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Grundschule aktuell 122

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Praxis: Kritische Stellen und Förderideen<br />

Reinhard Stähling<br />

Stoffliche Hürden und Inklusion<br />

In seiner Abhandlung »Vom Konstrukt der Rechenschwäche zum Konstrukt<br />

der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden (nbsH)« schreibt der Mathematikdidaktiker<br />

Wolfram Meyerhöfer (2011) über das Phänomen, was jeder erfahrenen<br />

Lehrerin bekannt ist: Ein Schüler hat einen Unterrichtsinhalt nicht verstanden<br />

und eine nicht ausreichende Leistung in diesem Stoffgebiet nachgewiesen,<br />

aber dennoch wird die Lehrkraft den neuen Unterrichtsstoff, der auf dem nichtverstandenen<br />

vorherigen aufbaut, in der nächsten Unterrichtsreihe »durchnehmen«.<br />

Sie tut so, als habe dieser »Mangel«<br />

oder das »Ungenügen« in dem<br />

Stoff für die nächsten Unterrichtsstunden<br />

keine Bedeutung, obwohl ein<br />

Schüler die Grundlagen offensichtlich<br />

noch nicht beherrscht und die Mängel<br />

»in absehbarer Zeit nicht behoben werden«<br />

können. Keine Lehrkraft ist frei<br />

von diesem Dilemma. Wie soll man jedem<br />

gerecht werden, wenn man alleine<br />

vor der Klasse steht?<br />

Wir versuchen in der <strong>Grundschule</strong><br />

Berg Fidel dafür zu sorgen, dass niemand<br />

alleine mit seiner Klasse arbeiten<br />

muss. Das ist in den meisten Schulen<br />

denkbar, selbst wenn keine Sonderpädagogen<br />

an Bord sein sollten. Studenten,<br />

ehrenamtliche Helfer oder Eltern,<br />

aber auch der Einsatz der Kräfte für den<br />

Ganztag im Unterricht würde dies ermöglichen.<br />

Ein Beispiel aus unserem Schulalltag<br />

in Berg Fidel (vgl. Stähling / Wenders<br />

2012): Ich möchte den Kindern<br />

die schriftliche Multiplikation<br />

vermitteln und<br />

stelle fest, dass das 1 × 1 noch<br />

nicht bei allen Drittklässlern<br />

»sitzt«. Wir wiederholen<br />

täglich die 1 × 1­Reihen und<br />

üben daran. Dann glaube<br />

ich, dass ich die Lernvoraussetzungen<br />

geschaffen habe,<br />

um nun mit dem Verfahren<br />

der schriftlichen Multiplikation<br />

zu beginnen. Aber ich<br />

sollte mich nicht täuschen:<br />

da gibt es nämlich Linda,<br />

die langsamer lernt. Sie kann<br />

das 1 × 1 noch nicht sicher.<br />

Um ihr aber das schriftliche<br />

Verfahren zu zeigen,<br />

stelle ich ihr Aufgaben, die<br />

sie sicher bewältigen kann,<br />

weil sie schon die 2er-Reihe beherrscht:<br />

234 × 2, also Aufgaben ohne Zehnerübergang.<br />

Erst nach mehreren Tagen<br />

ist sie sicher und wir können auch Aufgaben<br />

des Types 456 × 2 wagen, um im<br />

zweiten Schritt auch den notwendigen<br />

Zehnerübergang zu trainieren. Hier bewegen<br />

wir uns noch im Bereich der 2er-<br />

Reihe. Wird aber das Gebiet schwieriger,<br />

z. B. durch die Faktoren 6, 7, 8, 9,<br />

so kann ich davon ausgehen, dass sie es<br />

sich nicht zutraut und auch daran scheitert,<br />

weil sie die 6er-Reihe z. B. nicht<br />

beherrscht. Wir brauchen länger. Die<br />

schwierigeren Aufgaben benötigen das<br />

sichere 1 × 1. Also machen wir eine Unterbrechung<br />

im schriftlichen Verfahren<br />

und trainieren täglich weiter – über<br />

mehrere Wochen, bis das ganze 1 × 1<br />

sitzt. Jetzt kommen wir zurück zum<br />

schriftlichen Verfahren – und siehe da:<br />

Linda ist stolz auf ihre Leistung. Harte<br />

Arbeit hat sich gelohnt.<br />

Fotos in diesem Beitrag: Donata Wenders<br />

Wie leicht wäre es gewesen, zu sagen,<br />

dass sie die Wiederholung des 1 × 1<br />

selbstständig zu Hause hätte erledigen<br />

müssen – weil sie es aber nicht genügend<br />

tat, »sind wir nicht verantwortlich<br />

für ihr Scheitern«. Wer aber scheitert<br />

hier eigentlich?<br />

Lehrerinnen und Lehrer wollen doch<br />

schon seit langem wissen, wo die »stofflichen<br />

Hürden« oder »kritischen Stellen«<br />

in ihrem Fachgebiet liegen und wie<br />

sie im Unterricht gut bearbeitet werden<br />

können, damit alle Schülerinnen<br />

und Schüler diese Klippen überwinden<br />

können. Wer hilft hier weiter? Der<br />

Schuber des Grundschulverbandes für<br />

Deutsch, Mathematik und Basiskompetenzen<br />

(Bartnitzky / Hecker / Lassek<br />

2012) gibt wichtige Hinweise. Für das<br />

Fach Mathematik stellt Wolfram Meyerhöfer<br />

(2011) das Problem der »stofflichen<br />

Hürden« überzeugend heraus. Er<br />

zeigt, dass so genannte »Rechenschwäche«<br />

darauf zurückzuführen ist, dass<br />

ein Kind z. B. die Hürde der Ablösung<br />

vom zählenden Rechnen noch nicht genommen<br />

hat. Dies erfordert fachdidaktische<br />

Kenntnisse und Erfahrungen mit<br />

dem Zahlbegriffserwerb bei Kindern:<br />

»Es geht nicht mehr darum, früh zu<br />

erkennen, wer krank oder wer anfällig<br />

ist für eine Krankheit. Statt dessen geht<br />

es darum, zu verstehen, wo<br />

das Kind im Lern- und Verstehensprozess<br />

steht und es<br />

von dieser Stelle ausgehend<br />

begleitet werden kann«<br />

(Meyerhöfer 2011, S. 413).<br />

Das ist keineswegs selbstverständlich,<br />

wenn man eine<br />

Klasse mit 25 Kindern zum<br />

Ziel bringen muss.<br />

Auf diese Herausforderung<br />

versuchen wir in der <strong>Grundschule</strong><br />

Berg Fidel eine Antwort<br />

zu finden, die sowohl<br />

die fachdidaktischen Anforderungen<br />

berücksichtigt als<br />

auch die Lernerfolge bei jedem<br />

Einzelnen in den Blick<br />

nimmt. Dazu beginnen wir<br />

jeden Morgen in der Son­<br />

24 GS <strong>aktuell</strong> <strong>122</strong> • Mai 2013

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