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KRITIK<br />
Wolkenbruch und das «Weltjudentum»<br />
Mordechai «Motti» Wolkenbruch ist in einer<br />
ultraorthodoxen jüdischen Familie in Zürich<br />
aufgewachsen. Alles in seinem Leben folgt einem<br />
Plan: wann er aufsteht, was er isst, wen er heiratet.<br />
Dieses Leben gerät durcheinander, als er sich in eine<br />
Nichtjüdin, eine «Schickse», verliebt. Während seine<br />
Mutter Sturm läuft, geniesst Motti seine neuen Freiheiten<br />
und verstösst damit in ihren Augen gegen alle<br />
möglichen Regeln des orthodoxen Judentums.<br />
Motti bleibt davon relativ unbeeindruckt. Er scheint<br />
eher nüchterner Zuschauer statt aktiver Teilnehmer<br />
am eigenen Schicksal zu sein. Genauso verhält es<br />
sich auch in Thomas Meyers Fortsetzung von Mottis<br />
Geschichte, in der dessen Leben von neuem seltsame<br />
Wendungen nimmt. Seine grosse Liebe hat sich<br />
inzwischen von ihm verabschiedet, genauso wie<br />
seine Familie, die aufgrund seiner verbotenen Liebschaft<br />
sogar eine Todesanzeige mit Mottis Namen in<br />
der Zeitung publiziert. Den noch immer lebendigen<br />
Motti aber verschlägt es nach Israel und er findet<br />
sich inmitten begeisterter Anhängerinnen und Anhänger<br />
des «Weltjudentums» wieder.<br />
Parallel zu Mottis Geschichte erfahren wir von einer<br />
Alpenfestung in Bayern. Dort haben sich nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg Nazis zusammengefunden,<br />
die auch nach der Kapitulation des Dritten Reiches<br />
noch an den Endsieg glauben. Über Jahrzehnte feilen<br />
sie an Ideen, die das «Judenproblem» ein für alle<br />
Mal erledigen sollen. Dabei setzen sie auch auf neue<br />
Methoden wie Internet und Smartphone, die sie als<br />
«Hassmaschine» und «Volksrechnerlein» bezeichnen.<br />
Motti, der inzwischen zum Anführer des «Weltjudentums»<br />
auserkoren wurde, versucht seitdem<br />
seinerseits das Internet für seine Zwecke zu instrumentalisieren.<br />
Bald schon werden im Netz nur noch<br />
jüdische Kochrezepte oder Ärzte und Ärztinnen<br />
empfohlen. In der Alpenfestung wird man immer<br />
nervöser. Dieser Mordechai Wolkenbruch muss auf<br />
jeden Fall beseitigt werden! Sogleich wird eine Spionin<br />
nach Israel gesandt. Dort angekommen, entwickelt<br />
sich aber alles in eine ganz andere Richtung,<br />
als die Nazis es gerne gesehen hätten.<br />
Auf aussergewöhnlich witzige Art und Weise werden<br />
in Thomas Meyers neuem Roman sämtliche antisemitischen<br />
Vorurteile und Klischees ins Lächerliche<br />
überzogen. Ironie gehört in Meyers Geschichte genauso<br />
dazu wie Hauptperson Motti, der nie genau<br />
weiss, wie ihm geschieht. Gleichzeitig übt der Roman<br />
Kritik an der heutigen Gesellschaft, indem er<br />
furchteinflössende Möglichkeiten aufzeigt, wie modernste<br />
Technik unser Denken beeinflussen kann.<br />
Eine gelungene Mischung aus Spannung und Komik<br />
erwartet die Leserinnen und Leser.<br />
Gioia Jöhri<br />
Wolkenbruchs waghalsiges<br />
Stelldichein mit der<br />
Spionin<br />
Thomas Meyer<br />
Diogenes Verlag<br />
<strong>2019</strong><br />
288 Seiten<br />
Eine Liebeserklärung an das Lesen<br />
Einigen Verben steht ihre Imperativform einfach<br />
nicht. Lesen ist eines von ihnen. Genau wie<br />
träumen. Oder lieben. Das würde ja absurd klingen:<br />
Träume! Liebe! Lies! Mit dieser Feststellung eröffnet<br />
Daniel Pennac sein Buch «Wie ein Roman» – und hat<br />
damit von der ersten Seite an meine volle Aufmerksamkeit.<br />
Niemand kann mich dazu zwingen, mich<br />
durch einen elend langen wissenschaftlichen Artikel<br />
zu quälen? Meine unangenehmsten Emails endlich<br />
durchzugehen? Nicht, wenn es nach Pennac geht.<br />
In kurzen Sequenzen, die sich auch wunderbar<br />
durcheinander lesen lassen, erzählt er von einem<br />
Jungen, der zunächst noch fasziniert ist vom Lesen.<br />
Buchstabe für Buchstabe kämpft er sich vor auf<br />
unbekannte Seiten und Kapitel. Bald muss er aber<br />
feststellen, dass mit dem Lesen grosser Druck von<br />
aussen verbunden sein kann: Bei Hausaufgaben<br />
reicht es nun einmal nicht, stundenlang ein Blatt<br />
Papier anzustarren, ohne die darauf geschriebenen<br />
Worte in sein Gehirn aufzunehmen. Lesen klingt für<br />
ihn mehr und mehr nur noch nach Verpflichtung.<br />
Freiwillig tut er sich das auf jeden Fall nicht mehr an.<br />
Pennac beschreibt, wie man sich als Leser und Leserin<br />
völlig ohne Zwang aus diesem Tief befreien kann.<br />
Als Grundpfeiler dafür stellt er zehn Rechte auf, derer<br />
sich jeder Leser und jede Leserin bedienen darf.<br />
Das Recht, nicht zu lesen, Seiten zu überspringen<br />
oder das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen,<br />
sind bloss die ersten drei.<br />
«Wie ein Roman» ist eine Liebeserklärung an das Lesen,<br />
wie viele es vielleicht noch aus Kindheitstagen<br />
kennen: Noch ein Kapitel, nur noch eins, vorgelesen<br />
von Papa vor dem Schlafengehen. Oder mit der Taschenlampe<br />
unter der Bettdecke, damit die Eltern<br />
nicht merken, dass man lange nach der festgesetzten<br />
Schlafenszeit immer noch wach ist. Mitten in der<br />
Welt, die man sich zusammenliest, beinahe als ein<br />
Teil von ihr. Pennac schreibt auf eine unmittelbare<br />
und ehrliche Art, die berührt und Lust auf mehr<br />
macht.<br />
Wer ausreichend Französisch beherrscht, um «Wie<br />
ein Roman» in der Originalsprache zu lesen, ist sicher<br />
noch ein Stück näher am Kern des Buchs. Auch<br />
auf Deutsch ist es jedoch absolut empfehlenswert<br />
für alle, die ein bisschen Motivation in Sachen Lesen<br />
gebrauchen könnten.<br />
Katharina Schatton<br />
Wie ein Roman<br />
Daniel Pennac<br />
Kiepenheuer & Witsch,<br />
2006<br />
203 Seiten<br />
11.<strong>2019</strong><br />
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