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Spectrum_5_2019

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KRITIK<br />

Wolkenbruch und das «Weltjudentum»<br />

Mordechai «Motti» Wolkenbruch ist in einer<br />

ultraorthodoxen jüdischen Familie in Zürich<br />

aufgewachsen. Alles in seinem Leben folgt einem<br />

Plan: wann er aufsteht, was er isst, wen er heiratet.<br />

Dieses Leben gerät durcheinander, als er sich in eine<br />

Nichtjüdin, eine «Schickse», verliebt. Während seine<br />

Mutter Sturm läuft, geniesst Motti seine neuen Freiheiten<br />

und verstösst damit in ihren Augen gegen alle<br />

möglichen Regeln des orthodoxen Judentums.<br />

Motti bleibt davon relativ unbeeindruckt. Er scheint<br />

eher nüchterner Zuschauer statt aktiver Teilnehmer<br />

am eigenen Schicksal zu sein. Genauso verhält es<br />

sich auch in Thomas Meyers Fortsetzung von Mottis<br />

Geschichte, in der dessen Leben von neuem seltsame<br />

Wendungen nimmt. Seine grosse Liebe hat sich<br />

inzwischen von ihm verabschiedet, genauso wie<br />

seine Familie, die aufgrund seiner verbotenen Liebschaft<br />

sogar eine Todesanzeige mit Mottis Namen in<br />

der Zeitung publiziert. Den noch immer lebendigen<br />

Motti aber verschlägt es nach Israel und er findet<br />

sich inmitten begeisterter Anhängerinnen und Anhänger<br />

des «Weltjudentums» wieder.<br />

Parallel zu Mottis Geschichte erfahren wir von einer<br />

Alpenfestung in Bayern. Dort haben sich nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg Nazis zusammengefunden,<br />

die auch nach der Kapitulation des Dritten Reiches<br />

noch an den Endsieg glauben. Über Jahrzehnte feilen<br />

sie an Ideen, die das «Judenproblem» ein für alle<br />

Mal erledigen sollen. Dabei setzen sie auch auf neue<br />

Methoden wie Internet und Smartphone, die sie als<br />

«Hassmaschine» und «Volksrechnerlein» bezeichnen.<br />

Motti, der inzwischen zum Anführer des «Weltjudentums»<br />

auserkoren wurde, versucht seitdem<br />

seinerseits das Internet für seine Zwecke zu instrumentalisieren.<br />

Bald schon werden im Netz nur noch<br />

jüdische Kochrezepte oder Ärzte und Ärztinnen<br />

empfohlen. In der Alpenfestung wird man immer<br />

nervöser. Dieser Mordechai Wolkenbruch muss auf<br />

jeden Fall beseitigt werden! Sogleich wird eine Spionin<br />

nach Israel gesandt. Dort angekommen, entwickelt<br />

sich aber alles in eine ganz andere Richtung,<br />

als die Nazis es gerne gesehen hätten.<br />

Auf aussergewöhnlich witzige Art und Weise werden<br />

in Thomas Meyers neuem Roman sämtliche antisemitischen<br />

Vorurteile und Klischees ins Lächerliche<br />

überzogen. Ironie gehört in Meyers Geschichte genauso<br />

dazu wie Hauptperson Motti, der nie genau<br />

weiss, wie ihm geschieht. Gleichzeitig übt der Roman<br />

Kritik an der heutigen Gesellschaft, indem er<br />

furchteinflössende Möglichkeiten aufzeigt, wie modernste<br />

Technik unser Denken beeinflussen kann.<br />

Eine gelungene Mischung aus Spannung und Komik<br />

erwartet die Leserinnen und Leser.<br />

Gioia Jöhri<br />

Wolkenbruchs waghalsiges<br />

Stelldichein mit der<br />

Spionin<br />

Thomas Meyer<br />

Diogenes Verlag<br />

<strong>2019</strong><br />

288 Seiten<br />

Eine Liebeserklärung an das Lesen<br />

Einigen Verben steht ihre Imperativform einfach<br />

nicht. Lesen ist eines von ihnen. Genau wie<br />

träumen. Oder lieben. Das würde ja absurd klingen:<br />

Träume! Liebe! Lies! Mit dieser Feststellung eröffnet<br />

Daniel Pennac sein Buch «Wie ein Roman» – und hat<br />

damit von der ersten Seite an meine volle Aufmerksamkeit.<br />

Niemand kann mich dazu zwingen, mich<br />

durch einen elend langen wissenschaftlichen Artikel<br />

zu quälen? Meine unangenehmsten Emails endlich<br />

durchzugehen? Nicht, wenn es nach Pennac geht.<br />

In kurzen Sequenzen, die sich auch wunderbar<br />

durcheinander lesen lassen, erzählt er von einem<br />

Jungen, der zunächst noch fasziniert ist vom Lesen.<br />

Buchstabe für Buchstabe kämpft er sich vor auf<br />

unbekannte Seiten und Kapitel. Bald muss er aber<br />

feststellen, dass mit dem Lesen grosser Druck von<br />

aussen verbunden sein kann: Bei Hausaufgaben<br />

reicht es nun einmal nicht, stundenlang ein Blatt<br />

Papier anzustarren, ohne die darauf geschriebenen<br />

Worte in sein Gehirn aufzunehmen. Lesen klingt für<br />

ihn mehr und mehr nur noch nach Verpflichtung.<br />

Freiwillig tut er sich das auf jeden Fall nicht mehr an.<br />

Pennac beschreibt, wie man sich als Leser und Leserin<br />

völlig ohne Zwang aus diesem Tief befreien kann.<br />

Als Grundpfeiler dafür stellt er zehn Rechte auf, derer<br />

sich jeder Leser und jede Leserin bedienen darf.<br />

Das Recht, nicht zu lesen, Seiten zu überspringen<br />

oder das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen,<br />

sind bloss die ersten drei.<br />

«Wie ein Roman» ist eine Liebeserklärung an das Lesen,<br />

wie viele es vielleicht noch aus Kindheitstagen<br />

kennen: Noch ein Kapitel, nur noch eins, vorgelesen<br />

von Papa vor dem Schlafengehen. Oder mit der Taschenlampe<br />

unter der Bettdecke, damit die Eltern<br />

nicht merken, dass man lange nach der festgesetzten<br />

Schlafenszeit immer noch wach ist. Mitten in der<br />

Welt, die man sich zusammenliest, beinahe als ein<br />

Teil von ihr. Pennac schreibt auf eine unmittelbare<br />

und ehrliche Art, die berührt und Lust auf mehr<br />

macht.<br />

Wer ausreichend Französisch beherrscht, um «Wie<br />

ein Roman» in der Originalsprache zu lesen, ist sicher<br />

noch ein Stück näher am Kern des Buchs. Auch<br />

auf Deutsch ist es jedoch absolut empfehlenswert<br />

für alle, die ein bisschen Motivation in Sachen Lesen<br />

gebrauchen könnten.<br />

Katharina Schatton<br />

Wie ein Roman<br />

Daniel Pennac<br />

Kiepenheuer & Witsch,<br />

2006<br />

203 Seiten<br />

11.<strong>2019</strong><br />

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