2 ApRIl ‘09 04 Prämiert eine liebesnacht, in der sich nur die Fingerspitzen berühren: Marga v<strong>on</strong> etzdorf (alexandra sydow) und der aristokratische aufschneider Christian v<strong>on</strong> Dahlem (torben krämer) Fotos: ©MeYer OriGinals lIEBESNACHT DER WORTE dem freien WerKstatt tHeater gelingt mit der dramatisierung des romans „HalbscHatten“ v<strong>on</strong> uWe timm ein Kleines Wunder 2 ApRIl ‘09 05 Prämiert die romanitis grassiert auf den deutschen bühnen: die vorliebe dafür, kan<strong>on</strong>isierte oder zumindest sich gut verkaufende romanstoffe zu dramatisieren. in Köln wurde der „simplicissimus“ auf die bühne gezwungen, und in düsseldorf hat man selbst vor thomas manns Josephsroman nicht haltgemacht. Welche die beweggründe sind: misstrauen in die aktuelle theaterstückProdukti<strong>on</strong> oder bloßes schielen auf viele lesefaule besucher – darüber lässt sich nur spekulieren. feststellen lässt sich allerdings leider, dass die romane auf der bühne fast immer verlieren, werden sie doch in der regel reduziert auf ihr bloßes Handlungsgerippe. fleisch, muskeln, sehnen müssen für die verkürzung auf ein paar stunden sorgfältig abgetrennt werden; dabei geht das, was die romane ausmacht, meist gänzlich verloren. und so ist das, was gerade am freien Werkstatt theater geschieht, ein kleines Wunder zu nennen. Johannes Kaetz ler und gerhard seidel haben eine theaterfassung v<strong>on</strong> uwe timms roman „Halbschatten“ erstellt, und das ist geradezu tollkühn. „Halbschatten“ ist eine textsuada, ein vielstimmiges raunen verschiedener stimmen, die aus den gräbern auf dem berliner invalidenfriedhof aufsteigen, sich ins Wort fallen, die deutungshoheit verlangen und oft nicht ganz klar zuzuordnen sind. im zentrum des romans: marga v<strong>on</strong> etzdorf, eine junge frau, die als eine der ersten deutschen eine fliegerinnenkarriere machte. sie nahm sich 1933 unter nie ganz geklärten umständen in aleppo das leben, bloß 25jährig. uwe timm verleiht ihr eine stimme, lässt aber auch erfundene und tatsächliche Pers<strong>on</strong>en aus v<strong>on</strong> etzdorfs umgebung über sie, ihre leidenschaft fürs fliegen und ihren selbstmord Desillusi<strong>on</strong>ierung einer jungen Frau (alexandra sydow, torben krämer) Fotos: ©MeYer OriGinals spekulieren. in die mutmaßungen über marga mischen sich die stimmen der anderen auf dem berliner invalidenfriedhof begrabenen: Heydrich, scharnhorst, aber auch solche aus einem massengrab. in uwe timms roman entsteht daraus Kakoph<strong>on</strong>ie, ein schwer verständliches stimmengewirr, dem man nur mühsam folgen kann. Johannes Kaetzler und gerhard seidel haben für ihre bühnenversi<strong>on</strong> klug die Kernszene v<strong>on</strong> „Halbschatten“ ausgemacht: marga v<strong>on</strong> etzdorf (alexandra sydow) verbringt eine nacht in Hiroshima im zimmer des ehemaligen Jagdfliegers christian v<strong>on</strong> dahlem (torben Krämer), keine liebesnacht, s<strong>on</strong>dern eine nacht der Worte. doch diese nacht wird zum Wendepunkt in ihrem leben, denn sie verliert ihr Herz und ihre unbekümmerte entschlossenheit an den falschen. geschickt werden im freien Werkstatt theater für diese szene aus grabplatten im Handumdrehen tatamis, japanische matten, gemacht. anderes ist weniger geschickt gelöst, eher überdeutlich – über der eingangsszene auf dem invalidenfriedhof liegen Kunstnebel, Krähenkrächzen, Windgeräusche. das licht ist gedämpft – achtung: Halbschatten! der aufschneider und verräter dahlem trägt aristokratisch sandfarbenen anzug, weißen schal und einstecktuch, das Haar streng gegelt; der schauspieler miller tritt mit weißgeschminktem gesicht auf. auch sprechen alle außer Peter liebaug als ant<strong>on</strong> miller und ingrid berzau fast durchgehend zu laut, vielleicht um dem oft wiederholten satz gewicht zu geben: „Wir leben in großen zeiten“. dabei sind die leisen töne viel durchdringender, zum beispiel als ingrid berzau in der rolle der lena ganz en passant erzählt, wie sie vom schauspieler miller sitzengelas sen wird, ein Kind erwartet, ihn sucht und plötzlich vor seiner ebenfalls schwangeren frau steht. tiefes atemholen. aber die überlauten töne sind details, verglichen mit dem verdienst, dass es dem freien Werkstatt theater gelungen ist, einen etwas spröden roman v<strong>on</strong> fast 300 seiten zu einem eineinhalbstündigen schlüssigen und kunstvollen theaterabend zu verdichten. die figuren werden systematisch, aber unaufdringlich eingeführt, auch der Wechsel zwischen direkter und indirekter rede passiert ganz beiläufig und natürlich. mehr als 20 romanfiguren wurden zu fünf verdichtet, ohne dass man viel vermisst. Kaetzler und seidel haben den focus v<strong>on</strong> „Halbschatten“ etwas verschoben: sie wollen im Jubiläumsjahr der bundesrepublik eine politische geschichte erzählen über vergangenheitsbewältigung und verdrängung, über die stimmen der alten, die wir überhören wollen und müssen, es aber auch nicht immer dürfen und können. uwe timm erzählt in seinem roman darüber hinaus aber auch v<strong>on</strong> der desillusi<strong>on</strong>ierung einer jungen frau, deren traum vom fliegen v<strong>on</strong> bruchlandung zu bruchlandung verblasst. und timms „Halbschatten“ ist auch eine große spekulati<strong>on</strong> über das schicksal. „Was uns zustößt, ist nicht notwendiger als unsere geburt“, ist einer der schlüsselsätze. aber man kann an einem theaterabend eben immer nur eine geschichte erzählen. Dina netz terMine iM april: Freies Werkstatt-theater, 3., 4., 23., 24., 25.