Spectrum_1_2020
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
Ich wollte mich zu der Zeit für Jesus
entscheiden, wusste aber nicht, wie das
geht. Deshalb habe ich Jesus im Gebet
um Menschen gebeten, die mir dabei
helfen können, diesen Weg zu gehen.
Tatsächlich bin ich kurz darauf anderen
Christen und Christinnen begegnet, die
mir ihre Form von Gemeinschaft gezeigt
haben. Meine Familie und manche
meiner Freundinnen und Freunde
waren vor allem anfangs von meiner
Entscheidung befremdet, weil sie mich
nicht als die Person erkannten, die sie
kennengelernt hatten.
EJ: Ich wurde nie getauft. Als alle meine
Freundinnen den Konfirmationsunterricht
besuchten, fragte ich meine Mutter
trotzdem, ob ich auch daran teilnehmen
könne. Sie hat mir die Wahl
gelassen, ich habe es dann aber nie
ausprobiert. Im Gymnasium habe ich
an der Religionskunde teilgenommen
und habe mir zeitweise auch überlegt,
Religionswissenschaften zu studieren.
Wie man an Dinge glauben kann, die
man nicht sieht, hat mich immer schon
fasziniert.
GR: Selber an etwas glauben möchtest
du aber nicht?
EJ: Ich könnte wahrscheinlich gar nicht
an Gott glauben. Ob es daran liegt, dass
ich es nicht will oder dass ich es nicht
kann, das ist eine spannende Frage.
Wie lebt ihr eure Ansichten im
Alltag aus?
GR: Das Gebet ist für mich zentral.
Wenn ich aufstehe, lobe ich Gott und
danke ihm für den neuen Tag. Wann
immer möglich gehe ich sonntags in
die Kirche oder treffe mich mit Leuten
zum Gebet. Ich habe gewissermassen
über die Woche verteilt Treffen mit
Jesus, mit Menschen oder mit beiden
gleichzeitig. Zudem versuche ich, viel
Zeit für meine Nächsten aufzuwenden.
Wenn Leute in meinem Umfeld jemanden
brauchen, versuche ich zu helfen.
Das ist für mich Nächstenliebe.
EJ: Ich glaube, ich lebe einfach ganz
normal.
GR: Ich auch. (beide lachen)
EJ: Für mich ist die ganze Welt aus
Zufällen entstanden. Die Evolution,
Nationalstaaten und auch Religionen.
Ich glaube an die Wissenschaft
und daran, dass es Dinge gibt, die wir
nicht erklären können, weil wir einfach
noch nicht so weit sind. Spezielle
Rituale, um diese Ansichten auszuleben,
habe ich aber nicht.
GR: Hast du eigentlich Angst vor Religion?
EJ: Weil ich nicht daran glaube, kann
ich auch keine Angst davor haben.
Nach meinem Tod werde ich ganz
einfach nicht mehr existieren. Trotzdem
denke ich, dass Dinge für Menschen
auf eine gewisse Weise real
werden, wenn sie stark daran glauben.
GR: Vielleicht würdest du dem nicht
zustimmen, aber ich finde, Atheismus
ist auch eine Art Glaube. Man
formuliert ihn bloss anders: «Ich
glaube nicht, dass…» Man möchte
nicht an etwas glauben, das man
nicht sieht. Liebe beispielsweise
sieht man aber auch nicht, nur ihre
Konsequenzen. Mit Gott ist es meiner
Meinung nach ähnlich. Man sieht
nicht wirklich, dass er da ist, aber
man sieht die Veränderungen, die
er in den Lebenswirklichkeiten von
Menschen bewirkt.
EJ: Ich denke, wir stimmen in dem
Punkt überein, dass Glaube und Religion
zwei verschiedene Dinge sind.
Atheismus hat keine Institution, Hierarchie
oder Struktur. So habe ich zwar
keine rituellen Praktiken, trotzdem beeinflusst
der Glaube mein Leben. Nach
diesen Kriterien ist Atheismus schon ein
Glaube, aber keine Religion. Ich gehe davon
aus, dass alle an etwas glauben, auch
wenn das bedeutet, an nichts zu glauben.
EJ: Ist Gott deiner Auffassung nach allmächtig?
GR: Ja. Willst du die Anschlussfrage stellen,
warum es so viel Leid gibt?
EJ: Ja genau, ich kann diese beiden Bilder
einfach nicht vereinen.
GR: Das ist eine zentrale Frage meines
Glaubens. Die Bibel sagt, dass der
Mensch frei ist. Jeder und jede kann
sich deshalb gegen Gott oder andere
Menschen stellen. Schlussendlich sind
es die Menschen selbst, die über ihr
Handeln entscheiden. Das meiste Leid
der Welt entsteht durch Menschen, die
schlechte Entscheidungen getroffen
haben. Trotzdem bleibt Gott da, auch
wenn es uns schlecht geht, und leidet
mit uns.
EJ: Bist du mit deinen Ansichten auch
schon auf Ablehnung gestossen?
GR: Ja, fast täglich. Ich denke, die Gesellschaft
als Ganzes möchte sich eher
von christlichen Werten trennen. Ablehnung
gehört darum einfach dazu.
Das nehme ich den Leuten nicht übel.
Es ist nicht meine Aufgabe, andere zu
überreden, sondern wie ein Zeuge von
dem zu erzählen, was ich erlebt und erfahren
habe. ■
Gaetano Roulin studiert in Bern
Sprachwissenschaften und Judaistik
im Bachelor und ist Mitglied der
christlichen Hochschulgruppe VBG
(Vereinigte Bibelgruppen) an der Universität
Freiburg.
Elisa Jeanneret studiert Kommunikationswissenschaften
und Sozialanthropologie
im Bachelor und ist
Redakteurin für die deutschsprachige
Redaktion von Spectrum.
02.2020
5