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FOCUS Magazin 33:2022 Vorschau Yumpu

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KULTUR<br />

Teilzeit-Venezianer<br />

Anish Kapoor, 68, lebt<br />

in London, hat aber<br />

den Lockdown mit<br />

Frau und dreijähriger<br />

Tochter teils in<br />

Venedig verbracht<br />

GGedränge entlang der Kanäle, Schlangen<br />

vor dem Dogenpalast, voll besetzte Tische<br />

in den Cafés. Venedig im August, ist das<br />

wirklich eine gute Idee? Absolut! Die<br />

Lagunenstadt überbietet sich in diesem<br />

Jahr mit Kunstattraktionen. Also schnell<br />

noch mal hin, bevor im nächsten Jahr die<br />

Tourismussteuer anfällt.<br />

Neben der viel gelobten 59. Biennale in<br />

der alten Schiffswerft, dem Arsenale, und<br />

in den Giardini, wo Frauen den Männern<br />

die Schau stehlen, locken derzeit<br />

große Namen der Kunstwelt in historische<br />

Paläste und Museen. Georg Baselitz,<br />

Anish Kapoor und Anselm Kiefer<br />

trumpfen mit grandiosen Ausstellungen<br />

an Orten auf, die man in Venedig ohnehin<br />

einmal gesehen haben sollte. Sie verbinden<br />

die alte mit neuer Kunst.<br />

Im versteckt liegenden Palazzo Grimani<br />

zeigt der 84-jährige Deutsche Georg Baselitz<br />

frische, leuchtende Malerei. Im Palazzo<br />

Manfrin und in der Accademia, Venedigs<br />

wichtigstem Museum für Malerei, überwältigt<br />

der 68-jährige indisch-britische<br />

Künstler Anish Kapoor mit blutroten Installationen<br />

und optischen Tricks.<br />

Als Höhepunkt aber hat Anselm Kiefer<br />

im Dogenpalast ein Welttheater inszeniert.<br />

Seine mit Blei, Blattgold und allerlei<br />

Requisiten veredelten Riesenwerke hängen<br />

im berühmten Sala dello Scrutinio,<br />

wo einst der Doge gewählt wurde, bis<br />

unter die goldene Kassettendecke. Der<br />

77-jährige Deutsche, der seit 30 Jahren<br />

in Frankreich lebt, hat dafür eigens ein<br />

rund zehn Meter hohes Gerüst errichten<br />

lassen. Dahinter verbergen sich historische<br />

Schlachtengemälde venezianischer<br />

Maler, etwa von Jacopo Tintoretto und<br />

Andrea Vicentino. Die Geschichte der<br />

alten Seerepublik Venedig erscheint in<br />

Kiefers gemalten und aus Blei gegossenen<br />

XXL-Bildern völlig neu.<br />

Markusplatz und Dogenpalast zu besuchen<br />

gehört zu jedem Venedig-Trip.<br />

Beginnen sollte man seine Reise aber in<br />

einem Viertel, das weniger von Touristen<br />

überlaufen ist. Vielleicht in Cannaregio,<br />

ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt<br />

im alten Ghetto. Von hier haben die jüdischen<br />

Viertel in aller Welt ihren Namen.<br />

Vor 500 Jahren mussten die Juden Venedigs<br />

auf diese winzige Insel ziehen. Heute<br />

ist das Ghetto fast eine Oase der Ruhe,<br />

weil es ein wenig abseits der großen Touristenattraktionen<br />

liegt.<br />

Atelier in London, Palazzo in Venedig<br />

„Ich liebe<br />

die Stadt Venedig,<br />

ihre mütterliche,<br />

dunkle Seite und<br />

ihre Gewässer“<br />

Anish Kapoor<br />

Hier hat sich der Londoner Künstler Anish<br />

Kapoor in die Stadt an der Lagune verliebt.<br />

1990 vertrat er Großbritannien auf<br />

der Kunstbiennale, seitdem kommt er<br />

immer wieder. „Ich liebe Venedig, ich liebe<br />

die Stadt für ihre mütterliche, dunkle<br />

Seite, für ihre Gewässer“, sagt er. „Ich<br />

war auch während des Lockdowns eine<br />

Weile hier.“ Kapoor wohnt dann in San<br />

Polo und weiß, wo Einheimische einkaufen<br />

gehen. Etwa am Obst- und Gemüsekahn,<br />

der seit Jahren in Dorsoduro vor<br />

Anker liegt. Kapoor holt sich dort gern<br />

„Castraure“, die violetten Artischocken<br />

von der Insel Sant’Erasmo, dem grünen<br />

Garten Venedigs.<br />

In London hat Kapoor sein Atelier, in<br />

Venedig jetzt einen Palast. Für seine Stiftung<br />

erwarb der Brite vor zwei Jahren den<br />

Palazzo Manfrin, der Prachtbau aus dem<br />

18. Jahrhundert wird gerade restauriert.<br />

Bis 2024 soll er fertig sein. Dazwischen<br />

zeigt der Künstler darin einige seiner<br />

Werke, als Ergänzung zu seiner großen<br />

Ausstellung in der Accademia.<br />

Dass der in Mumbai geborene und<br />

inzwischen zum Ritter geschlagene Brite<br />

ausgerechnet im Ghetto von Venedig<br />

ein Domizil für seine Kunststiftung fand,<br />

hat vielleicht mit seiner Herkunft zu tun.<br />

Kapoors Vater war Hindu, seine Mutter<br />

Jüdin aus dem Irak. Er wuchs zwischen<br />

zwei Kulturen auf, besuchte in Nordindien<br />

eine Eliteschule, arbeitete als Teenager<br />

in einem Kibbuz in Israel und studierte<br />

in London Kunst. Er war 18 Jahre<br />

lang mit einer deutschen Kunsthistorikerin<br />

verheiratet, das Paar hat zwei Kinder,<br />

trennte sich aber 2013. Mit seiner zweiten<br />

Frau hat er eine dreijährige Tochter. Bei<br />

ihrer Geburt war er dabei.<br />

Rote Vaginas, schwarze Löcher<br />

Einige von Kapoors blutroten Installationen<br />

erinnern an menschliches Blut, an<br />

Menstruation und Geburt. Der weibliche<br />

Körper war schon öfter sein Thema. Er<br />

fertigte rote Vagina-Schlünde, schwarze<br />

Löcher und Spiegel, in denen man zu<br />

verschwinden scheint. Mit seiner Kunst<br />

erzeugt Kapoor einen schwindelerregenden<br />

Sog. Seine begehbaren Rieseninstallationen<br />

stehen überall auf der Welt.<br />

Aufsehen erregte er mit seinen schwarzen<br />

Objekten aus Vantablack, einer<br />

Farbe, deren Nutzungsrechte er exklusiv<br />

besitzt. Das Material aus der Nanotechnologie,<br />

das oft mit einem Pigment<br />

verwechselt wird, absorbiert Licht zu<br />

99,96 Prozent. Es ist so saugfähig, dass<br />

der Gegenstand, auf den es aufgetragen<br />

wird, praktisch verschwindet. Das erfuhr<br />

Fo t o s : George Darrell/Anish Kapoor/VG Bild-Kunst, Bonn <strong>2022</strong>, David Levene/Anish Kapoor/VG Bild-Kunst, Bonn <strong>2022</strong><br />

82 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/<strong>2022</strong>

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