22.11.2020 Aufrufe

Luise Duttenhofers Lese-Szenen

Luise Duttenhofer (geb. 1776 in Waiblingen, gest. 1829 in Stuttgart) ist eine der bedeutendsten deutschen Scherenschnittkünstlerinnen. Da ihr die Familie eine Ausbildung an einer Akademie verwehrte, griff sie zu Papier und Schere und damit zu jenen Werkzeugen, die man damals Frauen zur Freizeitgestaltung zugestand. Luise Duttenhofer lebte lange Zeit in der Stuttgarter „Reichen Vorstadt“ (der Gegend um Hospitalhof und Liederhalle) und porträtierte dort zahlreiche prominente Stuttgarter und deren Gäste. Über 1.200 Scherenschnitte haben sich erhalten, viele davon nur postkartengroß, weil sie von ihr mehr als persönliches Geschenk denn als Kunstwerk gedacht waren. Auswahl und Text: Heike Gfrereis und Hannelore Schlaffer. Duttenhofers Scherenschnitte sind die historischen Exponate im Leselabor des Literaturmuseums der Moderne:

Die Nase tief ins Buch stecken, am Text kleben, die Welt vergessen – die schwäbische Scherenschnittkünstlerin hat die Lesetypen des 19. Jahrhunderts in bezaubernd-ironischen Bildern eingefangen. Friedrich Schiller liest selbst dann noch, wenn er als Unsterblicher dahinschreitet. Doch: Wie lesen wir heute was und warum? Ein Raum im Literaturmuseum der Moderne führt mit wechselnden Schwerpunkten Möglichkeiten des Lesens von Texten und von ihren Aggregatzuständen im Archiv vor und lädt die Besucher ein, über ihre eigenen Lesegewohnheiten und Lesemotivationen mehr zu erfahren. Das Leselabor ist Teil des im Rahmen der Digitalisierungsstrategie des Landes Baden-Württemberg geförderten Projekts „Lesen digital“, das gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien Tübingen das digitale und analoge Lesen erforscht.

Luise Duttenhofer (geb. 1776 in Waiblingen, gest. 1829 in Stuttgart) ist eine der bedeutendsten deutschen Scherenschnittkünstlerinnen. Da ihr die Familie eine Ausbildung an einer Akademie verwehrte, griff sie zu Papier und Schere und damit zu jenen Werkzeugen, die man damals Frauen zur Freizeitgestaltung zugestand. Luise Duttenhofer lebte lange Zeit in der Stuttgarter „Reichen Vorstadt“ (der Gegend um Hospitalhof und Liederhalle) und porträtierte dort zahlreiche prominente Stuttgarter und deren Gäste. Über 1.200 Scherenschnitte haben sich erhalten, viele davon nur postkartengroß, weil sie von ihr mehr als persönliches Geschenk denn als Kunstwerk gedacht waren. Auswahl und Text: Heike Gfrereis und Hannelore Schlaffer.

Duttenhofers Scherenschnitte sind die historischen Exponate im Leselabor des Literaturmuseums der Moderne:

Die Nase tief ins Buch stecken, am Text kleben, die Welt vergessen – die schwäbische Scherenschnittkünstlerin hat die Lesetypen des 19. Jahrhunderts in bezaubernd-ironischen Bildern eingefangen. Friedrich Schiller liest selbst dann noch, wenn er als Unsterblicher dahinschreitet. Doch: Wie lesen wir heute was und warum? Ein Raum im Literaturmuseum der Moderne führt mit wechselnden Schwerpunkten Möglichkeiten des Lesens von Texten und von ihren Aggregatzuständen im Archiv vor und lädt die Besucher ein, über ihre eigenen Lesegewohnheiten und Lesemotivationen mehr zu erfahren.

Das Leselabor ist Teil des im Rahmen der Digitalisierungsstrategie des Landes Baden-Württemberg geförderten Projekts „Lesen digital“, das gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien Tübingen das digitale und analoge Lesen erforscht.

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Lesezenen


Wo und wie liest man in der

gutbürger lichen und adeligen

Gesellschaft um 1800? In welchen

Räumen wird gelesen, in welchen

Situationen, zusammen oder alleine?

Sieht man den Lesern ihren

Rang an? Lesen Männer anders

als Frauen?




Die Leserin Über sich Sternenblumen,

unter sich nichts als Papier? Denn die

Schrift stellerin Therese Huber (1764–1829)

war Redakteurin der Kunstbeilage von

Cottas Morgenblatt für gebildete Stände

in Stuttgart, eine der ersten Frauen also,

die im kulturellen Bereich einen Beruf

hatte und davon leben konnte.



Ehefrau eines Intellektuellen Vielleicht

könnte man ihm als junge Ehefrau den

Kopf abreißen wollen, diesem Dauerleser

Matthisson (1761–1831), der wegen seiner

Berühmtheit 1812 vom württembergischen

König Friedrich I. als Oberbibliothekar

und Theaterintendant nach Stuttgart

berufen worden war?



„Teatime“ in Stuttgart

nicht, sie lassen sich vorlesen. Marie von

Jenisson und Alexandrine von Sekendorf

beschäftigen einen Herrn Weber (vielleicht

sogar den Komponisten Carl Maria von

Weber), der ihnen beim Teetrinken vorliest

und sogar den Geist der Teekanne zu



Athene in der Provinz Wird die plumpe

Frau Dr. Gott aus dem auf keiner Karte

Lesen zur antiken, behelmten Göttin der

Weisheit – oder nur wegen ihres Namens?



Schiller, lesend oder dichtend Mit der

rechten Hand hält der Dichter das Buch,

mit der linken klopft er das Versmaß. Eine

der Ruine hört jedenfalls aufmerksam und

verwundert zu.

Luise Duttenhofer ist Friedrich Schiller

vermutlich nie persönlich begegnet, kannte

aber die Studien und Porträtbüsten, die

Johann Heinrich Dannecker von ihm

angefertigt hat.



Bildung oder Einbildung Der Messner Vogt

in Altingen bei Tübingen zeichnet sich

beim Lesen durch seinen großen Dreispitz

aus, im Volksmund „Nebelspalter“ genannt.

Die militärische Kopfbedeckung, die vor

allem gegen jede Art von Witterung

des ehrenkäsigen Bildungsbürgertums.



Ein Mann und ein lesendes Fräulein

Die unverheiratete Tochter des Stuttgarter

Hofrats Johann Georg Hartmann, dessen

Zentrum der Stadt war, und ein Herr „Dann“

(vielleicht der Bildhauer Johann Heinrich

schleichen scheint.



Nutzen oder Genuss Strümpfe stricken

oder Lesen? Beides jedenfalls geschieht

bei einer Dame in aufrechter Haltung.



Lesen als Arbeit Der Dichter und

Orientalist Friedrich Rückert (1788–1866)

wurde 1815 für zwei Jahre Redakteur des

poetischen Teils von Cottas Morgenblatt

für gebildete Stände in Stuttgart und

liest mit gebeugtem Rücken stapelweise.



Leseschatten

steller Friedrich von Matthisson, der

eitle Poet, der seinen Schatten wirft.

Nur der Spitz kann mit dem scharfen



Stehend lesen Der Schriftsteller und

preußische Legationssekretär Ludwig

Schubart (1765–1811), der u.a. auch eine

Friedrich Daniel Schubart schrieb und

erlesenen Gedanken die Zehenspitzen hebt.



Unterschlupf Der Stuttgarter Apotheker

Apothekenräume es heute immer noch in

Stuttgart (Oberer Marktplatz) und

Schorndorf gibt, mit seinem Dackel.



Das mit Fußpodest lesende Europa

es um 1800 im gebildeten Stuttgart zu.



Hausarbeit und Bildung Für Frauen ist

Lesen noch immer ein Nebenher: die mit den

guten Augen liest vor, die andere strickt.



Schillers Apotheose Im Kahn wartet schon

der Fährmann Charon, um den Dichter über

den Styx ins Jenseits überzusetzen und die

Lyra liegt bereit – das Instrument, das

der Götterbote und Seelenbegleiter Hermes

erfunden und seinem Bruder Apollo, dem

Gott der Poesie, geschenkt hat. Schiller

liest dieweil noch in aller Seelenruhe.

Seine Jünger tragen auf dieser antikisch

stilisierten Himmelfahrt die Schleppe und

halten ihm den Lorbeer über den Kopf.


Erinnerungen

an gesehene Bilder und gelesene Geschichten


Luise Duttenhofer nutzt für ihre

Kunst oft auch Vorlagen, die sie

phantasievoll und realitätskritisch

abwandelt.



Unsterblichen Liebe Die nicht ganz

glücklich verheiratete Luise Duttenhofer

stellt sich selbst oft als Psyche dar, der

z.B. die Flügel gestutzt werden oder der

illustriert sie eine Szene aus dem Märchen

von Amor und Psyche, das Apuleius in

Der goldene Esel erzählt. Ein Flussgott

die sich gerade verzweifelt eine Klippe

dischen Schwestern hatte sie gegen das

Gebot verstoßen, ihren nächtlichen

Liebhaber nicht anzusehen, worauf er

sie verlassen hat: Psyche sollte Amor,

den Sohn der Liebesgöttin Venus, nicht

erkennen. Der Flussgott rettet Psyche und

setzt sie sanft am „blumen reichen Gestade“

ab, wo der bocksbeinige Gott Pan sie

trösten und ihr raten wird, zu Amor zu

beten. Am Ende wird dann alles gut:

Psyche heiratet Amor und wird in den

Götterhimmel aufgenommen.



Christentum und Antike Inmitten einer

Welt aus antik anmutenden Fabelwesen

und verspielter Amoretten steht Jesus

und nimmt ein Kind an die Hand: „Lasst

die Kinder zu mir kommen“, denn: „Wer das

Reich Gottes nicht so annimmt wie ein

Kind, der wird nicht hineinkommen.

dann legte er ihnen die Hände auf und

segnete sie.“



Sanfter Tod Der Sage nach erstickte der

griechische Dichter Anakreon (Namensgeber

der Antike und im 18. Jahrhundert, der

sog. Anakreontik) in hohem Alter an einer

Traube. Bevor der Götterbote Hermes

dessen speziellen Seelenvogel, die

ins Jenseits führen kann, muss er ihm

daher erst eine riesige Weintraube

aus der Hand nehmen.



Himmlische und irdische Liebe

Zwei Kinder: Über den Wolken lenkt Amor,

dessen Pfeil sich in eine Rose verwandelt

hat, das Pferd der Dichter, Pegasus –

die himmlische Liebe gebiert die Poesie.

Ein Neugeborenes hingegen ist Folge des

bacchantischen Gelages, das unter den

hofer nur allzu gerne darstellt.



Duttenhofer ihre Scherenschnitte mit

Grotesken, wie sie sie in der Engelsburg

in Rom gesehen hatte. Die Groteske reiht

die verschiedensten Bildgegenstände in ein

ornamentales Liniengefüge ein – die

Phantasie setzt sich über vorgefertigte

und eindeutige Bildmotive hinweg.



Abendland und Morgenland Wieder vereinen

sich unvereinbare Motive. Der Schmuck am

Rand zeigt Sphingen und Reiher, in der

Mitte könnten es die heiligen drei Könige

sein, die mit Elefant, Kamel und Pferd zur

Krippe des Christkinds unterwegs sind.



Vermutlich eine Variation

Triumph der Galatea in der

Galeria Farnesina, einem Fresko, das

Luise Duttenhofer in Rom gesehen hat:

Die schöne Nymphe Galatea entkommt dem

hässlichen einäugigen Polyphem und anderen

schlüpfrigen Verehrern. Bei Duttenhofer

entkommt die Dahinsegelnde einem Hahn

und dem Meeresungeheuer durch eine Welt

aus Papier – sie schreibt, zeichnet

oder liest mit dem Stift.



Eheglück Hahn und Huhn, Luise und

leicht wiederzuerkennen im Bild

durch das Gerät des Kupferstechers,

der er war. Die Kätzlein fangen sorgend

ein Ei auf, das das Huhn gelegt hat,

während der Hahn das Familienglück

aller Welt verkündet.



Männereitelkeit Die Pfauen sind die Vögel

der Hera, der Ehefrau des Göttervater

Zeus. Eine Vignette stellt diese Göttin

dar, wie sie, von Pfauen gezogen, über

den Himmel fährt. Wieder ist ein eitler

Hahn dabei

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