Ideologische Feindbilder des 20 - Geschichtswerkstatt Jena eV
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<strong>Ideologische</strong> <strong>Feindbilder</strong> im <strong>20</strong>. Jahrhundert und ihre Wirkmächtigkeit bis in die<br />
Gegenwart - Annäherung an ein historisches Phänomen<br />
„Um zu lieben, muss man hassen können, man muss wissen, wo man steht, man muss die<br />
Feinde beim Namen nennen, damit es vorwärts geht.“ 1<br />
Das Thema <strong>Feindbilder</strong> ist ein höchst komplexes und zugleich ambivalentes Thema, das seit<br />
Menschengedenken eine zentrale Rolle für die individuelle und gesellschaftliche Existenz der<br />
Menschen spielt. <strong>Feindbilder</strong> bestimmen entwicklungspsychologisch das Sein <strong>des</strong> Menschen<br />
von seiner Geburt an und gründen sich auf soziale, kulturelle und individuelle Prägungen und<br />
Erfahrungen. Sie sind Ausdruck eines Abgrenzungsprozesses innerhalb einer Gemeinschaft<br />
oder Gesellschaft. Erkenntnisse, also Wissen, das Vermögen an Reflexion und Empathie<br />
können als Gegengewicht die zerstörerische Kraft von <strong>Feindbilder</strong>n relativieren und/oder<br />
zumin<strong>des</strong>t abmildern. Entscheidend für die Wirkmächtigkeit von <strong>Feindbilder</strong>n ist aber nicht<br />
deren Existenz an sich oder das Vermögen <strong>des</strong> Einzelnen zur Relativierung, sondern ihr<br />
vermeintlicher „Nutzen“ für den Einzelnen, eine Gruppe oder Gesellschaft. Im<br />
Nachfolgenden möchte ich nach einer kurzen Einführung zum Begriff Feindbild in einem<br />
„historischen Längsschnitt“ eine Annäherung an das historische „Phänomen“ ideologischer<br />
<strong>Feindbilder</strong> im <strong>20</strong>. Jahrhunderts und ihre Wirkmächtigkeit bis in die Gegenwart vornehmen.<br />
Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf die deutsche Geschichte als Folie hierfür. Es ist<br />
zu fragen, welche zentralen <strong>Feindbilder</strong> das vergangene Jahrhundert bestimmten und worauf<br />
sie im Konkreten abzielten. Anschließend skizziere ich an Hand von Beispielen, welche<br />
Wirkung die „alten“ <strong>Feindbilder</strong> bis in die Gegenwart entfalten.<br />
Fremdenangst - Potential ideologischer <strong>Feindbilder</strong><br />
Im sechsten bis achten Lebensmonat zeigen Kinder erstmals ängstliche Reaktionen auf<br />
fremde Gesichter, was auf der Verhaltensebene einer Kontaktverweigerung entspricht. Dies<br />
verweist einerseits darauf, dass fremde Gesichter als fremd erkannt werden, andererseits weist<br />
es auf eine Objektbeziehung zu Bezugspersonen hin. Darin kommt das sozial bedeutsame<br />
Phänomen zum Tragen, dass Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit bereits unterschieden<br />
werden. Die so genannte Fremdenangst in dieser Entwicklungsphase stellt eine<br />
„ontogenetische Erstform“ <strong>des</strong> Grundelements der Vergesellschaftung dar - die eingangs<br />
1 Liedtext der Volkspolizei der DDR: „Wir, die Genossen der VP“. In: Dienst am Volk, Hg. Ministerium <strong>des</strong><br />
Inneren der DDR, Berlin 1982, S. 52.
erläuterte Grenzziehung zwischen Innen und Außen, zugehörig und nicht-zugehörig: „In der<br />
Fremdenangst <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> steckt das Grundmodell für Fremdenfurcht und -ablehnung, stecken<br />
Verhaltensmuster, die durch Erziehungspraktiken zwar modifiziert und abgeschwächt werden<br />
können, aber als ein Potential weiterwirken, das durch Indoktrination mittels ideologischer<br />
<strong>Feindbilder</strong> jederzeit wieder belebt werden kann.“ 2<br />
Ein Feindbild ist voll negativer Energie, eine Büchse der Pandora, die kein Unheil anrichtet,<br />
solange sie geschlossen ist. Doch wenn man sie öffnet, ergießen sich aus ihr alle Übel der<br />
Welt. <strong>Feindbilder</strong> drücken sich in der Sprache aus, das macht sie, im Unterschied zu<br />
psychologischen Annahmen, objektiv beschreibbar. Der Begriff trägt dem modernen<br />
Bewusstsein Rechnung, dass in der menschlichen Gesellschaft ein Feind nicht etwas<br />
„natürlich“ Gegebenes ist (wie der „natürliche Feind“ im Tierreich), sondern die Folge einer<br />
Projektion: der Mensch ist nicht <strong>des</strong> Menschen Feind, sondern er sucht sich unter den<br />
Menschen Feinde beziehungsweise findet sich von anderen zum Feind erklärt. Ein Feindbild<br />
depersonalisiert. Schon die Uniform depersonalisiert, verwandelt den Gegner, der aus<br />
Individuen besteht, in eine ununterscheidbare Masse. Einen depersonalisierten Gegner zu<br />
töten ist einfacher, als sich vorzustellen, dass er einen Namen trägt, Frau und Kinder hat und<br />
im Frieden einen zivilen Beruf ausübt.“ 3<br />
Du musst deinen Feind kennen, um ihn besiegen zu können 4<br />
Zu den tschekistischen <strong>Feindbilder</strong>n <strong>des</strong> MfS gehörte es, „[…] in einem konkret definierten<br />
Verantwortungs- und Aufgabenbereich feindliche Tätigkeit gegen die Staatsordnung der DDR<br />
2 Pohlmann, Friedrich: Die soziale Geburt <strong>des</strong> Menschen. Einführung in die Anthropologie und<br />
Sozialpsychologie der frühen Kindheit. Weinheim und Basel <strong>20</strong>00, S.37.<br />
3 Der Begriff Feindbild ist in den 1980er Jahren in allgemeinen Gebrauch gekommen und reflektiert die<br />
Erkenntnis, dass die Dinge nicht nur sind, was sie sind, sondern auch und vor allem, was wir in sie hineinsehen.<br />
Es handelt sich um eine - berechtigte oder unberechtigte - Feindlichkeitsprojektion. Sie ist nicht immer<br />
unberechtigt; sie ist sogar häufig berechtigt. Vgl. Wagener, Sybil: <strong>Feindbilder</strong>. Wie kollektiver Hass entsteht,<br />
Berlin 1999.<br />
4 Verkürzte Aussage von Sunzi (auch Sun Zi oder Sun Tsu), chinesischer General, Militärstratege und Philosoph<br />
in seinem berühmten Buch „Die Kunst <strong>des</strong> Krieges“ ca. 2<strong>20</strong> - 280 v. Chr. im Königreich Wu (die Angabe „500<br />
vor Christus in der Zeit <strong>des</strong> Königreichs von Wau“ kann nicht stimmen. Ein solches Königreich gab es nicht).<br />
Zahlreiche Übersetzungen und Veröffentlichungen, so: Ssun-ds’: Traktat über die Kriegskunst, Verlag <strong>des</strong><br />
Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin (DDR), 1957. Diese Ausgabe ist eine Übersetzung aus dem<br />
Russischen. Zuletzt Sun Tsu: Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft. Die Kunst <strong>des</strong> Krieges, Thomas Cleary Hg.,<br />
Piper <strong>20</strong>01, ISBN 3-492-23330-9 (enthält viele Kommentare alter Chinesen, die aber direkt in den Text<br />
eingestreut sind; der Originaltext kann also nicht flüssig gelesen werden). Das Originalzitat lautet: „Wenn du den<br />
Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich<br />
selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du<br />
weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“ Gelegentlich auch als Zitat von<br />
Lenin stammend dargestellt: „Um den Feind zu besiegen, muss man ihn studieren“ bzw. „Es ist eine alte<br />
Wahrheit, dass man in der Politik oft vom Feinde lernen muss.“
aufzuspüren, aufzudecken und zu unterbinden, möglichst zu verhindern. […] inhaltlich ging<br />
es um <strong>Feindbilder</strong>, wenn wir von „Angriffsrichtungen, Mitteln, Methoden und Kräften <strong>des</strong><br />
Gegners“ sprachen und bei der Ausrichtung der Abwehrarbeit davon mit geleitet wurden.“ 5<br />
Das MfS hatte aus dem historischen Kontext der deutschen und kommunistischen Geschichte<br />
heraus bis zum Untergang der DDR vor allem zwei <strong>Feindbilder</strong> verinnerlicht: „Die<br />
Sozialdemokratie und die völkische Demagogie. Die Sozialdemokratie ist eine bürgerliche<br />
Partei und untrennbar verbunden mit der Bourgeoisie. Sie ist die Partei <strong>des</strong> Reformismus, <strong>des</strong><br />
Verrats am Proletariat, der Lakai der Bourgeoisie. Der andere Feind, die völkische<br />
Demagogie, ist die andere Waffe der Bourgeoisie, geführt von verkrachten Generalen<br />
(Ludendorff), von meineidigen Mörderorganisationen (Brigade Ehrhardt) und verrückt<br />
gewordenen Tapeziergehilfen (Hitler). Beider Parteien müssen vernichtet werden.“ 6<br />
Angeleitet von den revolutionären und ideologischen Dogmen Lenins und anderer russischer<br />
Kommunisten sowie dem unbedingten Willen zur Macht, träumten radikale deutsche<br />
Kommunisten in der Zeit der Novemberrevolution 1918 und der Weimarer Republik vom<br />
Bürgerkrieg, vom Zerschmettern der Bourgeoisie und von der Weltrevolution mit dem Ziel<br />
der Errichtung einer „Diktatur <strong>des</strong> Proletariats“. Die gesamte bürgerliche Gesellschaft sollte<br />
zerstört werden, das Eigentum beschlagnahmt und die gefährlichsten Gegner unter ihnen<br />
sollten vertrieben, interniert und überwacht werden. 7 Ganz ähnliche Vorstellungen<br />
entwickelten die radikalsten Kräfte der sogenannten Rechten, die Nationalisten und<br />
Nationalsozialisten. 8 Es entflammte ein gnadenloser ideologischer Kampf zwischen der<br />
demokratisch verfassten Welt, dem nationalen Sozialismus (Nationalsozialismus) und<br />
proletarisch-internationalem Kommunismus (Bolschewismus). Die aus dem politischen<br />
Scheitern <strong>des</strong> „langen“ 19. Jahrhunderts hervorgegangenen Brüche bestimmten die<br />
politischen Auseinandersetzungen und die Entwicklungen <strong>des</strong> „kurzen“ <strong>20</strong>. Jahrhunderts 9 ,<br />
was schätzungsweise 50 Millionen Menschen das Leben kostete. Die bestimmenden und sich<br />
gegeneinander richtenden ideologischen <strong>Feindbilder</strong> <strong>des</strong> <strong>20</strong>. Jahrhunderts in Europa und der<br />
Welt waren in sehr verschiedenen Fassetten der Nationalismus und der Kommunismus. Auch<br />
5 Panster, Klaus: Zum Feindbild, von dem die Abwehrarbeit <strong>des</strong> Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der<br />
DDR geprägt war. Einführung zur Diskussion beim Jour fixe <strong>des</strong> Insider-Komitees am 03.03.<strong>20</strong>04, Quelle:<br />
http://www.mfs-insider.de/Abhandlungen/FeindB.htm, Stand 16. Februar <strong>20</strong>11.<br />
6 Wahlaufruf der KPD vom 23. März 1924 auf dem Bezirksparteitag Berlin-Brandenburg. Abdruck in: Sombart,<br />
Werner: Der proletarische Sozialismus (Marxismus), zehnte Ausgabe der Schrift „Sozialismus und Soziale<br />
Bewegung“, zweiter Band „Die Bewegung“, <strong>Jena</strong> 1924, S. 442 ff.<br />
7 Ebenda.<br />
8 Tyrell, Albrecht: Führer befiehl… Selbstzeugnisse aus der Kampfzeit der NSDAP, Bindlach 1991, S. 8 f. bzw.<br />
S. <strong>20</strong> ff.; Schieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a.M. 1995,<br />
S. 45 ff., hier zu Paul Lensch: Die Geburt <strong>des</strong> nationalen Sozialismus, S. 48 zu nationalen <strong>Feindbilder</strong>n nach<br />
dem Ersten Weltkrieg und S. 52 zur Herausbildung eines proletarischen bzw. nationalen Sozialismus.<br />
9 Zu den Begriffen „kurzes“ <strong>20</strong>. Jahrhundert und „langes“ 19. Jahrhundert empfehle ich auch zur weiteren<br />
Einführung in das Thema Jesse, Eckhard: Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 - 1933 - 1945/49 - 1989/90,<br />
Köln, Weimar, Wien <strong>20</strong>10, S. 9.
zeitweilige Bündnisse von Nationalsozialismus und Kommunismus (Hitler-Stalin-Pakt),<br />
politische und ideologische Gemeinsamkeiten (Weltherrschaft sowie Herrschaftsanspruch)<br />
und Formen der Machtausübung (Diktatur) änderten an diesen <strong>Feindbilder</strong>n nichts. Gegen<br />
diese ideologische Feindschaft zwischen Nationalismus und Kommunismus mussten die<br />
bestehenden und sich entwickelnden Demokratien in Europa und den USA immer wieder<br />
behaupten und zur Wehr setzen (z. B. Anti-Hitler-Koalition, Kalter Krieg).<br />
Das „lange“ 19. Jahrhundert<br />
Beide Ideologien, Nationalismus und Kommunismus, waren Folge <strong>des</strong> sich entwickelnden<br />
europäischen Nationalismus im Ergebnis der Napoleonischen Kriege und eine Folge der<br />
Industrieellen Revolution. Die sich beschleunigende technische Entwicklung in der zweiten<br />
Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts führte den inzwischen weitgehend ökonomisch bestimmenden<br />
Kräften <strong>des</strong> Bürgertums vor Augen, dass „ihre“ politische Teilhabe an der Gesellschaft<br />
insgesamt notwendig wurde, um die weitere ökonomische Entfaltung zu sichern und voran zu<br />
treiben im Interesse <strong>des</strong> „Fortschritts“. Gleichzeitig erlebten die europäischen Gesellschaften<br />
insgesamt umwälzende Transformationsprozesse im Bereich der Arbeit. Aus einst leibeigenen<br />
und abhängigen Bauern der vorherigen Jahrhunderte wurden „freie“ Landarbeiter und später<br />
Industriearbeiter, jedoch ohne den geringsten politischen Einfluss oder gar einer<br />
angemessenen ökonomischen Teilhabe. Daraus folgend entbrannte die Frage nach der<br />
„rechten“ bzw. „gerechten“ Partizipation am politisch-gesellschaftlichen und technisch-<br />
ökonomischen Fortschritt. Sie ist eine der zentralen gesellschaftlichen Leitfragen geblieben<br />
bis in die Gegenwart. Der zunächst „progressive Nationalismus“ (Patriotismus) der von<br />
Napoleon unterdrückten Völker wandelte sich in Europa zu einem das 19. Jahrhundert<br />
bestimmenden politischen Faktor nationaler, politischer, ethischer und zum Teil rassistischer<br />
Abgrenzung. Eine Folge war der „frühe Antisemitismus“ <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts (z. B. die<br />
Dreyfus-Affäre) 10 als zunächst gesamteuropäisches Phänomen. Er speiste sich u. a. aus<br />
religiösen Versatzstücken in Abwehr und gegen die Abkehr von der christlichen Religion.<br />
Eine andere Folge der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft waren<br />
nationale und/oder politische (zumeist vor dem Hintergrund ökonomischer Probleme)<br />
Aufstände und Revolten (Unabhängigkeitskampf der Polen, Weberaufstand, Pariser<br />
Kommune). Während das Bürgertum im Nationalismus seinen Katalysator zur Durchsetzung<br />
10 Als Dreyfus-Affäre wurde der Fall <strong>des</strong> aus dem Elsass stammenden jüdischen Artilleriehauptmanns im<br />
französischen Generalstab Alfred Dreyfus bekannt, der in der III. Französischen Republik Ende <strong>des</strong> 19.<br />
Jahrhunderts wegen angeblichen Lan<strong>des</strong>verrats zu lebenslanger Verbannung und Haft verurteilt wurde. Die<br />
heftigen Debatten um seine Schuld oder Unschuld hatten weitreichende Auswirkungen auf die französische<br />
Innenpolitik und polarisierten mehrere Jahre lang die gesamte Gesellschaft und die junge französische Republik.
politischer und ökonomischer Interessen fand, nach wie vor beruhend auf dem Prinzip der<br />
politischen Ausgrenzung der arbeitenden Masse, fand die „unterdrückte Klasse“ im<br />
Marxismus ihren „neuen Glauben“ an eine gerechtere Welt. Beide entfalteten sich unmittelbar<br />
und parallel in einem bis heute die Gesellschaft bestimmenden Prozess der durchgreifenden<br />
Säkularisierung. Die Abwendung von der Religion als alleiniger „heilsbringender Ideologie“<br />
wurde so allmählich abgelöst von einem sich überlagernden Nationalismus auf der einen Seite<br />
und auf der anderen Seite von der Utopie eines alle Menschen befriedigenden<br />
Gesellschaftssystems, dem Kommunismus. 11<br />
Erste Höhepunkte in der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen in Deutschland waren<br />
nach dem „Erringen“ der nationalen Einheit (Deutsch-Französischer Krieg 1870/71) der<br />
politische Kampf Bismarcks gegen die katholische Kirche (Kirchenkampf) sowie die<br />
Bekämpfung der politisch aufstrebenden Arbeiterschaft (Sozialistengesetze). Nach dem<br />
Ausscheiden Bismarcks (Der Lotse geht von Bord) versuchte Kaiser Wilhelm II., alle Seiten<br />
„zufrieden zu stellen“. 12 Der angestrebte „Platz an der Sonne“ in Gestalt eines deutschen<br />
Kolonialismus bediente einerseits nationale Großmachtträume in Abgrenzung zu den anderen<br />
europäischen Großmächten, andererseits beförderte er den furiosen ökonomischen Aufstieg<br />
Deutschlands. Daran partizipierte die Arbeiterschaft, die zugleich Ende <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts<br />
die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung stellte, kaum, was deren Politisierung verstärkte.<br />
Auch koloniale Auswanderungsprogramme änderten daran nichts. Vor allem die Schwer- und<br />
Großindustrie profitierten von der kaiserlichen Kolonialpolitik. Letztere verwirklichte zudem<br />
durch den Bau zahlreicher Kriegsschiffe die kaiserliche Vision von einer mächtigen<br />
Kriegsflotte. 13<br />
Das „kurze“ <strong>20</strong>. Jahrhundert<br />
11 Sombart, Werner: Der proletarische Sozialismus (Marxismus), zehnte Ausgabe der Schrift „Sozialismus und<br />
Soziale Bewegung“, erster Band „Die Lehre“, <strong>Jena</strong> 1924, S. 116 f. und S. 248 ff. Zur Psychologie der Masse als<br />
Ausdruck der neuen sozialen Bewegungen im 19. und Anfang <strong>20</strong>. Jahrhundert vgl. Le Bon: Psychologie der<br />
Massen, Stuttgart 1957, S. 3: „Heute werden Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und<br />
laufen auf nichts Geringeres als auf den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft hinaus, um sie<br />
jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller<br />
menschlichen Gesellschaft war.“<br />
12 Zum Wirken Bismarcks u.a. Cranksahw, Edward: Bismarck, München 1983, S. 269 ff. Zur zeitgeschichtlichen<br />
Wertung der Rolle von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. vgl.: Graf Ernst von Reventlow: Von Potsdam nach<br />
Doorn, 12. Auflage, Berlin 1940, S. 118 u. 190 f.<br />
13 Eingebettet in den europäischen Kontext vgl. Gordon A. Craig: Geschichte Europas 1815-1980. Vom Wiener<br />
Kongreß bis zur Gegenwart, München 1983, S. 284 ff.; vgl. auch Mann, Golo: Deutsche Geschichte <strong>des</strong> 19. und<br />
<strong>20</strong>. Jahrhunderts., Frankfurt a. M 1993, S. 452 ff.
Kulminationspunkt dieser Entwicklung war der 1. Weltkrieg ab 1914, der Große Krieg, wie er<br />
damals hieß. 14 Der Kaiser kannte von da an keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche,<br />
die nun ihre Pflicht zu erfüllen hätten. Bisher zeitlich begrenzte <strong>Feindbilder</strong> unter den<br />
„Mächtigen der Welt“ wandelten sich besonders in Deutschland in Folge <strong>des</strong> verlorenen<br />
gegangenen Krieges (Alleinkriegschuld, Versailler Vertrag) und vor dem Hintergrund <strong>des</strong><br />
sich daraus speisenden Nationalismus in eine manifeste Ideologie, von der besonders der<br />
aufkommende Nationalsozialismus in den Jahren der Weimarer Republik profitierte. 15<br />
Anderserseits bündelte die deutsche Niederlage bisher ungekannte revolutionäre Kräfte und<br />
Dimensionen in der Arbeiterschaft, wofür das Deutsche Reich und der verlorene Krieg<br />
maßgeblich selbst verantwortlich waren. Lenins Bolschewiki wäre allerdings ohne deutsche<br />
materielle und logistische Unterstützung weder an die politische Macht in Russland<br />
gekommen, noch hätte sich Lenins Revolution durchsetzen oder gar halten können. 16 Lenin<br />
verknüpfte auf fatale Weise die Theorie <strong>des</strong> Marxismus mit seinem Machtstreben und<br />
begründete als scheinbare Weiterführung <strong>des</strong> Marxismus die Ideologie <strong>des</strong> Leninismus.<br />
Dessen zentrale Leitlinien waren der dauerhafte revolutionäre Prozess, basierend auf dem Ziel<br />
der „Diktatur <strong>des</strong> Proletariats“, sowie eine anhaltende revolutionäre Gewalt im Gewand <strong>des</strong><br />
Klassenkampfes. Ausgehend von der neu gegründeten Sowjetunion verhieß das große<br />
politische Ziel Lenins „Weltrevolution“. 17 Das daraus abgeleitete ideologische Feindbild, der<br />
14 Die Ur-Katastrophe <strong>des</strong> <strong>20</strong>. Jahrhunderts nannte George F. Kennan, USA-Diplomat und Sicherheitsberater,<br />
den Ersten Weltkrieg 1914-1918. Ehrhardt Bödecker stellte im Zusammenhang mit der später von den Alliierten<br />
erklärten Alleinkriegsschuld Deutschlands in einem Essey die These auf: „Durch das Eingreifen der USA 1917<br />
wurde ein gerechter „Erschöpfungsfriede“ auf Basis <strong>des</strong> status quo ante verhindert und das europäische<br />
Machtgleichgewicht auf Jahrzehnte empfindlich gestört. Der diktierte Friede von Versailles 1919 bildete keine<br />
Grundlagen für einen dauerhaften Frieden. Die Folgen waren Revolution, Revanchelust, Bolschewismus,<br />
Faschismus und Nationalsozialismus sowie ein neuer Krieg. Zum Beleg zitiert er am Ende u.a. eine Aussage von<br />
Winston Churchill aus dem Jahr 1936: „Amerikas Kriegseintritt war verheerend nicht nur für die USA, sondern<br />
auch für die Alliierten, denn wären die USA zu Hause geblieben und hätten sich um ihre eigenen<br />
Angelegenheiten gekümmert, wir (die Alliierten) hätten im Frühjahr 1917 mit den Mittelmächten Frieden<br />
geschlossen. Es wäre nicht zum Kollaps in Rußland gekommen mit dem nachfolgenden Kommunismus, kein<br />
Zusammenbruch in Italien mit dem nachfolgenden Faschismus; und Nazismus würde jetzt nicht in Deutschland<br />
an die Regierung gekommen sein.“ Vgl.: http://www.wilhelm-der-zweite.de/essays/boedecker.php.<br />
15 <strong>Feindbilder</strong> wurden als dauerhafte propagiert und interpretiert, Krieg als große Schule und Gewalt als die<br />
Zukunft beherrschende Norm im Überlebenskampf der deutschen Nation. Vgl. Mommsen, J. Wolfgang: Der<br />
Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende <strong>des</strong> bürgerlichen Zeitalters, Bonn <strong>20</strong>04, S. <strong>20</strong>0 ff; Vgl. Kruse, Wolfgang:<br />
Krieg und Kultur: Die Zivilisationskrise, in: derselbe: Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918,<br />
Frankfurt a. M. 1997, S. 183 ff.; Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die<br />
politischen Ideen <strong>des</strong> deutschen Nationalismus, 4. Aufl., München 1994, S. 86; Pietzsch, Henning: Die<br />
Fronterfahrungen der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg und ihre Ideologisierung zum „Fronterlebnis“ in<br />
den zwanziger Jahren, Stuttgart <strong>20</strong>05, S. 93 ff.<br />
16 Nekrich, Alexander; Heller, Michail: Geschichte der Sowjetunion, Erster Band: 1914-1939, Königstein/Ts.<br />
1981, S. 25 ff. Der hier noch festgestellte Bedarf an Diskussion über deutsche Gelder an Lenin und die<br />
Bolschewiki ist inzwischen durch Belege erweitert und in der Forschung bestätigt worden.<br />
17 Die Weltrevolution ist nach marxistischer Auffassung eine Revolution, die, aus nationalen Revolutionen<br />
erwachsend, alle Länder der Erde ergreift und wird als eine Voraussetzung für den Übergang vom Sozialismus<br />
zum Kommunismus gesehen. Nachdem es den Bolschewiki nicht gelungen war, die Revolution <strong>des</strong> Jahres 1917<br />
weltweit zu exportieren, ging Stalin, um eine Isolation der Sowjetunion zu verhindern, zum Prinzip <strong>des</strong><br />
„Sozialismus in einem Land“ über.
Imperialismus als „höchste Form <strong>des</strong> Kapitalismus“, wurde zum Kern kommunistischer<br />
Ideologie im <strong>20</strong>. Jahrhundert und verstärkte <strong>des</strong>sen Radikalität, was zugleich zur Spaltung der<br />
Arbeiterschaft beitrug (Sozialfaschisten). 18 Der Erfolg der kommunistischen wie<br />
nationalistischen Ideologie als Gegenpart zur republikanischen Demokratie vor allem unter<br />
den Arbeitermassen gründete im Wesentlichen auf den Grundängsten der Menschen in Folge<br />
<strong>des</strong> 1. Weltkrieges und seiner gewaltigen politischen und sozialen Folgen (Urkatastrophe der<br />
Menschheit). Lenins Nachfolger Stalin perfektionierte das kommunistische Prinzip von<br />
Gewalt, Angst und Terrorherrschaft, verbunden mit der Heilsbotschaft vom globalen<br />
Kommunismus als neuer politischer „Weltreligion“. 19 Parallel dazu etablierte sich europaweit<br />
ein sich weitgehend selbst isolierender „Staatsnationalismus“. <strong>20</strong> In Reaktion auf den Ersten<br />
Weltkrieg galt dieser, negativ interpretiert, dem Untergang geweiht („Untergang <strong>des</strong><br />
Abendlan<strong>des</strong>“). 21 Die sich gegeneinander richtenden Ideologien <strong>des</strong> europäischen Faschismus,<br />
<strong>des</strong> deutschen Nationalsozialismus und <strong>des</strong> bolschewistischen leninistisch-stalinistischen<br />
Kommunismus versprachen die Zerstörung dieses „Staatsnationalismus in jüdisch-<br />
demokratisch-bürokratischem Gewand“. Gemeint waren die westlichen Demokratien. Deren<br />
notwendiger Zerstörung führe zur Aufhebung aller bisherigen „Klassengegensätze“. Daraus<br />
erwüchse ein nationaler „Sozialismus“ bzw. ein herrschaftsfreier Kommunismus,<br />
Volksgemeinschaft bzw. Kollektivismus. Hitlers NS-Staat gründete sich zugleich auf einer<br />
diffusen Rassenlehre und Lebensraumtheorie. Beide Ideologien, die NS-Ideologie wie auch<br />
18 Der Begriff Sozialfaschismus wurde 1924 von G. Sinowjew kreiert. Der Sozialfaschismusthese zufolge stellte<br />
die Sozialdemokratie den „linken Flügel <strong>des</strong> Faschismus“ dar und war daher vorrangig zu bekämpfen. Vgl.<br />
Plener, Ulla: Sozialdemokratismus. Instrument der SED-Fuhrung im Kalten Krieg gegen Teile der<br />
Arbeiterbewegung (1948-1953), in: UTOPIE kreativ, Heft 161, <strong>20</strong>04, S. 248-256; Abendroth, Wolfgang: Ein<br />
Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet von Barbara Dietrich und Joachim Perels, 3. Aufl.,<br />
Frankfurt a.M. 1981, S. 25 f.; Winkler, August Heinrich: Revolution als Konkursverwaltung, 9. November 1918:<br />
Der vorbelastete Neubeginn, in: Willms, Johannes Hg.: Der 9. November, Fünf Essays zur deutschen<br />
Geschichte, 2. Aufl., München 1995, S. 11 ff.<br />
19 Ab 1927 war Stalin uneingeschränkter Alleinherrscher in der Sowjetunion. Er war das Haupt der<br />
Kommunistischen Partei. Seit 1929 ließ er sich offiziell als „Führer“ titulieren. Vgl. Hildermeier, Manfred: Die<br />
Sowjetunion 1917-1991, München <strong>20</strong>07, S. 53; Weber, Hermann: Zur Rolle <strong>des</strong> Terrors im Kommunismus, in:<br />
Mählert, Ulrich; Weber, Hermann Hg.: Verbrechen im Namen der Idee. Terror im Kommunismus 1936-1938,<br />
Berlin <strong>20</strong>07, S. 16 ff.<br />
<strong>20</strong> Gühler, Gerhard; Klein, Ansgar: Politische Theorien <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts, in: Lieber, Hans-Joachim Hg.:<br />
Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Bonn 1993, S. 611-614 und 622-624.<br />
21 Geht zurück auf Spengler, Oswald: Der Untergang <strong>des</strong> Abendlan<strong>des</strong>. Der erste Band (Gestalt und<br />
Wirklichkeit) wurde von 1918 an in erster und zweiter Auflage im Verlag Braumüller in Wien herausgegeben,<br />
der zweite Band (Welthistorische Perspektiven) 1922 beim Verlag C. H. Beck in München. Die weiteren<br />
Auflagen seit 1923 sind sämtlich im Verlag C. H. Beck erschienen und revidieren die älteren Teile <strong>des</strong><br />
Gesamtwerkes in einigen, meist sprachlichen Punkten. Spengler entwirft in seinem Hauptwerk das Panorama<br />
einer für ihn spezifischen Geschichtsphilosophie. Sie reflektiert die Erfahrungen der Zeit vor und während <strong>des</strong><br />
Ersten Weltkrieges und zeigt sich gerade von den revolutionären Begleitumständen der Epoche inspiriert. Als<br />
Philosoph empfiehlt er in<strong>des</strong> den „Blick auf die historische Formenwelt von Jahrtausenden […] wenn man<br />
wirklich die große Krisis der Gegenwart begreifen will.“
die stalinistische Ideologie, beanspruchten auf der Basis einer aggressiven Macht- und<br />
Herrschaftspolitik die totale Herrschaft über Volk und Vaterland. Widerspruch war zwecklos!<br />
Der Zweite Weltkrieg<br />
„Der Soldat, der die Wahl hat, zu töten oder getötet zu werden, spricht vom Feind. Doch da er<br />
den Gegner nicht persönlich kennt, ist es in Wirklichkeit das Feindbild, auf das er anlegt. Wir<br />
schleudern die Granaten nicht gegen Menschen - was wissen wir im Augenblick davon, dort<br />
hetzt mit Händen und Helmen der Tod hinter uns her, beschreibt Erich Maria Remarque<br />
diesen Bewusstseinszustand in seinem Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“.“ 22 Die die<br />
Welt erschütternde Folge <strong>des</strong> Großen Krieges war der Zweite Weltkrieg als „Fortsetzung <strong>des</strong><br />
Ersten Weltkrieges“. Dieser Krieg war aber kein Krieg der Staaten mehr, der als „Fortsetzung<br />
der Politik mit anderen Mitteln“ betrachtet wurde. Dieser Krieg war besonders von deutscher<br />
Seite ausgehend ein Rasse- und Vernichtungskrieg, der sich mit seinen ideologischen<br />
<strong>Feindbilder</strong>n gegen den Kommunismus und die Sowjetunion (Slawen und Juden = jüdischer<br />
Bolschewismus) sowie die demokratische Welt insgesamt (Demokratie = Plutokratien und<br />
jüdisch-kapitalistische Weltverschwörung) richtete. Erklärtes Ziel war ein völkisch<br />
organisiertes und „rassisch sauberes“ deutsches Reich (Drittes Reich) in politischer und<br />
ökonomischer Dominanz über ganz Europa. „Heute Polen und morgen die ganze Welt“,<br />
lautete einer der beliebtesten Slogans, der vielen Deutschen leicht von den Lippen ging. Der<br />
„Kampf im Osten“ wurde von der NS-Propaganda als „Verteidigung <strong>des</strong> Reiches und Europas<br />
vor den jüdisch-bolschewistischen Horden“ dargestellt, der Kampf gegen „die Juden“ als<br />
„rassischer Überlebenskampf <strong>des</strong> deutschen Volkes“ und der Kampf gegen die westlichen<br />
Demokratien als „Kampf gegen die Weltvorherrschaft der jüdisch-kapitalistischen<br />
Plutokratien“. Nur ein Sieg über diese „Erzfeinde“ würde den bisherigen Kampf <strong>des</strong><br />
deutschen Volkes beenden und den Weg frei machen für das „Endziel“ der<br />
weltbeherrschenden Stellung <strong>des</strong> Reiches. Er würde die „Ausrottung <strong>des</strong> Judentums“ und die<br />
Versklavung der „slawischen Untermenschen“ bedeuten. Die Ausbeutung aller ökonomischen<br />
und humanen Ressourcen sollte die politische und ökonomische „Weltherrschaft“ <strong>des</strong><br />
Deutschen Reiches begründen. Die Folgen: dem nationalsozialistischen Regime sind in<br />
Europa durch verbrecherische Maßnahmen (also ohne Einbeziehung der Kriegshandlungen)<br />
insgesamt min<strong>des</strong>tens 13 Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Die Zahl der während und<br />
infolge <strong>des</strong> Krieges ums Leben gekommenen Militärpersonen nichtdeutscher Nationalität<br />
22 Vgl. Wagener, Sybil: Das Feindbild macht den Feind, ... in ebenda: <strong>Feindbilder</strong>. Wie kollektiver Hass entsteht,<br />
Berlin 1999.
wird auf 17,2 Millionen geschätzt, die der Zivilpersonen nichtdeutscher Herkunft auf mehr als<br />
15,8 Millionen, Tote und Vermisste der Wehrmacht und der paramilitärischen Verbände<br />
(Waffen-SS, Organisation Todt, Reichsarbeitsdienst, Polizeieinheiten, Volkssturm und<br />
anderer) mit etwa 4,2 Millionen angegeben, die Zahl der zivilen Luftkriegstoten mit über<br />
500.000. Die Vertreibungsverluste unter der deutschen Zivilbevölkerung aus den Ostgebieten<br />
innerhalb <strong>des</strong> ehemaligen Deutschen Reiches (in den Grenzen von 1937) betrugen etwa 1,39<br />
Millionen, aus den deutschen Siedlungsgebieten im Ausland 886.300, insgesamt also etwa<br />
2,27 Millionen Menschen. 23 Die Sowjetunion verlor ihrerseits im Zweiten Weltkrieg <strong>20</strong><br />
Millionen Menschleben. Die über 70 Jahre andauernde kommunistische Herrschaft bewirkte<br />
in den Jahren zwischen 19<strong>20</strong> und 1990 annähernd 100 Millionen Opfer im eigenen<br />
Machtbereich. 24<br />
Nachkriegsentwicklung und die Angst im Kalten Krieg<br />
Das aus dem Kriegsverlauf heraus zeitweilige Bündnis der demokratischen Welt mit dem<br />
Kommunismus in Gestalt der Sowjetunion beendete zwar die Pläne der „Welt“-Herrschaft <strong>des</strong><br />
Nationalsozialismus und italienischen Faschismus in Europa und der ganzen Welt. Aus dem<br />
„gemeinsamen Sieg“ der zeitweilig Alliierten erwuchs aber zugleich der demokratischen<br />
Staatenwelt eine neue Gefahr, die Gefahr eines nach wie vor vorhandenen<br />
Weltherrschaftsanspruches <strong>des</strong> Kommunismus. Diese Auseinandersetzung zwischen der<br />
demokratischen Staatenwelt und dem globalen Kommunismus bestimmte die politische und<br />
gesellschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> <strong>20</strong>. Jahrhunderts insgesamt. Sie fand<br />
ihren Ausdruck im Kalten Krieg. Nationalstaatliche Einzelinteressen verloren durch das<br />
jeweilige Bündnissystem an Bedeutung. Der Kalte Krieg generierte alte wie neue <strong>Feindbilder</strong><br />
über das Potential der Bedrohung und der Angst. Die Waffen der Propaganda warfen<br />
stellvertretend die gewünschten <strong>Feindbilder</strong> an den Horizont. Die Menschen waren dagegen<br />
vor dem Hintergrund der Weltkriegskatastrophen zunächst nur daran interessiert, zu<br />
überleben.<br />
Ein bisher kaum wahrgenommenes Phänomen in Bezug auf den Untergang <strong>des</strong><br />
Kommunismus ist die Tatsache, dass die sich bis Ende der sechziger Jahre potenzierende<br />
Angst der Menschen vor den jeweiligen kommunistischen Regimes seit Mitte der siebziger<br />
Jahre abzuschwächen begann. In der DDR hatte das auch mit der veränderten<br />
23<br />
Auerbach, Hellmuth, in Wolfgang Benz Hg.: Legenden Lügen Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte,<br />
6. Aufl., München 1994, S.161 ff.<br />
24<br />
Vgl. u.a. Courtois, Stephane u.a. Hg.: Das Schwarzbuch <strong>des</strong> Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und<br />
Terror, München <strong>20</strong>04.
Repressionspolitik der SED zu tun, die in der Ära Honecker vom offenen Terror abkam und<br />
von da an auf verdeckte Repressionen (Zersetzung) setzte. Zeitgleich entfaltete sich eine<br />
zunehmende militärische Bedrohung und die Angst vor einem unkalkulierbaren neuen<br />
Weltkrieg sowie die Nichtbeherrschbarkeit dieser Gefahr durch die kommunistischen<br />
Regimes. Beide Faktoren beeinflussten den Untergang <strong>des</strong> Kommunismus nachhaltig mit,<br />
denn: „Sie können eine Gesellschaft nicht permanent in einem Zustand von Angst behalten,<br />
Herrschaft heißt auch Versprechen von Sicherheit, und die Regierung, die Machthaber, die<br />
Eliten, die nicht mehr in der Lage sind, einem Kollektiv Zukunft und Sicherheit zu<br />
versprechen, die ihre Herrschaft nur auf Angst gründen, deren Tage sind gezählt, natürlich<br />
funktioniert das für eine Zeit lang, Stichwort Stalinismus, aber irgendwann ist diese<br />
Ressource erschöpft.“ 25 Die Ängste der Menschen wandelten sich also zwischen der frühen<br />
und der späten Phase <strong>des</strong> Kalten Krieges. Auch die Gewalterfahrungen <strong>des</strong> Zweiten<br />
Weltkrieges verblassten allmählich.<br />
Bereits in der ersten Phase der Entspannungspolitik im Kalten Krieg in den 60er Jahren kam<br />
es zu einer von der jeweiligen „Realpolitik“ bestimmten teilweisen Verschiebung der<br />
bisherigen <strong>Feindbilder</strong>. Vorteile von Kooperation und friedlicher Koexistenz schoben sich<br />
seitdem zunehmend in den Vordergrund <strong>des</strong> politischen Kampfes. Es kristallisierte sich<br />
zudem eine wirtschaftliche Abhängigkeit <strong>des</strong> Ostens vom Westen heraus. Anstrengungen zur<br />
Rüstungskontrolle griffen dagegen nur partiell und beendeten auch nicht den<br />
Rüstungswettlauf beider politischer Blöcke. Willi Brandts neue Ostpolitik und Egon Bahrs<br />
politische Leitlinie vom Wandel durch Annäherung versuchte in diesem Stadium, erste<br />
Erleichterungen für die Menschen im Besuchsverkehr zwischen Ost und West zu erreichen.<br />
„Auch die Angst legte gleichsam eine Pause ein, und der ideologisch besetzte Feindbegriff<br />
verlor an Konturen“. 26 Realer Konsum auf der einen Seite und fiktive Konsumversprechen auf<br />
der anderen konterkarierten die politische Propaganda und relativierten bisherige ideologische<br />
<strong>Feindbilder</strong>. Die konkreten Interessen der Menschen galten einem friedlichen und<br />
konsumorientierten Leben. <strong>Feindbilder</strong> wurden weitgehend gegenstands- und wirkungslos<br />
und erzwangen so auch Möglichkeiten für eine politische Entspannung.<br />
Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, trat der Kalte Krieg in eine neue,<br />
zweite Phase. Das Waffenarsenal der ideologischen Zerr- und <strong>Feindbilder</strong> stand wie ehedem<br />
zur Verfügung: Ronald Reagan dämonisierte die Sowjetunion als Empire of Evil, als Reich<br />
25 Greiner, Bernd: Angst im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: Greiner, Bernd; Müller, Christian Th.;<br />
Walter, Dierk Hg.: Angst im Kalten Krieg, Hamburger Edition <strong>20</strong>09, S. 7 ff.<br />
26 Ebenda.
<strong>des</strong> Bösen. Die Sowjetunion wiederum beschimpfte die USA als Fratze <strong>des</strong> Imperialismus.<br />
Die Rüstungsspirale der beiden Kontrahenten und ihrer Bündnisse drehte sich schneller denn<br />
je. Die Angst der Menschen vor einem atomaren Inferno entfaltete sich zu einem politischen<br />
Motor der Kritik, besonders in der DDR. Die Reaktionen <strong>des</strong> kommunistischen<br />
Staatenbündnisses auf die militärische Rüstungsspirale und die Angst der Menschen vor<br />
einem erneuten Krieg trugen schließlich mit dazu bei, die kommunistische Herrschaft zu<br />
überwinden. Die Nachrüstungsbeschlüsse von NATO und Warschauer Pakt beschleunigten<br />
unbeabsichtigt von den politischen Machthabern und als Gegenreaktion der Menschen eine<br />
Popularisierung der Friedensbewegung in Ost und West - in der DDR und in Osteuropa, weil<br />
es nicht mehr eine von oben aufoktroyierte Angst vor dem Feind gab vor den Amerikanern<br />
oder gar vor dem Imperialismus, sondern die Angst der Menschen richtete sich inzwischen<br />
gegen die eigenen Machthaber. Im Westen dagegen hatten viele Menschen nicht mehr „nur“<br />
Angst vor den Russen, vor Moskau, sondern vor den ökologischen und gesellschaftlichen<br />
Folgen und dem, was ein heißer Krieg, was Waffen verursachen konnten. Die Sehnsucht nach<br />
dem Ende der gegenseitigen Bedrohung führte in der Folge zur politischen und ideologischen<br />
Delegitimierung <strong>des</strong> kommunistischen Systems und läutete das Ende <strong>des</strong> Kalten Krieges von<br />
innen heraus ein.<br />
<strong>Feindbilder</strong> der Gegenwart<br />
Die das <strong>20</strong>. Jahrhundert bestimmenden ideologischen <strong>Feindbilder</strong> <strong>des</strong> Nationalsozialismus<br />
und Kommunismus sind nicht verschwunden und vermitteln bis in die Gegenwart alte und<br />
neue Ängste. Die Einen schüren Fremdenangst und Religionsfeindschaft, andere heizen die<br />
Angst vor sozialer Ungerechtigkeit und sozialem Abstieg an. Die demokratische Welt der<br />
Gegenwart hat ihrerseits vor dem Hintergrund abhanden gekommener realer politischer<br />
Feinde Angst vor politischen und ideologischen Leerräumen. Der Versuch, neue <strong>Feindbilder</strong><br />
aufzubauen (Islamismus, Terrorismus) oder vorhandene abzurufen, scheiterte bisher an den<br />
die Gegenwart relativierenden Erfahrungen der Nachkriegsgenerationen <strong>des</strong> Kalten Krieges.<br />
Die aktuellen politischen Auseinandersetzungen spielen sich gegenwärtig weitgehend im<br />
ökonomischen Bereich ab, was die daraus folgenden militärischen einschließt. Gleichzeitig<br />
besteht die nicht ausgeräumte Gefahr, dass Menschen sich auf Grund einer scheinbar<br />
unübersichtlich gewordenen Welt von einfachen Vorurteilen und Feinbildern nach wie vor<br />
beeindrucken lassen. Beispiele dafür gibt es unzählige.<br />
Der oben angeführte Auszug aus einem Wahlaufruf der KPD aus dem Jahr 1924 zeigt, wie<br />
dramatisch und hasserfüllt der politische Klassenkampf der Kommunisten im zwanzigsten
Jahrhundert geführt wurde. 27 Diese Hypothek wirkt abgeschwächt in verschiedenen Fassetten<br />
bis heute fort. Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung ehemaliger hauptamtlicher<br />
Mitarbeiter <strong>des</strong> Ministeriums für Staatssicherheit stellte Klaus Panster <strong>20</strong>04 fest: „Wenn ich<br />
[heute, d. A.] die politische Entwicklung eines nicht unbeträchtlichen Teils dieser<br />
„profilierten Bürgerrechtler“ sehe - zu Befürwortern von Krieg und von mehr „innerer<br />
Sicherheit“ durch Ausweitung von Geheimdienst-Vollmachten - und ich höre ihre jüngeren<br />
Selbstdarstellungen, dann waren sie schon immer gegen den Sozialismus und für die<br />
westliche „Freiheit“. Nun kann ich nicht wissen, wie viel davon Opportunismus ist und wie<br />
viel zutreffende Selbstdarstellung. Ich kann mich jedoch <strong>des</strong> Gedankens nicht erwehren, dass<br />
bei der Einordnung und Behandlung der Gemeinten als Feinde <strong>des</strong> Sozialismus das Bild <strong>des</strong><br />
MfS in diesem Teil wohl doch nicht falsch war.“ 28<br />
Der anachronistische Klassenkampf und seine <strong>Feindbilder</strong> haben zumin<strong>des</strong>t theoretisch und<br />
im Versuch der Selbstlegitimation ehemaliger kommunistischer Kader bis in die Gegenwart<br />
überlebt. Nur selten kommt es zum „Aufschrei der Öffentlichkeit“ gegen die altstalinistischen<br />
und kommunistischen Ideologen, die, beruhend auf ihren alten kommunistischen<br />
<strong>Feindbilder</strong>n, nach wie vor Thesen vertreten, die außerhalb der demokratischen<br />
Grundordnung stehen. Einer der Vertreter dieser politischen Richtung ist Hans Heinz Holz,<br />
marxistischer Philosoph, Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei und Herausgeber<br />
der „Marxistischen Blätter“. Er meint, zum aktuellen Imperialismus müsse eine neue<br />
gesellschaftliche Alternative erkämpft werden. „Der Kapitalismus in seinem imperialistischen<br />
Stadium stellt die Menschheit vor die Frage: Revolution oder Verewigung von Ausbeutung,<br />
Unterdrückung und Krise.“ 29 Bezug nehmend auf Afghanistan spricht er von einem<br />
„entfesselten Imperialismus und seinen neuen Kolonialkriegen“. Von Lenin lernen heißt für<br />
ihn: „Der Revisionismus, der die leninsche Erkenntnis verleugnete, daß sich der Aufbau <strong>des</strong><br />
Sozialismus nur in schärfsten Klassenkämpfen vollziehen kann, und statt<strong>des</strong>sen einer<br />
sozialdemokratischen Harmonisierungsideologie folgte, gab dem Imperialismus die Chance<br />
eines Auswegs. Nun muß der Kampf gegen die Barbarei von neuem begonnen werden. […]<br />
Bei niemand anderem als Lenin finden wir so klar die Erwägungen, die von Situation zu<br />
Situation fortschreitend die Leitlinien der politischen Praxis vorzeichnen. Nicht die Situation<br />
von 19<strong>20</strong> ist es, die wir heute meistern müssen. Aber von Lenin ist zu lernen, wie man mit<br />
27 Vgl. dazu Fußnote 5.<br />
28 Panster, Klaus: Zum Feindbild, von dem die Abwehrarbeit <strong>des</strong> Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der<br />
DDR geprägt war. Einführung zur Diskussion beim Jour fixe <strong>des</strong> Insider-Komitees am 03.03.<strong>20</strong>04, vgl. Insider-<br />
Komitee Berlin, http://www.mfs-insider.de/Abhandlungen/FeindB.htm.<br />
29 Junge Welt, 08.01.<strong>20</strong>11, S. 10.
einer Situation wie der heutigen umgeht.“ 30 Ein anderer, Otto Köhler, schreibt in der Jungen<br />
Welt über „Unsere Soldaten - unser Feind“: „Sie kämpfen, sie töten in Afghanistan von<br />
Anfang an für die Interessen der Großkonzerne und keineswegs für, sondern gegen unsere<br />
Sicherheit vor terroristischen Anschlägen.“ 31 Gesine Lötzsch dozierte Anfang Januar in der<br />
Jungen Welt: „Die Novemberrevolution von 1918 wurde verraten und halbiert in den<br />
Absprachen zwischen Mehrheitssozialdemokratie und der kaiserlichen Armee, bevor sie<br />
überhaupt ihr ganzes Potential entfalten konnte.“ 32 Auf die Zukunft gerichtet ist sie der<br />
Ansicht: „Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg<br />
machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung.“ 33 Und: „Egal,<br />
welcher Pfad zum Kommunismus führt, alle sind sich einig, dass es ein sehr langer und<br />
steiniger sein wird.“ 34 Schließlich erklärte sie: „Die Partei Die Linke ist entstanden aus dem<br />
Widerstand der damaligen PDS gegen einen marktradikalen Weg der Vereinigung, den<br />
Jugoslawien-Krieg der NATO und die Hartz-IV-Reformen, gegen die sich vor allem in den<br />
neuen Bun<strong>des</strong>ländern eine Welle von Montagsdemonstrationen erhob.“ 35<br />
Gegen diese historische und ideologische Wahrnehmung stehen zahlreiche noch lebende<br />
Opfer und Zeitzeugen der kommunistischen Gewaltherrschaft mit ihren repressiven<br />
Erfahrungen. 36 Einer von ihnen, Siegmar Faust, bringt seine „historische Nachlese“ der<br />
anachronistisch wirkenden Meinungsäußerungen vieler alter und neuer Kommunisten über<br />
das <strong>20</strong>. Jahrhundert und die Gegenwart selbstkritisch so auf den Punkt: „Wer Jung-Marxist<br />
war, hat zwar Lebenszeit mit einer infantilen Ideologie vergeudet, doch es bleibt das Gespür<br />
für hintergründige Verschleierungen kommunistischen Denkens, denn bekanntlich waren die<br />
schärfsten Kritiker der Elche einstmals selber welche.“ 37 Mit Blick auf historische<br />
Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus nach sowjetischem<br />
Vorbild schreibt er: „Das 1918 in Russland eingeführte und von den Nazis übernommene<br />
Gulag-/KZ-System war faktisch die „Erziehungsanstalt“ <strong>des</strong> „neuen Menschen“ zu einer<br />
30<br />
Ebenda.<br />
31<br />
Junge Welt, 08/09.01.<strong>20</strong>11, Titel.<br />
32<br />
Junge Welt, 03.01.<strong>20</strong>11, S.10, Lötzsch, Gesine: Wege zum Kommunismus. Ein für allemal fertige Lösungen<br />
gibt es nicht. Radikale Realpolitik steht im offenen Spannungsfeld von Reformen innerhalb der gegenwärtigen<br />
Gesellschaftsordnung und der Perspektive einer Gesellschaft jenseits <strong>des</strong> Kapitalismus. Lötzsch ist Mitglied <strong>des</strong><br />
Bun<strong>des</strong>tags und seit Mai <strong>20</strong>10 eine der beiden Vorsitzenden der Partei Die Linke.<br />
33<br />
Ebenda.<br />
34<br />
Ebenda.<br />
35<br />
Ebenda.<br />
36<br />
Seit Oktober <strong>20</strong>08 präsentiert die Stasi-Unterlagen-Behörde die Wanderausstellung „Feind ist, wer anders<br />
denkt“, zuletzt vom 11. Februar bis 2. März <strong>20</strong>11 Neumünster. Sie dokumentiert Entstehung, Aufgaben und<br />
Methoden <strong>des</strong> MfS an Hand von exemplarisch ausgewählten Beispielen.<br />
37<br />
Faust, Siegmar: Egal, welcher Pfad zum Kommunismus führt? Unveröffentlichter Aufsatz im Archiv der<br />
<strong>Geschichtswerkstatt</strong> <strong>Jena</strong>, <strong>20</strong>11.
„gerechten Gesellschaftsordnung“. 38 Zur aktuellen Diskussion um die Kommunismus-<br />
Äußerungen von Gesine Lötzsch formuliert er: „Lötzschs Parteigenosse, Gregor Gysi, der<br />
alles nur besser machen will, gibt sich ganz überrascht, dass der Kommunismus das Ziel der<br />
Partei sein soll. „Mein Ziel ist er nicht. Ich bin demokratischer Sozialist“. Sozialismus? Ist das<br />
nicht die Vorstufe zum Kommunismus? Sozialdemokraten wollen heute auch gern<br />
demokratische Sozialisten sein, die seit Willy Brandt die Erkenntnis Kurt Schumachers<br />
verdrängen, der noch aus eigener Erfahrung wusste, was Kommunisten immer waren:<br />
„rotlackierte Nazis“. […] Einst waren es die Roten, die gemeinsam mit den Braunen<br />
Deutschlands erste Demokratie in die Zange nahmen. Jetzt hat die verkommene Demokratie<br />
neben den linken und rechten Extremisten noch ein paar Feinde mehr: den Islamismus, die<br />
Bürokratenkrake und die Resignationspartei der Nichtwähler.“ 39<br />
Radikalisierung alter neuer <strong>Feindbilder</strong><br />
Bezug nehmend auf ideologische <strong>Feindbilder</strong> gegen die demokratische Gesellschaft ergeben<br />
sich eigenwillige Gemeinsamkeiten zwischen Gruppen und Strömungen von Kommunisten<br />
und sogenannten linken Nationalisten. Eine eher seltsam anmutende ideologische Allianz<br />
ergibt sich daher auch aus der Aufforderung <strong>des</strong> Kommunisten Hans Heinz Holz: „Nationale<br />
Kerne einer revolutionären Bewegung müssen gebildet, und sie müssen international vernetzt<br />
werden“. 40 Selbsternannte Linksnationalisten (übrigens mit engem Bezug zur Fangemeinde<br />
<strong>des</strong> FC Carl Zeiss <strong>Jena</strong>) 41 „Die Neue Bewegung - Der Linksnationalismus“ sagen über sich:<br />
„Als radikale Sozialisten sind wir außerdem radikale Nationalisten. In einer Zeit, in der die<br />
Globalisierung die kulturellen Identitäten zu zerstören droht, ist ein volkhafter Nationalismus<br />
oberstes Gebot. Das nationale Bekenntnis ist allerdings kein Zweck, es bedarf keines<br />
Grun<strong>des</strong>. Sozialismus ist nur auf ethnokultureller Basis zu machen, alles andere ist Utopie<br />
und versandet im Nichts. Unsere Verbundenheit gilt unserem Volk, dem wir schicksalhaft<br />
angehören. […] Die Front verläuft in vielerlei Hinsicht vielleicht quer zwischen links und<br />
rechts, aber es gibt eine unüberbrückbare Kluft zwischen der metapolitischen Revolution und<br />
der mentalen Totalverkalkung der Reaktion. […] Ausgehend von der Richtigkeit der Kritik<br />
der syndikalistischen und rätekommunistischen Theoretiker an der Durchführung der<br />
Oktoberrevolution als auch den Systemen <strong>des</strong> Leninismus, Trotzkismus und insbesondere <strong>des</strong><br />
Stalinismus, sind wir der Meinung, daß der Bolschewismus als russische Ausformung <strong>des</strong><br />
38 Ebenda.<br />
39 Ebenda.<br />
40 Zitat Holz, Hans Heinz, in: Junge Welt, 08.01.<strong>20</strong>11, S. 10.<br />
41 Vgl. dazu http://www.freie-deutsche-jugend.tk/.
Kommunismus mit der unsrigen Forderung eines eigenen Sozialismus nicht vereinbar ist,<br />
nicht auf unserem nationalen Wesen fußt. Allerdings weisen wir jeglichen bürgerlichen<br />
Antikommunismus von uns. Ernst Niekischs Ausspruch der 30er Jahre behält für uns<br />
Gültigkeit: Die deutsche Befreiungsbewegung ist weder kommunistisch, noch<br />
antikommunistisch, aber <strong>des</strong> Kommunismus fähig, wenn kein anderer Ausweg möglich ist.<br />
Aber eben diesen Ausweg wollen wir liefern. Hinfort mit der Parteiendiktatur, alle Macht den<br />
Volksräten! […] Die Schwarze und die Rote Fahne wehen uns voran!“ 42 In vermeintlicher<br />
Legitimation ihrer kruden Vorstellungen bedienen sich die „Linksnationalisten“ einerseits der<br />
Vertreter der Konservativen Revolution wie beispielsweise Ernst Jünger 43 , aber eben auch<br />
einiger Altkommunisten wie beispielsweise Wolfgang Abendroth 44 . Auch Aufsätze von<br />
Joseph Goebbels finden sich hier, so „Kapitalismus“ aus „Der Angriff“ vom 15. Juli 1929.<br />
Ein selbsternannter „Sozialrevolutionär“ verfasste einen Beitrag über „Rudi Dutschke und die<br />
nationale Frage“. Er kommt dabei zu dem Schluss: „Der „nationalen Rechten“ andererseits<br />
dient „68“ - und alles, was man damit verbinden zu können glaubt - als Feindbild. Daran<br />
können nun auch die Verteidigungsversuche von Bernd Rabehl 45 nichts ändern. Da sich die<br />
Programmatik deutscher Nationalrevolutionäre zu nicht unerheblichen Teilen mit dem<br />
Ansinnen Rudi Dutschkes deckt, wollen wir uns zwar nicht anmaßen, sein Erbe zu vertreten,<br />
hoffen aber doch ideologisch-politisch in diesem Sinne zu wirken.“ 46<br />
Die Auswirkungen der im 19. Jahrhundert angelegten ideologischen <strong>Feindbilder</strong>, die im <strong>20</strong>.<br />
Jahrhundert zur Katastrophe zweier Weltkriege führten, reichen bis in die Gegenwart.<br />
Angesichts der verworrenen historischen Kenntnisse und Schlussfolgerungen mag man die<br />
politischen „Randgruppen“ der Linken wie Rechten heute nicht mehr wirklich ernst nehmen<br />
wollen. Gleichwohl verbergen sich dahinter „ideologische Rattenfänger“, die alte <strong>Feindbilder</strong><br />
generieren für die jeweils eigenen aktuellen politischen Legitimationsversuche. Schon einmal<br />
waren solche „Randgruppen“ diejenigen, die die demokratische Gesellschaft mit allen Mitteln<br />
bekämpften. Eine Wiederholung <strong>des</strong> Untergangs der Demokratie wie zur Zeit der Weimarer<br />
42 „Diese Abhandlung, die als Manifest betrachtet werden kann, oder nicht, dient der Verortung <strong>des</strong><br />
revolutionären Linksnationalismus, der keine bloße nationale Linke, oder eine linke Spielart <strong>des</strong> Nationalismus<br />
darstellen will, sondern als Synthese zwischen Nationalismus, radikalkonservativ-revolutionärer Weltsicht und<br />
rätesozialistischer Wirtschaftsalternative, die bürgerliche Ideologie <strong>des</strong> Liberalismus in all ihren Facetten auf den<br />
Müllhaufen der Geschichte verbannen will.“ Vgl. Internetseite:<br />
http://www.fahnentraeger.com/index.php?option=com_content&view=article&id=131:die-neue-bewegung-derlinksnationalismus&catid=19&Itemid=84,<br />
Stand: 16. Februar <strong>20</strong>11.<br />
43 Jünger, Ernst: Die nationalistische Revolution, in: Zeitschrift „Standarte“ vom <strong>20</strong>. Mai 1926.<br />
44 Abendroth, Wolfgang: Imperialismus?, in: Zeitschrift „Die Kommenden“ vom 25. Oktober 1929.<br />
45 Bernd Rabehl ist ein deutscher Autor und war eines der bekanntesten Mitglieder <strong>des</strong> Sozialistischen Deutschen<br />
Studentenbunds (SDS). Inzwischen vertritt Rabehl nationale und rechtsradikale Positionen. <strong>20</strong>02 kam von ihm<br />
auch eine Biographie zu Dutschke heraus.<br />
46 Vgl. http://www.fahnentraeger.com/index.php?option=com_content&view=article&id=236:rudi-dutschkeund-die-nationale-frage&catid=<strong>20</strong>&Itemid=83,<br />
Stand: 16.02.<strong>20</strong>11.
Republik wird es aber nicht wieder geben, denn Geschichte wiederholt sich nicht 1 : 1.<br />
Politische Systeme erfinden sich stets neu, bezogen auf historische Referenzsysteme und<br />
abgewandelt auf aktuelle Erfordernisse und Bedürfnisse. Die realen Gefahren der Zukunft<br />
stellen sich daher auf eine ganz neue und andere Art dar. Zum einen besteht die Gefahr,<br />
zukünftig vor dem Hintergrund eines umfassenden und kaum politisch abgrenzbaren<br />
„Terrorbegriffs“ ein politisches Überwachungssystem zu etablieren und mit demokratischen<br />
Mitteln zu legitimieren. Zum anderen schmerzt die konkrete Gefahr der zunehmend sozialen<br />
Schieflage. Nur satte Bürger lieben die Demokratie! Daraus resultiert für die Regierenden die<br />
Gefahr, dass die nichtsatten, mündigen „Wut“-Bürger aus Mangel an echten ideologischen<br />
<strong>Feindbilder</strong>n sowie der Verharmlosung realer Feinde der Demokratie zu das demokratische<br />
System zerrüttenden Querulanten mutieren. Letzteres birgt allerdings auch die Chance der<br />
Weiterentwicklung der Demokratie. Volksentscheide, direkte Demokratie und die<br />
Stabilisierung der sozialen und ökonomischen Durchlässigkeit könnten der Schlüssel dafür<br />
sein, religiöse und politische <strong>Feindbilder</strong> in der Zukunft weiter abzubauen. Die Tatsache, das<br />
die angenommene politische Unterscheidbarkeit der im deutschen Bun<strong>des</strong>tag vertretenen<br />
politischen Parteien scheinbar kaum noch vorhanden ist und von vielen Zeitgenossen als<br />
schädlich für die Demokratie gewertet wird, kann auch als Ausdruck fehlender<br />
Wirkmächtigkeit ideologischer <strong>Feindbilder</strong> gewertet werden, wo es im politischen Alltag<br />
nicht mehr allein um Weltanschauungen und Parteien, sondern um wie auch immer<br />
formulierte und abzuarbeitende Sachfragen geht. Offene politische Diskurse und der Wille zur<br />
gerechteren Verteilung der ökonomischen Erträge sind im Interesse aller Bürger und somit im<br />
Interesse der propagierten lebendigen Demokratie, die so neben einem konsumorientierten<br />
Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung auch politisch zufriedene Bürger hervorbringen<br />
kann, denen ideologische <strong>Feindbilder</strong> immer fremder werden. Aufklärung über alte neue<br />
<strong>Feindbilder</strong> bieten aber auch die historische Forschung, die politische Bildung, Schulen<br />
sowie beispielsweise Wanderausstellungen der BStU.<br />
Dr. Henning Pietzsch | Historiker Projektleiter der <strong>Geschichtswerkstatt</strong> <strong>Jena</strong> e. V.