12.08.2022 Views

FOCUS Magazin 33:2022 Vorschau Yumpu

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

AUSGABE <strong>33</strong> 13. August <strong>2022</strong> € 4,90<br />

EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />

MARKUS<br />

SÖDER IM<br />

GESPRÄCH<br />

Was der bayerische<br />

Grantler über<br />

die Ampel denkt<br />

SUPERDROGE<br />

KAFFEE<br />

Über die<br />

heilsame Wirkung<br />

der Bohne<br />

Ronan Farrow<br />

Der größte Lauschangriff<br />

der Geschichte<br />

Thilo Mischke<br />

Unterwegs zwischen<br />

Kabul und Kandahar<br />

Ferran Adrià<br />

Der Sternekoch und die<br />

Zukunft des Essens


Alle <strong>FOCUS</strong>-Titel to go.<br />

focus-shop.de<br />

JETZT<br />

E-PAPER LESEN:


EDITORIAL<br />

Stark muss er sein.<br />

Und heiß.<br />

Von Markus Krischer, stv. Chefredakteur<br />

Foto: Markus C. Hurek für <strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong><br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

er nimmt seine Satteltaschen<br />

vom Haken und<br />

wendet sich ihr zu. Er sagt:<br />

„Tja, ich muss gehen.“ Er<br />

öffnet die Tür, blickt nach<br />

draußen. Licht fällt auf sein<br />

hartes Profil. Er sagt: „Das<br />

wird einmal ’ne schöne<br />

Stadt, Sweetwater.“ Und<br />

dann sagt Claudia Cardinale:<br />

„Sweetwater wartet<br />

auf dich.“ Charles Bronson<br />

blickt sie an. Ein Lächeln<br />

ist zu ahnen. Ist wieder verschwunden. Er<br />

dreht den Kopf zurück zur Tür und sagt:<br />

„Irgendeiner wartet immer.“ Dann geht er.<br />

Ein Moment für die Ewigkeit. Erinnern Sie<br />

sich an diese großartige Szene in „Spiel<br />

mir das Lied vom Tod“? Gut. Aber diese<br />

Szene meine ich nicht. Mir geht es um<br />

eine Szene davor.<br />

Noch vor Bronson betritt Jason Robards<br />

den Raum. Er verkörpert Cheyenne –<br />

einen Gangster, der in Wahrheit ein Guter<br />

ist. Also, Cheyenne fragt Claudia Cardinale<br />

in rauem Ton, ob sein Kaffee fertig<br />

sei. Sie lacht und sagt, das Wasser würde<br />

schon kochen. Dann reicht sie ihm eine<br />

Blechtasse. Er trinkt einen Schluck, hält<br />

inne und sagt: „Gut.“ Und dann sagt er:<br />

„Meine Mutter hat auch einen guten Kaffee<br />

gekocht. Das kann nicht jeder. Stark<br />

muss er sein. Und heiß.“<br />

Okay, diese Szene ist vielleicht nicht<br />

ganz so erhaben und erbarmungslos.<br />

Auch muss sie ohne die heroischen Klänge<br />

von Ennio Morricone auskommen.<br />

Unvergessen ist sie dennoch. Sie erklärt<br />

ein für alle Mal, was Kaffee ausmacht.<br />

Er sollte stark und heiß sein. Er ist das<br />

ideale Getränk für jeden Gangster, der<br />

in Wahrheit ein Guter ist. Und besonders<br />

gut schmeckt Kaffee, wenn ihn Claudia<br />

Cardinale in eine Blechtasse gießt.<br />

Was sie für mich nie getan hat. Aber<br />

ich habe Cheyenne diese Gunst<br />

eigentlich nie (oder zumindest nur<br />

sehr selten) geneidet. Er hatte sich<br />

den Kaffee aus der Kanne der Car-<br />

Guten Kaffee kochen kann nicht jeder Claudia Cardinale aber schon. Im Film<br />

„Spiel mir das Lied vom Tod“ ist Cheyenne (Jason Robards) jedenfalls begeistert<br />

dinale wirklich verdient. Schon allein deswegen,<br />

weil er zu diesem Zeitpunkt, was<br />

sich für den Zuschauer freilich erst später<br />

erschließt, bereits tödlich verwundet<br />

ist. Dass Cheyenne so lange durchhalten<br />

und gegenüber der Cardinale den nur<br />

etwas erschöpften Cowboy mimen konnte<br />

(„Wir werden alle mal müde“), erschien<br />

mir immer als der ultimative Beweis<br />

für die Wunderwirkung des schwarzen<br />

Gebräus. Selbst jene, die dem Untergang<br />

geweiht sind, halten mit Kaffee länger<br />

durch. Die Weisheit von Italowestern wird<br />

jetzt durch die Wissenschaft bestätigt: Wer<br />

Kaffee trinkt, führt seinem Körper nicht<br />

Hauptstadtbrief<br />

Wichtig für <strong>FOCUS</strong>-Abonnenten<br />

Der „Hauptstadtbrief“, unser Bonus für Abonnenten,<br />

geht im August in die Sommerpause.<br />

Erhalten Sie 26 Ausgaben des <strong>FOCUS</strong><br />

für 127,40 Euro und zusätzlich einen 80-Euro-<br />

Verrechnungsscheck als Dankeschön.<br />

Bestellen Sie einfach auf<br />

www.focus-abo.de/editorial<br />

das Angebot und Sie erhalten den <strong>FOCUS</strong> innerhalb<br />

von zwei Wochen pünktlich und portofrei nach Hause<br />

geliefert. Wenn Sie den <strong>FOCUS</strong> nach den 26 Ausgaben<br />

wieder im Handel kaufen möchten, genügt<br />

ein Anruf und das Abo ist beendet.<br />

* Inkl. MwSt. und Versand. Sie haben ein gesetzliches<br />

Widerrufsrecht.<br />

nur ein Genuss-, sondern<br />

auch ein Gesundmittel zu.<br />

Die Bohne stärkt das Herz,<br />

beugt Alzheimer, Diabetes<br />

und Darmkrebs vor. Wenn<br />

Sie unsere Titelgeschichte<br />

über den Wandel des Kultgetränks<br />

zur Superdroge<br />

gelesen haben, werden<br />

Sie schon beim nächsten<br />

Schluck Cappuccino oder<br />

Espresso ein neues Wohlgefühl<br />

verspüren. Kaffee,<br />

so formuliert es der Ernährungswissenschaftler<br />

Jürgen<br />

Vormann im Gespräch<br />

mit <strong>FOCUS</strong>, sei dermaßen gesund, dass es<br />

einen Risikofaktor darstelle, ihn nicht zu<br />

trinken. „Wer Kaffee trinkt, lebt länger.“<br />

Und bleibt klar im Kopf.<br />

Vielleicht hat also Patricia Schlesinger<br />

einfach nur zu wenig oder zu schwachen<br />

Kaffee getrunken. Die grauen Zellen der<br />

RBB-Rafferin schalteten womöglich nur<br />

deshalb in den selbstzerstörerischen Gier-<br />

Modus, weil sie notorisch koffeinunterversorgt<br />

waren.<br />

Das wäre ein Fehler, den der Kanzler<br />

sich gerade jetzt nicht leisten kann. Als<br />

Zeuge im Untersuchungsausschuss, der<br />

den Hamburger Cum-Ex-Skandal aufklären<br />

soll, muss Olaf Scholz seine ganze<br />

rhetorische Klasse beweisen: ehrlich wirken<br />

und nichts Wichtiges sagen.<br />

Kann es sein, dass Donald Trump zu<br />

starken Kaffee trinkt? Je härter die Vorwürfe,<br />

je zahlreicher die Ermittlungen,<br />

desto wohler scheint er sich zu fühlen.<br />

Womit, so glaube ich, die wichtigsten<br />

Fragen angesprochen wären. Eine aber<br />

hätte ich noch: Warum bleibt Charles<br />

Bronson nicht bei Claudia Cardinale? Ihr<br />

Kaffee, so glaube ich, würde ihm schon<br />

schmecken. Vielleicht aber hofft er, da<br />

draußen einen noch besseren zu finden.<br />

Irgendein Kaffee wartet immer.<br />

Herzlich Ihr<br />

Mit dem QR-Code können Sie auf die Abo-Seite gelangen<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong> 3


Aus Gewehren<br />

Thilo Mischke<br />

lächelt verunsichert<br />

im Gespräch<br />

mit zwei Talibankämpfern<br />

Seite 44<br />

Mit Worten<br />

Von Team Vorsicht<br />

zu Team Angriff:<br />

Markus Söder<br />

erzählt, was er von<br />

der Ampel hält<br />

Seite 28<br />

Im Internet<br />

Grünen-Chefin Ricarda<br />

Lang lässt sich von Hass<br />

nicht einschüchtern<br />

Seite 40<br />

Auf Tellern<br />

Starkoch Ferran Adrià<br />

kämpft für ein gerechteres<br />

Essen der Zukunft<br />

Seite 96<br />

In Palästen<br />

Künstler Anish<br />

Kapoor stellt<br />

im Palazzo<br />

Manfrin in<br />

Venedig aus<br />

Seite 80<br />

Über WhatsApp Wie Regierungen die eigenen Bürger ausspähen Seite 22<br />

4 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>


Titelthema<br />

INHALT NR. <strong>33</strong> | 13. AUGUST <strong>2022</strong><br />

60 Im Weitwinkel<br />

Futurist Peter Schwartz sah schon 1997<br />

Smartphones voraus. Wie gelingt ihm das?<br />

64 Geldmarkt<br />

Dieser Text<br />

zeigt evtl. Probleme<br />

beim<br />

Victoria Lergenmüller,<br />

Text an<br />

vr.de/mitglied<br />

Weinhaus Lergenmüller GmbH,<br />

Mitglied seit 2020<br />

Wissen<br />

77 Yoga macht den Kopf frei<br />

Wie spezielle Atemtechniken dabei<br />

helfen, unser Gehirn fit zu halten<br />

66 Superdroge Kaffee<br />

Boom der Bohne: Nichts trinken die Deutschen<br />

lieber, egal ob schwarz, mit Milch<br />

oder Zucker. Und nun ist Kaffee auch noch<br />

gesund, wie Studien belegen<br />

74 „Wer Kaffee trinkt, lebt länger“<br />

Ein Ernährungswissenschaftler erklärt,<br />

warum das Getränk so guttut<br />

Kultur<br />

80 Auf allen Kanälen<br />

Venedig lockt abseits der Biennale zu<br />

Ausstellungen der Kunststars Anselm<br />

Kiefer, Anish Kapoor und Georg Baselitz<br />

86 Über den Köpfen<br />

In seinem fantastischen Horrorfilm „Nope“<br />

macht sich Regisseur Jordan Peele mit<br />

Ufos über die Celebritykultur lustig<br />

Titel: mauritius images<br />

Fotos: Thilo Mischke, Robert Fischer/beide für <strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong>, Andreas Pein/<br />

laif, imago images, David Levene, Timo Lenzen/Condé Nast<br />

Agenda<br />

22 Der große Lauschangriff<br />

Pegasus heißt die gefährlichste Spyware<br />

der Welt. Sogar Demokratien setzen sie<br />

gegen ihre Bürger ein. Eine Spurensuche<br />

Politik<br />

28 Wie grün sind Sie noch, Herr Söder?<br />

Er macht wieder mobil: Bayerns Ministerpräsident<br />

über die Ampel, das Gendern und<br />

sein Verhältnis zu Armin Laschet<br />

34 Der neue Kanzler, der alte Skandal<br />

Neue Details in der Cum-Ex-Affäre<br />

könnten Scholz gefährlich werden.<br />

36 Politischer Datenstrudel<br />

Strack-Zimmermann als Easy Rider, Harris<br />

auf Mission und Lindner im Fadenkreuz<br />

40 Im Stresstest<br />

Ricarda Lang schlägt sich mit Kernkraft<br />

und Hass herum. Wie tickt die Frau, die die<br />

Grünen durch die Zeitenwende führt?<br />

44 Am Ende der Welt<br />

Afghanistan ein Jahr nach der Machtübernahme<br />

der Taliban: <strong>FOCUS</strong>-Reporter Thilo<br />

Mischke bereiste ein verzweifeltes Land<br />

Wirtschaft<br />

50 Die Wendegewinner<br />

Zu Besuch in drei Ortschaften, die sich<br />

schon selbst mit grüner Energie versorgen<br />

56 Weniger Bonus für die Umwelt<br />

Die Ampel schränkt bald die E-Auto-Förderung<br />

ein. Was das für Verbraucher bedeutet<br />

88 Hinter der Maske<br />

Ein Mord als Befreiungsakt und Neues von<br />

Pandasänger Cro: unsere Tipps der Woche<br />

Leben<br />

96 Ferran Adriàs Vision<br />

Er gilt als der beste Koch der Welt. Hier<br />

schreibt Adrià über die Zukunft des Essens<br />

100 Ein Hauch von Herbst<br />

Wohlfühlfarben, Bürolooks und Casual<br />

Chic: die Modetrends für sie & ihn<br />

102 Britisches Picknick am Strand<br />

Yotam Ottolenghis Fisch-Sandwich<br />

104 Aus heiterem Himmel<br />

Zeitzeugen erinnern sich an die<br />

Olympischen Spiele 1972 in München<br />

106 Die Auswanderer<br />

Thilo Mischke über die Weltenbummlerin<br />

Janina, die der Liebe wegen in die USA zog<br />

108 20 Jahre Volks-SUV<br />

Mit dem Touareg „Edition 20“ feiert VW das<br />

Jubiläum seines einzigen Oberklassewagens<br />

Rubriken<br />

3 Editorial<br />

6 Kolumne von<br />

Jan Fleischhauer<br />

9 Nachrichten<br />

10 Fotos der Woche<br />

16 Grafik der Woche<br />

Indien<br />

18 Menschen<br />

76 Wir müssen reden<br />

85 Bestseller<br />

85 Impressum<br />

89 Mein Salon<br />

110 Die Einflussreichen<br />

112 Leserbriefe<br />

113 Nachrufe<br />

113 Servicenummern<br />

114 Tagebuch<br />

Jetzt<br />

Mitglied<br />

werden<br />

„Meine Bank<br />

gehört mir,<br />

weil mir Werte<br />

nicht nur in Euro<br />

wichtig sind.“<br />

Wir sind Genossenschaftsbanken.<br />

Die Banken, die ihren Mitgliedern<br />

gehören.<br />

Rubriken<br />

Jetzt<br />

3 Editorial<br />

QR-Code<br />

6 Kolumne von Jan<br />

scannen<br />

Fleischhauer<br />

und mehr<br />

9 Nachrichten<br />

erfahren<br />

8 Fotos der Woche<br />

16 Grafik der Woche<br />

18 Menschen<br />

48 Leserbriefe<br />

90 Salon<br />

95 Buch & Welt<br />

96 Kultur-Macher<br />

102 Bestseller<br />

124 Die Einflussreichen<br />

128 Nachrufe/ Namen<br />

129 Impressum<br />

130 Tagebuch<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong> 5


POLITIK<br />

BLINDBLIND<br />

Wie grün sind Sie eigentlich<br />

noch, Herr Söder?<br />

Bayerns Ministerpräsident macht wieder mobil: gegen die Ampelregierung,<br />

gegen das Gendern und für neue Rettungs- und Entlastungspakete.<br />

Im großen Interview spricht Markus Söder aber auch über die Union der<br />

Zukunft und sein Verhältnis zum alten CDU-Rivalen Armin Laschet<br />

INTERVIEW VON MARC ETZOLD UND THOMAS TUMA<br />

FOTOS VON ROBERT FISCHER<br />

Fotos: xxxxxx/<strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong> Bxxxxx xxxxx<br />

28 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>


BLINDBLIND CSU<br />

Wächst’s? Im Ministerratssaal<br />

der Staatskanzlei<br />

trifft sich das bayerische<br />

Landeskabinett<br />

wöchentlich. Die Wände<br />

hat Söder mit echten<br />

Pflanzen begrünen lassen<br />

Fotos: xxxxxx/<strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong> Bxxxxx xxxxx<br />

29


WISSEN<br />

80<br />

1000<br />

Inhaltsstoffe<br />

in etwa enthält das Gebräu. Der bekannteste<br />

und wirksamste ist das Alkaloid Koffein,<br />

ein legales Aufputschmittel. Es blockiert ein<br />

Molekül, das müde macht, das Adenosin<br />

Prozent<br />

geringer ist bei starken<br />

Kaffeetrinkern das Risiko,<br />

an einer alkoholbedingten<br />

Leberzirrhose zu<br />

erkranken. Auch vor der<br />

Ausbildung einer Fettleber<br />

schützt das Getränk<br />

Lebenselixier<br />

Vor allem schwarz<br />

genossen entfaltet<br />

Kaffee seine gesundheitsfördernde<br />

Wirkung – wie hier<br />

in einem Café im<br />

finnischen Oulu<br />

66 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>


TITEL<br />

124<br />

verschiedene Arten<br />

von Kaffeepflanzen sind derzeit<br />

bekannt, doch angebaut werden meist<br />

nur die Arten Arabica und Robusta.<br />

Schale und Fruchtfleisch<br />

der Kaffeekirschen umgeben<br />

zwei Samen – die Bohnen<br />

Fotos: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus, Eduardo Gorghetto/Unsplash<br />

Superdroge<br />

Kaffee<br />

Kaffee ist Kult. Und jetzt auch noch Superfood.<br />

Wissenschaftler sagen, dass Kaffee das<br />

Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz,<br />

Darmkrebs und Diabetes senkt und<br />

unser Leben verlängert. Gut, dass die<br />

Deutschen nichts lieber trinken<br />

TEXT VON MICHAEL KNEISSLER<br />

67


KULTUR<br />

Teilzeit-Venezianer<br />

Anish Kapoor, 68, lebt<br />

in London, hat aber<br />

den Lockdown mit<br />

Frau und dreijähriger<br />

Tochter teils in<br />

Venedig verbracht<br />

GGedränge entlang der Kanäle, Schlangen<br />

vor dem Dogenpalast, voll besetzte Tische<br />

in den Cafés. Venedig im August, ist das<br />

wirklich eine gute Idee? Absolut! Die<br />

Lagunenstadt überbietet sich in diesem<br />

Jahr mit Kunstattraktionen. Also schnell<br />

noch mal hin, bevor im nächsten Jahr die<br />

Tourismussteuer anfällt.<br />

Neben der viel gelobten 59. Biennale in<br />

der alten Schiffswerft, dem Arsenale, und<br />

in den Giardini, wo Frauen den Männern<br />

die Schau stehlen, locken derzeit<br />

große Namen der Kunstwelt in historische<br />

Paläste und Museen. Georg Baselitz,<br />

Anish Kapoor und Anselm Kiefer<br />

trumpfen mit grandiosen Ausstellungen<br />

an Orten auf, die man in Venedig ohnehin<br />

einmal gesehen haben sollte. Sie verbinden<br />

die alte mit neuer Kunst.<br />

Im versteckt liegenden Palazzo Grimani<br />

zeigt der 84-jährige Deutsche Georg Baselitz<br />

frische, leuchtende Malerei. Im Palazzo<br />

Manfrin und in der Accademia, Venedigs<br />

wichtigstem Museum für Malerei, überwältigt<br />

der 68-jährige indisch-britische<br />

Künstler Anish Kapoor mit blutroten Installationen<br />

und optischen Tricks.<br />

Als Höhepunkt aber hat Anselm Kiefer<br />

im Dogenpalast ein Welttheater inszeniert.<br />

Seine mit Blei, Blattgold und allerlei<br />

Requisiten veredelten Riesenwerke hängen<br />

im berühmten Sala dello Scrutinio,<br />

wo einst der Doge gewählt wurde, bis<br />

unter die goldene Kassettendecke. Der<br />

77-jährige Deutsche, der seit 30 Jahren<br />

in Frankreich lebt, hat dafür eigens ein<br />

rund zehn Meter hohes Gerüst errichten<br />

lassen. Dahinter verbergen sich historische<br />

Schlachtengemälde venezianischer<br />

Maler, etwa von Jacopo Tintoretto und<br />

Andrea Vicentino. Die Geschichte der<br />

alten Seerepublik Venedig erscheint in<br />

Kiefers gemalten und aus Blei gegossenen<br />

XXL-Bildern völlig neu.<br />

Markusplatz und Dogenpalast zu besuchen<br />

gehört zu jedem Venedig-Trip.<br />

Beginnen sollte man seine Reise aber in<br />

einem Viertel, das weniger von Touristen<br />

überlaufen ist. Vielleicht in Cannaregio,<br />

ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt<br />

im alten Ghetto. Von hier haben die jüdischen<br />

Viertel in aller Welt ihren Namen.<br />

Vor 500 Jahren mussten die Juden Venedigs<br />

auf diese winzige Insel ziehen. Heute<br />

ist das Ghetto fast eine Oase der Ruhe,<br />

weil es ein wenig abseits der großen Touristenattraktionen<br />

liegt.<br />

Atelier in London, Palazzo in Venedig<br />

„Ich liebe<br />

die Stadt Venedig,<br />

ihre mütterliche,<br />

dunkle Seite und<br />

ihre Gewässer“<br />

Anish Kapoor<br />

Hier hat sich der Londoner Künstler Anish<br />

Kapoor in die Stadt an der Lagune verliebt.<br />

1990 vertrat er Großbritannien auf<br />

der Kunstbiennale, seitdem kommt er<br />

immer wieder. „Ich liebe Venedig, ich liebe<br />

die Stadt für ihre mütterliche, dunkle<br />

Seite, für ihre Gewässer“, sagt er. „Ich<br />

war auch während des Lockdowns eine<br />

Weile hier.“ Kapoor wohnt dann in San<br />

Polo und weiß, wo Einheimische einkaufen<br />

gehen. Etwa am Obst- und Gemüsekahn,<br />

der seit Jahren in Dorsoduro vor<br />

Anker liegt. Kapoor holt sich dort gern<br />

„Castraure“, die violetten Artischocken<br />

von der Insel Sant’Erasmo, dem grünen<br />

Garten Venedigs.<br />

In London hat Kapoor sein Atelier, in<br />

Venedig jetzt einen Palast. Für seine Stiftung<br />

erwarb der Brite vor zwei Jahren den<br />

Palazzo Manfrin, der Prachtbau aus dem<br />

18. Jahrhundert wird gerade restauriert.<br />

Bis 2024 soll er fertig sein. Dazwischen<br />

zeigt der Künstler darin einige seiner<br />

Werke, als Ergänzung zu seiner großen<br />

Ausstellung in der Accademia.<br />

Dass der in Mumbai geborene und<br />

inzwischen zum Ritter geschlagene Brite<br />

ausgerechnet im Ghetto von Venedig<br />

ein Domizil für seine Kunststiftung fand,<br />

hat vielleicht mit seiner Herkunft zu tun.<br />

Kapoors Vater war Hindu, seine Mutter<br />

Jüdin aus dem Irak. Er wuchs zwischen<br />

zwei Kulturen auf, besuchte in Nordindien<br />

eine Eliteschule, arbeitete als Teenager<br />

in einem Kibbuz in Israel und studierte<br />

in London Kunst. Er war 18 Jahre<br />

lang mit einer deutschen Kunsthistorikerin<br />

verheiratet, das Paar hat zwei Kinder,<br />

trennte sich aber 2013. Mit seiner zweiten<br />

Frau hat er eine dreijährige Tochter. Bei<br />

ihrer Geburt war er dabei.<br />

Rote Vaginas, schwarze Löcher<br />

Einige von Kapoors blutroten Installationen<br />

erinnern an menschliches Blut, an<br />

Menstruation und Geburt. Der weibliche<br />

Körper war schon öfter sein Thema. Er<br />

fertigte rote Vagina-Schlünde, schwarze<br />

Löcher und Spiegel, in denen man zu<br />

verschwinden scheint. Mit seiner Kunst<br />

erzeugt Kapoor einen schwindelerregenden<br />

Sog. Seine begehbaren Rieseninstallationen<br />

stehen überall auf der Welt.<br />

Aufsehen erregte er mit seinen schwarzen<br />

Objekten aus Vantablack, einer<br />

Farbe, deren Nutzungsrechte er exklusiv<br />

besitzt. Das Material aus der Nanotechnologie,<br />

das oft mit einem Pigment<br />

verwechselt wird, absorbiert Licht zu<br />

99,96 Prozent. Es ist so saugfähig, dass<br />

der Gegenstand, auf den es aufgetragen<br />

wird, praktisch verschwindet. Das erfuhr<br />

Fo t o s : George Darrell/Anish Kapoor/VG Bild-Kunst, Bonn <strong>2022</strong>, David Levene/Anish Kapoor/VG Bild-Kunst, Bonn <strong>2022</strong><br />

82 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!