01.07.2022 Aufrufe

Michael Domsgen | Tobias Foß: Diakonie im Miteinander (Leseprobe)

Auf dem Markt unterschiedlicher Anbieter ringt auch die Diakonie mehr denn je um ihre Erkennbarkeit, christlich verankert zu sein. Wie kann sie sich als christliche Anbieterin profilieren, wenn mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden konfessionslos ist? Wie lässt sich ein diakonisches Profil innerhalb der eigenen Mitarbeitschaft etablieren, wenn Sozialisations- und Tradierungsabbrüche von Kirche und Christentum so deutlich hervortreten? Der vorliegende Aufsatzband versucht, sich aus diakoniewissenschaftlicher, systematisch-theologischer und empirischer Sichtweise diesen Fragen anzunähern. Unterschiedliche Akteure aus Wissenschaft, Diakonie und Kirche kommen zu Wort und setzen Impulse, wie Diakonie in einer mehrheitlich konfessionslosen Gesellschaft gestaltet und verändert werden sollte.

Auf dem Markt unterschiedlicher Anbieter ringt auch die Diakonie mehr denn je um ihre Erkennbarkeit, christlich verankert zu sein. Wie kann sie sich als christliche Anbieterin profilieren, wenn mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden konfessionslos ist? Wie lässt sich ein diakonisches Profil innerhalb der eigenen Mitarbeitschaft etablieren, wenn Sozialisations- und Tradierungsabbrüche von Kirche und Christentum so deutlich hervortreten? Der vorliegende Aufsatzband versucht, sich aus diakoniewissenschaftlicher, systematisch-theologischer und empirischer Sichtweise diesen Fragen anzunähern. Unterschiedliche Akteure aus Wissenschaft, Diakonie und Kirche kommen zu Wort und setzen Impulse, wie Diakonie in einer mehrheitlich konfessionslosen Gesellschaft gestaltet und verändert werden sollte.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong> | <strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong> (Hrsg.)<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>Miteinander</strong><br />

Zur Gestaltung eines diakonischen Profils in<br />

einer mehrheitlich konfessionslosen Gesellschaft


Vorwort<br />

<strong>Diakonie</strong> ist in Bewegung. Wieder einmal, so könnte man hinzufügen. Denn<br />

Vergewisserungen und Kurskorrekturen begleiten sie, seitdem es sie gibt. Die<br />

Leitbegriffe, unter denen das thematisiert wird, variieren. Insofern verwundert<br />

es auch nicht, dass der gegenwärtig so wichtige Begriff des diakonischen Profils<br />

erst am Ende des vorigen Jahrhunderts <strong>im</strong> neueren Wohlfahrtsdiskurs auftaucht<br />

und nicht schon <strong>im</strong>mer Verwendung fand.<br />

Oft sind es Impulse von außen, die den Anstoß dazu geben, neu nachzudenken,<br />

um Zielrichtung und Profil eigenen Handelns zu beschreiben und umsetzen<br />

zu können. Bei den jüngsten Entwicklungen ist das auch so und doch etwas<br />

anders. Denn was <strong>Diakonie</strong> gegenwärtig bewegt, sind veränderte Rahmenbedingungen,<br />

die sich nicht pr<strong>im</strong>är und unmittelbar aus modifizierten staatlichen<br />

Vorgaben oder - noch grundlegender - aus dem Umbruch der Gesellschaftsformationen<br />

ergeben.<br />

Was <strong>Diakonie</strong> momentan deutlich mehr beschäftigt, sind die veränderten<br />

Einstellungen der Menschen, mit denen sie es zu tun hat. Dabei geht es vor allem<br />

um die Einstellungen in Sachen Religion. Sie zeigen sich sowohl bei denen,<br />

die diakonische Angebote nutzen als auch bei denjenigen, die sie veranlassen<br />

und ausführen.<br />

Religion ist in unserer Gesellschaft eine Option, die man wählen kann, aber<br />

nicht unbedingt sollte und schon gar nicht muss. Seinen Ausdruck findet das<br />

auch <strong>im</strong> Feld der Kirchenmitgliedschaft. Zugleich ist es nicht darauf beschränkt.<br />

Verbindliche Vorgaben in rebus religionis, denen sich die Einzelnen zu fügen<br />

hätten, gibt es gesamtgesellschaftlich nicht (mehr).<br />

Zu einem Thema der <strong>Diakonie</strong> wurde und wird das nun vor allem dort, wo<br />

nicht nur einige wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich selbst nicht als<br />

christlich oder religiös verstehen, sondern die Mehrheit sich so verortet. Wie ist<br />

damit umzugehen? Wie so oft ergeben sich die größten Schwierigkeiten in den<br />

konkreten Vollzügen. Soll, kann und darf man (überhaupt noch) auf die Kirchenmitgliedschaft<br />

pochen? Liegt die Lösung in einzelnen christlich agierenden<br />

Ankermenschen, die für das Gesamtprofil stehen und damit die anderen, nicht<br />

christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von dieser Aufgabe entlasten?


6<br />

Inhalt<br />

Oder brauchen wir Bildungsinitiativen, die möglichst alle zu erreichen versucht,<br />

um sie für die diakonische D<strong>im</strong>ension zu sensibilisieren, die nach christlichem<br />

Verständnis <strong>im</strong> Helfen liegt? Solche Fragen sind es, die in der Diskussion um das<br />

diakonische Profil mitschwingen und beantwortet werden wollen.<br />

Die hier vorliegenden Beiträge widmen sich dieser Aufgabe aus unterschiedlichen<br />

Perspektiven und thematisieren wesentliche Fragen und Aspekte, die <strong>im</strong><br />

diakoniewissenschaftlichen Diskurs zu beachten sind. Zugleich wird hier bewusst<br />

ein religionspädagogischer Zugriff versucht. Das liegt nicht nur daran,<br />

dass eine Reihe von diakonischen Trägern Bildungsinitiativen gestartet und<br />

damit das Thema religiösen Lernens ausdrücklich aufgerufen haben. Vielmehr<br />

gilt für alle religiösen Kommunikations- und Lernprozesse, also ganz gleich, ob<br />

sie explizit oder <strong>im</strong>plizit ablaufen, dass sie nur gelingen können, wenn sie alle<br />

Akteure gleichermaßen mit einbeziehen. <strong>Diakonie</strong> <strong>im</strong> <strong>Miteinander</strong> heißt deshalb<br />

die anzustrebende Perspektive. Nicht, ob konfessionslose Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter diakonisch profiliert wirken können, ist die entscheidende Frage,<br />

sondern wie und unter welchen Bedingungen. Darüber gilt es nachzudenken.<br />

Eine Religionspädagogik, die sich von Empowerment-Diskursen inspirieren lässt,<br />

kann dazu einige Impulse geben.<br />

Gern hätten wir die damit verbundenen Fragen auf einer Tagung <strong>im</strong> Sommer<br />

2020 in Halle diskutiert. Pandemiebedingt war das leider nicht möglich. So haben<br />

wir die Reihenfolge umgedreht, legen nun zuerst ein Buch vor und hoffen,<br />

möglichst bald in das direkte Gespräch darüber eintreten zu können.<br />

Am Gelingen dieses Projektes haben verschiedene Personen Anteil, denen wir<br />

besonders danken möchten.<br />

Um die Korrektur der Manuskripte haben sich die studentischen Hilfskräfte<br />

des Hallenser Lehrstuhls für Evangelische Religionspädagogik Annika Mehner,<br />

Pia Lindner und Carsten Pahls verdient gemacht. Ihnen allen sei herzlich gedankt!<br />

Nicht zuletzt danken wir den Autorinnen und Autoren sowie den Gesprächspartnerinnen<br />

und -partnern, die mit ihren Ausätzen und Interviews dazu<br />

beigetragen haben, unterschiedliche Perspektiven auf die Frage des diakonischen<br />

Profils zu entdecken, sie zu interpretieren und von dort her handlungsorientierende<br />

Überlegungen anstellen zu können.<br />

Halle, <strong>im</strong> April 2021<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong>


Inhalt<br />

Einführung<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Was <strong>Diakonie</strong> herausfordert ............................................................. 11<br />

Grundlagen<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

»Veränderung <strong>im</strong> Diesseits« -- Konfessionslosigkeit und<br />

diakonisches Profil in empirischer Perspektive ................................ 19<br />

Cornelia Coenen Marx<br />

Gesicht zeigen .................................................................................... 33<br />

<strong>Michael</strong> Bartels/Johannes Eurich<br />

Diakonisches Handeln und Konfessionslosigkeit ............................ 47<br />

Ulrich H. J. Körtner<br />

»Suchet der Stadt Bestes!« ............................................................... 65<br />

Thorsten Moos<br />

Diakonische Kultur unter den Bedingungen von<br />

Ökonomisierung und Säkularisierung .............................................. 79<br />

Exemplarische Vertiefungen<br />

<strong>Michael</strong>a Gloger/Harald Wagner<br />

Diakonisches Profil durch Bildung? .................................................. 97<br />

Sabine Blaszyk<br />

»Müssen wir jetzt beten?« .............................................................. 113<br />

Christian Frühwald<br />

Diakonische Kultur versus Diakonisches Profil .............................. 127<br />

Ulf Liedke<br />

Forum Profil...................................................................................... 139


8<br />

Inhalt<br />

Klaus Scholtissek<br />

Wenn Theologie auf Praxis trifft .................................................... 155<br />

Positionen<br />

Interview mit Friedrich Kramer<br />

Der diakonische Blick erkennt <strong>im</strong> Nächsten Christus .................... 175<br />

Interview mit Ulrike Petermann<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>im</strong> Hier und Jetzt -- eine Chance für christliche<br />

Perspektiven ..................................................................................... 181<br />

Interview mit Christoph Stolte<br />

<strong>Diakonie</strong> und die kleinen alltäglichen Formen .............................. 189<br />

Ausblick<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Den Herausforderungen begegnen ................................................ 199<br />

Biogramme ....................................................................................... 211


Einführung


<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Was <strong>Diakonie</strong> herausfordert<br />

Beobachtungen <strong>im</strong> Kontext mehrheitlicher<br />

Konfessionslosigkeit<br />

Diakonische Einrichtungen stehen unter Druck. Sie müssen sich beweisen auf<br />

dem Markt der Wohlfahrtspflege, nach Fallpauschalen rechnen und unter marktwirtschaftlich-neoliberalen<br />

1<br />

Bedingungen ihre Arbeit organisieren. Wohlfahrt<br />

muss sich rechnen. Hinzu kommen Herausforderungen einer sich wandelnden<br />

Gesellschaft. Vielfalt tritt in unterschiedlichen Ebenen und in den verschiedenen<br />

Handlungsfeldern hervor. Heterogenitäten werden sichtbar und zeigen sich nicht<br />

zuletzt in Sozialisationserfahrungen, kulturellen Verwurzelungen und Weltanschauungen.<br />

Dazu kommen deutlich wahrnehmbare Ablöseprozesse von christlich<br />

geprägten Traditionen. All das stellt Kirche und <strong>Diakonie</strong> vor großen Herausforderungen.<br />

Es ist nicht (mehr) selbstverständlich, Mitglied einer Kirche zu<br />

sein und, wie Hochrechnungen zeigen, wird sich das zukünftig auch nicht ändern.<br />

Im Gegenteil: In den nächsten 30 Jahren wird sich die Kirchenmitgliedschaft<br />

in ganz Deutschland (mindestens) halbieren. 2 Damit verändern sich religiöse<br />

Kulturlandschaften. Die »Zugehörigkeitskultur zur Kirche« verliert an<br />

Prägekraft, währenddessen die »Kultur der Konfessionslosigkeit« 3 stärker hervortritt.<br />

Dass dabei schlagwortartige Zuschreibungen problematisch sind, zeigt nicht<br />

zuletzt der Vergleich zwischen Ost und West. Während Konfessionslosigkeit in<br />

den ostdeutschen Bundesländern mehrheitlich und transgenerational in Erscheinung<br />

tritt, verhält sich das in den westdeutschen Bundesländern etwas<br />

anders. Sie umfasst nicht nur einen kleineren Teil der Bevölkerung, sondern ist<br />

mehrheitlich frisch erworben und geht auf eigene Entscheidungen zum Kirchen-<br />

1<br />

Unter Neoliberalismus wird nicht nur eine seit den 1970er und -80er Jahren einseitige<br />

Tendenz des Wirtschaftens verstanden (Deregulierung des Marktes, voranschreitende<br />

Privatisierung), sondern darin »ein Rationalisierungsprinzip […], das die gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit entscheidend strukturiert« (Lis, Solidarische Subjektwerdung, 121) und<br />

unser gesellschaftliches Zusammenleben best<strong>im</strong>mt.<br />

2<br />

Die Mitgliedervorausberechnung »Projektion 2060« geht davon aus, dass sich die Kirchenmitgliedszahlen<br />

in den nächsten 40 Jahren halbieren werden. Vgl. Gutman/Peters,<br />

German Churches.<br />

3<br />

Pickel, Konfessionslose, 207 (<strong>im</strong> Original hervorgehoben).


12<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

austritt zurück. Konfessionslosigkeit ist also nicht gleich Konfessionslosigkeit.<br />

Sie bezeichnet vielmehr ein hochplurales Spektrum unterschiedlicher Positionierungen<br />

und Einstellungen, das nur formaljuristisch auf einen Nenner zu bringen<br />

ist. Mit Blick auf kirchliches und diakonisches Handeln geht es pr<strong>im</strong>är nicht um<br />

den formalen Zustand der (Nicht-)Kirchenmitgliedschaft. Vielmehr zeigt sich,<br />

dass Konfessionslosigkeit verstärkt mit Distanzierungsprozessen zu christlichreligiösen<br />

Kommunikationszusammenhängen einherzugehen scheint. Das<br />

Stichwort der »religiösen Indifferenz« bringt genau das auf den Punkt. Es geht<br />

um Fremdheit gegenüber traditionell christlichen Interpretationsmustern und<br />

Riten,<br />

»wobei diese Fremdheit oft mit Gleichgültigkeit gekoppelt ist. Es ist mehrheitlich<br />

keine trotzige Gleichgültigkeit, sondern vielmehr eine gewohnheitsmäßige. Religion<br />

erregt viele nicht mehr, weil sie in einer anderen Welt zu existieren scheint, die mit<br />

der eigenen nichts zu tun hat.« 4<br />

Inmitten einer Optionsgesellschaft 5<br />

ist auch Religion vom Grundsatz her zur<br />

Option geworden. De facto jedoch wird das für viele dadurch neutralisiert, dass<br />

Religion für sie selbst gar keine Option darstellt, zumindest nicht aus ihren alltäglichen<br />

Lebensvollzügen heraus. Diese Ausgangslage hinterlässt auch in diakonischen<br />

Einrichtungen ihre Spuren. Bekannte Traditionen scheinen zu verblassen,<br />

Vertrautes wird unvertraut, Selbstverständlichkeiten werden fremd. Auf<br />

der Suche nach neuen Möglichkeiten verändert sich diakonisches Handeln in<br />

der inner-organisatorischen Perspektive. Damit zeigen sich ebenso in der Außenperspektive<br />

Herausforderungen. Auf dem Markt der verschiedenen Anbieter<br />

drängt sich die Frage nach Erkennbarkeit auf: Wie lässt sich ein erkennbares<br />

diakonisches Profil und damit eine diakonische Identität unter den Mitarbeitenden<br />

in Anbetracht der oben beschriebenen Sozialisationsumwälzungen erreichen?<br />

Wie sollten diakonische Profilbemühungen gestaltet werden und wo liegen<br />

neue Chancen? Wohin können neue Wege für diakonische Unternehmen und<br />

ihre christliche Verankerung gehen? All das sind mehr denn je drängende Aufgaben<br />

in einem konfessionslosen Kontext, denen sich dieser Aufsatzband widmen<br />

möchte --- wohl wissend, dass die hier vorgestellten Perspektiven den bestehenden<br />

Diskurs zwar bereichern aber nicht zum Abschluss bringen werden.<br />

Der Sammelband ordnet die Beiträge in vier Schritten. Zunächst werden<br />

»Grundlagen« zum Themenfeld <strong>Diakonie</strong> und Konfessionslosigkeit in empirischer<br />

und systematisch-theologischer Hinsicht zur Sprache gebracht.<br />

Im ersten Beitrag präsentiert <strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong> grundlegende Ergebnisse seiner<br />

empirisch-qualitativen Untersuchung über konfessionslose Mitarbeitende <strong>im</strong><br />

Raum Sachsen-Anhalt. Er macht deutlich, dass trotz zahlreicher Distanzierungsprozesse<br />

eine grundsätzliche Erwartungshaltung an diakonische Unternehmen<br />

4<br />

<strong>Domsgen</strong>, Konfessionslosigkeit, 14.<br />

5<br />

Vgl. Taylor, Säkulares Zeitalter, 25---34; <strong>Domsgen</strong>, Religionspädagogik, 194---200.


Was <strong>Diakonie</strong> herausfordert 13<br />

vorhanden ist: <strong>Diakonie</strong> und Kirche sollen sich für Patienten und Mitarbeitende<br />

einsetzen <strong>im</strong> Sinne von Helfen, Solidarität, Gemeinschaftsstiftung und einem<br />

Festhalten an Normen und Werten, die das Leben lebenswerter machen. Demnach<br />

werden gerade für den konfessionslosen Kontext theologische und religionspädagogische<br />

Modelle relevant, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung<br />

gewahr werden. Christliche Lebenspraxis, so <strong>Foß</strong>, muss eine Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag<br />

aufweisen. Was das für einzelne diakonische Unternehmen und die<br />

Verbandsebene bedeutet, markiert dieser Text.<br />

Ausgehend von Pluralitätsprozessen in Gesellschaft in <strong>Diakonie</strong>, stellt Cornelia<br />

Coenen-Marx in ihrem Beitrag gegenwärtige handlungsorientierende Perspektiven<br />

für diakonische Unternehmen dar. Ihr geht es um ein »Gesicht-Zeigen«:<br />

Die Subjektivität der Mitarbeitenden steht <strong>im</strong> Vordergrund. Coenen-Marx macht<br />

deutlich, dass Mitarbeitende eingeladen werden sollen --- unabhängig von Konfessionsgrenzen<br />

--- ihre Interpretationen und biografischen Erfahrungen <strong>im</strong><br />

christlich geprägten Kommunikationsraum zur Sprache zu bringen. »Gesicht-<br />

Zeigen« gilt für Coenen-Marx auch in Bezug auf »Ankermenschen«. Sie sind es,<br />

die ihre spirituellen Erfahrungen <strong>im</strong> Arbeitsalltag lebensdienlich transparent<br />

machen. Hierbei bedarf es laut Coenen-Marx eines Raums zum Austausch und<br />

vor allem eines Engagements für eine gemeinsame Sache: Nur von Behaving<br />

über Belonging komme man zu einem eventuellen Believing.<br />

Der Text von <strong>Michael</strong> Bartels und Johannes Eurich begibt sich auf einen<br />

Suchprozess, wie diakonisches Handeln in Anbetracht von Konfessionslosigkeit<br />

gestaltet werden kann. Ausgehend von der These, dass Indifferenz als »Nicht-<br />

Wahrnehmen« zu verstehen ist, kommen sie zur Schlussfolgerung, dass zwischen<br />

religiöser Kommunikation innerhalb und außerhalb der Kirche unterschieden<br />

werden muss. Letztere ist davon geprägt, dass in einem konfessionslosen<br />

Kontext pr<strong>im</strong>är Sozialisations<strong>im</strong>pulse vonnöten sind. Genau das kann laut<br />

der Autoren <strong>Diakonie</strong> leisten, worin eine religiöse Sozialisation angebahnt werden<br />

kann.<br />

Ulrich Körtner setzt in seinem Beitrag diakonische Theologie mit öffentlicher<br />

Theologie in Verbindung. <strong>Diakonie</strong> ist Ort und Akteur theologischer Reflektion<br />

und zwar in Bezug auf ihre Wirkweisen in die Gesellschaft. Gerade darin sieht<br />

Körtner eine zentrale Aufgabe für <strong>Diakonie</strong> und Kirche in einer konfessionslosen<br />

Mehrheitsgesellschaft: Eine Theologie der Diaspora habe sich demnach als öffentliche<br />

Theologie, als Engagement für die Gesellschaft, zu beweisen.<br />

Der Beitrag von Thorsten Moos behandelt Ökonomisierung und Säkularisierung<br />

als grundlegende Herausforderungen diakonischer Einrichtungen <strong>im</strong> Zeitalter<br />

der Moderne. Moos stellt hierbei die These auf, dass beide Transformationsprozesse<br />

einer diakonischen Kultur inhärent seien. Jedoch können sich<br />

destruktive Dynamiken einstellen, die eine wesensmäßige Ökonomisierung und<br />

Säkularisierung diakonischen Handelns verzerren und gefährden. Dieser Gefahr,<br />

so Moos, sollte mit einem »Überschussmoment« diakonischer Einrichtungen<br />

begegnet werden.


14<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Im zweiten Themenfeld dieses Aufsatzbandes werden spezifische Perspektiven<br />

diakonischen Handelns <strong>im</strong> konfessionslosen Raum exemplarisch vertieft.<br />

Es wird eröffnet mit dem Beitrag von <strong>Michael</strong>a Gloger und Harald Wagner,<br />

die der Frage nachgehen, welche Bedeutung Bildung für diakonische Profilbildungsprozesse<br />

hat. Ausgehend von ihrer Feststellung, dass sich Bildung am<br />

konkret-sozialen, konfessionslosen Rahmen bewähren muss, wird das Projekt<br />

»Wissen!Warum« − Bildungsinitiative für <strong>Diakonie</strong> und Gemeinde der <strong>Diakonie</strong><br />

Mitteldeutschland vorgestellt, das von Gloger und Wagner wissenschaftlich begleitet<br />

und evaluiert wurde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass diakonische<br />

Profilbildungsbemühungen ohne Erwachsenenbildung nicht gelingen werden.<br />

Diese müssen jedoch vom Unternehmen getragen und in den jeweiligen Einrichtungen<br />

strukturell eingebettet sein.<br />

Sabine Blaszcyk schildert in ihrem Text zentrale Zusammenhänge ihrer ethnografischen<br />

Untersuchung einer Kindertagesstätte in Sachsen-Anhalt, die <strong>im</strong><br />

Zuge von Umstrukturierungen in evangelische Trägerschaft gewechselt ist. Wie<br />

innerhalb eines konfessionslosen Kontextes christliche Bezüge und Bildungsangebote<br />

in der Kita etabliert werden, beschreibt sie als Doing Protestantism als<br />

Epithese. Sie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass vor allem die organisatorischen<br />

Strukturen, in denen Mitarbeitende agieren, religionspädagogisch<br />

reflektiert werden müssen, und sieht <strong>im</strong> Ansatz der komparativen Theologie eine<br />

Chance, Lernprozesse mit Differenzen initiieren zu können.<br />

Der Text von Christian Frühwald hat zum Ziel, Leitungspersonen diakonischer<br />

Unternehmen darin zu bestärken, ihre Verantwortung für das ›Diakonische‹<br />

vor Ort wahrnehmen zu können. Als Inter<strong>im</strong>smanager für diakonische und<br />

caritative Unternehmen gibt Frühwald zahlreiche Einblicke in Praxisbezüge.<br />

Wichtig ist für ihn eine Unterscheidung zwischen diakonischem Profil (Erkennbarkeit<br />

nach Außen) und diakonischer Kultur (mehrd<strong>im</strong>ensionale gelebte Innenansicht).<br />

Im letzterem Modell sieht Frühwald zahlreiche Chancen und plädiert<br />

für eine gelebte Haltung, für die Führungskräfte Möglichkeiten zur Entfaltung zu<br />

schaffen haben.<br />

Ulf Liedke untersucht in seinem Beitrag, welche Rolle Theologie in diakonischen<br />

Unternehmen haben kann. Er stellt fest, dass innerhalb diakonischer Organisationsprozesse<br />

multirationale Perspektiven vorherrschen. Die Theologie<br />

reiht sich in diese Arenen der Diskursivität als Partnerin auf Augenhöhe ein ---<br />

gerade in einem konfessionslosen Kontext. Liedke votiert für ein inklusives<br />

Konzept von Theologie, die als Anwältin für das Unabgeschlossene eintritt und<br />

Diskursräume eröffnet.<br />

Aus der Perspektive diakonischer Geschäftsführung beschreibt Klaus Scholtissek<br />

zahlreiche Erfahrungen und plädiert dafür, die Komplexität professionellen<br />

Handelns in der Wohlfahrtspflege anzuerkennen und konstruktiv zu gestalten.<br />

Gerade diakonische Unternehmen seien als multirationale Organisationen<br />

zu verstehen. Komplexität, so Scholtissek, fordert gegenseitiges Angewiesen-<br />

Sein. <strong>Diakonie</strong> müsse sich für eine gelebte Inklusion --- gerade in einem konfessionslosen<br />

Kontext --- einsetzen, was Scholtissek neutestamentlich untermauert.


Was <strong>Diakonie</strong> herausfordert 15<br />

Der dritte Teil dieses Bandes beinhaltet Positionen von kirchlichen bzw. diakonischen<br />

Leitungspersonen. Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in<br />

Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, der theologische Vorstand <strong>im</strong> <strong>Diakonie</strong>verein<br />

e. V. Bitterfeld-Wolfen-Gräfenhainichen, Ulrike Petermann, sowie der Vorstandsvorsitzende<br />

der <strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland, Christoph Stolte, beantworten<br />

Interviewfragen, markieren Chancen und Herausforderungen diakonischen<br />

Handelns und skizzieren ihre Vorstellungen einer zukünftigen <strong>Diakonie</strong>.<br />

Abschließend fassen <strong>Michael</strong> <strong>Domsgen</strong> und <strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong> grundsätzliche handlungsorientierende<br />

Perspektiven zusammen, die in der Gesamtschau der Beiträge<br />

deutlich geworden sind. Sie plädieren für eine umfassende Reflexion der<br />

Herausforderungen und sehen nicht zuletzt in der Zusammenschau diakonischer<br />

Profilbildungsprozesse und gesellschaftlicher Verantwortlichkeit eine wesentliche<br />

Zukunftsaufgabe kirchlichen und diakonischen Handelns.<br />

Literaturverzeichnis<br />

<strong>Domsgen</strong>, <strong>Michael</strong>: Konfessionslosigkeit. Annäherungen über einen Leitbegriff in Ermangelung<br />

eines besseren, in: Ders./Evers, Dirk (Hg.): Herausforderung Konfessionslosigkeit.<br />

Theologie <strong>im</strong> säkularen Kontext, Leipzig 2014, 9---25.<br />

Ders.: Religionspädagogik (LETh 8), Leipzig 2019.<br />

Gutmann, David/Peters, Fabian: German Churches in T<strong>im</strong>es of Demographic Change and<br />

Declining Affiliation: A Projection to 2060, in: Comparative Population Studies, Vol.<br />

45, 2020, 3---34. Unter: https://www.comparativepopulationstudies.de/index.php/<br />

CPoS/article/view/313/291 [15.01.2021].<br />

Lis, Julia: Solidarische Subjektwerdung in Zeiten neoliberaler Subjektproduktion. Zur<br />

Kritik des Subjektbegriffs in der postpolitischen Theologie, in: Geitzhaus, Philipp/Ramminger,<br />

<strong>Michael</strong> (Hg.): Gott in Zeit. Zur Kritik postpolitischer Theologie<br />

(Edition ITP-Kompass, Bd. 28), Münster 2018, 119---154.<br />

Pickel, Gert: Konfessionslose in Ost- und Westdeutschland --- ähnlich oder anders?, in:<br />

Pollack, Detlef/Pickel, Gert (Hg.): Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland<br />

1989---1999, Opladen 2000, 206---235.<br />

Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009.


Grundlagen


<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

»Veränderung <strong>im</strong> Diesseits« --<br />

Konfessionslosigkeit und<br />

diakonisches Profil in empirischer<br />

Perspektive<br />

1. Konfessionslosigkeit als Herausforderung<br />

diakonischen Handelns<br />

Die Organisation der <strong>Diakonie</strong> steht derzeitig vor großen Herausforderungen. Ein<br />

wesentlicher Grund dafür liegt in Entkirchlichungsprozessen, die sich in ganz<br />

Deutschland bemerkbar machen und in einigen Regionen besonders deutlich<br />

hervortreten. 1<br />

Ȁhm, ja und jetzt be<strong>im</strong> evangelischen Glauben. Da blick ich nicht so durch. Ich hab<br />

erst vor drei, vier Jahren überhaupt mitbekommen, dass es da auch irgendwie ’ne<br />

oberste Chefin, glaub ich, ist das ja, gibt. Ähm, weil die sich mal zu irgendwas geäußert<br />

hat. Ich hab keine Ahnung, wie das überhaupt organisiert ist, die evangelische<br />

Kirche, wenn ich ehrlich bin (lachend).« 2<br />

Mit solchen Veränderungen drängt sich die Frage auf, wie eine Organisation, die<br />

sich als »Wesens- und Lebensäußerung der Kirche« versteht, eine christlichkirchliche<br />

Erkennbarkeit umsetzen kann. Begrifflich wird das seit einiger Zeit<br />

unter dem Schlagwort des »diakonischen Profils« bzw. der »diakonischen Kultur«<br />

gefasst.<br />

Für diakonische Profilbildungsprozesse spielen Mitarbeitende eine konstitutive<br />

Rolle. Sie sind es, die ein christlich-diakonisches Profil tagtäglich prägen,<br />

umsetzen und erzeugen. Anders ausgedrückt: Die Identität von Mitarbeitenden<br />

korrespondiert mit dem Profil eines diakonischen Unternehmens. 3<br />

1<br />

57 % der Mitarbeitenden der <strong>Diakonie</strong> in Sachsen-Anhalt sind konfessionslos. Sie bilden<br />

demnach die absolute Mehrheit der Mitarbeiterschaft (<strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland, <strong>Diakonie</strong><br />

info, 6). Zu den Entkirchlichungsprozessen deutschlandweit vgl. Gutmann; Peters<br />

German Churches, 20‒22.<br />

2<br />

<strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 114 [Zitat aus einem Interview].<br />

3<br />

Vgl. Arnold et al., Perspektiven, 52f.


20<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Umso erstaunlicher ist es, dass <strong>im</strong> gegenwärtigen diakoniewissenschaftlichen<br />

Diskurs Umgangsweisen von Mitarbeitenden mit dem diakonischen Profil<br />

zu wenig untersucht worden sind. Der Eindruck erhärtet sich, dass Profilbildungsprozesse<br />

<strong>im</strong>mer noch verstärkt <strong>im</strong> Sinne eines »Top-Down-Modells« gedacht<br />

und konzipiert werden. Dass damit Suchbewegungen nach der Frage des<br />

diakonischen Profils an der Wirklichkeit von Mitarbeitenden vorbeizugehen<br />

droht, liegt auf der Hand. Von einer gemeinsamen Basis zwischen Mitarbeitenden<br />

und Leitung <strong>im</strong> Umgang mit christlicher Sprache, christlichen Traditionen<br />

und Riten kann gerade nicht automatisch ausgegangen werden. Insbesondere<br />

wenn ein wachsender Teil der Mitarbeiterschaft <strong>im</strong>mer weniger Bezüge zu<br />

christlichen Kommunikationsräumen aufweist, müssen Profilbildungsprozesse<br />

anders gedacht werden --- sie müssen »auf den Kopf gestellt werden«. Ein »Buttom-Up-Modell«<br />

setzt hingegen die Sichtweisen der Mitarbeitenden selbst ins<br />

Zentrum, um Profilbildungsprozesse zu initiieren und zu gestalten. Erst in den<br />

letzten Jahren scheinen sich diakoniewissenschaftliche Diskussionen darauf<br />

vermehrt zu konzentrieren, was sich etwa in der Durchführung empirischer<br />

Untersuchungen niederschlägt. Der konfessionslose Kontext spielt jedoch eine<br />

untergeordnete Rolle. 4 Eine abgeschlossene empirische Arbeit über konfessionslose<br />

Mitarbeitende liegt nicht vor. 5 Auch ist der Fokus der empirischen Untersuchungen<br />

verstärkt auf die alten Bundesländer gerichtet. Jedoch macht es einen<br />

Unterschied, ob Menschen aus der Kirche frisch ausgetreten sind oder Konfessionslosigkeit<br />

eine transgenerationale und mehrheitliche Erscheinung ist, wie es<br />

in den neuen Bundesländern beobachtet werden kann. Gert Pickel unterscheidet<br />

demnach zwischen einer »Kultur der Konfessionszugehörigkeit« und einer »Kultur<br />

der Konfessionslosigkeit«. 6 Die Fragen drängen sich auf: Wie können angesichts<br />

der Perspektiven von Mitarbeitenden, die sich bereits in einer zweiten<br />

oder dritten Generation einer solchen »Kultur der Konfessionslosigkeit« befinden,<br />

diakonische Profilbildungsprozesse gestaltet werden? Wie sehen Sichtweisen,<br />

Erwartungshaltungen und Vorstellungen von konfessionslosen Mitarbeitenden<br />

in Ostdeutschland aus?<br />

Solche Fragestellungen bedürfen einer weiteren Profilierung: Auch wenn die<br />

Kategorie des diakonischen Profils vielfältig und komplex ist, 7 gilt, dass sie (wie<br />

auch <strong>im</strong>mer das <strong>im</strong> Konkreten aussehen mag) christlich konnotiert ist. In diesem<br />

Sinne bildet die christliche Bezugnahme einen konstitutiven Bestandteil des<br />

diakonischen Profils. 8<br />

4<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 40---50.<br />

5<br />

Vgl. a. a. O.<br />

6<br />

Vgl. Pickel, Konfessionslose, 15.<br />

7<br />

Vgl. Arnold et al., Perspektiven, 54---65.<br />

8<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 13f. Gegenwärtig finden sich auch Ansätze, die statt<br />

von einem »diakonischen Profil« von einer »diakonischen Kultur« sprechen (vgl. Moos<br />

2018). Für meine Fragestellung bringt eine solche Begrifflichkeit jedoch keine größeren<br />

Vorteile mit sich. Auch wenn »diakonische Kultur« eine umfassende Größe ist, zeigt sie


Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive 21<br />

Eine solche Bezugnahme lässt sich mit der komplexen Begrifflichkeit der<br />

»christlichen Lebensform« auf den Punkt bringen. Sie umfasst einen sozialen,<br />

kontextspezifischen und dynamischen Raum <strong>im</strong> Sinne eines vielfältigen, christlich<br />

geprägten Kommunikations- und Praxiszusammenhangs. Von diesem Kommunikationsraum<br />

sind Individuen in ihren Interpretationsvollzügen einerseits<br />

best<strong>im</strong>mt und werden durch ihn st<strong>im</strong>uliert. Andererseits geben sie ihm in biografisch-individueller<br />

Weise einen spezifischen Sinn und stellen ihn her. 9<br />

Die forschungsleitende Frage in Hinblick auf diakonische Profilbildungsprozesse<br />

und Konfessionslosigkeit <strong>im</strong> ostdeutschen Raum lautet demnach: Wie<br />

gehen konfessionslose Mitarbeitende mit christlicher Lebensform um? Und weiter:<br />

Wo und wie zeigen sich intensive Relevanzsetzungen (Zugänge) <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

christlicher Praxis- und Kommunikationszusammenhänge (christliche<br />

Lebensform) bzw. wo und wie vollziehen sich Ablehnungs- und Distanzierungsprozesse<br />

(Widerständigkeiten)? Solche Fragen drehen sich um die von den konfessionslosen<br />

Mitarbeitenden vollzogenen Relevanzsetzungen, die verschiedene,<br />

teils hybride Formen von Zugängen und Distanzierungen zur Folge haben. Die<br />

Setzungen finden relevanztheoretisch in zirkulären Relevanzsystemen statt. 10<br />

Anders ausgedrückt: Etwas, was einmal in einer best<strong>im</strong>mten Hinsicht wichtig<br />

war, ist es höchstwahrscheinlich in einer ähnlichen Situation wieder. Im Einklang<br />

mit qualitativer Sozialforschung lassen sich diese Relevanzsysteme <strong>im</strong><br />

Datenmaterial als kohärente Wiederholungen von Zusammenhängen rekonstruieren.<br />

Sie bilden die Grundlage, um ein »Buttom-Up-Modell« bzw. eine gegenstandsverankerte<br />

Theorie für diakonische Profilbildungsprozesse aufstellen zu<br />

können. Wie sie für den Raum Sachsen-Anhalt aussehen, möchte ich <strong>im</strong> Folgenden<br />

darstellen. Zwölf offene Leitfadeninterviews habe ich in biografischnarrativer<br />

Ausrichtung mit konfessionslosen Mitarbeitenden mittels der Grounded<br />

Theory durchgeführt und analysiert. 11 Dies geschah an sieben diakonischen<br />

gerade in Hinblick auf Motivationslagen von Mitarbeitenden viele Familienähnlichkeiten<br />

zum Terminus des »diakonischen Profils« auf. Hier stehen beide Begriffe in einer großen<br />

Nähe zueinander (vgl. Moos 2018, 12). Ebenso weist die Konzeption der »diakonischen<br />

Kultur« eine christliche Bezugnahme auf, um die es <strong>im</strong> Folgenden vordergründig gehen<br />

soll. »›Diakonische Kultur‹ soll also von verschiedenen Disziplinen her begrifflich präzisiert<br />

werden, sodass jeweils best<strong>im</strong>mte Beschreibungshinsichten auf das organisierte<br />

Helfen <strong>im</strong> christlichen Kontext benannt werden.« (Moos, Diakonische Kultur, 19 [Hervorhebung<br />

T. F.]).<br />

9<br />

Zum Begriff der christlichen Lebensform in soziologischer, sprachphilosophischer und<br />

theologischer Hinsicht vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 18---32.<br />

10<br />

Relevanz »besitzt einen biografisch-situativen Doppelvektor. Worauf wir aufmerken,<br />

wie wir die ›Dinge‹ sehen, was unsere Lebensführung leitet, konstituiert sich in zirkulären<br />

Bewegungen zwischen sed<strong>im</strong>entierten Erfahrungen und aktuellen Situationen, in deren<br />

Verlauf sich Relevanzsysteme verfestigen, die ihrerseits wieder situativ aktualisiert und<br />

weitergeformt werden. […] Was in einer Situation als relevant hervorsticht, best<strong>im</strong>mt sich<br />

über die geronnenen Relevanzsysteme mit.« (Stetter, Relevanz, 212 [Hervorhebung T. F.]).<br />

11<br />

Zur Methodologie und Methodik vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 51---89.


22<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Einrichtungen <strong>im</strong> Raum Sachsen-Anhalt. Sie umfassen zwei Krankenhäuser,<br />

zwei Kindertagesstätten, zwei Altenpflegehe<strong>im</strong>e und eine weitere soziale Einrichtung.<br />

12<br />

2. Diakonisches Profil in der Perspektive von<br />

konfessionslosen Mitarbeitenden<br />

Unter konfessionslosen Mitarbeitenden <strong>im</strong> Raum Sachsen-Anhalt ist eine selbstverortete<br />

Distanz gegenüber christlichen Kommunikationspraktiken zu beobachten.<br />

Diese kann so weit gehen, dass christliche Lebensform als Parallelgesellschaft<br />

wahrgenommen wird. 13<br />

Eine solche Distanz meint zunächst, dass die Institution der Kirche verstärkt<br />

negativ verortet wird. Kirche wird z. B. mit Missbrauch ihrer Macht und mit<br />

Widersinnigkeiten zur jetzigen Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Dabei fällt auf,<br />

dass ein sozialisatorischer Kontakt mit christlichen Denominationen bzw. mit<br />

Menschen, die sich als christlich verstehen, kaum gegeben ist. Aufgrund eines<br />

solchen distanzierten Ausgangsverhältnisses bilden pr<strong>im</strong>är Medien --- und nicht<br />

etwa Mitmenschen --- die »Kontaktfläche« zur Kirche. Vor allem mediale kritischnegative<br />

Darstellungen des ›Christlich-Kirchlichen‹ bleiben in Erinnerung und<br />

werden an gesellschaftlich tief verankerte Vorstellungen von Kirche angeknüpft.<br />

Die Distanz beschränkt sich dabei nicht nur auf die Institution der Kirche <strong>im</strong><br />

engeren Sinne. Auch die mannigfaltige Welt der Bibel, christliche Traditionen<br />

oder christliche Praktiken sind eher unbekannt bis nicht nachvollziehbar.<br />

Christliche Kommunikationskonstellationen werden in den Interviews <strong>im</strong>mer<br />

wieder in einem Horizont der Fremdheit verortet. Anhand zweier Interviewsequenzen<br />

möchte ich diese Beobachtungen veranschaulichen:<br />

»Es gibt ja auch irgendwie auch ein’ Gottesdienst, sonntags. Mein einer Kollege geht<br />

da wohl tatsächlich auch <strong>im</strong>mer mal hin. Manchmal wird man per, ähm, Ansage am<br />

Wochenende darauf hin/ ich glaub IMMER. Vielleicht krieg ich’s nur nicht <strong>im</strong>mer<br />

mit. Also <strong>im</strong>mer sonntags ist da irgendwie Gottesdienst. War ich noch nie. Ähm (lachend).<br />

Ähm, ja, und irgendwie zum Beispiel, ich weiß gar nicht mehr, was das war.<br />

Irgendwie waren da Mitarbeiter, und da sollte jemand/ wurde verabschiedet, oder<br />

jemand kam neu oder irgendwie. Und da wurde/ Ach, ich glaub, der Geschäftsführer.<br />

Und da gab’s so ne SEGNUNG für den. Das fand ich auch sehr komisch. Also da stellten<br />

sich nun alle dar, die irgendwie Rang und Namen so hatten von der Personalführung,<br />

stellten sich nun <strong>im</strong> Kreis und legten ihre Hand auf sein Haupt. Ähm, was jetzt<br />

für mich schon sehr unangenehm wär, weil ich’s nicht leiden kann, wenn mich frem-<br />

12<br />

Zum Sample vgl. a. a. O. 78---86.<br />

13<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 99---125.


Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive 23<br />

de Leute anfassen, insofern war ich sehr froh, dass ich das nicht musste. Ähm, und<br />

segneten ihn irgendwie.« 14<br />

Ȁhm ja und also so mit all diesen ganz PRAKTISCHEN Glaubensdingen kann ich irgendwie/<br />

da hab ich keinen Bezug dazu, ne. Ich hab ja auch noch nie jemanden beten<br />

sehen. Ich hab keine Vorstellung davon/ Ähm, wahrscheinlich werden die meisten<br />

auch sich nicht dauernd hinknien und die Hände falten, wenn sie beten, aber/ Wie<br />

gesagt, weil ich eben, auch in der Familie, ich hab da NULL Bezug dazu, ne. Und<br />

deswegen ist das glaub ich für mich alles auch so fürchterlich abstrakt, ähm und irgendwie<br />

auch dadurch emotional so GAR nicht greifbar, weil ich das quasi (.)/ Ich<br />

kenne einfach niemanden eng genug, dass ich ihn mal in seinem aktiven Glauben erleben<br />

würde, […]. Ähm aber ja wie soll man da auch noch einen Bezug dazu kriegen?«<br />

15<br />

Als Plausibilisierung für eine solche Distanz wird insbesondere das Erleben der<br />

DDR-Zeit bzw. das »Hineingeboren-Werden« in familienspezifische Verhältnisse<br />

genannt. Sie gehen einher mit einer kirchlich-distanzierten Erziehung. Ob man<br />

also Christ ist oder nicht, wird als »schicksalsähnlich« verstanden, als etwas, das<br />

vorrangig von externen sozialen Bedingungen abhängig ist. Die Distanz zu<br />

christlichen Kommunikationsformen und zur Kirche wird als gesellschaftliche,<br />

sozialisatorisch bedingte »Normalität« erlebt. Sie wird teilweise bewusst, teilweise<br />

unbewusst familiär weiter tradiert.<br />

Innerhalb dieser selbstverorteten Distanz werden in den Interviews spezifische<br />

relevante Perspektivierungen auf christliche Zusammenhänge hergestellt.<br />

Eine Zugänglichkeit zwischenmenschlicher Art kann festgestellt werden. Es lässt<br />

sich eine tiefverankerte Erwartungshaltung beobachten. Sie ist davon geprägt, dass<br />

ein diakonisches Unternehmen aufgrund seiner christlichen Bezogenheit zwischenmenschliche<br />

Handlungsvollzüge für die Besucherinnen und Besucher und für die<br />

Mitarbeitenden in verantwortungsvoller Hinsicht umzusetzen hat. Dies wird <strong>im</strong><br />

Sample 16 mit Stichwörtern wie »Nächstenliebe« und »Mitmenschlichkeit« auf den<br />

Punkt gebracht. Eine solche Erwartung kann befriedigt oder massiv enttäuscht<br />

werden. Der Umgang des Trägers mit dieser Erwartungshaltung ist richtungsweisend<br />

dafür, inwiefern sich Zugänglichkeiten bei den Mitarbeitenden einstellen können.<br />

In organisatorisch-struktureller Hinsicht lassen sich hier zwei elementare<br />

Widerstandsmomente feststellen:<br />

Christliche Kommunikationszusammenhänge <strong>im</strong> Kontext eines diakonischen<br />

Unternehmens stehen vor der Problematik einer wahrgenommenen arbeitsalltäglichen<br />

»Nichterkennbarkeit« und einer Verflechtung in hegemoniale Verstrickungen. 17<br />

14<br />

A. a. O., 103 [Zitat aus einem Interview].<br />

15<br />

A. a. O., 104 [Zitat aus einem Interview].<br />

16<br />

Der Begriff »Sample« bezeichnet die Gesamtmenge meines Datenmaterials.<br />

17<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 152---186.


24<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

Der erste Aspekt, die »Nichterkennbarkeit«, hebt hervor, dass christliche Sinnzusammenhänge<br />

von den entsprechenden interviewten Personen in ihrer Arbeitswelt<br />

nicht wahrgenommen und als »nicht vorhanden« interpretiert werden.<br />

Dies zeigt sich bereits bei diversen Raumgestaltungen, bei denen »typische«<br />

christliche Symbole fehlen (wie etwa Bibelzitate und Kreuze). Auch bleiben zahlreiche<br />

Praktiken aus, die mit christlichen Bezugssystemen in einen Zusammenhang<br />

gebracht werden, (wie etwa Möglichkeiten von Tischgebet, Supervision<br />

oder Seelsorge). Der teilweise als prekär erlebte Arbeitsalltag steht somit kontaktlos<br />

zu den Erwartungen an einen christlichen Träger. Die zweite Widerständigkeit<br />

ist darin zu sehen, dass christliche Lebensform als Teil eines Arbeitsverhältnisses<br />

wahrgenommen wird --- eine Konstellation, die von »hegemonialen<br />

Verstrickungen« geprägt ist. Der christliche Kommunikationsraum wird als<br />

Charakteristikum eines »Dienstherrn« erlebt, der Macht über seine Mitarbeitenden<br />

innehat und ausübt. Hierin lässt sich die Gefahr beobachten, dass christliche<br />

Lebenspraxis, als bloße Arbeitsaufgabe verstanden wird, die »von denen da<br />

oben« oktroyiert wird. Christ-Sein wird so in einen Zusammenhang einer<br />

Zwangsanforderung des Arbeitgebers gebracht. Sind dabei massive zwischenmenschliche<br />

Missstände <strong>im</strong> diakonischen Träger gegeben, dann wird eine weitere<br />

Beschäftigung ad absurdum geführt. Dies verdeutlichen folgende Interviewsequenzen:<br />

»[N]ach der Stiftsfeier äh wurde quasi [in] unsere Teamsitzung rein getragen von etwas<br />

höherer Position, dass es doch sehr enttäuschend war, dass […] so gut wie keiner<br />

von den Mitarbeitern des Hauses vertreten war. Und äh ja dass sie [= die Leitung]<br />

doch alle daran erinnert, […] dass wir in einem kirchlichen Haus arbeiten und das<br />

doch nicht mehr vergessen sollen und bisschen mehr Engagement zeigen möchten.<br />

Und ähm, wo ich dann aber sage: Die Frage müsste man sich doch erst mal selber<br />

stellen: WARUM möchte da niemand hin privat? WARUM hat keiner LUST, privat<br />

dorthin in seiner Freizeit Zeit zu verbringen?« 18<br />

»Warum? Warum soll ICH für meinen Arbeitgeber oder was, was einbringen, mich<br />

damit näher beschäftigen, wenn umgedreht nur verlangt wird?« 19<br />

Werden diese Widerständigkeiten organisatorisch-struktureller Art überwunden,<br />

dann ist es gerade das Feld der zwischenmenschlichen Handlungsvollzüge, in<br />

dem sich intensive Zugänge zu christlichen Bezugnahmen einstellen können.<br />

Alle Relevanzsetzungen dieser Art sind von einem intersubjektiven Charakter<br />

gekennzeichnet und weisen verschiedene Schwerpunktsetzungen auf, die ineinander<br />

verschränkt vorliegen. Zusammenfassend möchte ich festhalten: Christliche<br />

Bezüge sind vor allem in Hinblick auf zwischenmenschliche Handlungsvollzüge<br />

relevant. Diese erleichtern und unterstützen den Arbeitsalltag für die Mitarbeiten-<br />

18<br />

A. a. O., 180 [Zitat aus einem Interview].<br />

19<br />

A. a. O., 183 [Zitat aus einem Interview].


Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive 25<br />

den ‒ und zwar durch den praktischen Vollzug des Helfens, durch Solidarität mit<br />

den Schwächsten, durch eine sich gegenseitig stärkende Gemeinschaft und durch<br />

eine Verhaltensorientierung an Werten und Normen für einen verantwortungsvollen<br />

zwischenmenschlichen Umgang. 20 Diese vier zwischenmenschlichen Zugänge sind<br />

»niedrigschwellig«. Sie knüpfen an Relevanzsetzungen der Arbeitswelt der interviewten<br />

Personen an und haben für den Arbeitsalltag eine gewinnbringende<br />

Bedeutung. Die Interviewten betrachten sich so z. B. als Arbeitspartner oder als<br />

Umsetzerin dessen, was der christliche Kommunikationsraum in ihren Perspektivierungen<br />

ist bzw. sein sollte. So ist eine Offenheit vorhanden, sich mit christlichen<br />

Kommunikationsformen weiter auseinanderzusetzen. Ein kritischer Vorbehalt<br />

bleibt allerdings gegenüber der Kirche tendenziell weiter bestehen.<br />

Ferner lässt sich ein zweiter Schwerpunkt der Zugänglichkeit feststellen. Ich<br />

konnte beobachten, dass <strong>im</strong> Sample Bezüge zu einer eigenständigen und menschlich-unverfügbaren<br />

Wirklichkeit konstruiert werden. Diese wird als handelnd<br />

erlebt. Vor allem in prekären Lebenssituationen ist eine vorsichtige Offenheit für<br />

eine solche Bezugnahme vorhanden. So ist z. B. von einem »höheren Sinn« oder<br />

einem »höheren Grund« die Rede, der »uns so ein bisschen unterstützt, oder uns<br />

auch mal vor das Schienbein tritt« 21 .<br />

Diese Beobachtungen habe ich mit der Kategorie der Transzendenz verbunden.<br />

Sie scheint mir besonders geeignet zu sein, die <strong>im</strong> Sample wahrgenommenen<br />

binären Beziehungen einzufangen und in einen Vergleichszusammenhang<br />

zu bringen, 22<br />

was wiederum das Datenmaterial abverlangt. Die transzendente<br />

Bezugnahme wird <strong>im</strong> Sample einerseits, wie eben angedeutet, inhaltlich offengelassen.<br />

Anderseits wird sie in Hinblick auf christliche Zusammenhänge pr<strong>im</strong>är<br />

mit der Begrifflichkeit »Gott« verbunden. Der christliche Transzendenzbezug,<br />

Gott, wird als das charakteristische Merkmal von Christentum und Kirche gesehen.<br />

Dabei gilt, dass die Zugänglichkeit transzendenter Art auf intensivere Widerständigkeiten<br />

stößt als die Zugänglichkeit zwischenmenschlicher Art. 23<br />

So ist es z. B. möglich, dass christliche Bezüge vordergründig durch das Raster<br />

eines Glaubens an einer christlichen Transzendenz betrachtet werden. Ein<br />

Transzendenzbezug wird dabei jedoch grundsätzlich als irrelevant und wider-<br />

20<br />

Vgl. a. a. O., 188---249.<br />

21<br />

A. a. O., 295 [Zitat aus einem Interview].<br />

22<br />

Die Kategorie der Transzendenz bzw. der transzendenten Bezüglichkeit habe ich benutzt,<br />

um die forschungsanalytische Wahrnehmungsperspektive auf das Sample zu vergrößern<br />

und damit größere Vergleichsheuristiken zu gewinnen, was wiederum das Datenmaterial<br />

abverlangt. Ich verwende sie nicht essentialistisch. In diesem Sinne geht es<br />

lediglich (aber <strong>im</strong>merhin) »um die Erstellung einer brauchbaren Arbeitshypothese, mit<br />

der sich empirisch und historisch arbeiten lässt und die es erlaubt, mehr zu sehen, als<br />

man ohne sie sieht.« (Pollack, Zur Differenz, 30). Die Kategorie der Transzendenz dient so<br />

als ein konstruiert heuristisches Werkzeug, sodass Vergleichszusammenhänge hergestellt<br />

werden können. Zum Problem eines essentialistischen Transzendenz- bzw. Religionsverständnisses:<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 32f. [besonders Fußnote 97].<br />

23<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 144---152.


26<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

sinnig interpretiert. Christliche Lebensform trifft in einer solchen Sichtweise per<br />

se auf Ablehnung. Andere Zugänge finden ebenso nicht statt. Folglich werden<br />

auch christliche Vollzüge <strong>im</strong> diakonischen Arbeitsalltag (wie etwa Singen oder<br />

Beten) abgelehnt, auch wenn dies mit einer möglichen Konfrontation mit der<br />

Leitung einhergeht. 24<br />

Eine solch intensive Ablehnung kann auch abgemildert sein. Eine christliche<br />

Gottesbezüglichkeit kann als außergewöhnliches exotisches Faszinosum erscheinen,<br />

das Neugierde weckt. Gleichzeitig ist diese Bezogenheit in Widersinnigkeit<br />

verhaftet. Zu viele Widersprüche zu diesseitsorientierten Interpretationshorizonten<br />

werden festgestellt, sodass der christliche Transzendenzbezug<br />

kaum produktive Bezüge zum Lebensalltag aufweisen kann. 25<br />

Auch ist es möglich, dass sich in Anbetracht von Krisensituationen ein Verständnis<br />

dafür einstellt, dass Menschen, insbesondere Patientinnen und Patienten,<br />

irgendeinen Halt (z. B. Gott) benötigen. Mit einem solchen transzendenten<br />

Halt kann man sich beschäftigen; man muss es aber nicht notwendigerweise.<br />

Christliche Kommunikationspraktiken erfahren unter dieser transzendenten<br />

Betrachtungsweise eine gleiche Gültigkeit wie andere Freizeitbeschäftigungen.<br />

Für den persönlichen Lebens- und Arbeitsalltag spielen sie kaum eine Rolle, da<br />

man eher anderen Unternehmungen nachgeht. Christentum ist in seinem Transzendenzbezug<br />

optional. 26<br />

Schließlich können <strong>im</strong> Sample auch stärkere Relevanzsetzungen festgestellt<br />

werden. 27<br />

Die Befragten schildern Erfahrungen, die sich als Berührungspunkte<br />

mit christlicher Transzendenz interpretieren lassen. Dazu gehören beispielsweise<br />

existentielle Krisensituationen, vor allem aber positive Krafterfahrungen. Die<br />

Kategorie der Kraft ist ein sogenannter In-vivo-Code. Das bedeutet, ich habe sie<br />

eins zu eins wortwörtlich aus dem Datenmaterial übernommen. Sie kommt an<br />

zahlreichen stellen <strong>im</strong> Sample vor und beinhaltet Aspekte wie Ruhe, Stärke und<br />

Motivation. Diese Krafterfahrungen haben unmittelbare Auswirkungen auf den<br />

Arbeitsalltag. Sie werden als Voraussetzung für einen verantwortungsvollen zwischenmenschlichen<br />

Umgang interpretiert und hängen so mit den bereits dargestellten<br />

Zugängen zwischenmenschlicher Art zusammen.<br />

Bei all dem sind Menschen wichtig, die in erkennbarer Weise mit christlichen<br />

Traditionen und Vollzügen vertraut sind, diesen positiv gegenüberstehen<br />

und gleichzeitig in die arbeitsalltäglichen Prozesse involviert sind. Sie bezeichne<br />

ich als »Marker«. Ihre Erfahrungen und ihre Lebensgeschichten können christli-<br />

24<br />

Vgl. a. a. O., 128---144.<br />

25<br />

Vgl. a. a. O., 256---270.<br />

26<br />

Vgl. a. a. O., 270---282.<br />

27<br />

Vgl. a. a. O., 283---312.


Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive 27<br />

che Zusammenhänge in einen differenzierteren und relevanteren Horizont stellen.<br />

28<br />

3. <strong>Diakonie</strong> und Konfessionslosigkeit -- Ein Ausblick<br />

In Anbetracht der von mir am Gegenstand generierten Theorie komme ich zum<br />

abschließenden Ergebnis, dass christliche Vollzüge, Ausprägungen und Haltungen<br />

eine arbeitsalltägliche Relevanz aufzeigen müssen. Diese Ausrichtung von diakonischen<br />

Profilbildungsprozessen verstehe ich als conditio sine qua non. Gewiss<br />

geht es hierbei nicht darum, dass Kommunikationsbemühungen des Evangeliums<br />

einseitig unter das Joch der Funktionalität gespannt werden. Eine Gottesbeziehung<br />

reißt den Rahmen eines Nutzenkalküls auf --- Glaube hat <strong>im</strong>mer einen<br />

Überschuss. Auch in relevanztheoretischer Perspektive ist es wichtig, dass<br />

christliche Interpretationskonstellationen <strong>im</strong>mer auch als Bezugsgrößen wahrgenommen<br />

werden, die different zum Alltag sind. Ansonsten werden sie übersehen<br />

und schlichtweg nicht bemerkt. 29<br />

Dabei ist es jedoch nötig --- und hier sehe ich die grundlegende Ausrichtung<br />

für diakonische Profilbildungsprozesse ---, dass gleichzeitig eine produktive Bezogenheit<br />

auf den Arbeitsalltag der Mitarbeitenden vorhanden ist. 30 Ich bezeichne<br />

das als »lebensdienlichen Gewinn«, was mit den Worten Helmut Gollwitzers<br />

als lebensbringende »Veränderung <strong>im</strong> Diesseits« betitelt werden kann. 31 Theologisch<br />

gesehen sind Modelle nötig, die die produktive Beziehung von christlicher<br />

Lebensform mit unterschiedlichen Lebenszusammenhängen (vor allem <strong>im</strong> diesseitigen,<br />

materialistischen und gesellschaftlichen Sinne) zusammendenken. Dies<br />

hat die gegenstandsverankerte Theorie deutlich gemacht. Etwas zu dem aufgrund<br />

des sozialisatorisch bedingten Kontextes eine Distanz vorherrscht, kann<br />

tendenziell nur dann relevant sein, wenn es sich als lebensdienlich und unterstützend<br />

<strong>im</strong> Arbeitsalltag erweist. Dies gilt laut Sample auch für eine christliche<br />

Gottesbezogenheit. Demnach werden in den Interviews genau dann intensive<br />

Relevanzsetzungen vollzogen, wenn christliche Bezugsgrößen und Kommunikationszusammenhänge<br />

den Arbeitsalltag durch zwischenmenschliche Handlungsvollzüge<br />

oder durch Krafterfahrungen erleichtern. Es ist der zwischen-<br />

28<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 313---319; 346---348. Dies lässt sich leicht an die<br />

empirischen Beobachtungen von Hofmann knüpfen, die von »Ankermenschen« spricht.<br />

Vgl. Hofmann, Konsequenzen, 223‒229.<br />

29<br />

»Tatsächlich dürften wir Gegenstände, die unseren situativ zugänglichen Wissensvorrat<br />

lediglich duplizieren, kaum für erheblich erachten.« (Stetter, Relevanz, 215)<br />

30<br />

Relevanztheoretisch argumentiert: »Der Gegenstand muss zum einen auf irgendeine<br />

Weise mit ihm [= dem Subjekt] ›zu tun haben‹: er muss in irgendeiner Form auf meine<br />

Situation bezogen sein. Zum anderen muss der Bezug so geartet sein, dass die Verarbeitung<br />

des Gegenstandes das System produktiv beeinflusst.« (Stetter, Relevanz, 213).<br />

31<br />

Vgl. Gollwitzer, Ich frage nach dem Sinn des Lebens, 34---64.


28<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

menschlich-gesellschaftliche Bereich, wo es noch hohe Erwartungen und Zugänglichkeiten<br />

gibt.<br />

Somit scheinen mir für die Theologie befreiungstheologische Modelle und<br />

politisch-theologische (z. B. linksbarthianische) Ausrichtungen ein großes Potential<br />

inne zu haben, Begegnungen mit konfessionslosen Mitarbeitenden zu schaffen,<br />

um sich gemeinsam für Welt und Gesellschaft auf den Weg zu machen. 32 In<br />

diesem Sinne hat bereits Gollwitzer festgestellt:<br />

»Die Relevanz jedes Satzes unseres Glaubensbekenntnisses werden wir unseren<br />

Zeitgenossen nur verdeutlichen können als politische und soziale, als gesellschaftlich<br />

revolutionäre Relevanz.« 33<br />

Die bisherigen Überlegungen haben auch Auswirkungen auf die Religionspädagogik.<br />

So lässt sich die »Max<strong>im</strong>e der Subjektförderung« 34 weiter präzisieren. Hier<br />

ist das Konzept des Empowerments äußerst anschlussfähig. 35<br />

Empowerment<br />

dient als Sammelbegriff der Assistenzbemühungen christlich-kirchlichen Handelns.<br />

Es hat einen lebensdienlichen Fokus inne, sodass Menschen unter Inanspruchnahme<br />

christlicher Bezüge, Lebenssituationen wahrnehmen, interpretieren,<br />

gestalten und bewältigen können. Christliche Lebensform operiert so als<br />

Lebensdienst. Hierbei werden nicht nur individualpsychologisch Bereiche der<br />

Befähigung fokussiert, sondern auch Aspekte der Bevollmächtigung, 36 worin die<br />

gesellschaftlich-strukturellen Umstände, in denen das menschliche Subjekt handelt,<br />

bedacht werden und verändert werden sollen.<br />

Was heißt das nun für die <strong>Diakonie</strong>? Für diakonisches Handeln möchte ich<br />

zwei Ebenen aufzeigen, in denen ein Engagement nötig ist, um diakonische Profilbildungsprozesse<br />

initiieren zu können. Aus Platzgründen kann ich sie hier<br />

leider nur andeuten. Zunächst steht der gesellschaftlich-strukturelle Bereich <strong>im</strong><br />

Mittelpunkt, für die gerade die Verbands-Ebene der <strong>Diakonie</strong> Verantwortung<br />

trägt. Es gilt sich gesellschaftlich für die Mitarbeitenden der <strong>Diakonie</strong> einzusetzen<br />

und prophetisch-kritisch »das Ganze« unseres Zusammenlebens in den Blick<br />

zu nehmen. Und dieses Ganze ist von neoliberal-kapitalistischen Ausuferungen<br />

best<strong>im</strong>mt, in denen Mitarbeitende leiden und ein christlich-diakonisches Profil<br />

als »stumpf« und »hohl« erscheint (Profitmax<strong>im</strong>ierung, Kosteneinsparung am<br />

32<br />

Das Evangelium hat in seiner bleibenden Andersartigkeit eine »Richtung und Linie«<br />

(Karl Barth), die den Menschen <strong>im</strong> hier und jetzt in allen D<strong>im</strong>ensionen des Lebens befreien<br />

will (pro nobis). M. a. W.: »Der ganz andere Gott will eine ganz andere Gesellschaft.«<br />

(Gollwitzer, Ich frage nach dem Sinn des Lebens, 63).<br />

33<br />

Gollwitzer, Die Weltverantwortung der Kirche, 77.<br />

34<br />

Vgl. Schröder, Religionspädagogik, § 14.<br />

35<br />

Vgl. Bucher, Befähigung und Bevollmächtigung; <strong>Domsgen</strong>, Religionspädagogik, 341---<br />

378.<br />

36<br />

Vgl. Bucher, Befähigung und Bevollmächtigung, 141.


Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive 29<br />

Personal, Arbeitsintensivierung). 37 Für eine bessere Arbeitswelt gilt es sich politisch<br />

zu engagieren, ein gesellschaftlich-kritisches Handeln aufzuzeigen und<br />

»alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes,<br />

ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« 38 . Hier würden sich<br />

viele weitere Überlegungen lohnen. 39<br />

Die zweite Ebene betrifft das einzelne diakonische Unternehmen selbst. 40<br />

Meine empirischen Beobachtungen bedeuten für ein diakonisches Unternehmen,<br />

dass es einen komplexen Prozess der arbeitsalltäglichen Assistenz anzuvisieren<br />

hat. Es ist eine Art seelsorglich-diakonisches Unternehmen nötig, das als solidarischer<br />

Partner seinen eigenen Mitarbeitenden Seelsorge, Supervision und Lebenshilfe<br />

<strong>im</strong> Horizont des Christlichen zukommen lassen will. Diese Aspekte<br />

gehen <strong>im</strong>mer auch mit finanziellen Investitionen einher, gerade wenn sie z. B. in<br />

Arbeitsverträgen als offenes Angebot festverankert sind. Auch wird es darum<br />

gehen müssen, christlich motivierte Unterstützungsstrukturen zu etablieren.<br />

Hier sind z. B. christliche Kommunikationspraktiken von Bedeutung, die eine<br />

ganzheitlich-leibliche Perspektive einbringen. Es geht um eine Leibsorge, die<br />

gerade in Berufen wichtig ist, bei denen der Körper einer permanenten Belastung<br />

ausgesetzt ist. Auch der (theologische) Vorstand hat in diesem Prozess eine<br />

hohe Verantwortung. Transparenz, gelungene Kommunikation von eigenen Fehlern,<br />

Etablierung einer Diskussionskultur, Wertschätzung der Mitarbeitenden<br />

und Abbau einseitiger Machtstrukturen --- kurz: eine dienende Führung --- sind<br />

grundlegende Pfeiler, um Identifikationsprozesse von Mitarbeitenden mit dem<br />

jeweiligen diakonischen Profil der Einrichtung initiieren zu können.<br />

In all diesen Bemühungen können Profilbildungsprozesse am ehesten gesetzt<br />

und so gezeigt werden: »Die Befreiungsbewegung kennt in der Bibel nur<br />

37<br />

Zum Aspekt des neoliberalen »Ganzen«: Vgl. Katholische Arbeiter-Bewegung in der<br />

Diözese Trier, Das Ganze verändern; Hellgermann, kompetent, 93---111.<br />

38<br />

Marx, Kritik, 64. Die Verzahnung von Theologie und Kapitalismuskritik hat demnach<br />

gegenwärtig eine sehr hohe Bedeutung, wie sie z. B. bei Gollwitzer vorgefunden werden<br />

kann. Vgl. Gollwitzer, Die kapitalistische Revolution.<br />

39<br />

Die <strong>Diakonie</strong> als eine der größten Wohlfahrtsverbände hat Macht, auf den Staat Druck<br />

auszuüben und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen (z. B. für einen besseren<br />

Personalschlüssel in der Altenpflege). Ließen sich hier nicht viel größere Drucksituationen<br />

initiieren? Was wäre, wenn in der Gesellschaft die <strong>Diakonie</strong> als Verfechterin für eine<br />

»radikale« Pflegeverbesserung erlebt werden würde? Was wäre, wenn sie als kämpfend<br />

für eine gerechtere Pflege und durchaus von gewissen Seiten als unangenehm wahrgenommen<br />

werden würde, da sie z. B. selbst zu Demonstrationen (oder gar Generalstreiks<br />

<strong>im</strong> Sinne einer Notversorgung) --- gemeinsam herbeigeführt von Leitung und Mitarbeitenden<br />

--- aufruft? In diesem Sinne müsste auch das ganze Thema des Streiks neu bedacht<br />

werden, denn »[w]enn der Streik sozialethisch ein solidarisches Mittel für mehr Humanität<br />

und Gerechtigkeit ist, dann sind das auch theologisch und sozialethisch bedeutende<br />

Grundanliegen der Kirche.« (Segbers, Ökonomie, 193).<br />

40<br />

Vgl. <strong>Foß</strong>, Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag, 338---351.


30<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong><br />

eine Richtung: wie <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel so auf Erden!« 41<br />

Dies gilt mit Sicherheit <strong>im</strong>mer<br />

nur <strong>im</strong> antizipierenden und bruchstückhaften Sinne.<br />

4. Literaturverzeichnis<br />

Arnold, Maik/Bonchino-Demmler, Dorothy/Evers, Ralf/Hußmann, Marcus/Liedke, Ulf:<br />

Perspektiven diakonischer Profilbildung. Ein Arbeitsbuch am Beispiel von Einrichtungen<br />

der <strong>Diakonie</strong> in Sachsen, Leipzig 2017.<br />

Boer, Dick: »Keiner hat sein Leben eingesetzt, nur weil er Das Kapital gelesen hat«, in:<br />

Ders./Klein, Thomas (Hg.): Theopolitische Existenz--- von gestern, für heute (Berliner<br />

Beiträge zur kritischen Theorie, Bd. 19), Hamburg/Berlin 2017, 155---160.<br />

Bucher, Georg: Befähigung und Bevollmächtigung. Interpretative Vermittlungsversuche<br />

zwischen Allgemeinem Priestertum und empowerment- Konzeptionen in religionspädagogischer<br />

Absicht (APrTh, Bd. 81), Leipzig 2021.<br />

<strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland: <strong>Diakonie</strong> info Mitteldeutschland, Heft 12, 2018: Unter:<br />

https://app.diakonie-mitteldeutschland.de/de/profiles/49cc7c60812c/editions/<br />

07fc6934032769715f14/pages/page/4 [13.01.2021].<br />

<strong>Domsgen</strong>, <strong>Michael</strong>: Religionspädagogik (LETh 8), Leipzig 2019.<br />

<strong>Foß</strong>, <strong>Tobias</strong>: Relevanz <strong>im</strong> Arbeitsalltag. Das diakonische Profil in der Perspektive von<br />

konfessionslosen Mitarbeitenden, (<strong>Diakonie</strong>. Bildung --- Gestaltung --- Organisation,<br />

Bd. 22), Stuttgart 2021.<br />

Gollwitzer, Helmut.: Die kapitalistische Revolution, in: Pangritz, Andreas (Hg.): Helmut<br />

Gollwitzer: Ausgewählte Werke in 10 Bänden, Bd. 4: ...daß Gerechtigkeit und Friede<br />

sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik, Bd.1 (Kaiser Taschenbücher, Bd. 45),<br />

München 1988 [1974], 125---209.<br />

Ders.: Die Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter, in: Pangritz,<br />

Andreas (Hg.): Helmut Gollwitzer: Ausgewählte Werke in 10 Bänden, Bd. 4: ... daß<br />

Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik, Bd.1 (Kaiser<br />

Taschenbücher, Bd. 45), München 1988 [1968], 69---99.<br />

Ders.: Ich frage nach dem Sinn des Lebens (Kaiser-Traktate, Bd. 14), München 7 1987.<br />

Gutmann, David/Peters, Fabian: German Churches in T<strong>im</strong>es of Demographic Change and<br />

Declining Affiliation: A Projection to 2060, in: Comparative Population Studies, Vol.<br />

45,3---34, 2020. Unter: https://www.comparativepopulationstudies.de/index.php/CPoS/<br />

article/view/313/291 [13.01.2021].<br />

Hellgermann, Andreas: kompetent. flexibel. angepasst. Zur Kritik neoliberaler Bildung<br />

(Edition ITP-Kompass, Bd. 25), Münster 2018.<br />

Hofmann, Beate: Konsequenzen und Herausforderungen für <strong>Diakonie</strong> und Kirche, in:<br />

Dies. (Hg.): Merkmale diakonischer Unternehmenskultur in einer pluralen Gesellschaft<br />

(<strong>Diakonie</strong>. Bildung --- Gestaltung --- Organisation, Bd. 21), Stuttgart 2020, 217---<br />

242.<br />

41<br />

Boer, Keiner hat sein Leben eingesetzt, 156.


Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive 31<br />

Katholische Arbeiter-Bewegung in der Diözese Trier (Hg.): Das Ganze verändern. Beiträge<br />

zur Überwindung des Kapitalismus. Norderstedt 2016.<br />

Marx, Karl: Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie, in: Kern, Bruno (Hg.): Karl<br />

Marx. Texte und Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Bruno<br />

Kern, Wiesbaden 2015 [1848], 53---70.<br />

Moos, Thorsten: Diakonische Kultur: Ein Forschungsprospekt, in: Ders. (Hg.): Diakonische<br />

Kultur. Begriff, Forschungsperspektiven, Praxis (<strong>Diakonie</strong>. Bildung --- Gestaltung ---<br />

Organisation, Bd. 16), Stuttgart 2018, 11---23.<br />

Pickel, Gert: Konfessionslose --- das ›Residual‹ des Christentums oder Stütze des neuen<br />

Atheismus?, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik, Jg. 12, Heft 1, 12---31,<br />

2013. Unter: http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2013-01/04.pdf [13.01.2021].<br />

Pollack, Detlef: Zur Differenz und zum Zusammenhang von Kirchlichkeit und Religiosität,<br />

in: EvTh 75 (2015), Heft 3, 215---226.<br />

Schröder, Bernd: Religionspädagogik (NTG), Tübingen 2012.<br />

Segbers, Franz: Ökonomie, die dem Leben dient. Die Menschenrechte als Grundlage einer<br />

christlichen Wirtschaftsethik. Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 2015.<br />

Stetter, Manuel: Relevanz. Überlegungen zu einem Postulat kirchlicher Kommunikationspraxis,<br />

in: Weyel, Birgit/Bubmann, Peter (Hg.): Kirchentheorie. Praktischtheologische<br />

Perspektiven auf die Kirche (VWGTh, Bd. 41), Leipzig 2014, 204---222.


Exemplarische<br />

Vertiefungen


<strong>Michael</strong>a Gloger/Harald Wagner<br />

Diakonisches Profil durch Bildung?<br />

Ergebnisse der Evaluation der Bildungsinitiative der<br />

<strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland<br />

»Seine Weltlichkeit trennt ihn nicht von Christus, und seine Christlichkeit trennt ihn<br />

nicht von der Welt.« 1<br />

1. Diakonisches Profil und Bildung -- Überlegungen<br />

zum Kontext<br />

Im vorliegenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob das diakonische<br />

Profil mittels Bildung gestärkt werden kann. Zur Verfolgung dieser Zielstellung<br />

werden wir einleitend die Hauptbegriffe »diakonisches Profil« und »diakonische<br />

Bildung« insoweit klären, wie es notwendig ist, um deren Beziehung mit<br />

unseren Evaluationsergebnissen kontrastieren zu können.<br />

Diakonisches Profil<br />

Die Rede vom diakonischen Profil findet sich erst am Ende des vorigen Jahrhunderts<br />

<strong>im</strong> neueren Wohlfahrtsdiskurs. Sie bezieht sich sowohl auf inhaltliche<br />

Konturen diakonischer Arbeit als auch auf die Einbindung und Bewährung <strong>im</strong><br />

Wohlfahrtssystem. Der Begriff selbst ist <strong>im</strong> Fluss und wir können nicht von einer<br />

allgemein anerkannten Definition ausgehen. Allerdings liegt in einem Projektbericht<br />

einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Hochschule Dresden (ehs) eine<br />

einschlägige Auseinandersetzung vor. 2<br />

Dort entwickelt Ulf Liedke die Grundlinien<br />

dieses Begriffs zwischen den Polen: Profil und Identität. 3 Profil steht für die<br />

Außenwirkung in der Gesellschaft bzw. am Markt, Identität hingegen zielt auf<br />

die eigene Tradition und Sinngebung als christliche Nächstenliebe. Und es ist<br />

genau diese Polarität, <strong>im</strong> Sinne von Zusammengehörigkeit und Spannung, die<br />

auch unsere Fragestellung best<strong>im</strong>mt. So erscheint das christliche Proprium von<br />

1<br />

Bonhoeffer, Werke, 48.<br />

2<br />

Vgl. Arnold u.a., Perspektiven diakonischer Profilbildung.<br />

3<br />

Vgl. Liedke, Diakonisches Profil, 49---66.


98<br />

<strong>Michael</strong>a Gloger/Harald Wagner<br />

marktwirtschaftlichen Prämissen umschlossen und mitunter kaum erkennbar.<br />

In den einschließenden ökonomischen Best<strong>im</strong>mungen geht es um Angebote auf<br />

dem Markt, welche auch von den »Kunden« als besonderes Gut erkennbar sein<br />

soll. Dieses besondere Gut ist das diakonische Profil der Einrichtungen, welches<br />

von einer theologischen Sinnmitte aus gestaltet wird und zugleich in der Motivation<br />

der Mitarbeitenden als christliches Angebot identifiziert werden kann. Es<br />

besteht offenbar eine Polarität zwischen innerer Haltung, als Identität, und äußerer<br />

Identifizierbarkeit, als Profil. Diese Polarität ist eingebunden in strukturelle<br />

und historische Konstellationen. An der Oberfläche wird dies sichtbar, indem<br />

diakonisches Handeln der Kirche auf dem Dienstleistungsmarkt erscheint. Ohne<br />

in die Tiefen der <strong>Diakonie</strong>geschichte eintauchen zu können, sollen dazu vier<br />

relevante Momente genannt werden, die für die Erfolgsaussichten diakonischer<br />

Bildung in Mitteldeutschland relevant sind.<br />

(1) Historische Entstehung von Hilfesystemen: Soziales Hilfehandeln wurde<br />

mit dem Aufkommen der Industrialisierung in Deutschland auf ein neues Anspruchsniveau<br />

gestellt. Das Ausmaß der Not der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft<br />

sprengte alle Konventionen des Helfens und erforderte wesentlich<br />

leistungsfähigere Angebote. Im 19. Jahrhundert führte dies zur expliziten Herausbildung<br />

eines gesellschaftlichen Hilfesystems mit speziellen Institutionen<br />

und einer eigenen Professionalität. Neben Genossenschaften und Arbeitervereinen<br />

engagierten sich auch die Kirchen und religiösen Gemeinschaften mit vermehrten<br />

Anstrengungen.<br />

(2) <strong>Diakonie</strong> als ausdifferenziertes Hilfesystem der Kirche: Die historischen<br />

Herausforderungen führten in den Kirchen auch zu tiefgreifenden strukturellen<br />

Veränderungen. Organisatorisches Kennzeichen war die Etablierung eigenständiger<br />

diakonischer Einrichtungen, welche die diakonische Arbeit der Ortsgemeinden<br />

ergänzten und sich neuer Aufgabenfelder annahmen. Diese Ausdifferenzierungsprozesse<br />

zeigten sich vermehrt in der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jahrhunderts und führten zu erheblichen Spannungen zwischen diakonisch<br />

orientierten Pfarrern und der Kirchenhierarchie. Ein expliziter Konfliktbereich<br />

ergab sich nicht zuletzt durch die Stellung zur Arbeiterbewegung. Seither gab es<br />

eine große Dynamik <strong>im</strong> Zusammenwirken von Kirche und <strong>Diakonie</strong>. Die komplementäre<br />

Deklamation, dass <strong>Diakonie</strong> unlösbarer Teil der Kirche sei und Kirche<br />

<strong>im</strong>mer auch <strong>Diakonie</strong>, ist zumindest interpretationsoffen und mitunter mehr<br />

Zielbest<strong>im</strong>mung als Realität. 4<br />

(3) Säkularisierung und Hilfesysteme: Moderne Gesellschaften zeichnen sich<br />

zuallererst dadurch aus, dass christliche Wertvorstellungen in die Gesellschaft<br />

diffundiert sind. Dies bezieht sich sowohl auf die Sicht auf den Menschen, markant<br />

in der Gestalt der Menschenrechte, als auch auf die Formen und Institutionen<br />

der sozialen Hilfestellung für Bedürftige. In der Praxis kann man davon<br />

ausgehen, dass die Max<strong>im</strong>e der Wohlfahrtsverbände und säkularen sozialen<br />

4<br />

https://www.diakonie-mitteldeutschland.de/blog_diakonie_ekmsynode_2018_de.html<br />

[25.02.2021].


Evaluation der Bildungsinitiative der <strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland 99<br />

Träger ein einheitliches Niveau der Professionalität erreicht haben. Da sich die<br />

jeweiligen Träger am Markt bewähren müssen, streben alle nach Anerkennung<br />

und sind darüber hinaus bemüht, best<strong>im</strong>mte Zielgruppen stärker anzusprechen.<br />

Hier ringen <strong>Diakonie</strong> und Caritas um ihren Platz bzw. um eine Sonderstellung<br />

hinsichtlich ihres christlichen Selbstverständnisses. Im Umkehrschluss könnte<br />

vermutet werden, dass ohne die Konkurrenz nichtkonfessioneller Anbieter auf<br />

dem Hilfemarkt keine Notwendigkeit bestünde, ein diakonisches Profil zu entwickeln.<br />

Es wäre in diesem Fall ausreichend gewesen, diakonische Professionalität<br />

und diakonische Kultur interdependent zu gestalten.<br />

(4) Latenter Atheismus als Herausforderung: In den neuen Bundesländern besteht<br />

durch das Erbe des spezifischen DDR-Atheismus eine eigentümliche Herausforderung<br />

in Bezug auf die Mitarbeitenden der <strong>Diakonie</strong> und natürlich auch<br />

der Caritas. Der Atheismus in der DDR führte nicht nur zur Entfremdung von<br />

Kirche, sondern auch dazu die christliche Lehre in einem breit angelegten Bildungskanon<br />

als wissenschaftlich überholte und fremdbest<strong>im</strong>mte Ideologie zu<br />

denunzieren. Aus beidem resultieren <strong>im</strong>mer noch erhebliche Motivationsirritationen<br />

innerhalb der Mitarbeiterschaft. Der Aspekt der ideologischen Fremdbest<strong>im</strong>mung<br />

wurde durch die Erfahrung der Übernahme zahlreicher sozialer Einrichtungen<br />

(besonders Kitas, Schulen und Altenhe<strong>im</strong>e) in kirchliche<br />

Trägerschaft verstärkt.<br />

Diese vier Momente stellen u.a. den Möglichkeitsrahmen für die Wirksamkeit<br />

diakonischer Bildung dar. Insbesondere in Hinblick auf die Gestaltung einer<br />

diakonischen Identität bzw. diakonischer Kultur erweisen sie sich als unabweisbar.<br />

Wie diese Momente in der Praxis wirken und wie die Bildungsinitiative<br />

darauf Bezug n<strong>im</strong>mt, best<strong>im</strong>mte die Arbeit in einzelnen Forschungsetappen. Das<br />

zentrale Element bestand darin, angemessene Formen diakonischer Bildung zu<br />

identifizieren, ihre Wirksamkeit zu prüfen und ihre harmonische Einbindung in<br />

die diakonische Arbeit zu erkennen.<br />

Bildung und Sozialisation<br />

Es ist die Sozialisation, die uns zu kompetenten Persönlichkeiten in der Gesellschaft<br />

macht. In der pr<strong>im</strong>ären Sozialisation, die hauptsächlich in der Familie<br />

erfolgt, verinnerlichen wir grundlegende Werte und Handlungsweisen unseres<br />

Herkunftsmilieus. Die sekundäre Sozialisation, die von Schule und Peergroup<br />

geprägt ist, baut darauf auf, führt weiter bzw. verändert, was in der pr<strong>im</strong>ären<br />

Phase angelegt wurde. Es sind dann die Institutionen unseres Berufslebens, die<br />

uns bis zu einem gewissen Grade in einer tertiären Sozialisation in ihr soziales<br />

Wertesystem integrieren. Die genannte Phaseneinteilung ist nicht mechanistisch<br />

zu verstehen, sondern als Veranschaulichung, welchen Problematiken diakonische<br />

Bildung in der EKM begegnet: Die Werte, Weltanschauung(en) und Deutungsmuster,<br />

die Menschen <strong>im</strong> Zuge ihrer Sozialisation kennen gelernt haben,<br />

werden durch (diakonische) Bildung reflektiert und erweitert. Was Sozialisation


100<br />

<strong>Michael</strong>a Gloger/Harald Wagner<br />

--- wegen der oben genannten Konstellationen --- nicht erreicht hat, versucht Bildung<br />

zu kompensieren.<br />

Es bleibt ungebrochen, dass Bildung <strong>im</strong>mer auf Sozialisation angewiesen ist.<br />

Im Volksmund kursiert der Spruch »Kinder zu erziehen ist sinnlos, denn sie tun<br />

doch, was sie sehen«. In der neueren Soziologie wird diese empirische Tatsache<br />

an die sogenannten »elementaren sozialen Prozesse« 5<br />

zurückgebunden. Dort<br />

wird hervorgehoben, dass sich alles Lehren und Entscheiden an den grundlegenden<br />

sozialen Praktiken bewähren muss. Das bedeutet, Bildung muss in den<br />

jeweiligen sozialen Rahmen eingebettet werden; denn (Selbst-)Bildung setzt<br />

voraus, dass die Bildungsinhalte erkennbar respektiert werden. Folglich wird<br />

auch in der vorliegenden Erörterung zur Wirksamkeit diakonischer Bildung stets<br />

die Einbindung in die Handlungspraxis der <strong>Diakonie</strong> beachtet werden müssen.<br />

Noch zur Zeit Goethes wurde Bildung weithin als ein unbewusstes Sichselbst-formen<br />

und ein kontemplatives Erkennen von Wirklichkeit und Lebenspraxis<br />

verstanden. Erst in der Moderne entwickelte sich Bildung zu einem Reformprojekt<br />

mit Bildungszielen und spezifischen Didaktiken. Der Erfolg von<br />

Bildungsbemühungen wird seither heftig umstritten und es ist verwunderlich,<br />

warum mit großem Aufwand daran festgehalten wird. Interessant ist die Frage,<br />

warum die Gesellschaft so großen Wert auf Bildung legt. Niklas Luhmann reduziert<br />

es auf eine knappe Formel, nämlich, dass Bildung eine wichtige »Verhaltensgrundregel<br />

für andere« erzielen will: »Man setzt <strong>im</strong> sozialen Verkehr schlicht<br />

voraus, dass Leute, mit denen man es zu tun hat, lesen und schreiben können« 6 .<br />

Im Kontext diakonischer Profilbildung bezieht sich die Voraussetzung sozusagen<br />

auf die Fähigkeit der Mitarbeitenden hinsichtlich des Lesens und Gestaltens der<br />

diakonischen Kultur.<br />

Vor dem Hintergrund elaborierter Modelle von Bildung, die sich seit der<br />

griechischen Antike entwickelten, ist hervorhebenswert: Ein gehaltvoller Bildungsprozess<br />

führt zur Reflexion der eigenen Selbst- und Weltverhältnisse, die<br />

Teilnehmenden eignen sich neue Deutungsweisen an und erfahren dadurch eigene<br />

Handlungspotenziale. Die Personen gehen also nicht nur kognitiv gestärkt, sondern<br />

vor allem selbst-bewusster aus dem Bildungsprozess heraus. Aus systemtheoretischer<br />

Perspektive kann hinzugefügt werden, dass vor allem die (Selbst-)<br />

Lernfähigkeit als Vernetzungskompetenz entwickelt wird. 7<br />

Die diakonische Bildung <strong>im</strong> engeren Sinne fügt sich in diesen Orientierungsrahmen<br />

ein. Die <strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland bezieht sich hierbei stark auf die<br />

Entwürfe von Beate Hofmann. 8 Diakonische Bildung orientiert sich bei ihr komplementär<br />

am Konzept religiöser Kommunikation. Dort geht es insbesondere um<br />

den Selbstbildungsaspekt, der einhergeht mit reflexivem Wissen zur eigenen<br />

Arbeitseinbindung. Intendiert wird nicht vordergründig die Entwicklung des<br />

5<br />

Hondrich, Bildung.<br />

6<br />

Luhmann, Erziehungssystem der Gesellschaft.<br />

7<br />

Vgl. Steinhoff/Wernberger, Bildung als sozialisatorisches Geschehen.<br />

8<br />

Hofmann, Kurse zum Glauben.


Evaluation der Bildungsinitiative der <strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland 101<br />

Glaubens, sondern die Kompetenz zur Deutungsarbeit des eigenen Erlebens und<br />

die Sprachfähigkeit bezüglich religiöser Herausforderungen. Auch die religiöse<br />

Bildung wird am wirkungsvollsten sein, wenn sie <strong>im</strong> praktischen Vollzug mit<br />

authentischen Personen <strong>im</strong> Rahmen einer diakonischen Kultur erfolgt. Dieses<br />

<strong>Miteinander</strong> durchgängig <strong>im</strong> Blick behaltend gehen wir der Frage nach, wie sich<br />

unterschiedliche Formen der expliziten diakonischen Bildung in die alltägliche<br />

diakonische Kultur einfügen.<br />

2. Konturen des Forschungsprojektes<br />

2.1 Der Rahmen<br />

Im Jahre 2013 startete die <strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland das Projekt »Wissen!Warum«<br />

− Bildungsinitiative für <strong>Diakonie</strong> und Gemeinde«. Das Zentrum für<br />

Forschung, Weiterbildung und Beratung (ZFWB) an der ehs übernahm die wissenschaftliche<br />

Begleitung. Entsprechend der Hauptetappen changierten die Aufgabenschwerpunkte<br />

des Forschungs-/Evaluationsteams zwischen wissenschaftlicher<br />

Begleitung und Evaluation. Beide Aspekte waren gleichranging: Wir<br />

partizipierten an allen Veranstaltungen als gleichberechtigte und teilweise mitverantwortliche<br />

Personen. Unabhängig von unserer je konkreten Aufgabe bewegten<br />

wir uns zumeist in der Rolle teilnehmender Beobachtender und erstellten<br />

von allen Veranstaltungen bzw. Treffen ausführliche ethnographische<br />

Beobachtungsprotokolle bzw. sammelten alle Arten relevanter Artefakte. Unsere<br />

Doppelrolle kündigten wir in allen Fällen an und gingen transparent damit um.<br />

Die Arbeit des Forschungsteams wurde vor diesem Hintergrund von Jahr zu Jahr<br />

vertraglich geregelt und von der Steuerungsgruppe koordiniert und geprüft.<br />

Das Projekt wurde strategisch und auch inhaltlich von einer Steuerungsgruppe<br />

getragen. Diese war am Diakonischen Amt in Halle angesiedelt und hielt<br />

anfänglich drei-, <strong>im</strong> späteren Verlauf in der Regel zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong> Jahr eine Sitzung<br />

ab. Die Besetzung der Steuerungsgruppe orientierte sich an der bereits existierenden<br />

Bildungslandschaft in der Landeskirche. Neben den Verantwortlichen<br />

der <strong>Diakonie</strong> gehörten auch Mitglieder der Landeskirche, der großen Bildungseinrichtungen<br />

<strong>im</strong> Raum der EKM und diakonischer Einrichtungen dieser Gruppe<br />

an. Das ehs-Forschungsteam agierte gleichfalls beratend und st<strong>im</strong>mberechtigt in<br />

diesem Gremium.<br />

Eingebunden war das Projekt in vielfältige, bereits bestehende Aktivitäten<br />

und Institutionen der diakonischen Bildung. So gab es z.T. regelmäßige Praktikertreffen;<br />

eines <strong>im</strong> südlichen und eines <strong>im</strong> nördlichen Teil der Landeskirche.<br />

Diese arbeiteten <strong>im</strong> Projektzeitraum selbstorganisiert und fungierten als Austauschforen<br />

der Regionen. Sie trugen weithin Werkstattcharakter und waren<br />

personell unmittelbar mit dem Kerngeschäft der diakonischen Bildung verbun-


102<br />

<strong>Michael</strong>a Gloger/Harald Wagner<br />

den. Das Forschungsteam und der Landesdiakoniepfarrer waren als Teilnehmende<br />

stets willkommen.<br />

Die Initiative »Wissen!Warum« <strong>im</strong> engeren Sinne, war als langfristiges Projekt<br />

angelegt und startete 2013/14 mit insgesamt sechs Fachtagen in eine Pilotphase.<br />

Zum einen sollten diese Initiativveranstaltungen dazu beitragen, das<br />

Projekt in der gesamten Landeskirche bekannt zu machen, zum anderen sollten<br />

sie für den Zusammenhang von diakonischem Profil und diakonischer Bildung<br />

sensibilisieren. In der Anfangsphase wurde die Vertiefung der Zusammenarbeit<br />

von Kirche und <strong>Diakonie</strong> als wichtiger Pfeiler des Projektes angesprochen und<br />

angegangen. Im Verlauf des Projektes rückte das Interesse an der Entwicklung<br />

der diakonischen Kultur als wesentliches Instrument für diakonische Profilentwicklung<br />

verstärkt in den Fokus.<br />

Ergänzt wurden die Aktivitäten der Bildungsinitiative durch übergreifende<br />

Veranstaltungen, die sowohl eine Vernetzung nach außen und innen, als auch<br />

eine Impulsgebung in relevante Bildungsbezüge intendierten. Hierzu gehörten:<br />

(a) Fachtag »Neugier auf die Zukunft ---- Bildung, Kultur, Evangelium« <strong>im</strong> September<br />

2016 in Halle. Im Hauptvortrag von Theologieprofessor John Burgess<br />

vom Pittsburgh Theological Seminary »Neugier auf die Zukunft --- Bildung, Kultur,<br />

Evangelium« 9<br />

wurde die theologische Fundierung diakonischer Bildung<br />

thematisiert und in einen globalen Zusammenhang gestellt. Das anschließende<br />

Worldcafé diente zur Einbindung der Hauptthesen des Vortrags von Prof. Burgess<br />

in die Praxis. Mit der Methode der Postersession konnte diese Konkretisierung<br />

weitergeführt werden. Unter dem Titel »Der Umgang mit der kulturellen<br />

Diversität in diakonischen Einrichtungen« stellten Praktikerinnen und Praktiker<br />

ihre Erfahrungen zur Diskussion. Rückblickend kann diese Tagung als wichtiger<br />

Schritt zur Verknüpfung von Identität und Profil betrachtet werden.<br />

(b) Formatives Evaluationstreffen und Plattformbildung für innovative Projekte<br />

in der Landeskirche auf Grundlage der bisherigen Evaluationsergebnisse (Jena,<br />

März 2017). Eingeladen waren (1) die Teilnehmenden der Evaluation der<br />

verschiedenen Weiterbildungsveranstaltungen <strong>im</strong> Rahmen des Diakonischen<br />

Profils, (2) die Geschäftsführenden diakonischer Einrichtungen und (3) Praktikerinnen<br />

und Praktiker diakonischer Bildung. Der formative Charakter der Evaluation<br />

zeigte sich darin, dass die bisherigen Ergebnisse vorgestellt, diskutiert und<br />

in spezifischen Gruppenübungen mit den Erfahrungen der eigenen Praxis konfrontiert<br />

wurden. Die erreichten Lernerfahrungen waren multilateral, d.h. alle<br />

Anwesenden --- allen voran das Forschungsteam --- konnten das Dargebotene und<br />

Diskutierte in die eigene Praxis zurückbinden und wiederum dem Plenum vorstellen.<br />

(c) Fachtagung Doing Culture III »Was kann diakonische Bildung eigentlich<br />

nicht?« Fachtagung der Führungsakademie Berlin mit einem Beitrag der <strong>Diakonie</strong><br />

Mitteldeutschland, März 2018 in Eisenach. Die Beiträge des Forschungs-<br />

9<br />

Burgess: Neugier auf die Zukunft.


Evaluation der Bildungsinitiative der <strong>Diakonie</strong> Mitteldeutschland 103<br />

teams bestanden zuerst in einer Erfahrungs- und Ergebnisvorstellung zum Thema<br />

»Wissen!Warum« − Auswirkungen der Bildungsinitiative der <strong>Diakonie</strong><br />

deutschland (<strong>Michael</strong>a Gloger) und einem Theoriebeitrag zum Thema Diasche<br />

Bildung als Koproduktion des Lernens ---- Kontext, Deutungen, Handlungs-<br />

Handlungswissen (Harald Wagner).<br />

(d) Workshop zu den Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Begleitung,<br />

März 2019 in Dresden. Im Fokus des Fachgesprächs stand die Frage, was haben<br />

<strong>Diakonie</strong>/Bildungsträger und was hat die Wissenschaft von wissenschaftlicher<br />

Begleitung? Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Projektteam »Diakonische<br />

Profilbildung der <strong>Diakonie</strong> Sachsen« statt. Das Format ermöglichte nicht<br />

nur die Ergebnisse beider Forschungsprojekte mit den anwesenden Personen zu<br />

diskutieren, sondern auch einen Austausch über Möglichkeiten und Grenzen<br />

wissenschaftlicher (Evaluations-)Forschung und Begleitung wie deren Nutzen<br />

für die beteiligten Einrichtungen anzuregen.<br />

(e) 1. Diakonischer Bildungskongress des Kaiserswerther Verbands. Unter dem<br />

Titel »Flughöhe gewinnen« waren Vertreterinnen und Vertreter diakonischer<br />

Unternehmen eingeladen, diakonische Bildung ›neu zu denken‹. Neben Fachvorträgen,<br />

acht verschiedenen Workshops und einer Bildungsmesse eröffnete der<br />

Kongress Führungskräften und Schlüsselpersonen Raum für Austausch, um<br />

über die veränderten Anforderungen diakonischer Bildung nachzudenken. Im<br />

Workshop »W1: Geht’s auch kürzer? Neue Formate für diakonische Bildung«<br />

stellten wir ausgewählte Ergebnisse der Evaluation diakonischer Bildungsangebote<br />

in Mitteldeutschland vor. Die Mitwirkung erfolgte in enger Zusammenarbeit<br />

mit der Studienleitung der Paul Gerhardt <strong>Diakonie</strong>-Akademie.<br />

2.2 Methodologische Orientierung und Theoriebezug -- Bildung und<br />

diakonische Kultur<br />

Den methodologischen Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation<br />

bilden drei D<strong>im</strong>ensionen: (1) Theoriebasiert versus theorieentwickelnd: Es wurde<br />

eine Balance zwischen beiden angestrebt, indem geeignete Theorien zur Designentwicklung<br />

herangezogen wurden. Komplementär dazu stand die<br />

Theorieentwicklung aus dem empirischen Material <strong>im</strong> Fokus der Evaluation. (2)<br />

Vorstrukturiert versus partizipativ: Die Grundhaltung war strikt partizipativ, sowohl<br />

in der Designentwicklung als auch in der Feldforschung. (3) Formativ versus<br />

summativ: Das Projekt war grundlegend formativ ausgerichtet, d.h. alle Evaluationsergebnisse<br />

wurden sogleich in den weiteren Gestaltungsprozess<br />

einbezogen. In der Folge der Phasen entstand eine stetig sich selbst evaluierende<br />

Spirale wissenschaftlicher Empfehlungen.<br />

Im Sinne einer theoretischen Rahmung skizzieren wir nachfolgend maßgebliche<br />

Ansätze der für die inhaltliche Perspektive des Forschungsprojektes relevanten<br />

Theorien:<br />

Feldtheorie


104<br />

<strong>Michael</strong>a Gloger/Harald Wagner<br />

Der Fokus der ersten Phase lag auf der Erkundung der Situation diakonischer<br />

Bildung in <strong>Diakonie</strong> und Landeskirche. Es galt die einflussreichsten institutionellen<br />

Akteure zu identifizieren, deren Praxis zu erkunden und das Zusammenspiel<br />

untereinander abzuwägen. Den Herausforderungen dieser sehr disparaten<br />

Forschungsaufgabe begegneten wir mit Pierre Bourdieus Feldtheorie. Bourdieu<br />

entwickelte schon <strong>im</strong> Jahre 1976 in einem Vortrag Ȇber einige Eigenschaften<br />

von Feldern« die Grundlagen seiner Theorie. 10<br />

Dort heißt es: »Der synchronischen<br />

Wahrnehmung nach stellen sich Felder als Räume dar, die ihre Struktur<br />

durch Positionen (oder Stellen) bekommen, deren Eigenschaften wiederum von<br />

ihren Positionen in diesen Räumen abhängen und unabhängig von den (partiell<br />

durch sie bedingten) Merkmalen ihrer Inhaber untersucht werden können.« 11<br />

Bourdieu ging es darum, allgemeine Gesetzmäßigkeiten von unterschiedlichen<br />

sozialen Feldern zu ermitteln. Als Kernelemente kristallisierten sich dabei die<br />

Fragen nach Einfluss, Dominanz und Erhalt des jeweiligen Feldes heraus. Demnach<br />

gibt die Struktur des Feldes »den Stand der Machtverhältnisse zwischen<br />

den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder bzw. […] den<br />

Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das <strong>im</strong> Verlauf früherer Kämpfe<br />

akkumuliert wurde und deren Verlauf spätere Kämpfe best<strong>im</strong>mt.« 12 Dies klingt<br />

zwar etwas schroff, wird aber der Begriff »Kampf« durch Äquivalente wie »Konflikt«<br />

und »Ringen um Strukturen und Ressourcen« ersetzt, spiegelt sich in diesem<br />

Modell durchaus auch die Kommunikation in der Bildungsinitiative wider.<br />

Diese allgemeinen Mechanismen von Feldern schärften auch unser Forschungsvorgehen<br />

(Design, Datensammlung, Interpretation).<br />

Bildungstheorien<br />

In der zweiten Forschungsphase lag der Fokus der Evaluation auf der Bildungspraxis<br />

in diversen Kursen. In der Beobachtung von Bildungsprozessen wurde<br />

diese als selbstbest<strong>im</strong>mter und selbstorganisierter Prozess gedeutet. Systemtheoretisch<br />

sprechen wir von autopoietischen Prozessen, d.h. das handelnde<br />

System kann <strong>im</strong>mer nur auf den je eigenen kommunikativen Voraussetzungen<br />

aufbauen. Allerdings sind diese Systeme zugleich umweltoffen und lassen sich<br />

von der relevanten Umwelt anregen. Das Bewusstsein eines sozialen Systems<br />

lässt sich in besonderer Weise von Kommunikation anregen. Bezogen auf das<br />

Lernen kann dann genauer formuliert werden: Das Bewusstsein lernt, wenn in<br />

seiner Umgebung lernend kommuniziert wird, d.h. wenn die anderen Systeme<br />

mit ihm zusammen lernen. Wir sprechen hier von der Koproduktion des Lernens,<br />

das bedeutet, dass die an der Kommunikation Beteiligten es als lohnend<br />

ansehen, sich aus der Komplexität der gemeinsamen Kommunikation das für sie<br />

Relevante zum Aufbau ihrer eigenen Komplexität anzueignen.<br />

10<br />

Bourdieu, Soziologische Fragen, 107ff.<br />

11<br />

Ebd.<br />

12<br />

Ebd.


Eine Veröffentlichung der Forschungsstelle<br />

Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind <strong>im</strong> Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2021 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zust<strong>im</strong>mung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: <strong>Tobias</strong> <strong>Foß</strong>, Halle (Saale)<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN Print 978-3-374-06927-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-06976-7<br />

www.eva-leipzig.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!