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FOCUS-23_2022_Vorschau

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LEBEN<br />

70 Millionen Pfund Sterling<br />

In Jamaika geboren, aufgewachsen auf den Straßen Londons:<br />

Gegen alle Widerstände, vor allem auch die der Fans, hat sich Raheem Sterling<br />

zum Hoffnungsträger des englischen Fußballs entwickelt<br />

TEXT VON JÖRG KRAMER<br />

A<br />

uf Höhe der Mittellinie blieb<br />

Raheem Sterling einfach stehen.<br />

Tatenlos sah er zu, wie<br />

das Schicksal seinen Lauf<br />

nehmen, wie es darüber<br />

bestimmen würde, was jetzt<br />

aus seinem frisch polierten<br />

Leumund werden sollte. Sterling, über<br />

Jahre der Lieblings-Prügelknabe des<br />

britischen Boulevards, hatte England in<br />

Führung gebracht in diesem Achtelfinale<br />

der Europameisterschaft in Wembley<br />

und überhaupt ein vorzügliches Turnier<br />

gespielt. Aber jetzt hatte er diesen Ball<br />

leichtfertig verschludert, mit dem Thomas<br />

Müller aufs englische Tor zustürmte. Wenn<br />

es doch wieder schiefgehen sollte gegen<br />

diese ewigen Deutschen, wie eigentlich<br />

immer nach 1966 bei großen Turnieren,<br />

dann würden sie ihm und nur ihm dies<br />

in die Schuhe schieben … Müller schoss<br />

am Tor vorbei. Sterling sank auf die Knie.<br />

England wurde dann nicht Europameister<br />

nach diesem frenetisch gefeierten<br />

2:0-Achtelfinalsieg im Juni des vergangenen<br />

Jahres, dazu fehlte nur ein abschließender<br />

Erfolg im Elfmeterschießen gegen<br />

Italien, für das Trainer Gareth Southgate<br />

zur falschen Zeit die falschen Schützen<br />

aufbot. Aber es war eine Endrunde, welche<br />

die Nation mit ihrer Auswahlmannschaft<br />

versöhnte, einem modernen, progressiven<br />

Team, und Sterling, ausgerechnet, war die<br />

prägende Figur dieser Mannschaft.<br />

Der frühere Buhmann, der beim Nations-League-Spiel<br />

gegen Deutschland<br />

am Dienstag wieder auf Thomas Müller<br />

treffen dürfte, ist seither sogar eine Art<br />

Symbol für das Fortschrittliche und die<br />

Vielfalt des neuen Englands in dieser<br />

Southgate-Ära, ein Vorzeigeprofi. Jordan<br />

Henderson sammelte Geld für den Nationalen<br />

Gesundheitsdienst in der Pandemie,<br />

Marcus Rashford kämpfte für Schulspeisungen<br />

während des Lockdowns.<br />

Und Sterling, 27, der eine Stiftung zur<br />

Förderung benachteiligter Jugendlicher<br />

gründete und eine Kampagne ins Leben<br />

rief, die mehr ethnische Minderheiten in<br />

Führungspositionen fordert, gilt plötzlich<br />

als anerkannter Aktivist.<br />

Natürlich, es gibt sie noch, die Weltkriegslieder<br />

grölenden Anhänger, die<br />

anfangen zu pfeifen, sobald Fußballer aus<br />

Solidarität vor einem Spiel auf die Knie<br />

gehen. Aber der Masse gefällt das rundum<br />

sympathische Auftreten einer leistungsorientierten<br />

Auswahl, die systematisch<br />

Standardsituationen übt, in allen Mannschaftsteilen<br />

Talent hat und in den Favoritenkreis<br />

für die WM in Katar aufstieg.<br />

Im Oktober 2017 hatten englische<br />

Zuschauer bei einem Heimspiel gegen<br />

Slowenien noch Papierflieger aufs Spielfeld<br />

geworfen – aus Ärger und Langeweile.<br />

Nun schmetterten sie „Sweet Caroline“,<br />

den alten Partykracher, auf der Tribüne<br />

des Wembley-Stadions, in dessen Hinterhof<br />

Manchester Citys Star Raheem<br />

Mourinho war<br />

„der Besondere“.<br />

Klopp „der<br />

Normale“. Sterling<br />

„der Gehasste“<br />

Sterling, in Jamaika geboren, einst vom<br />

fünften Lebensjahr an aufwuchs – den<br />

mächtigen Stahlbogen des Bauwerks ließ<br />

er sich auf den Arm tätowieren. Die Zeitungen<br />

druckten auf einmal Reportagen<br />

aus seiner Straße in dieser rauen Gegend<br />

von Stonebridge, einem Stadtteil in Londons<br />

Nordwesten, in dem 47 Prozent der<br />

Bevölkerung schwarz sind. 63 Prozent<br />

leben in Sozialwohnungen.<br />

Mal sei er zu protzig, mal zu bescheiden<br />

Deutschlandschreck Sterling, im Nationalteam<br />

einer der ambitionierten Offensivleute<br />

neben Harry Kane, Phil Foden,<br />

Jack Grealish oder Mason Mount, habe<br />

„eine enorme Charakterstärke bewiesen,<br />

um diese Zeit hinter sich zu lassen“,<br />

sagte der frühere Nationaltrainer<br />

Roy Hodgson – er meinte eine Zeit als<br />

Hassobjekt. Denn wenn José Mourinho<br />

einst „The Special One“, der angeblich<br />

Besondere, war, Jürgen Klopp „The Normal<br />

One“, der selbst ernannte Normalo,<br />

dann war Sterling „The Hated One“, der<br />

Gehasste. So bezeichnete er sich selbst<br />

in sozialen Netzwerken. Das war 2016,<br />

nach Englands EM-Aus im Achtelfinale<br />

gegen Island, als der Junge aus Kingston<br />

sich vor Beschimpfungen kaum retten<br />

konnte. Er kaufte seiner Mutter ein Haus,<br />

und die Boulevardmedien nannten das<br />

„protzig“. Dass er ein Tattoo mit einem<br />

Sturmgewehr auf der Wade trägt, legten<br />

sie ihm als Zeichen aus, ein Waffennarr<br />

zu sein. Dabei soll das Bild bloß an seinen<br />

toten Vater erinnern, der in Jamaika<br />

erschossen wurde. Und an sein Gelübde,<br />

selbst niemals eine Waffe in die Hand<br />

zu nehmen.<br />

102 <strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong>

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