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FOCUS_2022-35 Vorschau

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EDITORIAL<br />

Vorm Winter der Wahrheit<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Foto: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

zu den Lieblingsanekdoten von Olaf Scholz<br />

gehört derzeit diese: „Ich habe schon im<br />

Dezember vergangenen Jahres den Wirtschaftsminister<br />

und meine ökonomischen<br />

Berater im Kanzleramt gefragt: Was passiert,<br />

wenn z. B. die Gaslieferungen aus<br />

Russland plötzlich ausbleiben?“ Respekt,<br />

das zeugt von Weitsicht, denn damals<br />

glaubte niemand in Berlin (ausgenommen<br />

Botschafter Melnyk) an einen Überfall<br />

Russlands auf die Ukraine mit den<br />

bekannten Folgen für den Energiemarkt.<br />

Vor Beginn der Klausur seines Kabinetts<br />

diese Woche in Meseberg gab Scholz diese<br />

Anekdote erneut zum Besten, baute<br />

sie aber zum satten Eigenlob aus: „Weil<br />

wir so früh angefangen haben, haben wir<br />

sehr schnell und in großem Tempo die<br />

notwendigen Entscheidungen getroffen,<br />

damit wir gut durch diesen Winter und<br />

den nächsten Winter kommen können.“ In<br />

bemerkenswertem Gegensatz dazu standen<br />

die Ergebnisse von Meseberg: Olaf<br />

Scholz traute sich nach der Klausur nicht<br />

einmal, einen Zeitpunkt dafür zu benennen,<br />

wann das „wuchtige Paket“ zur<br />

Entlastung der Bürger von den Rekord-<br />

Energiepreisen denselben zur Kenntnis<br />

gebracht werden soll. Beim Tempo ist da<br />

noch Luft nach oben. Diebisch gefreut<br />

hat den Kanzler, dass aus der Klausur so<br />

wenig an die Öffentlichkeit gedrungen ist.<br />

Das mache ihn „professionell stolz“, gab<br />

er den Journalisten einen mit.<br />

Schade auch, dass der Kanzler seinen<br />

Klima- und Wirtschaftsminister Robert<br />

Habeck im Dezember nicht darüber aufgeklärt<br />

hat, dass ein Ausbleiben des russischen<br />

Erdgases unabwendbar zu steigenden<br />

Gaspreisen und in der Folge zu<br />

steigenden Strompreisen am Spotmarkt<br />

führen wird. Denn dann hätte Habeck vielleicht<br />

schon im März oder doch im April,<br />

auf jeden Fall aber mit mehr Nachdruck<br />

damit begonnen, die Verstromung von<br />

Gas zu beenden und es durch zusätzliche<br />

Kohlekraftwerke zu ersetzen. Und<br />

dann würde die Regierung nicht<br />

nur „in sagenhaftem Tempo“<br />

(Scholz) Terminals für Flüssiggas<br />

an der Nordseeküste errichten, sondern<br />

dann hätte Habeck vielleicht längst grünes<br />

Licht für die Weiternutzung der drei<br />

sich noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke<br />

über das Jahresende hinaus<br />

gegeben.<br />

In der tristen Regierungsrealität ist es<br />

leider so, dass der Wirtschaftsminister<br />

erst im Juni den Weg frei gemacht hat<br />

für die Zuschaltung zusätzlicher Kohlekraftwerke,<br />

dass der Stresstest für den<br />

Strommarkt, der den Grünen einen Ausweg<br />

aus dem Kernkraft-Dilemma weisen<br />

soll, noch immer läuft und der Minister<br />

die Gaskunden mit einer Umlage traktiert,<br />

die diese Energie weiter verteuert. Wenn<br />

dem Kanzler und damit seiner Regierung<br />

seit Dezember klar war, dass man sich<br />

auf ein Ausbleiben des russischen Erdgases<br />

einstellen muss, dann hätte doch<br />

alles geschehen müssen, um möglichst<br />

schnell und möglichst viel Ersatzenergie<br />

zu beschaffen. Doch so kam es nicht, und<br />

deshalb verstromen wir derzeit mehr Gas<br />

als im vergangenen Sommer.<br />

Bei Habeck klingt das Selbstlob vom<br />

frühen Anfang deutlich zurückhaltender:<br />

Man könne deshalb, so der Minister<br />

nach der Klausur, „gerüstet in den Winter<br />

gehen“. Habe man diesen erst einmal<br />

„überstanden“, werde man die Zukunft<br />

selbstbewusst gestalten. Ich frage mich,<br />

ob die Ampel tatsächlich glaubt, mit<br />

solchen Reden die Bürger beruhigen zu<br />

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können, oder ob es sich um den Versuch<br />

der Selbstberuhigung durch Autosuggestion<br />

handelt.<br />

Wenn Deutschland für den ersten Winter<br />

mit erheblich weniger oder gar keinem<br />

Gas aus Russland tatsächlich gut gerüstet<br />

wäre, dann könnte sich die Politik ihre<br />

guten Ratschläge z. B. für ein Umsteigen<br />

von der Dusche auf Waschlappen-Reinigung<br />

sparen. Dann wäre es verfrüht,<br />

Beleuchtung und Lichtwerbung in den<br />

Städten auf ein Minimum zu reduzieren<br />

und „Frieren für den Frieden“ zu propagieren.<br />

Es ist ohnehin völlig unangemessen,<br />

wenn man bedenkt, dass in den kommenden<br />

Monaten und Jahren das Wirtschafts-<br />

und Wohlstandsmodell unseres<br />

Landes auf dem Spiel steht. Da hilft nur<br />

eine Rückbesinnung auf die Gesetze der<br />

Marktwirtschaft, die schon von der Großen<br />

Koalition unter Angela Merkel sträflich<br />

missachtet wurden. Für Gas und Strom<br />

heißt das: Nicht staatliche Eingriffe in die<br />

Preisfindung führen zu nachhaltig niedrigeren<br />

Preisen, sondern ausschließlich die<br />

Erhöhung des Angebots an Energie.<br />

Und da die Energiepreise zugleich ein<br />

wesentlicher Treiber der Inflation sind,<br />

spricht alles dafür, das Energieangebot<br />

zu erhöhen. Schnell geht das nur über<br />

heimische Energieträger wie Kohle und<br />

auch Atom. Zusätzliches Erdgas, zum Beispiel<br />

aus Katar, bekommen wir nur gegen<br />

langfristige Lieferverträge (mindestens<br />

20 Jahre). Das aber würde die Ampelziele<br />

für den Verzicht auf fossile Brennstoffe<br />

sprengen.<br />

Wenig ist in der deutschen Politik derzeit<br />

so gewiss wie die Selbstgewissheit<br />

von Olaf Scholz, der richtige Kanzler zur<br />

richtigen Zeit zu sein. Das erinnert ein<br />

wenig an Oskar Lafontaine, der 1995 seiner<br />

damaligen Partei, der SPD, zugerufen<br />

hatte: „Wenn wir selbst begeistert sind,<br />

können wir auch andere begeistern.“ Vielleicht<br />

klappt das ja wieder.<br />

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<strong>FOCUS</strong> 36/<strong>2022</strong> 3

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