– nach Druckfehlern. Es gibt inzwischen unzählige Formen, damit zurecht zu kommen, dass so viele Bücher lange vor uns schon da waren und dass nach unserem Abtreten andere sie immer noch ausleihen werden. Und die vielen Kompensationsstrategien heften sich wie kleine Fussnoten an die eine grosse Geschichte der Bibliothek. Was tun? Halt doch die Tradition reduzieren, wie etwa Montesquieu? ‹Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren an einem Buch von 18 Seiten, das alles enthalten wird, was wir von der Metaphysik und der Theologie wissen und was von unseren Modernen in den ungeheuren Bänden, die sie über diese Wissenschaften vorgelegt haben, vergessen wurde.› (Dazu: Charles-Louis Montesquieu: Cahiers 1716- 1755. ZHB-Signatur A. a 5956). Die Absicht des Staatsrechtlers ist rührend und kann heute nur noch als Absicht gelesen werden, wie auch die Empfehlung des Kulturwissenschaftlers Aby Warburg, selber Stifter einer sehr bedeutenden Bibliothek: ‹Wenn mehr Bücher gelesen würden, so würden weniger geschrieben werden.› Alles wahr, und alles zu spät, unsere Bibliotheken werden immer grösser. Aber das soll nicht unser Schaden sein. Und dennoch: Bisweilen brauchen wir den Trost bestimmter Bücher. Etwa den von Flauberts grossartigem Buch ‹Bouvard et Pécuchet› (Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet. In: Oeuvres complètes. ZHB-Signatur B.f 6207), worin die Geschichte erzählt wird von jenen zwei Kopisten, die nie lesen, was sie berufshalber abschreiben müssen. Bis sie dann durch eine Erbschaft in die Lage versetzt werden, ihren Beruf aufzugeben und fortan das zu lesen, was sie sonst nur abgeschrieben haben. Sie lassen sich auf dem Lande nieder und bestellen Bücher zu allen Gebieten des Lebens. Die Buchgelehrsamkeit entfaltet unter den kritischen Augen der beiden Leser manche Tücken. Können sie am Ende ganz einfach nicht mit den Büchern umgehen? Jorge Luis Borges hat kurzerhand seine eigene ideale Bibliothek postuliert, die Bibliothek von Babel. Sie enthält einfach alles, was in gedruckter Form existiert (Jorge Luis Borges: Gesammelte Werke. ZHB-Signatur B. f 5485). Wenn schon Bücher, dann bitte alle Bücher, die es gibt, und auch die, die es nicht gibt. Borges hat dazu Autoren erfunden und Titel und alles mit Details unterfüttert, die natürlich Neugierde, mithin Leselust wecken. Zu lesen gibt es dann aber nur die Ankündigungen, und das nimmt sich aus wie die Mauerschau auf der Bühne. Ein Spiel, das die ‹Bibliographia chimaerica› weiterführt, indem sie Bücher ‹erfasst› und mit Merkmalen ausstattet, die allesamt erfunden sind. Ein seltsames Lesepläsier, zugegeben. Wozu, so liesse sich einwenden, nicht existente Bücher vortäuschen, nachdem es doch so viele in Wirklichkeit bereits gibt. Und so viele, die wir noch immer nicht gelesen haben. Lesen können wir am Ende doch nur die real existierenden Bücher. In diesem Buch (Elias Canetti: Die Blendung. ZHB-Signatur P.a 538:76) wäre wieder einmal zu lesen: 10 ‹Sämtliche Wände waren bis zur Decke mit Büchern ausgekleidet. Langsam hob er an ihnen den Blick. In die Decke waren Fenster eingelassen. Auf sein Oberlicht war er stolz. Die Seitenfenster waren vor Jahren nach hartem Kampf mit dem Hausbesitzer zugemauert worden. So gewann er in jedem Raum eine vierte Wand: Platz für mehr Bücher. Auch schien ihm ein Licht, das alle Regale von oben gleichmässig erhellte, gerechter und sei- nem Verhältnis zu den Büchern angemessener. Die Versuchung, das Treiben auf der Strasse zu beobachten – eine zeitraubende Unsitte, die man offenbar mit auf die Welt bekam – fiel mit den Seitenfenstern weg. Täglich, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, segnete er Einfall und Konsequenzen, denen er die Erfüllung seines höchsten Wunsches dankte: den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek.› Natürlich werden wir immer wieder kommen. Zitierte Literatur Assmann, Aleida Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses. München, 1999. ZHB-Signatur F.e 2521 Baker, Nicholson Double fold: libraries and the assault on paper. New York, 2001. ZHB-Signatur A.a 8455 Blumenberg, Hans Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main,1981. ZHB-Signatur D.a 5912 Borges, Jorge Luis: Gesammelte Werke. München, 2000. ZHB-Signatur B. f 5485 Canetti, Elias Die Blendung. Zürich, 1981. ZHB-Signatur P.a 538:76 Chartier, Roger Die Welt des Lesens. Frankfurt am Main, 1999. ZHB-Signatur A.b 4481 Flaubert, Gustave Bouvard et Pécuchet. In: Oeuvres complètes. Paris, 2001. ZHB-Signatur B.f 6207 Grob, Adrian Neueste dramatische Bilder. 2 Bde. St. Gallen, 1825. Aus den Beständen der Bürgerbibliothek, Signatur: 7554.8 87
Jochum, Uwe Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart, 1999 ZHB-Signatur A.a 8331 Kittler, Friedrich Aufschreibsysteme 1800-1900. München, 1995. ZHB-Signatur R.u 5776 Lafontaine, August Eduard & Margarethe, oder Spiegel des menschlichen Lebens. Wien und Prag, 1804. ZHB-Signatur B1.571x.8; Benützung nur im Lesesaal Manguel, Alberto Eine Geschichte des Lesens. Berlin, 1998. ZHB-Signatur: A.b 4356 Montesquieu, Charles-Louis Cahiers 1716- 1755. Paris, 1941. ZHB-Signatur A. a 5956 Valéry, Paul Über Mallarmé. Frankfurt am Main, 1992. ZHB-Signatur A.a 7266 Vom Bücherwurm zum Eselsohr Jahresgabe des Freundeskreises der <strong>Zentral</strong>- und Hochschulbibliothek Luzern. Luzern, <strong>2002</strong>. ZHB-Signatur P.b 2800: <strong>2002</strong>