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FOCUS Magazin 37:2022 Vorschau

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EDITORIAL<br />

Die Entzauberung des Robert H.<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Fo t o : P e t e r R i g a u d / F O C U S - M a g a z i n<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

wie einst Harry Houdini, der vor einem<br />

Jahrhundert weltweit bekannte Entfesselungskünstler<br />

mit Shows im Berliner Wintergarten,<br />

hat Robert Habeck diese Woche<br />

versucht, sich der Strangulierung durch<br />

das politische Hochrisiko-Thema Atom<br />

zu entledigen. Gefesselt war der grüne<br />

Klima- und Wirtschaftsminister gleich<br />

mehrfach: Bürger, Wirtschaft und auch der<br />

Koalitionspartner FDP fordern angesichts<br />

von Energieknappheit und Strompreisexplosion<br />

vehement einen Weiterbetrieb der<br />

drei letzten deutschen Atomkraftwerke<br />

über den 31. Dezember hinaus.<br />

Grüne und weite Teile der SPD wollen<br />

genau das nicht, weil sie nach der Lieferung<br />

von Waffen für den Krieg in der<br />

Ukraine und der Ausweitung der ungeliebten<br />

Kohlekraft nicht auch noch eine<br />

Renaissance der Kernkraft ertragen wollen.<br />

Mit der Formulierung, eine Weiternutzung<br />

der Atomkraft sei nach ihrer<br />

Überzeugung „Irrsinn“, hatte Außenministerin<br />

Annalena Baerbock ihrem Parteifreund<br />

Habeck noch vor dem Abschluss<br />

des zweiten Stresstests ein Stoppschild in<br />

den Boden gerammt, ihm Entscheidungsspielräume<br />

genommen.<br />

Und so präsentierte Houdini-Habeck am<br />

Montag einen Kompromiss: Alle drei Kernkraftwerke<br />

gehen zum Jahresende vom<br />

Netz, zwei von ihnen bleiben aber über<br />

den Winter bis Mitte April 2023 als Reserve-Kraftwerke<br />

auf Stand-by. Der Grüne<br />

Habeck will auf diese Weise für seine<br />

Parteifreunde die friedliche Nutzung<br />

der Atomkraft beenden. Der Wirtschaftsminister<br />

Habeck will aber zugleich alle<br />

Vorwürfe entkräften, ihm sei die Versorgungssicherheit<br />

Deutschlands mit Strom<br />

in der größten Energiekrise seit Gründung<br />

der Bundesrepublik nicht so wichtig. Das<br />

dritte Kernkraftwerk liegt leider in Niedersachsen,<br />

wo am 9. Oktober gewählt<br />

wird und die Grünen mit dem Atomausstieg<br />

Wahlkampf machen. Da geht<br />

nicht einmal Reserve.<br />

Doch anders als Houdini auf<br />

der Bühne misslang Habeck die<br />

Entfesselung, verhedderte er sich doch<br />

hoffnungslos in Widersprüchen. Wenn<br />

jede Kilowattstunde zählt, wie kann der<br />

Minister dann auf die Terawattstunden<br />

von drei AKW verzichten? Zwei der Kernkraftwerke<br />

startklar zu halten, ohne Strom<br />

zu produzieren, bedeutet im Klartext: Wir<br />

behalten die Kosten der Meiler, verzichten<br />

aber auf deren Energie. Abwegig auch die<br />

Idee, die Gaskunden für Putins Überfall<br />

auf die Ukraine und für die verkorkste<br />

Energiepolitik vergangener Jahrzehnte<br />

mittels einer Gasumlage bezahlen zu lassen;<br />

inklusive Mehrwertsteuer.<br />

Nach dem missglückten Kompromiss-<br />

Vorschlag im Atomkraft-Streit am Montag<br />

hinterließ der Minister dann am Dienstag<br />

komplett den Eindruck heilloser Überforderung.<br />

Im ARD-Talk „Maischberger“ verblüffte<br />

er Moderatorin und Publikum, als<br />

er zunächst beteuerte, er rechne nicht mit<br />

einer Insolvenzwelle im Winter, aber dann<br />

hinzufügte: „Ich kann mir vorstellen, dass<br />

bestimmte Branchen einfach erst mal aufhören<br />

zu produzieren.“ Dann verhedderte<br />

er sich immer weiter, sprach über Blumenund<br />

Bioläden oder Bäckereien, die unter<br />

der Kaufzurückhaltung der Kunden litten.<br />

Habecks kühne These: „Und dann sind<br />

die nicht insolvent, automatisch, aber sie<br />

hören vielleicht auf zu verkaufen.“<br />

Wenn das kein durch Stress bedingter<br />

Blackout des Ministers war, hat Habeck<br />

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wirklich den Überblick über seinen Job<br />

und jedes Gefühl für die vielen Mittelständler<br />

und ihre Mitarbeiter verloren, die<br />

mit nackter Existenzangst auf Herbst und<br />

Winter schauen. Und wie sollen die Mitarbeiter<br />

von Hakle und Görtz es verstehen,<br />

dass sie nicht mehr verkaufen können,<br />

aber nicht insolvent sind?<br />

Offenkundig hat Habeck keine genaue<br />

Vorstellung davon, welche enorme Bedrohung<br />

die toxische Kombination aus<br />

massiv steigenden Energiepreisen, galoppierender<br />

Inflation und daraus resultierender<br />

Kaufzurückhaltung für die Wirtschaft<br />

der viertgrößten Industrienation<br />

der Welt darstellt. Sein Parteifreund Boris<br />

Palmer warnt vor einer „industriellen Kernschmelze“<br />

in Deutschland.<br />

Wer sich als Wirtschaftsminister vorstellen<br />

kann, dass ganze Branchen die<br />

Produktion einstellen müssen, und keine<br />

Strategie zur Sicherung des Industriestandortes<br />

Deutschland zur Hand hat,<br />

riskiert bewusst eine teilweise Deindustrialisierung<br />

mit allen Folgen für Beschäftigung<br />

und Wohlstand. Mit diesem Wirtschaftsminister<br />

geht das Land planlos in<br />

eine kaum noch abzuwendende Rezession.<br />

Branchen wie Pharma und Chemie<br />

reduzieren bereits Produktionen, Preissteigerungen<br />

bei Papier bedrohen nicht nur<br />

die Presse, wie das Beispiel des Toilettenpapier-Herstellers<br />

Hakle zeigt.<br />

Der Kanzler trägt öffentlich bislang sowohl<br />

die Gasumlage als auch den Vorschlag<br />

Habecks zur Laufzeit der Atomkraftwerke<br />

mit. Was soll er auch anderes<br />

machen, wenn er seinen Wirtschaftsminister<br />

im Amt und seine Ampelkoalition am<br />

Leben erhalten will.<br />

Aber es wäre vielleicht eine gute Idee,<br />

wenn er in Zukunft intern häufiger von<br />

seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch<br />

machen würde – gemäß seinem Amtseid<br />

„Schaden vom deutschen Volk zu<br />

wenden“.<br />

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<strong>FOCUS</strong> <strong>37</strong>/<strong>2022</strong> 3

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