentlich<br />

immer nach 1966 bei großen Turnieren,<br />

dann würden sie ihm und nur ihm dies<br />

in die Schuhe schieben … Müller schoss<br />

am Tor vorbei. Sterling sank auf die Knie.<br />

England wurde dann nicht Europameister<br />

nach diesem frenetisch gefeierten<br />

2:0-Achtelfinalsieg im Juni des vergangenen<br />

Jahres, dazu fehlte nur ein abschließender<br />

Erfolg im Elfmeterschießen gegen<br />

Italien, für das Trainer Gareth Southgate<br />

zur falschen Zeit die falschen Schützen<br />

aufbot. Aber es war eine Endrunde, welche<br />

die Nation mit ihrer Auswahlmannschaft<br />

versöhnte, einem modernen, progressiven<br />

Team, und Sterling, ausgerechnet, war die<br />

prägende Figur dieser Mannschaft.<br />

Der frühere Buhmann, der beim Nations-League-Spiel<br />

gegen Deutschland<br />

am Dienstag wieder auf Thomas Müller<br />

treffen dürfte, ist seither sogar eine Art<br />

Symbol für das Fortschrittliche und die<br />

Vielfalt des neuen Englands in dieser<br />

Southgate-Ära, ein Vorzeigeprofi. Jordan<br />

Henderson sammelte Geld für den Nationalen<br />

Gesundheitsdienst in der Pandemie,<br />

Marcus Rashford kämpfte für Schulspeisungen<br />

während des Lockdowns.<br />

Und Sterling, 27, der eine Stiftung zur<br />

Förderung benachteiligter Jugendlicher<br />

gründete und eine Kampagne ins Leben<br />

rief, die mehr ethnische Minderheiten in<br />

Führungspositionen fordert, gilt plötzlich<br />

als anerkannter Aktivist.<br />

Natürlich, es gibt sie noch, die Weltkriegslieder<br />

grölenden Anhänger, die<br />

anfangen zu pfeifen, sobald Fußballer aus<br />

Solidarität vor einem Spiel auf die Knie<br />

gehen. Aber der Masse gefällt das rundum<br />

sympathische Auftreten einer leistungsorientierten<br />

Auswahl, die systematisch<br />

Standardsituationen übt, in allen Mannschaftsteilen<br />

Talent hat und in den Favoritenkreis<br />

für die WM in Katar aufstieg.<br />

Im Oktober 2017 hatten englische<br />

Zuschauer bei einem Heimspiel gegen<br />

Slowenien noch Papierflieger aufs Spielfeld<br />

geworfen – aus Ärger und Langeweile.<br />

Nun schmetterten sie „Sweet Caroline“,<br />

den alten Partykracher, auf der Tribüne<br />

des Wembley-Stadions, in dessen Hinterhof<br />

Manchester Citys Star Raheem<br />

Mourinho war<br />

„der Besondere“.<br />

Klopp „der<br />

Normale“. Sterling<br />

„der Gehasste“<br />

Sterling, in Jamaika geboren, einst vom<br />

fünften Lebensjahr an aufwuchs – den<br />

mächtigen Stahlbogen des Bauwerks ließ<br />

er sich auf den Arm tätowieren. Die Zeitungen<br />

druckten auf einmal Reportagen<br />

aus seiner Straße in dieser rauen Gegend<br />

von Stonebridge, einem Stadtteil in Londons<br />

Nordwesten, in dem 47 Prozent der<br />

Bevölkerung schwarz sind. 63 Prozent<br />

leben in Sozialwohnungen.<br />

Mal sei er zu protzig, mal zu bescheiden<br />

Deutschlandschreck Sterling, im Nationalteam<br />

einer der ambitionierten Offensivleute<br />

neben Harry Kane, Phil Foden,<br />

Jack Grealish oder Mason Mount, habe<br />

„eine enorme Charakterstärke bewiesen,<br />

um diese Zeit hinter sich zu lassen“,<br />

sagte der frühere Nationaltrainer<br />

Roy Hodgson – er meinte eine Zeit als<br />

Hassobjekt. Denn wenn José Mourinho<br />

einst „The Special One“, der angeblich<br />

Besondere, war, Jürgen Klopp „The Normal<br />

One“, der selbst ernannte Normalo,<br />

dann war Sterling „The Hated One“, der<br />

Gehasste. So bezeichnete er sich selbst<br />

in sozialen Netzwerken. Das war 2016,<br />

nach Englands EM-Aus im Achtelfinale<br />

gegen Island, als der Junge aus Kingston<br />

sich vor Beschimpfungen kaum retten<br />

konnte. Er kaufte seiner Mutter ein Haus,<br />

und die Boulevardmedien nannten das<br />

„protzig“. Dass er ein Tattoo mit einem<br />

Sturmgewehr auf der Wade trägt, legten<br />

sie ihm als Zeichen aus, ein Waffennarr<br />

zu sein. Dabei soll das Bild bloß an seinen<br />

toten Vater erinnern, der in Jamaika<br />

erschossen wurde. Und an sein Gelübde,<br />

selbst niemals eine Waffe in die Hand<br />

zu nehmen.<br />

102 <strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong>

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