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Spectrum_1_2020

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Ich wollte mich zu der Zeit für Jesus

entscheiden, wusste aber nicht, wie das

geht. Deshalb habe ich Jesus im Gebet

um Menschen gebeten, die mir dabei

helfen können, diesen Weg zu gehen.

Tatsächlich bin ich kurz darauf anderen

Christen und Christinnen begegnet, die

mir ihre Form von Gemeinschaft gezeigt

haben. Meine Familie und manche

meiner Freundinnen und Freunde

waren vor allem anfangs von meiner

Entscheidung befremdet, weil sie mich

nicht als die Person erkannten, die sie

kennengelernt hatten.

EJ: Ich wurde nie getauft. Als alle meine

Freundinnen den Konfirmationsunterricht

besuchten, fragte ich meine Mutter

trotzdem, ob ich auch daran teilnehmen

könne. Sie hat mir die Wahl

gelassen, ich habe es dann aber nie

ausprobiert. Im Gymnasium habe ich

an der Religionskunde teilgenommen

und habe mir zeitweise auch überlegt,

Religionswissenschaften zu studieren.

Wie man an Dinge glauben kann, die

man nicht sieht, hat mich immer schon

fasziniert.

GR: Selber an etwas glauben möchtest

du aber nicht?

EJ: Ich könnte wahrscheinlich gar nicht

an Gott glauben. Ob es daran liegt, dass

ich es nicht will oder dass ich es nicht

kann, das ist eine spannende Frage.

Wie lebt ihr eure Ansichten im

Alltag aus?

GR: Das Gebet ist für mich zentral.

Wenn ich aufstehe, lobe ich Gott und

danke ihm für den neuen Tag. Wann

immer möglich gehe ich sonntags in

die Kirche oder treffe mich mit Leuten

zum Gebet. Ich habe gewissermassen

über die Woche verteilt Treffen mit

Jesus, mit Menschen oder mit beiden

gleichzeitig. Zudem versuche ich, viel

Zeit für meine Nächsten aufzuwenden.

Wenn Leute in meinem Umfeld jemanden

brauchen, versuche ich zu helfen.

Das ist für mich Nächstenliebe.

EJ: Ich glaube, ich lebe einfach ganz

normal.

GR: Ich auch. (beide lachen)

EJ: Für mich ist die ganze Welt aus

Zufällen entstanden. Die Evolution,

Nationalstaaten und auch Religionen.

Ich glaube an die Wissenschaft

und daran, dass es Dinge gibt, die wir

nicht erklären können, weil wir einfach

noch nicht so weit sind. Spezielle

Rituale, um diese Ansichten auszuleben,

habe ich aber nicht.

GR: Hast du eigentlich Angst vor Religion?

EJ: Weil ich nicht daran glaube, kann

ich auch keine Angst davor haben.

Nach meinem Tod werde ich ganz

einfach nicht mehr existieren. Trotzdem

denke ich, dass Dinge für Menschen

auf eine gewisse Weise real

werden, wenn sie stark daran glauben.

GR: Vielleicht würdest du dem nicht

zustimmen, aber ich finde, Atheismus

ist auch eine Art Glaube. Man

formuliert ihn bloss anders: «Ich

glaube nicht, dass…» Man möchte

nicht an etwas glauben, das man

nicht sieht. Liebe beispielsweise

sieht man aber auch nicht, nur ihre

Konsequenzen. Mit Gott ist es meiner

Meinung nach ähnlich. Man sieht

nicht wirklich, dass er da ist, aber

man sieht die Veränderungen, die

er in den Lebenswirklichkeiten von

Menschen bewirkt.

EJ: Ich denke, wir stimmen in dem

Punkt überein, dass Glaube und Religion

zwei verschiedene Dinge sind.

Atheismus hat keine Institution, Hierarchie

oder Struktur. So habe ich zwar

keine rituellen Praktiken, trotzdem beeinflusst

der Glaube mein Leben. Nach

diesen Kriterien ist Atheismus schon ein

Glaube, aber keine Religion. Ich gehe davon

aus, dass alle an etwas glauben, auch

wenn das bedeutet, an nichts zu glauben.

EJ: Ist Gott deiner Auffassung nach allmächtig?

GR: Ja. Willst du die Anschlussfrage stellen,

warum es so viel Leid gibt?

EJ: Ja genau, ich kann diese beiden Bilder

einfach nicht vereinen.

GR: Das ist eine zentrale Frage meines

Glaubens. Die Bibel sagt, dass der

Mensch frei ist. Jeder und jede kann

sich deshalb gegen Gott oder andere

Menschen stellen. Schlussendlich sind

es die Menschen selbst, die über ihr

Handeln entscheiden. Das meiste Leid

der Welt entsteht durch Menschen, die

schlechte Entscheidungen getroffen

haben. Trotzdem bleibt Gott da, auch

wenn es uns schlecht geht, und leidet

mit uns.

EJ: Bist du mit deinen Ansichten auch

schon auf Ablehnung gestossen?

GR: Ja, fast täglich. Ich denke, die Gesellschaft

als Ganzes möchte sich eher

von christlichen Werten trennen. Ablehnung

gehört darum einfach dazu.

Das nehme ich den Leuten nicht übel.

Es ist nicht meine Aufgabe, andere zu

überreden, sondern wie ein Zeuge von

dem zu erzählen, was ich erlebt und erfahren

habe. ■

Gaetano Roulin studiert in Bern

Sprachwissenschaften und Judaistik

im Bachelor und ist Mitglied der

christlichen Hochschulgruppe VBG

(Vereinigte Bibelgruppen) an der Universität

Freiburg.

Elisa Jeanneret studiert Kommunikationswissenschaften

und Sozialanthropologie

im Bachelor und ist

Redakteurin für die deutschsprachige

Redaktion von Spectrum.

02.2020

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