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LEBEN<br />
70 Millionen Pfund Sterling<br />
In Jamaika geboren, aufgewachsen auf den Straßen Londons:<br />
Gegen alle Widerstände, vor allem auch die der Fans, hat sich Raheem Sterling<br />
zum Hoffnungsträger des englischen Fußballs entwickelt<br />
TEXT VON JÖRG KRAMER<br />
A<br />
uf Höhe der Mittellinie blieb<br />
Raheem Sterling einfach stehen.<br />
Tatenlos sah er zu, wie<br />
das Schicksal seinen Lauf<br />
nehmen, wie es darüber<br />
bestimmen würde, was jetzt<br />
aus seinem frisch polierten<br />
Leumund werden sollte. Sterling, über<br />
Jahre der Lieblings-Prügelknabe des<br />
britischen Boulevards, hatte England in<br />
Führung gebracht in diesem Achtelfinale<br />
der Europameisterschaft in Wembley<br />
und überhaupt ein vorzügliches Turnier<br />
gespielt. Aber jetzt hatte er diesen Ball<br />
leichtfertig verschludert, mit dem Thomas<br />
Müller aufs englische Tor zustürmte. Wenn<br />
es doch wieder schiefgehen sollte gegen<br />
diese ewigen Deutschen, wie eigentlich<br />
immer nach 1966 bei großen Turnieren,<br />
dann würden sie ihm und nur ihm dies<br />
in die Schuhe schieben … Müller schoss<br />
am Tor vorbei. Sterling sank auf die Knie.<br />
England wurde dann nicht Europameister<br />
nach diesem frenetisch gefeierten<br />
2:0-Achtelfinalsieg im Juni des vergangenen<br />
Jahres, dazu fehlte nur ein abschließender<br />
Erfolg im Elfmeterschießen gegen<br />
Italien, für das Trainer Gareth Southgate<br />
zur falschen Zeit die falschen Schützen<br />
aufbot. Aber es war eine Endrunde, welche<br />
die Nation mit ihrer Auswahlmannschaft<br />
versöhnte, einem modernen, progressiven<br />
Team, und Sterling, ausgerechnet, war die<br />
prägende Figur dieser Mannschaft.<br />
Der frühere Buhmann, der beim Nations-League-Spiel<br />
gegen Deutschland<br />
am Dienstag wieder auf Thomas Müller<br />
treffen dürfte, ist seither sogar eine Art<br />
Symbol für das Fortschrittliche und die<br />
Vielfalt des neuen Englands in dieser<br />
Southgate-Ära, ein Vorzeigeprofi. Jordan<br />
Henderson sammelte Geld für den Nationalen<br />
Gesundheitsdienst in der Pandemie,<br />
Marcus Rashford kämpfte für Schulspeisungen<br />
während des Lockdowns.<br />
Und Sterling, 27, der eine Stiftung zur<br />
Förderung benachteiligter Jugendlicher<br />
gründete und eine Kampagne ins Leben<br />
rief, die mehr ethnische Minderheiten in<br />
Führungspositionen fordert, gilt plötzlich<br />
als anerkannter Aktivist.<br />
Natürlich, es gibt sie noch, die Weltkriegslieder<br />
grölenden Anhänger, die<br />
anfangen zu pfeifen, sobald Fußballer aus<br />
Solidarität vor einem Spiel auf die Knie<br />
gehen. Aber der Masse gefällt das rundum<br />
sympathische Auftreten einer leistungsorientierten<br />
Auswahl, die systematisch<br />
Standardsituationen übt, in allen Mannschaftsteilen<br />
Talent hat und in den Favoritenkreis<br />
für die WM in Katar aufstieg.<br />
Im Oktober 2017 hatten englische<br />
Zuschauer bei einem Heimspiel gegen<br />
Slowenien noch Papierflieger aufs Spielfeld<br />
geworfen – aus Ärger und Langeweile.<br />
Nun schmetterten sie „Sweet Caroline“,<br />
den alten Partykracher, auf der Tribüne<br />
des Wembley-Stadions, in dessen Hinterhof<br />
Manchester Citys Star Raheem<br />
Mourinho war<br />
„der Besondere“.<br />
Klopp „der<br />
Normale“. Sterling<br />
„der Gehasste“<br />
Sterling, in Jamaika geboren, einst vom<br />
fünften Lebensjahr an aufwuchs – den<br />
mächtigen Stahlbogen des Bauwerks ließ<br />
er sich auf den Arm tätowieren. Die Zeitungen<br />
druckten auf einmal Reportagen<br />
aus seiner Straße in dieser rauen Gegend<br />
von Stonebridge, einem Stadtteil in Londons<br />
Nordwesten, in dem 47 Prozent der<br />
Bevölkerung schwarz sind. 63 Prozent<br />
leben in Sozialwohnungen.<br />
Mal sei er zu protzig, mal zu bescheiden<br />
Deutschlandschreck Sterling, im Nationalteam<br />
einer der ambitionierten Offensivleute<br />
neben Harry Kane, Phil Foden,<br />
Jack Grealish oder Mason Mount, habe<br />
„eine enorme Charakterstärke bewiesen,<br />
um diese Zeit hinter sich zu lassen“,<br />
sagte der frühere Nationaltrainer<br />
Roy Hodgson – er meinte eine Zeit als<br />
Hassobjekt. Denn wenn José Mourinho<br />
einst „The Special One“, der angeblich<br />
Besondere, war, Jürgen Klopp „The Normal<br />
One“, der selbst ernannte Normalo,<br />
dann war Sterling „The Hated One“, der<br />
Gehasste. So bezeichnete er sich selbst<br />
in sozialen Netzwerken. Das war 2016,<br />
nach Englands EM-Aus im Achtelfinale<br />
gegen Island, als der Junge aus Kingston<br />
sich vor Beschimpfungen kaum retten<br />
konnte. Er kaufte seiner Mutter ein Haus,<br />
und die Boulevardmedien nannten das<br />
„protzig“. Dass er ein Tattoo mit einem<br />
Sturmgewehr auf der Wade trägt, legten<br />
sie ihm als Zeichen aus, ein Waffennarr<br />
zu sein. Dabei soll das Bild bloß an seinen<br />
toten Vater erinnern, der in Jamaika<br />
erschossen wurde. Und an sein Gelübde,<br />
selbst niemals eine Waffe in die Hand<br />
zu nehmen.<br />
102 <strong>FOCUS</strong> <strong>23</strong>/<strong>2022</strong>