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Spectrum_5_2019

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die ansprechenderen Profile von den langweiligen.<br />

Wird man von jemandem ebenfalls<br />

nach rechts gewischt, entsteht ein<br />

«Match» und man kann sich nun gegenseitig<br />

Nachrichten schicken. «Matchen.<br />

Chatten. Daten.» – der Werbeslogan von<br />

Tinder ist also Programm. Seit die App<br />

im Jahr 2012 herausgebracht wurde, kann<br />

man sie im App-Store des Vertrauens herunterladen.<br />

Und sie hat eine Erfolgsgeschichte<br />

hingelegt: Für das zweite Quartal<br />

von <strong>2019</strong> wiesen Statistiken rund fünf<br />

Millionen zahlende Nutzerinnen und<br />

Nutzer aus. Vor drei Jahren waren es nur<br />

eine Million. Die Zahl der kostenfrei angemeldeten<br />

Nutzerinnen und Nutzer dürfte<br />

noch weitaus höher sein. Geht von Plattformen<br />

wie Tinder also ein realer Einfluss<br />

auf unser Dating-Verhalten aus? Zur Beantwortung<br />

dieser und weiterer Fragen<br />

wandte sich <strong>Spectrum</strong> an die Sexualtherapeutin<br />

Christiane Weinand, die durch ihre<br />

Arbeit regelmässig mit diesen und ähnlichen<br />

Themenfeldern in Kontakt kommt:<br />

«Die Zahlen sprechen für sich. Der Effekt<br />

von Plattformen wie Tinder auf die Gesellschaft,<br />

in der wir leben, ist gross», sagt die<br />

Sexualtherapeutin.<br />

Dating als Adrenalinkick<br />

Der Einfluss von Tinder werde sich auf<br />

absehbare Zeit halten, schätzt Weinand.<br />

«Einer niederländischen Studie zufolge<br />

nutzen Menschen die App als neue Möglichkeit,<br />

Dinge wie Liebe und Kontakt,<br />

aber auch einen gewissen Nervenkitzel<br />

zu finden.» Wie viele Likes bekommt mein<br />

Profil? Wie oft werde ich angeschrieben?<br />

In welcher «Liga» spiele ich? Oftmals haben<br />

Dating-Apps die Tendenz, in ein eher<br />

negatives Licht gerückt zu werden. Kritisiert<br />

werden ihre Oberflächlichkeit oder<br />

fehlende Romantik. Christiane Weinand<br />

hebt jedoch auch positive Aspekte an dieser<br />

Form des Kennenlernens hervor: Die<br />

Identität, die wir uns als Nutzerinnen und<br />

Nutzer im Netz zulegen, habe nicht nur die<br />

Funktion, uns selbst darzustellen, sondern<br />

uns ein Stück weit auch zu finden oder zu<br />

erfinden. Auf diese Art könne man mit weniger<br />

Hemmungen seinen Vorlieben nachgehen<br />

oder sie erst entdecken. «Vor allem<br />

aber bietet Tinder die Möglichkeit, unkompliziert<br />

mit Leuten in Kontakt zu treten. Das<br />

ist eine Chance!», sagt Weinand. Ein weiterer<br />

positiver Aspekt sei, dass durch den<br />

kostenlosen Zugang zur App alle mitswipen<br />

können, die möchten.<br />

Von der App in die Realität<br />

Natürlich schafft Tinder nicht alle Probleme<br />

aus der Welt, die mit dem Kennenlernen<br />

anderer einhergehen: «Die erste Kontaktaufnahme<br />

wird zwar vereinfacht, wenn<br />

es aber tatsächlich zu einem Treffen mit<br />

einer realen Person kommt, können dieselben<br />

Schwierigkeiten auftreten, wie<br />

sonst auch», so Weinand.<br />

Sexualtherapeutin Christiane Weinand<br />

Deshalb komme es durchaus vor, dass<br />

jemand sich auf Tinder zu einem Treffen<br />

verabrede, zu dem die Person dann<br />

nicht erscheine. «Es gibt Nutzerinnen<br />

und Nutzer, die online mogeln und sich<br />

nicht ganz authentisch darstellen – sie<br />

scheitern unter Umständen an der Realität.»<br />

Hier könne die durch Tinder ermöglichte<br />

Unverbindlichkeit auch zum<br />

Stolperstein werden. «Wir alle wünschen<br />

uns einen Partner oder eine Partnerin,<br />

mit dem oder der wir intim sein können.<br />

Tinder gibt uns zwar die Möglichkeit,<br />

dieses Bedürfnis zu befriedigen, aber<br />

natürlich keine Gewähr darauf.» Die<br />

App zeigt uns eben doch immer nur, wie<br />

unser mögliches Gegenüber aussieht.<br />

Nicht aber, wie es spricht, riecht oder<br />

gestrickt ist.<br />

Oberflächlichkeit ist menschlich<br />

Ständig beurteilen wir unsere Mitmenschen<br />

aufgrund ihres Äusseren und das<br />

keinesfalls nur auf Datingplattformen.<br />

«Wenn wir uns in unserem Alltag durch<br />

die Stadt bewegen, selektieren wir Menschen<br />

auf der Strasse dauernd und stecken<br />

sie unterbewusst in gewisse Kategorien»,<br />

meint Christiane Weinand. Die<br />

App bediene somit vorrangig menschliche<br />

Bedürfnisse, die schon davor bestanden<br />

hätten. Scheinbar brauchen<br />

wir gar keine komplizierten Algorithmen,<br />

die unsere Persönlichkeiten analysieren,<br />

damit wir online auf der Suche<br />

nach einem Date fündig werden. Bilder<br />

reichen uns für einen ersten, aber wichtigen<br />

Eindruck.<br />

Können diese in eine App gegossenen<br />

Strukturen nicht auch gewisse Gefahren<br />

mit sich bringen? Fangen wir dadurch<br />

an, Menschen zu «konsumieren»? «Es<br />

kann durchaus zu einer Art Hobby werden,<br />

sich mithilfe von Tinder selbst zu<br />

vermarkten», sagt Weinand dazu. Unter<br />

viel Ablehnung durch andere Nutzerinnen<br />

und Nutzer könne das Selbstwertgefühl<br />

einer Person leiden. Und vor allem:<br />

«Wenn man die App nur als Tool<br />

für Selbstbestätigung braucht, ist das<br />

Risiko hoch, in ein Abhängigkeitsverhältnis<br />

zu geraten.» Dieser Aspekt beschränke<br />

sich nicht auf ein Geschlecht,<br />

sondern spiele sowohl bei Männern als<br />

auch Frauen eine Rolle. Eine solche<br />

krankhafte Nutzung sei jedoch kaum<br />

als Regelfall anzusehen. Christiane<br />

Weinand spricht hierbei von einer Art<br />

Regulativ in der Gesellschaft. «Als mit<br />

dem Internet der Zugriff auf pornografische<br />

Inhalte stark vereinfacht wurde,<br />

gab es auch eine breite, öffentliche Diskussion<br />

darüber, wie die Effekte aussehen<br />

würden.» Die tatsächlichen Folgen<br />

hätten sich als viel weniger dramatisch<br />

erwiesen, als erst angenommen. «Wir<br />

sind nicht alle pornosüchtig geworden,<br />

nur weil der Zugang zu solchen Inhalten<br />

heutzutage einfacher ist.» Ähnlich<br />

verhalte es sich mit dem Gebrauch von<br />

Dating-Apps, wobei es natürlich immer<br />

vereinzelt Personen gebe, die anfälliger<br />

auf die damit einhergehenden Risiken<br />

reagierten. ■<br />

Christiane Weinand ist als systemische<br />

Sexualtherapeutin tätig. Dabei beschäftigt<br />

sie sich unter anderem mit sexualitätsbezogenen<br />

Chancen und Risiken in<br />

den digitalen Medien (Schwerpunkt Pornografie)<br />

und der Prävention von sexualisierter<br />

Gewalt. Neben ihrer Arbeit als<br />

Therapeutin und Beraterin ist sie auch<br />

Supervisorin.<br />

11.<strong>2019</strong><br />

11

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