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AUSGABE <strong>33</strong> 13. August <strong>2022</strong> € 4,90<br />
EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />
MARKUS<br />
SÖDER IM<br />
GESPRÄCH<br />
Was der bayerische<br />
Grantler über<br />
die Ampel denkt<br />
SUPERDROGE<br />
KAFFEE<br />
Über die<br />
heilsame Wirkung<br />
der Bohne<br />
Ronan Farrow<br />
Der größte Lauschangriff<br />
der Geschichte<br />
Thilo Mischke<br />
Unterwegs zwischen<br />
Kabul und Kandahar<br />
Ferran Adrià<br />
Der Sternekoch und die<br />
Zukunft des Essens
Alle <strong>FOCUS</strong>-Titel to go.<br />
focus-shop.de<br />
JETZT<br />
E-PAPER LESEN:
EDITORIAL<br />
Stark muss er sein.<br />
Und heiß.<br />
Von Markus Krischer, stv. Chefredakteur<br />
Foto: Markus C. Hurek für <strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong><br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
er nimmt seine Satteltaschen<br />
vom Haken und<br />
wendet sich ihr zu. Er sagt:<br />
„Tja, ich muss gehen.“ Er<br />
öffnet die Tür, blickt nach<br />
draußen. Licht fällt auf sein<br />
hartes Profil. Er sagt: „Das<br />
wird einmal ’ne schöne<br />
Stadt, Sweetwater.“ Und<br />
dann sagt Claudia Cardinale:<br />
„Sweetwater wartet<br />
auf dich.“ Charles Bronson<br />
blickt sie an. Ein Lächeln<br />
ist zu ahnen. Ist wieder verschwunden. Er<br />
dreht den Kopf zurück zur Tür und sagt:<br />
„Irgendeiner wartet immer.“ Dann geht er.<br />
Ein Moment für die Ewigkeit. Erinnern Sie<br />
sich an diese großartige Szene in „Spiel<br />
mir das Lied vom Tod“? Gut. Aber diese<br />
Szene meine ich nicht. Mir geht es um<br />
eine Szene davor.<br />
Noch vor Bronson betritt Jason Robards<br />
den Raum. Er verkörpert Cheyenne –<br />
einen Gangster, der in Wahrheit ein Guter<br />
ist. Also, Cheyenne fragt Claudia Cardinale<br />
in rauem Ton, ob sein Kaffee fertig<br />
sei. Sie lacht und sagt, das Wasser würde<br />
schon kochen. Dann reicht sie ihm eine<br />
Blechtasse. Er trinkt einen Schluck, hält<br />
inne und sagt: „Gut.“ Und dann sagt er:<br />
„Meine Mutter hat auch einen guten Kaffee<br />
gekocht. Das kann nicht jeder. Stark<br />
muss er sein. Und heiß.“<br />
Okay, diese Szene ist vielleicht nicht<br />
ganz so erhaben und erbarmungslos.<br />
Auch muss sie ohne die heroischen Klänge<br />
von Ennio Morricone auskommen.<br />
Unvergessen ist sie dennoch. Sie erklärt<br />
ein für alle Mal, was Kaffee ausmacht.<br />
Er sollte stark und heiß sein. Er ist das<br />
ideale Getränk für jeden Gangster, der<br />
in Wahrheit ein Guter ist. Und besonders<br />
gut schmeckt Kaffee, wenn ihn Claudia<br />
Cardinale in eine Blechtasse gießt.<br />
Was sie für mich nie getan hat. Aber<br />
ich habe Cheyenne diese Gunst<br />
eigentlich nie (oder zumindest nur<br />
sehr selten) geneidet. Er hatte sich<br />
den Kaffee aus der Kanne der Car-<br />
Guten Kaffee kochen kann nicht jeder Claudia Cardinale aber schon. Im Film<br />
„Spiel mir das Lied vom Tod“ ist Cheyenne (Jason Robards) jedenfalls begeistert<br />
dinale wirklich verdient. Schon allein deswegen,<br />
weil er zu diesem Zeitpunkt, was<br />
sich für den Zuschauer freilich erst später<br />
erschließt, bereits tödlich verwundet<br />
ist. Dass Cheyenne so lange durchhalten<br />
und gegenüber der Cardinale den nur<br />
etwas erschöpften Cowboy mimen konnte<br />
(„Wir werden alle mal müde“), erschien<br />
mir immer als der ultimative Beweis<br />
für die Wunderwirkung des schwarzen<br />
Gebräus. Selbst jene, die dem Untergang<br />
geweiht sind, halten mit Kaffee länger<br />
durch. Die Weisheit von Italowestern wird<br />
jetzt durch die Wissenschaft bestätigt: Wer<br />
Kaffee trinkt, führt seinem Körper nicht<br />
Hauptstadtbrief<br />
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Der „Hauptstadtbrief“, unser Bonus für Abonnenten,<br />
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Widerrufsrecht.<br />
nur ein Genuss-, sondern<br />
auch ein Gesundmittel zu.<br />
Die Bohne stärkt das Herz,<br />
beugt Alzheimer, Diabetes<br />
und Darmkrebs vor. Wenn<br />
Sie unsere Titelgeschichte<br />
über den Wandel des Kultgetränks<br />
zur Superdroge<br />
gelesen haben, werden<br />
Sie schon beim nächsten<br />
Schluck Cappuccino oder<br />
Espresso ein neues Wohlgefühl<br />
verspüren. Kaffee,<br />
so formuliert es der Ernährungswissenschaftler<br />
Jürgen<br />
Vormann im Gespräch<br />
mit <strong>FOCUS</strong>, sei dermaßen gesund, dass es<br />
einen Risikofaktor darstelle, ihn nicht zu<br />
trinken. „Wer Kaffee trinkt, lebt länger.“<br />
Und bleibt klar im Kopf.<br />
Vielleicht hat also Patricia Schlesinger<br />
einfach nur zu wenig oder zu schwachen<br />
Kaffee getrunken. Die grauen Zellen der<br />
RBB-Rafferin schalteten womöglich nur<br />
deshalb in den selbstzerstörerischen Gier-<br />
Modus, weil sie notorisch koffeinunterversorgt<br />
waren.<br />
Das wäre ein Fehler, den der Kanzler<br />
sich gerade jetzt nicht leisten kann. Als<br />
Zeuge im Untersuchungsausschuss, der<br />
den Hamburger Cum-Ex-Skandal aufklären<br />
soll, muss Olaf Scholz seine ganze<br />
rhetorische Klasse beweisen: ehrlich wirken<br />
und nichts Wichtiges sagen.<br />
Kann es sein, dass Donald Trump zu<br />
starken Kaffee trinkt? Je härter die Vorwürfe,<br />
je zahlreicher die Ermittlungen,<br />
desto wohler scheint er sich zu fühlen.<br />
Womit, so glaube ich, die wichtigsten<br />
Fragen angesprochen wären. Eine aber<br />
hätte ich noch: Warum bleibt Charles<br />
Bronson nicht bei Claudia Cardinale? Ihr<br />
Kaffee, so glaube ich, würde ihm schon<br />
schmecken. Vielleicht aber hofft er, da<br />
draußen einen noch besseren zu finden.<br />
Irgendein Kaffee wartet immer.<br />
Herzlich Ihr<br />
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<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong> 3
Aus Gewehren<br />
Thilo Mischke<br />
lächelt verunsichert<br />
im Gespräch<br />
mit zwei Talibankämpfern<br />
Seite 44<br />
Mit Worten<br />
Von Team Vorsicht<br />
zu Team Angriff:<br />
Markus Söder<br />
erzählt, was er von<br />
der Ampel hält<br />
Seite 28<br />
Im Internet<br />
Grünen-Chefin Ricarda<br />
Lang lässt sich von Hass<br />
nicht einschüchtern<br />
Seite 40<br />
Auf Tellern<br />
Starkoch Ferran Adrià<br />
kämpft für ein gerechteres<br />
Essen der Zukunft<br />
Seite 96<br />
In Palästen<br />
Künstler Anish<br />
Kapoor stellt<br />
im Palazzo<br />
Manfrin in<br />
Venedig aus<br />
Seite 80<br />
Über WhatsApp Wie Regierungen die eigenen Bürger ausspähen Seite 22<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>
Titelthema<br />
INHALT NR. <strong>33</strong> | 13. AUGUST <strong>2022</strong><br />
60 Im Weitwinkel<br />
Futurist Peter Schwartz sah schon 1997<br />
Smartphones voraus. Wie gelingt ihm das?<br />
64 Geldmarkt<br />
Dieser Text<br />
zeigt evtl. Probleme<br />
beim<br />
Victoria Lergenmüller,<br />
Text an<br />
vr.de/mitglied<br />
Weinhaus Lergenmüller GmbH,<br />
Mitglied seit 2020<br />
Wissen<br />
77 Yoga macht den Kopf frei<br />
Wie spezielle Atemtechniken dabei<br />
helfen, unser Gehirn fit zu halten<br />
66 Superdroge Kaffee<br />
Boom der Bohne: Nichts trinken die Deutschen<br />
lieber, egal ob schwarz, mit Milch<br />
oder Zucker. Und nun ist Kaffee auch noch<br />
gesund, wie Studien belegen<br />
74 „Wer Kaffee trinkt, lebt länger“<br />
Ein Ernährungswissenschaftler erklärt,<br />
warum das Getränk so guttut<br />
Kultur<br />
80 Auf allen Kanälen<br />
Venedig lockt abseits der Biennale zu<br />
Ausstellungen der Kunststars Anselm<br />
Kiefer, Anish Kapoor und Georg Baselitz<br />
86 Über den Köpfen<br />
In seinem fantastischen Horrorfilm „Nope“<br />
macht sich Regisseur Jordan Peele mit<br />
Ufos über die Celebritykultur lustig<br />
Titel: mauritius images<br />
Fotos: Thilo Mischke, Robert Fischer/beide für <strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong>, Andreas Pein/<br />
laif, imago images, David Levene, Timo Lenzen/Condé Nast<br />
Agenda<br />
22 Der große Lauschangriff<br />
Pegasus heißt die gefährlichste Spyware<br />
der Welt. Sogar Demokratien setzen sie<br />
gegen ihre Bürger ein. Eine Spurensuche<br />
Politik<br />
28 Wie grün sind Sie noch, Herr Söder?<br />
Er macht wieder mobil: Bayerns Ministerpräsident<br />
über die Ampel, das Gendern und<br />
sein Verhältnis zu Armin Laschet<br />
34 Der neue Kanzler, der alte Skandal<br />
Neue Details in der Cum-Ex-Affäre<br />
könnten Scholz gefährlich werden.<br />
36 Politischer Datenstrudel<br />
Strack-Zimmermann als Easy Rider, Harris<br />
auf Mission und Lindner im Fadenkreuz<br />
40 Im Stresstest<br />
Ricarda Lang schlägt sich mit Kernkraft<br />
und Hass herum. Wie tickt die Frau, die die<br />
Grünen durch die Zeitenwende führt?<br />
44 Am Ende der Welt<br />
Afghanistan ein Jahr nach der Machtübernahme<br />
der Taliban: <strong>FOCUS</strong>-Reporter Thilo<br />
Mischke bereiste ein verzweifeltes Land<br />
Wirtschaft<br />
50 Die Wendegewinner<br />
Zu Besuch in drei Ortschaften, die sich<br />
schon selbst mit grüner Energie versorgen<br />
56 Weniger Bonus für die Umwelt<br />
Die Ampel schränkt bald die E-Auto-Förderung<br />
ein. Was das für Verbraucher bedeutet<br />
88 Hinter der Maske<br />
Ein Mord als Befreiungsakt und Neues von<br />
Pandasänger Cro: unsere Tipps der Woche<br />
Leben<br />
96 Ferran Adriàs Vision<br />
Er gilt als der beste Koch der Welt. Hier<br />
schreibt Adrià über die Zukunft des Essens<br />
100 Ein Hauch von Herbst<br />
Wohlfühlfarben, Bürolooks und Casual<br />
Chic: die Modetrends für sie & ihn<br />
102 Britisches Picknick am Strand<br />
Yotam Ottolenghis Fisch-Sandwich<br />
104 Aus heiterem Himmel<br />
Zeitzeugen erinnern sich an die<br />
Olympischen Spiele 1972 in München<br />
106 Die Auswanderer<br />
Thilo Mischke über die Weltenbummlerin<br />
Janina, die der Liebe wegen in die USA zog<br />
108 20 Jahre Volks-SUV<br />
Mit dem Touareg „Edition 20“ feiert VW das<br />
Jubiläum seines einzigen Oberklassewagens<br />
Rubriken<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
10 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
Indien<br />
18 Menschen<br />
76 Wir müssen reden<br />
85 Bestseller<br />
85 Impressum<br />
89 Mein Salon<br />
110 Die Einflussreichen<br />
112 Leserbriefe<br />
113 Nachrufe<br />
113 Servicenummern<br />
114 Tagebuch<br />
Jetzt<br />
Mitglied<br />
werden<br />
„Meine Bank<br />
gehört mir,<br />
weil mir Werte<br />
nicht nur in Euro<br />
wichtig sind.“<br />
Wir sind Genossenschaftsbanken.<br />
Die Banken, die ihren Mitgliedern<br />
gehören.<br />
Rubriken<br />
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3 Editorial<br />
QR-Code<br />
6 Kolumne von Jan<br />
scannen<br />
Fleischhauer<br />
und mehr<br />
9 Nachrichten<br />
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8 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
18 Menschen<br />
48 Leserbriefe<br />
90 Salon<br />
95 Buch & Welt<br />
96 Kultur-Macher<br />
102 Bestseller<br />
124 Die Einflussreichen<br />
128 Nachrufe/ Namen<br />
129 Impressum<br />
130 Tagebuch<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong> 5
POLITIK<br />
BLINDBLIND<br />
Wie grün sind Sie eigentlich<br />
noch, Herr Söder?<br />
Bayerns Ministerpräsident macht wieder mobil: gegen die Ampelregierung,<br />
gegen das Gendern und für neue Rettungs- und Entlastungspakete.<br />
Im großen Interview spricht Markus Söder aber auch über die Union der<br />
Zukunft und sein Verhältnis zum alten CDU-Rivalen Armin Laschet<br />
INTERVIEW VON MARC ETZOLD UND THOMAS TUMA<br />
FOTOS VON ROBERT FISCHER<br />
Fotos: xxxxxx/<strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong> Bxxxxx xxxxx<br />
28 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>
BLINDBLIND CSU<br />
Wächst’s? Im Ministerratssaal<br />
der Staatskanzlei<br />
trifft sich das bayerische<br />
Landeskabinett<br />
wöchentlich. Die Wände<br />
hat Söder mit echten<br />
Pflanzen begrünen lassen<br />
Fotos: xxxxxx/<strong>FOCUS</strong>-<strong>Magazin</strong> Bxxxxx xxxxx<br />
29
WISSEN<br />
80<br />
1000<br />
Inhaltsstoffe<br />
in etwa enthält das Gebräu. Der bekannteste<br />
und wirksamste ist das Alkaloid Koffein,<br />
ein legales Aufputschmittel. Es blockiert ein<br />
Molekül, das müde macht, das Adenosin<br />
Prozent<br />
geringer ist bei starken<br />
Kaffeetrinkern das Risiko,<br />
an einer alkoholbedingten<br />
Leberzirrhose zu<br />
erkranken. Auch vor der<br />
Ausbildung einer Fettleber<br />
schützt das Getränk<br />
Lebenselixier<br />
Vor allem schwarz<br />
genossen entfaltet<br />
Kaffee seine gesundheitsfördernde<br />
Wirkung – wie hier<br />
in einem Café im<br />
finnischen Oulu<br />
66 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>
TITEL<br />
124<br />
verschiedene Arten<br />
von Kaffeepflanzen sind derzeit<br />
bekannt, doch angebaut werden meist<br />
nur die Arten Arabica und Robusta.<br />
Schale und Fruchtfleisch<br />
der Kaffeekirschen umgeben<br />
zwei Samen – die Bohnen<br />
Fotos: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus, Eduardo Gorghetto/Unsplash<br />
Superdroge<br />
Kaffee<br />
Kaffee ist Kult. Und jetzt auch noch Superfood.<br />
Wissenschaftler sagen, dass Kaffee das<br />
Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz,<br />
Darmkrebs und Diabetes senkt und<br />
unser Leben verlängert. Gut, dass die<br />
Deutschen nichts lieber trinken<br />
TEXT VON MICHAEL KNEISSLER<br />
67
KULTUR<br />
Teilzeit-Venezianer<br />
Anish Kapoor, 68, lebt<br />
in London, hat aber<br />
den Lockdown mit<br />
Frau und dreijähriger<br />
Tochter teils in<br />
Venedig verbracht<br />
GGedränge entlang der Kanäle, Schlangen<br />
vor dem Dogenpalast, voll besetzte Tische<br />
in den Cafés. Venedig im August, ist das<br />
wirklich eine gute Idee? Absolut! Die<br />
Lagunenstadt überbietet sich in diesem<br />
Jahr mit Kunstattraktionen. Also schnell<br />
noch mal hin, bevor im nächsten Jahr die<br />
Tourismussteuer anfällt.<br />
Neben der viel gelobten 59. Biennale in<br />
der alten Schiffswerft, dem Arsenale, und<br />
in den Giardini, wo Frauen den Männern<br />
die Schau stehlen, locken derzeit<br />
große Namen der Kunstwelt in historische<br />
Paläste und Museen. Georg Baselitz,<br />
Anish Kapoor und Anselm Kiefer<br />
trumpfen mit grandiosen Ausstellungen<br />
an Orten auf, die man in Venedig ohnehin<br />
einmal gesehen haben sollte. Sie verbinden<br />
die alte mit neuer Kunst.<br />
Im versteckt liegenden Palazzo Grimani<br />
zeigt der 84-jährige Deutsche Georg Baselitz<br />
frische, leuchtende Malerei. Im Palazzo<br />
Manfrin und in der Accademia, Venedigs<br />
wichtigstem Museum für Malerei, überwältigt<br />
der 68-jährige indisch-britische<br />
Künstler Anish Kapoor mit blutroten Installationen<br />
und optischen Tricks.<br />
Als Höhepunkt aber hat Anselm Kiefer<br />
im Dogenpalast ein Welttheater inszeniert.<br />
Seine mit Blei, Blattgold und allerlei<br />
Requisiten veredelten Riesenwerke hängen<br />
im berühmten Sala dello Scrutinio,<br />
wo einst der Doge gewählt wurde, bis<br />
unter die goldene Kassettendecke. Der<br />
77-jährige Deutsche, der seit 30 Jahren<br />
in Frankreich lebt, hat dafür eigens ein<br />
rund zehn Meter hohes Gerüst errichten<br />
lassen. Dahinter verbergen sich historische<br />
Schlachtengemälde venezianischer<br />
Maler, etwa von Jacopo Tintoretto und<br />
Andrea Vicentino. Die Geschichte der<br />
alten Seerepublik Venedig erscheint in<br />
Kiefers gemalten und aus Blei gegossenen<br />
XXL-Bildern völlig neu.<br />
Markusplatz und Dogenpalast zu besuchen<br />
gehört zu jedem Venedig-Trip.<br />
Beginnen sollte man seine Reise aber in<br />
einem Viertel, das weniger von Touristen<br />
überlaufen ist. Vielleicht in Cannaregio,<br />
ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt<br />
im alten Ghetto. Von hier haben die jüdischen<br />
Viertel in aller Welt ihren Namen.<br />
Vor 500 Jahren mussten die Juden Venedigs<br />
auf diese winzige Insel ziehen. Heute<br />
ist das Ghetto fast eine Oase der Ruhe,<br />
weil es ein wenig abseits der großen Touristenattraktionen<br />
liegt.<br />
Atelier in London, Palazzo in Venedig<br />
„Ich liebe<br />
die Stadt Venedig,<br />
ihre mütterliche,<br />
dunkle Seite und<br />
ihre Gewässer“<br />
Anish Kapoor<br />
Hier hat sich der Londoner Künstler Anish<br />
Kapoor in die Stadt an der Lagune verliebt.<br />
1990 vertrat er Großbritannien auf<br />
der Kunstbiennale, seitdem kommt er<br />
immer wieder. „Ich liebe Venedig, ich liebe<br />
die Stadt für ihre mütterliche, dunkle<br />
Seite, für ihre Gewässer“, sagt er. „Ich<br />
war auch während des Lockdowns eine<br />
Weile hier.“ Kapoor wohnt dann in San<br />
Polo und weiß, wo Einheimische einkaufen<br />
gehen. Etwa am Obst- und Gemüsekahn,<br />
der seit Jahren in Dorsoduro vor<br />
Anker liegt. Kapoor holt sich dort gern<br />
„Castraure“, die violetten Artischocken<br />
von der Insel Sant’Erasmo, dem grünen<br />
Garten Venedigs.<br />
In London hat Kapoor sein Atelier, in<br />
Venedig jetzt einen Palast. Für seine Stiftung<br />
erwarb der Brite vor zwei Jahren den<br />
Palazzo Manfrin, der Prachtbau aus dem<br />
18. Jahrhundert wird gerade restauriert.<br />
Bis 2024 soll er fertig sein. Dazwischen<br />
zeigt der Künstler darin einige seiner<br />
Werke, als Ergänzung zu seiner großen<br />
Ausstellung in der Accademia.<br />
Dass der in Mumbai geborene und<br />
inzwischen zum Ritter geschlagene Brite<br />
ausgerechnet im Ghetto von Venedig<br />
ein Domizil für seine Kunststiftung fand,<br />
hat vielleicht mit seiner Herkunft zu tun.<br />
Kapoors Vater war Hindu, seine Mutter<br />
Jüdin aus dem Irak. Er wuchs zwischen<br />
zwei Kulturen auf, besuchte in Nordindien<br />
eine Eliteschule, arbeitete als Teenager<br />
in einem Kibbuz in Israel und studierte<br />
in London Kunst. Er war 18 Jahre<br />
lang mit einer deutschen Kunsthistorikerin<br />
verheiratet, das Paar hat zwei Kinder,<br />
trennte sich aber 2013. Mit seiner zweiten<br />
Frau hat er eine dreijährige Tochter. Bei<br />
ihrer Geburt war er dabei.<br />
Rote Vaginas, schwarze Löcher<br />
Einige von Kapoors blutroten Installationen<br />
erinnern an menschliches Blut, an<br />
Menstruation und Geburt. Der weibliche<br />
Körper war schon öfter sein Thema. Er<br />
fertigte rote Vagina-Schlünde, schwarze<br />
Löcher und Spiegel, in denen man zu<br />
verschwinden scheint. Mit seiner Kunst<br />
erzeugt Kapoor einen schwindelerregenden<br />
Sog. Seine begehbaren Rieseninstallationen<br />
stehen überall auf der Welt.<br />
Aufsehen erregte er mit seinen schwarzen<br />
Objekten aus Vantablack, einer<br />
Farbe, deren Nutzungsrechte er exklusiv<br />
besitzt. Das Material aus der Nanotechnologie,<br />
das oft mit einem Pigment<br />
verwechselt wird, absorbiert Licht zu<br />
99,96 Prozent. Es ist so saugfähig, dass<br />
der Gegenstand, auf den es aufgetragen<br />
wird, praktisch verschwindet. Das erfuhr<br />
Fo t o s : George Darrell/Anish Kapoor/VG Bild-Kunst, Bonn <strong>2022</strong>, David Levene/Anish Kapoor/VG Bild-Kunst, Bonn <strong>2022</strong><br />
82 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>