II. Theoretische Grundlagen - Dr. Jochen Beck
II. Theoretische Grundlagen - Dr. Jochen Beck
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<strong>II</strong>.<br />
<strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
1. Leistung und Leistungsfähigkeit 8 - 15<br />
1.1 Dimensionalität motorischer Leistungsfähigkeit 9<br />
1.2 Diagnose motorischer Leistungsfähigkeit 11<br />
1.3 Relevanz motorischer Leistungsfähigkeit 14<br />
1.3. 1 Motorische Leistungsfähigkeit und Gesundheit 15<br />
1.3.2 Motorische Leistungsfähigkeit und berufliche Anforderungen 16<br />
2. Einsatzfelder motorischer Leistungsdiagnose 17 - 26<br />
2.1 Schule 17<br />
2.2 Freizeit-/Gesundheitssport 19<br />
2.3 Talentsuche/-förderung 20<br />
2.4 <strong>Grundlagen</strong>forschung „motorischer Entwicklung“ 22<br />
3. Normen 27 - 28
- 8 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
1. Leistung und Leistungsfähigkeit<br />
Der Begriff „Leistung“ hat sowohl in vielen Bereichen des Alltags als auch in unterschiedlichen<br />
wissenschaftlichen Disziplinen Bedeutung. Je nach formaler Ausrichtung<br />
finden sich entsprechend hierzu definitorische Bestimmungen aus anthropologischer,<br />
kultur-philosophischer, medizinischer, soziologischer, physikalischer oder trainingswissenschaftlicher<br />
Sichtweise (CARL in RÖTHIG et al. 1992, 274ff.) Auch in der Sportwissenschaft<br />
wird der Begriff der „Leistung“ und „Leistungsfähigkeit“ vielfältig verwendet<br />
(u.a. GÖTZE/SIEGER 1977, BÖS/MECHLING 1983).<br />
Leistung und Leistungsfähigkeit stehen in einem engen Zusammenhang, sind aber nicht<br />
identisch (LUTTER/SCHRÖDER 1972). MECHLING definiert „Leistungsfähigkeit“ als<br />
eine „... potentielle personale Leistungsvoraussetzung, die es gestattet, konkrete<br />
Aufgaben und Leistungsanforderungen zu bewältigen“ (1989, 241). „Leistung“ hingegen<br />
ist das Resultat einer Handlung, ihre Bewertung unterliegt bestimmten, gesellschaftlich<br />
determinierten Normwerten.<br />
Das Gesamtsystem sportlicher Bewegung läßt sich derzeit am geeignetsten über handlungstheoretische<br />
Modelle erfassen. Sportliches Handeln wird dabei als ganzheitlichkomplexes<br />
Geschehen, als intentionales, durch somatische, psychische, gesellschaftliche,<br />
geschichtliche, kulturelle und situative Einflußgrößen bedingtes Verhalten<br />
verstanden.<br />
Die empirische Überprüfung handlungstheoretischer Modelle im Sport erfolgt über allgemeine<br />
motorische Fähigkeiten als Analyseeinheiten der sportlichen Bewegung. Motorische<br />
Fähigkeiten sind Bindeglieder zwischen internen Prozessen und dem nach<br />
außen hin sichtbaren Verhalten. Sie sind somit in der Lage, Steuerungs- und Funktionsprozesse<br />
der Bewegungshandlung zu beschreiben und zu erklären.<br />
Motorische Fähigkeiten können als komplexe Leistungsvoraussetzungen mit relativ verfestigten<br />
(konstanten) und generalisierbaren (allgemeinen) Prozeßqualitäten betrachtet<br />
werden.<br />
Der Allgemeinheitsgrad von motorischen Fähigkeiten darf jedoch nicht soweit reichen,<br />
daß sie unveränderlich gegenüber Lern- und Entwicklungsvorgängen sind. Ein allgemeines<br />
Niveau ihres Ausprägungsgrades als Leistungsvoraussetzung kann deshalb<br />
auch nur für vergleichbare Individuen (bzgl. Alter, Geschlecht, Trainiertheit) angenommen<br />
werden (BÖS/MECHLING 1983, 91).<br />
Mit steigendem Leistungsniveau treten zunehmend spezielle, für die jeweilige Sportart/disziplin<br />
spezifische Fähigkeiten, sogenannte „motorische Fertigkeiten" in den Vordergrund.<br />
Motorische Fertigkeiten beziehen sich im Unterschied zu motorischen Fähigkeiten<br />
nur auf eine strukturell festgelegte Klasse von Bewegungshandlungen.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 9 -<br />
1.1 Dimensionalität motorischer Leistungsfähigkeit<br />
Ebenso vielfältig wie das Begriffsspektrum zu „Leistung“ und „Leistungsfähigkeit“ ist die<br />
Terminologiediskussion zu „motorischen Fähigkeiten“.<br />
Abbildung 2 zeigt als ein Beispiel die Systematisierung motorischer Fähigkeiten nach<br />
BÖS/MECHLING (1983).<br />
AA = aerobe Ausdauer AnA= anaerobe Ausdauer<br />
KA = Kraftausdauer MK = Maximalkraft<br />
SK = Schnellkraft AS = Aktionsschnelligkeit<br />
RS = Reaktionsschnelligkeit KZ = Koordination (Zeitdruck)<br />
KP = Koordination (Präzision) B = Beweglichkeit<br />
Abb. 2 Differenzierung motorischer Fähigkeiten (nach BÖS 1987, 94)<br />
Motorische Fähigkeiten können auf einer ersten Hierarchiestufe in primär energetisch<br />
determinierte konditionelle Fähigkeiten und vorwiegend informationsorientierte koordinative<br />
Fähigkeiten unterteilt werden. In einer zweiten Stufe werden die zentralen<br />
Kategorien Kraft, Ausdauer, Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit unterschieden,<br />
wobei die letzten beiden als Komplexkategorien weder dem konditionellen<br />
noch dem koordinativen Bereich eindeutig zugeordnet werden können. Die auf der<br />
dritten Stufe benannten Unterkategorien sind ebenfalls nur primär einer zentralen Kategorie<br />
zuzuordnen. Überschneidungen, insbesondere im Bereich der neurophysiologischen<br />
Korrelate, sind neben der strukturellen Abhängigkeit auch auf Forschungsdefizite<br />
zurückzuführen. Diese Differenzierung in 10 motorische Fähigkeiten<br />
scheint geeignet für Fragen des Sportunterrichtes, des <strong>Grundlagen</strong>trainings und für die<br />
Voraussetzungsdiagnostik in speziellen Anwendungsfeldern (Rehabilitation, Leistungssport).
- 10 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
Voneinander relativ unabhängige, eindimensionale Fähigkeiten werden als Basisdimensionen<br />
motorischer Bewegungsleistungen bezeichnet. Als solche sind nach<br />
BÖS/MECHLING (1983, 289) „aerobe Ausdauer“, „Maximalkraft“ und „Koordination bei<br />
Präzisionsaufgaben“ zu nennen.<br />
In einer empirischen Untersuchung mit 350 Schülern konnten sie zeigen, daß durch<br />
diese drei Dimensionen 40% der Varianz komplexer sportmotorischer Leistung determiniert<br />
sind (vgl. Abb. 3). Durch zusätzliche Berücksichtigung konstitutioneller, sozialer,<br />
kognitiver und emotionaler Einflußgrößen konnten insgesamt 60.1% der Kriteriumsvarianz<br />
erklärt werden.<br />
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen MULTERER (1991) und WYDRA (1985) für Stichproben<br />
im Erwachsenen- und Seniorensport. MULTERER stellt in seiner Untersuchung<br />
ferner fest, daß diese Basisdimensionen auch über längere Zeiträume Stabilität<br />
besitzen.<br />
Abb. 3 Kriteriumsvarianz komplexer sportmotorischer Leistung bei 10jährigen Schülern<br />
(nach BÖS/MECHLING 1983, 289)<br />
Zur Aufklärung der Gesamtvarianz motorischer Leistungen muß zum jetzigen Zeitpunkt<br />
auch auf mehrdimensionale Fähigkeiten zurückgegriffen werden. Diese sind teilweise<br />
abhängig von eindimensionalen Fähigkeiten, teilweise aber auch von bisher noch<br />
ungeklärten Einflußgrößen auf der Prozeßebene (z.B. neurophysiologische Korrelate).
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 11 -<br />
1.2 Diagnose motorischer Leistungsfähigkeit<br />
Motorische Fähigkeiten stellen konstruierte Merkmale dar, sie sind „hypothetische Konstrukte“<br />
oder „latente Eigenschaften“ (FISCHER 1974, 18), die „... realiter nicht existieren“<br />
(LETZELTER/LETZELTER 1979, 14).<br />
Die Messung dieser Konstrukte ist somit nicht direkt, sondern nur indirekt über die<br />
Verhaltensebene möglich. Sportmotorische Tests setzen auf der Ebene von<br />
Bewegungshandlungen an und ermöglichen damit den Rückschluß auf motorische<br />
Fähigkeiten (BLUME 1979, 81).<br />
Nach BÖS (1987, 61) sind sportmotorische Tests „ ... wissenschaftliche Routineverfahren<br />
zur Untersuchung eines oder mehrerer theoretisch definierbarer und empirisch<br />
abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale. Gegenstandsbereiche sind das individuelle,<br />
allgemeine und spezielle motorische Fähigkeitsniveau. Ziel ist eine möglichst<br />
quantitative Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmalsausprägung.<br />
Tests müssen unter Standardbedingungen durchführbar sein und den statistischen<br />
Gütekriterien des jeweiligen testtheoretischen Modells genügen.“<br />
Sportmotorische Tests sind häufig sowohl allgemein („Sinn vs. Unsinn“;<br />
GRUBITZSCH/RELIXIUS 1978, SCHMID/SCHOLZ 1975) als auch spezifisch der Kritik<br />
einer vermeintlich niedrigeren Validität ausgesetzt.<br />
Biomechanische oder sportmedizinische Verfahren haben im Hinblick auf Aussagekraft<br />
erhebliche Vorteile gegenüber sportmotorischen Tests; so ist beispielsweise „aerobe<br />
Ausdauer“ wesentlich differenzierter über spiroergometrische Verfahren zu diagnostizieren<br />
(BALLREICH/BAUMANN 1982) als mit Ausdauerläufen (z.B. „12-Minuten Lauf“).<br />
Der dazu erforderliche hohe technische und apparative (und damit kostenintensive)<br />
Aufwand ist für den Bereich des Hochleistungssports und für spezifische Fragestellungen<br />
(z.B. Rehabilitation) notwendig und gerechtfertigt. Für Anwendungen auf<br />
unterem und mittlerem Leistungsniveau (z.B. Freizeitsport) können derartige Verfahren<br />
kaum in Betracht kommen (BÖS 1987, 20). Aufgrund der hohen korrelativen<br />
Beziehungen zu Ergebnissen mit labordiagnostischen Verfahren stellen sportmotorische<br />
Tests in diesem Bereich geeignete Instrumente zur Diagnose „motorischer<br />
Leistungsfähigkeit“ dar.<br />
Zur Systematisierung sportmotorischer Tests liegt eine Vielzahl von Vorschlägen vor<br />
(BÖS 1987, 63ff.). In Anlehnung an LIENERT unterscheiden FETZ/KORNEXL (1978)<br />
Elementartests und Testsysteme.<br />
Nach Testdimensionalität und formalen Auswertungsmerkmalen unterscheidet HAAG<br />
insgesamt fünf Typen von Tests (vgl. Abb. 4).
- 12 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
Abb. 4 Systematisierung sportmotorischer Tests (HAAG in RÖTHIG 1992, 293)<br />
Elementartests erfassen einen weitestgehend klar abgegrenzten Merkmalsbereich; als<br />
Beispiel kann der COOPER-Test zur Diagnose der „aeroben Ausdauer“ angeführt werden.<br />
Testprofile und Testbatterien sind nach LIENERT (1989, 366) eine Kombination<br />
mehrerer Einzelteste, in denen die Einzeltests „... ein Höchstmaß an Eigenständigkeit<br />
bewahren ...“ (Testprofil) oder „... ihre Eigenständigkeit aufgeben und ausschließlich in<br />
den Dienst eines gemeinsamen Ziels treten ...“ (Testbatterie). Ein und derselbe Test<br />
kann durchaus (je nach Auswertungsstrategie) sowohl als Testprofil wie auch als<br />
Testbatterie fungieren.<br />
Testaufgaben zur Diagnose motorischer Fähigkeiten müssen so gewählt werden, daß<br />
der Anteil der zu messenden Fähigkeit möglichst groß, der Anteil übriger Fähigkeiten<br />
bzw. der Fertigkeitsanteil möglichst gering ist. Als Elemente sportmotorischer Tests<br />
kommen daher in der Regel Grundfertigkeiten wie Kriechen, Gehen, Laufen, Hüpfen,<br />
Springen usw. einzeln oder in Kombination zur Anwendung.<br />
In dem Bemühen, die dadurch mögliche Aufgabenvielfalt überschaubar zu machen<br />
unterteilt BÖS (1987, 104) in Anlehnung an GENTILE (1972):<br />
• Aufgaben mit Beibehaltung der Körperlage<br />
• Teilkörperbewegungen am Ort<br />
• Lokomotionsbewegungen.<br />
Zu der ersten Kategorie zählen sowohl Aufgaben zur Messung der maximalen<br />
statischen Kraft (hoher Krafteinsatz) als auch zur Erhaltung des Gleichgewichtes<br />
(geringer Krafteinsatz). Bewegungen am Ort lassen sich nach beanspruchter Muskulatur<br />
in Bewegungen der oberen Extremitäten, des Rumpfes oder der unteren Extremitäten<br />
differenzieren. Bei den Lokomotionsbewegungen werden einfache und kom-
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 13 -<br />
plexe Läufe (z.B. Hindernislauf), sowie Sprünge und sonstige Ganzkörperbewegungen<br />
wie beispielsweise Klettern unterschieden.<br />
Unter Berücksichtigung der 10 motorischen Fähigkeiten (vgl. 1.1) können insgesamt 99<br />
Parzellen ausdifferenziert werden. Eine erhebliche Anzahl dieser Zellen (ca. 50%) läßt<br />
sich aus theoretischen Überlegungen zu motorischen Fähigkeiten zum Teil trivialerweise<br />
ausschließen; so ist beispielsweise Schnelligkeit keinesfalls statisch zu diagnostizieren<br />
(BÖS 1987, 448).<br />
In seiner Analyse (40 sportmotorischer Testbatterien) stellt BÖS fest, daß neben diesen<br />
logischen Ausschlüssen eine weitere Vielzahl an Parzellen nicht oder nur sehr gering<br />
mit Testaufgaben besetzt ist. Insgesamt strukturiert er 25 verschiedene Basisitems,<br />
wobei eine Differenzierung nach Ausführungsform und Dauer nicht durchgeführt wurde.<br />
In eigenen Untersuchungen (BECK/BÖS 1994) konnte ferner festgestellt werden, daß<br />
das Spektrum an möglichen Testaufgaben unter Einbeziehung möglicher Systematisierungsgesichtspunkte<br />
wie „Art der Meßwertaufnahme“ und „Belastungsdauer“ erheblich<br />
ist. So ließen sich beispielsweise für die Basisfähigkeit „aerobe Ausdauer“ 32 verschiedene<br />
Testaufgaben finden.
- 14 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
1.3 Relevanz motorischer Leistungsfähigkeit<br />
Körperliche Aktivität, Fitneß und Gesundheit 1 stehen miteinander in enger Wechselwirkung.<br />
Beeinflußt werden diese Komponenten sowohl durch interne wie auch externe<br />
Faktoren wie Genetik, Lebensstil und Umwelt. Ziel von Interventionsmaßnahmen (z.B.<br />
sportlicher Aktivität) ist es, diese Wechselwirkung optimal zu beeinflussen.<br />
In Anlehnung an SCHWARZER/LEPPIN (1989) und FUCHS/LEPPIN (1992) hat KNOLL<br />
ein Modell des Wirkungsgefüges sportlicher Aktivität vorgelegt. Hiernach hat motorische<br />
Leistungsfähigkeit, z.B. als Resultat sportlicher Aktivität, unterschiedliche Wirkungen auf<br />
die Gesundheit.<br />
Abb. 5 Wirkungsgefüge sportlicher Aktivität als gesundheitsfördernde Maßnahme<br />
(KNOLL 1993, 77)<br />
1 Auf eine nähere Betrachtung des Gesundheitsbegriffs wird an dieser Stelle verzichtet;<br />
Übersichtsarbeiten hierzu haben u.a. KNOLL (1993), KRAUS (1987) und VENTH (1987)<br />
vorgelegt.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 15 -<br />
1.3.1 Motorische Leistungsfähigkeit und Gesundheit<br />
Zur Beziehung zwischen motorischer Leistungsfähigkeit und gesundheitlichen Parametern<br />
liegt eine Vielzahl empirischer Untersuchungen vor. Übersichtsarbeiten und<br />
zusammenfassende Beurteilungen haben SAAM (1990), KNOLL (1993) und SCHLICHT<br />
(1994) vorgelegt. Sie differenzieren hierbei Gesundheit in „somatische und psychische<br />
Gesundheit“ (SAAM) bzw. „physische und psycho-soziale Gesundheit“ (KNOLL).<br />
Die Effekte körperlicher Aktivität auf die physische Gesundheit lassen sich nach KNOLL<br />
(1993, 60f.) in kardiovaskuläre, metabolische, endokrine und hämodynamische Wirkungen<br />
zusammenfassen.<br />
Für den Bereich der psycho-sozialen Gesundheit faßt sie zusammen, daß „ ... durch<br />
körperliche/sportliche Aktivität Befindlichkeit und Selbstkonzept gesteigert sowie Angst<br />
und Depression abgebaut werden können“ (1993, 70).<br />
Abbildung 6 zeigt die Bedeutung von motorischer Leistungsfähigkeit als Ausdruck sportlicher<br />
Aktivität auf die subjektive bzw. objektive Gesundheitsbeurteilung.<br />
Abb. 6 Zusammenhang zwischen Sporttreiben und Gesundheitseinschätzung<br />
(BÖS/OPPER/POLENZ 1993, 38)<br />
Mit zunehmendem Umfang sportlicher Aktivität verbessert sich sowohl die eigene Beurteilung<br />
des Gesundheitszustandes als auch die des Arztes.
- 16 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
1.3.2 Motorische Leistungsfähigkeit und berufliche Anforderungen<br />
Die Auswirkungen motorischer Leistungsfähigkeit auf berufliche Anforderungen werden<br />
häufig unter dem betriebswirtschaftlichen Aspekt der Reduzierung von Fehlzeiten<br />
gesehen. Die besondere Bedeutung dieses Aspektes (aus Sicht der Arbeitgeber)<br />
verdeutlicht die Aussage von MÜLLER (1992, 20), daß „ ... die Hälfte der Ausgaben der<br />
gesetzlichen Krankenversicherung (1990 rd. 141 Mrd. DM) für Behandlungen von<br />
Krankheiten aufgewendet werden, die durch Genußmittelmißbrauch, fehlerhafte Ernährung<br />
und Bewegungsmangel zumindest mitbedingt sind“.<br />
Eine zusammenfassende Darstellung von Befunden zum Zusammenhang zwischen der<br />
Förderung körperlicher Aktivität und betrieblichen Fehlzeiten hat FRIES (1993) vorgelegt.<br />
Er stellt fest, daß Maßnahmen 2 zur Förderung der körperlichen Aktivität mit einer<br />
Reduzierung von betrieblichen Fehlzeiten einhergehen und daß Arbeitnehmer mit einer<br />
höheren körperlichen Leistungsfähigkeit seltener fehlen (1993, 111). Keine Aussagen<br />
macht FRIES allerdings zur Kausalität der Beziehung zwischen Leistungsfähigkeit und<br />
betrieblichen Fehlzeiten.<br />
BÖS/OPPER/POLENZ (1993) haben die „Pufferwirkung“ sportlicher Aktivität überprüft.<br />
Danach wirkt aktives Sporttreiben ausgleichend auf berufliche Belastungen (Abb. 7),<br />
„Sportlich aktive Personen können die negativen Auswirkungen von Arbeitsbelastungen<br />
... offensichtlich besser kompensieren“ (BÖS/OPPER/POLENZ 1993, 41).<br />
Abb. 7 Zusammenhang zwischen Sporttreiben, Arbeitsbelastung und Gesundheit,<br />
Arzteinschätzung (BÖS/OPPER/POLENZ 1993, 41)<br />
2 Basis seiner Aussagen hierzu sind empirische Befunde vor allem aus Nordamerika
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 17 -<br />
2. Einsatzfelder motorischer Leistungsdiagnose<br />
2.1 Schule<br />
Für den Bereich des Schulsports, in dem Basisindikatoren motorischen Lernens bisher<br />
nur unzureichend erforscht sind (HAAG/KRÜGER 1985, 28), könnte die Normierung<br />
motorischer Fähigkeiten zu einer schulart- und schulstufenübergreifenden Evaluation<br />
sportlicher Leistung führen. Außerdem könnten längerfristige Zeiträume der Schülerentwicklung<br />
bewertet werden.<br />
Abbildung 8 zeigt das Ergebnis einer Lehrerbefragung (N=119) an Gymnasien zur<br />
Testanwendung im Sportunterricht.<br />
Abb. 8 Gründe für die Testanwendung im Sportunterricht (BÖS 1987, 48)<br />
Neben dem Testziel „Zensurenfindung“ finden Tests im Schulsport Einsatz zur<br />
„Lernzielevaluation“ sowie zur „Überprüfung des Leistungsstandes“. Als wesentliches<br />
Ergebnis dieser Befragung kann festgehalten werden, daß es primär „selbstgestrickte“<br />
Tests sind, die im Schulsportunterricht angewandt werden.<br />
Relativ nahe an den motorischen Grundfertigkeiten „Laufen“, „Springen“, „Werfen“<br />
liegen Aufgaben der „Bundesjugendspiele Leichtathletik“. Daher bieten sie sich gut als<br />
Alternative zu standardisierten Tests an. Abbildung 9 und 10 zeigen exemplarisch für<br />
die Aufgaben „Sprint, 50m“ und „Schlagballwurf“ eine Auswertung unveröffentlichter<br />
Ergebnisse 3 .<br />
3 Wir danken an dieser Stelle der Duesberg Hauptschule Borken für die Überlassung der<br />
Testdaten
- 18 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
11,0<br />
10,5<br />
10,0<br />
9,5<br />
9,0<br />
8,5<br />
8,0<br />
50m Sprint [sec]<br />
8,8<br />
8,7<br />
9,0<br />
9,6<br />
1981 1982 1983 1984<br />
Geburtsjahr<br />
9,3<br />
9,5<br />
Geschlecht<br />
Jungen M ädchen<br />
Alter (A) Geschlecht (G) A x G<br />
N F p eta F p eta F p<br />
134 10.5 .00 .39 6.7 .01 .19 7.0 .00<br />
Abb. 9 Testergebnisse 10-13jähriger Schüler nach Alter und Geschlecht im „50m Lauf“<br />
50,0<br />
40,0<br />
30,0<br />
20,0<br />
10,0<br />
200g Ball [m ,cm ]<br />
42,5<br />
21,1<br />
37,2<br />
22,3<br />
33,7<br />
9,4<br />
27,6<br />
10,0<br />
Geschlecht<br />
Jungen Mädchen<br />
20,8 20,5<br />
1978 1979 1980 1981<br />
Geburtsjahr<br />
Alter (A) Geschlecht (G) A x G<br />
N F p eta F p eta F p<br />
134 11.8 .00 .28 113.7 .00 .60 4.7 .00<br />
Abb. 10 Testergebnisse 13-16jähriger Schüler nach Alter und Geschlecht im „Schlagballwurf“<br />
Es zeigen sich einige interessante Ergebnisse. So erzielen die 13jährigen Mädchen im<br />
Sprint entgegen dem Trend bessere Ergebnisse als gleichaltrige Jungen. Ferner<br />
stagniert die Leistungshöhe der Mädchen beim Wurf, während bei den Jungen ein annähernd<br />
linearer Leistungsanstieg zu beobachten ist.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 19 -<br />
2.2 Freizeit-/Gesundheitssport<br />
Ziel des Freizeit- und Gesundheitssports ist es unter anderem, ein Optimum an<br />
Gesundheit und Wohlbefinden zu erreichen. Hierbei stellt sich die Frage nach dem Maß<br />
an körperlicher Vervollkommnung und sportlicher Leistungsfähigkeit für den Menschen<br />
in den einzelnen Lebensphasen, das für dieses Optimum erforderlich ist.<br />
Aufgrund der individuell unterschiedlichen Voraussetzungen ist für den Bereich des<br />
Freizeit- und Gesundheitssports eine differenzierte Zugangsweise erforderlich. Abbildung<br />
11 verdeutlicht dieses „tailored testing“, so sollten Ältere, Untrainierte und<br />
Risikopersonen über die (positiv bewältigten) Stationen „ärztliche Untersuchung“ und<br />
„Funktionstest“ zu standardisierten Fitneßtests gelangen.<br />
Abb. 11 Sequentielles Diagnoseschema für den Freizeit- und Gesundheitssport (BÖS 1994, 27)
- 20 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
2.3 Talentsuche/-förderung<br />
Ziel der Eignungsforschung im Bereich des Leistungssports ist weniger die lebenslange<br />
Bindung an eine Sportart als vielmehr die Entwicklung von Strategien und Methoden<br />
für die Suche, Selektion und Förderung von Talenten.<br />
Ein Talent im Sport ist eine Person, „deren Struktur von anatomisch- physiologischen<br />
Merkmalen, Fähigkeiten und weiteren Persönlichkeitseigenschaften mit hoher Wahr-<br />
scheinlichkeit erwarten läßt, daß diese Person unter bestimmten Trainings- und<br />
Umweltbedingungen das Leistungsniveau der nationalen oder internationalen Spitzen-<br />
klasse in einer bestimmten Sportart erreichen kann. (SINGER 1981, 16)<br />
Dem Ausmaß an Begabung kommt im Bereich des Spitzensports eine zunehmend<br />
größere Bedeutung zu. Optimale Trainingsbedingungen, wie sie in den Sportnationen<br />
mittlerweile üblich sind, reichen ganz offensichtlich nicht mehr aus, um einen Platz an<br />
der internationalen Spitze zu garantieren.<br />
Die gezielte Suche und Auswahl sportlich begabter Menschen bezieht sich auf<br />
Personengruppen, die ihre größtmögliche Leistungsfähigkeit noch nicht erreicht haben.<br />
Konzeptionen der Talentauswahl stehen daher in einem engen Zusammenhang mit den<br />
Erkenntnissen der motorischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter (JOCH 1985,<br />
148).<br />
Eignung oder Talent ist kein Phänomen, das sich bei einer einmaligen querschnittlichen<br />
Diagnose offenbart, sondern zeigt sich erst im Verlauf langjähriger Entwicklungsprozesse<br />
und Trainingsmaßnahmen im sozial vorgegebenen Kontext. Durch Auswertung<br />
von Sportzensuren, schulischen Wettkämpfen, Sichtungswettkämpfen der<br />
Vereine und Verbände sowie standardisierter Tests gelingt es daher allenfalls, auffällige<br />
Personen, also „Bewegungstalente“, zu sichten und in weitere Maßnahmen der<br />
Selektion und Förderung einzugliedern.<br />
Nach CARL (1984, 922) ist es bislang jedoch nicht gelungen, wissenschaftlich exakte<br />
Verfahren anzugeben, mit denen die Entwicklung einzelner leistungsbestimmender<br />
Merkmale oder komplexer sportlicher Leistungen für die Trainingspraxis hinreichend<br />
genau zu prognostizieren sind. „Zur Zeit ist es noch nicht möglich, etwa die Entwicklung<br />
der personalen Leistungsbedingungen so exakt zu prognostizieren, daß dies insgesamt<br />
als ein praxisrelevantes Hilfsmittel zur langfristigen sportartspezifischen Talentbestimmung<br />
anzusehen ist“.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 21 -<br />
Selektionsentscheidungen in Form von „geeignet/nicht geeignet“ erscheinen außerordentlich<br />
problematisch, wenn die Eignungskriterien an sich ebenso wie ihre Schwellenwerte<br />
nicht hinreichend theoretisch und empirisch begründet werden können.<br />
„Eignungsnormen“ sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn ein enger Zusammenhang<br />
zwischen den aktuellen Leistungsdaten und der Leistungsfähigkeit im Hochleistungsalter<br />
besteht.<br />
Hauptproblem im Zusammenhang mit der Bestimmung von Schwellenwerten ist die<br />
Ausleseschärfe. Bei hochgesetzten Normen werden nur wenige Sportler als talentiert<br />
eingestuft, die meisten fallen durch ein grobmaschiges Diagnosenetz hindurch, darunter<br />
auch potentielle Talente. Im Gegensatz dazu selektiert ein engmaschiges Diagnosenetz<br />
mehr Talente, ist aber auch weniger sensibel gegenüber Untalentierten, was rasch zu<br />
einer Überlastung der personalen und materiellen Möglichkeiten führt, wenn versucht<br />
wird, alle ausgewählten Individuen optimal zu fördern.<br />
Den vorhandenen Defiziten stehen inhaltliche (personenspezifische Eignung), organisatorische<br />
(Effektivität) und ökonomische (Finanzierung, Resourcen) Gründe gegenüber,<br />
die die Beibehaltung von Selektionsmaßnahmen unabdingbar machen.<br />
Da Kontrollnormen der Talentauswahl nicht die geforderten Kriterien einer exakten<br />
Prognose berücksichtigen, scheint es nicht sinnvoll, Talentauswahl nur auf der Grundlage<br />
einmalig erhobener Leistungskennziffern vorzunehmen. Ansätze, die versuchen,<br />
der Vielschichtigkeit der Problematik eher gerecht zu werden, liegen in der Anwendung<br />
von sequentiellen Diagnosestrategien.<br />
Solche ausdifferenzierten und vielstufigen Selektionsentscheidungen können eine<br />
erhebliche Verbesserung der Trefferquote erzielen und die pädagogische Verantwortbarkeit<br />
erhöhen. Innerhalb solch verzweigter Diagnosestrategien spielen Leistungskennziffern<br />
keine dominante Rolle. Sie haben die Aufgabe, dem für die Talentauswahl<br />
Verantwortlichen neben seinem subjektiven Eindruck vom physischen und psychischen<br />
Leistungsvermögen des Nachwuchssportlers auch objektive Daten als Entscheidungshilfen<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
Im Bereich „Talentsuche/-förderung“ sollten sportmotorische Test 4 zur Evaluation von<br />
Trainingsmaßnahmen sowie als Entscheidungshilfe bei sequentiellen Selektionsentscheidungen<br />
eingesetzt werden.<br />
4 Entsprechendes gilt für analoge Verfahren aus Psychologie, ...
- 22 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
2.4 <strong>Grundlagen</strong>forschung „motorischer Entwicklung“<br />
Der traditionelle Entwicklungsbegriff, wie er bislang sowohl im Alltag als auch in den<br />
entsprechenden Wissenschaftszweigen verwendet wurde, orientiert sich vielfach an den<br />
biologischen Vorgängen von Wachstum und Reifung. Entwicklungsprozesse sind<br />
danach genetisch vorbestimmt und laufen unabhängig von äußeren Einflüssen, sozusagen<br />
nach einer inneren Uhr ab. Dies impliziert zum einen, daß Entwicklungsverläufe<br />
bei allen Individuen gleichermaßen vorprogrammiert sind, zum anderen, daß äußere<br />
Faktoren keinen oder allenfalls geringen Einfluß haben. Die daraus hervorgegangenen<br />
Stufen- und Phasenmodelle der allgemeinen wie auch der motorischen Entwicklung<br />
legen folgende Annahmen zugrunde (FILIPP/DOENGES 1983, 209f):<br />
1. Sequentialität<br />
Entwicklungsmäßige Veränderungen vollziehen sich in einer geordneten Sequenz, die sich<br />
als Aufeinanderfolge einzelner Stufen, Phasen oder Stadien darstellen läßt.<br />
2. Irreversibilität<br />
Die Abfolge der einzelnen Veränderungsschritte ist invariant und nicht umkehrbar.<br />
3. Unidirektionalität<br />
Veränderungen sind auf einen angenommenen Endzustand, ein bestimmtes Entwicklungsziel<br />
hin ausgerichtet.<br />
4. Universalität<br />
Veränderungsprozesse und ihre Abfolge sind für alle Personen relativ identisch, interindividuelle<br />
Unterschiede bestehen nicht für den Entwicklungsverlauf, sondern allenfalls<br />
für die Entwicklungsgeschwindigkeit.<br />
5. Strukturalismus<br />
Veränderungen sind qualitativ-struktureller Natur, daß heißt, Merkmale unterliegen einem<br />
kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Wandel.<br />
Entsprechend dieser Annahmen stehen bei einem biologisch orientierten Entwicklungsbegriff<br />
die Entwicklungsprozesse des Kindes- und Jugendalters im Vordergrund. Nach<br />
dem Erreichen des Entwicklungszieles (Unidirektionalität), sozusagen dem Höhepunkt,<br />
ist das weitere Leben zwangsläufig und unwiderruflich (Irreversibilität) durch einen stetig<br />
beschleunigten Abbau und Zerfall geprägt.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 23 -<br />
Nach BAUR (1989, 29) läßt sich die Gliederung der Entwicklung in Phasenabschnitte<br />
auch empirisch nicht halten. Die interindividuellen Unterschiede seien viel größer, die<br />
Abgrenzung der einzelnen Phasen voneinander und die Übergänge zwischen den<br />
Phasen weit weniger deutlich, als dies in den Phasenlehren nahegelegt wird. Als Folge<br />
der unzulässigen generalisierenden Beschreibung bestehe die Gefahr einer unzulässigen<br />
normativen Setzung durchschnittlicher altersbezogener Entwicklungsniveaus.<br />
THOMAE (1959, 10) sieht Entwicklung als eine „Reihe von miteinander zusammenhängenden<br />
Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines<br />
individuellen Lebenslaufes zuzuordnen sind". Diese sehr weite Definition von Entwicklung<br />
besagt zum einen, daß körperliche, psychische, intellektuelle, emotionale und<br />
soziale Veränderungen aufgrund endogener und exogener Einflüsse miteinander<br />
zusammenhängen und sich weiterentwickeln. Zum anderen macht sie deutlich, daß<br />
diese Veränderungen in der Abfolge eines individuellen Lebenslaufes zu ganz spezifischen<br />
Zeiten auftreten (z.B. Schuleintritt, Pubertät, Berufseintritt und -austritt,<br />
Familiengründung, Krankheit, usw.) (RIEDER 1990, 59).<br />
Die Einschätzung des individuellen Entwicklungszustandes kann sich entsprechend<br />
nicht auf eine Gegenüberstellung des kalendarischen und des biologischen Alters<br />
beschränken. In die Bewertung müssen individuelle Ereignisse und Bedingungen mit<br />
einfließen.<br />
Mit der Abwendung von einem engen, biologischen Entwicklungsbegriff und der damit<br />
verbundenen Zielgerichtetheit (Unidirektionalität) und Invarianz einzelner<br />
Veränderungsschritte (Irreversibilität), kann auch die einseitige Konzentration auf die<br />
Entwicklung in Kindheit und Jugend nicht mehr aufrechterhalten werden.<br />
Neuere, pluralistisch orientierte Entwicklungsbegriffe in der Entwicklungspsychologie<br />
beziehen sich auf die gesamte Lebensspanne.<br />
Als Beispiel für das Konzept der Multidimensionalität nennt BALTES (1990, 5) die<br />
Theorie der fluiden und kristallisierten Intelligenz (u.a. HORN 1970). Danach setzt sich<br />
Intelligenz aus zwei Fähigkeitsbündeln zusammen, die sich in ihren Entwicklungsverläufen<br />
und -richtungen unterscheiden.<br />
Fluide Intelligenz (z.B. Gedächtnisoperationen, Problemlösen) steigt bis zum frühen<br />
Erwachsenenalter an und geht danach in eine Periode der Stabilität über. Mit dem<br />
Beginn des mittleren Lebensalters setzt die Phase des graduellen Altersabbaus ein. Die<br />
kristallisierte Intelligenz (z.B. Sprache, soziale Intelligenz) weist hingegen auch über<br />
dieses mittlere Erwachsenenalter hinaus eine ansteigende Entwicklungsfunktion auf.
- 24 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
Für die explizite Bestimmung dieser Intelligenzform, die weitgehend reifungs- und<br />
wachstumsunabhängig ist, ist es unumgänglich, die sich im Verlauf des Lebens<br />
ergebenden individuellen sozio-ökologischen Strukturen zu betrachten.<br />
Abb. 12 Verschiedene Formen der Intelligenz in ihrer lebenslangen Entwicklung<br />
(mod. nach BALTES 1990, 5)<br />
Diese Neuorientierung im Bereich der Entwicklungspsychologie eröffnet auch für den<br />
Begriff der motorischen Entwicklung neue Perspektiven. Für die Entwicklung motorischer<br />
Fähigkeiten etwa ist eine ähnliche Entwicklung, wie sie für die Intelligenzfähigkeiten<br />
beschrieben wurde, denkbar. So berücksichtigen nach ISRAEL et al. (1982,<br />
292) die allgemein geübten quantifizierenden Beschreibungen der Alterungsvorgänge<br />
bzgl. der Leistungsfähigkeit bisher nur ungenügend das Anpassungspotential des Organismus,<br />
welches nur auf soziale Anforderungen (Arbeits- und Lebensbedingungen) hin<br />
genutzt wird. Der Rückgang der Leistungsfähigkeit im Alternsgang sei demnach nicht<br />
nur biologisch sondern auch sozial zu interpretieren.<br />
In Untersuchungen (ISRAEL/EHRLER/BULL 1980, KÖHLER/ISRAEL 1980) konnte<br />
nachgewiesen werden, daß sich beispielsweise für die motorische Fähigkeit „aerobe<br />
Ausdauer“ bei Männern zwischen 26 und 60 Jahren keine Altersabhängigkeit ergibt. Angemessene<br />
Anforderungen (Training) führen in jedem Lebensalter zu einer entsprechenden<br />
organismischen Anpassung.<br />
Allgemeine gesellschaftlich bedingte Einflüsse können für eine bestimmte Population<br />
erkannt und in die Interpretation der Leistungsentwicklung im Lebensverlauf und die Bestimmung<br />
von Leistungsnormen miteinbezogen werden.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 25 -<br />
Der Einfluß individueller sozioökologischer Bedingungen führt jedoch zwangsläufig zu<br />
der Frage nach der Sinnhaftigkeit von Gruppennormen. Normen der Leistungsentwicklung<br />
widerspiegeln immer kollektive Eigenschaften. Unter Berücksichtigung<br />
allgemeiner Einflußgrößen können sie einen Entwicklungstrend aufzeigen und dem<br />
Einzelnen zumindest als Orientierung dienen. Als Maßstab wären sie nur dann zu<br />
verwenden, wenn gleiche Entwicklungsbedingungen für alle Individuen vorausgesetzt<br />
werden könnten.<br />
Die Gewinnung von Entwicklungsnormen auf der Basis von punktuell erhobenen<br />
Leistungswerten kann den modernen Entwicklungstheorien nur teilweise gerecht<br />
werden. Sie orientiert sich zwangsläufig am kalendarischen Alter, kann aber durch eine<br />
adäquate Wahl der Stichproben die individuellen und allgemeinen Entwicklungsumwelten<br />
soweit berücksichtigen, daß ein Entwicklungstrend sichtbar und eine Orientierung<br />
möglich wird.<br />
Streng methodisch gesehen ist die Darstellung motorischer Entwicklung nur mit<br />
gemischten Quer-/Längsschnittstudien möglich. Querschnittliche Analysen indizieren<br />
Kohorten- und Stichprobeneffekte, längsschnittliche Analysen beobachten Entwicklung.<br />
Aufgrund des organisatorisch (und finanziell) hohen Aufwandes für derartige<br />
Untersuchungsdesigns bieten sich „quasi-längsschnittliche“ Betrachtungen auf der<br />
Grundlage querschnittlich erhobener Daten als Kompromiß an. Als Mindestanforderung<br />
an diese Daten sollten aber identische Durchführungsbestimmungen, eine exakte<br />
Stichprobenbeschreibung sowie ausreichende statistische Kennziffern (Mittelwert,<br />
Varianz, Stichprobenumfang) gelten. Ansonsten sind Vergleiche wenig sinnvoll bzw.<br />
werden die Voraussetzungen einer statistischen Reanalyse (vgl. BORTZ 1993, 238)<br />
nicht erfüllt.<br />
Abbildung 13 zeigt exemplarisch anhand vorliegender Daten von JANEV/GENOV<br />
(1982) den Verlauf der motorischen Leistungsfähigkeit über die Altersspanne für die<br />
Fähigkeiten:<br />
• Maximalkraft (MK), Testaufgabe: Handdynamometer<br />
• Schnellkraft (SK); Testaufgabe: Standweitsprung<br />
• Aktionsschnelligkeit (AS); Testaufgabe: 60m Sprint<br />
• Kraftausdauer (KA); Testaufgabe: Liegestütz (max.).<br />
Um unterschiedliche Dimensionen (cm, Anzahl, sec, kp) miteinander vergleichen zu<br />
können wurde die Datensätze zu Z-Werten transformiert. Dies bedeutet, daß der Mitelwert<br />
der Männer / Frauen jeweils 100 beträgt. Vergleichen lassen sich somit fähigkeitsbezogen<br />
die Z-Werte der Frauen und Männer, nicht vergleichbar sind aufgabenbezogen<br />
die Z-Werte der Frauen mit denen der Männer.
- 26 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
120 [Z-Wert]<br />
110<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
120<br />
110<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
[Z-W ert]<br />
Fähigkeit<br />
MK SK AS KA<br />
6-9 10-14 15-18 19-25 26-30 31-40 41-50 51-60 Jahre<br />
MK SK AS KA<br />
6-9 10-14 15-18 19-25 26-30 31-40 41-50 51-60 Jahre<br />
Abb. 13 Verlauf motorischer Fähigkeiten bulgarischer Männer (oben) und Frauen (unten)<br />
[Daten aus: JANEV/GENOV 1982]<br />
Deutlich werden neben alters- und geschlechtsspezifischen Unterschieden fähigkeitsbezogene<br />
Entwicklungsspezifika. So ist der Leistungsabfall bei der Aktionsschnelligkeit<br />
geschlechtsunabhängig höher als bei anderen Fähigkeiten. Die Maximalkraft hingegen<br />
entwickelt sich später und zeigt im Alternsgang den geringsten Abfall. Geschlechtsspezifisch<br />
betrachtet erreichen die Frauen (Ausnahme: Maximalkraft) ihre Leistungsmaxima<br />
deutlich früher.
<strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong> - 27 -<br />
3. Normen<br />
Die Normierung stellt eines der Nebengütekriterien bei der Beurteilung der Testqualität<br />
dar. Die Bezeichnung „Nebengütekriterium" suggeriert eine mindere Bedeutung, aus<br />
anwendungsorientierter Sicht sind jedoch Orientierungswerte zur intra- und interindividuellen<br />
Beurteilung der Testergebnisse von großer Bedeutung<br />
(KLAUSMEIER/RIPPLE 1975).<br />
Während eine Normierung psychologischer und pädagogischer Testverfahren mittels<br />
alters-, geschlechts- und gruppenspezifischer Tabellen überwiegt, ist die Normierung<br />
sportmotorischer Tests eher selten. So fand BÖS (1987), daß von 24 untersuchten<br />
Konditionstests lediglich 11 normiert waren. Legt man den Normierungen ferner einfachste<br />
Standards (z.B. Transparenz der Datengrundlage) zugrunde, so verringert sich<br />
die Anzahl noch weiter.<br />
Begriffe und Zielsetzungen von Normen werden unterschiedlich definiert und diskutiert.<br />
Auch die Erstellung von Normwerttabellen geschieht nach unterschiedlichen Methoden.<br />
Auf der Grundlage experimenteller epidemiologischer Untersuchungen differenziert<br />
ISRAEL (1985, 15) die Spannbreite motorischer Leistungsfähigkeit in 4 Kategorien;<br />
• Minimalnorm, als Abgrenzung physiologischer Befunde von pathologischen Zuständen<br />
• Majoritätsnorm, als statistischer Regelfall in der Population<br />
• Idealnorm, als optimale Ausprägung verschiedener Aspekte<br />
• Spezialnorm, als Voraussetzung für hochspezifische Tätigkeiten<br />
Exemplarisch nennt er hierzu beispielhaft folgende Normwerte.<br />
Tab. 1 Modellhafte Kenngrößen in den 4 Normwertkategorien (nach ISRAEL 1985, 16)<br />
Ruheschlag<br />
frequenz (1/min)<br />
VO 2 max<br />
(ml/min/kg)<br />
Körperhöhe - 100/<br />
Körpergewicht (kg)<br />
Minimalnorm 90 30 0.8<br />
Majoritätsnorm 70 40 0.9<br />
Idealnorm 55 52 1.1<br />
Spezialnorm<br />
(Marathonläufer)<br />
40 75 1.2
- 28 - <strong>II</strong>. <strong>Theoretische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
Aufgrund der komplexen Struktur motorischer Leistungsfähigkeit können bezogen auf<br />
unterschiedliche Fähigkeiten mehrere Normkategorien zutreffen.<br />
Majoritätsnormen unterliegen als Abbild der Realität sehr stark Kohorten- und<br />
Stichprobeneffekten. Eine Ausrichtung an den Bevölkerungsdurchschnitten hieße, die<br />
Tendenz der abnehmenden motorischen Leistungsfähigkeit zu tolerieren und zur Norm<br />
zu erklären (WITTEKOPF 1975, 987).<br />
Andere Orientierungswerte für die relative maximale Sauerstoffaufnahme als Kriterium<br />
der allgemeinen aeroben Ausdauerleistungsfähigkeit schlagen GROSSER et al. (1986,<br />
113f.) für verschiedene Leistungsstufen vor.<br />
Tab. 2 Werte relativer VO 2 max als Orientierungswerte für verschiedene<br />
Ausdauerleistungsfähigkeiten (GROSSER et. al 1986, 114)<br />
motorisches Leistungsniveau rel. max. VO 2<br />
Fitneß (Männer) 45 ml/kg/min<br />
Fitneß (Frauen) 38 ml/kg/min<br />
Bewegungsmangel (Männer) < 35 ml/kg/min<br />
Bewegungsmangel (Frauen) < 28 ml/kg/min<br />
Ausdauertrainierte 55 - 65 ml/kg/min<br />
Ausdauersportler (internationales Niveau) 65 - 80 ml/kg/min<br />
Spitzensportler (gemessene Höchstwerte)<br />
85 - 90 ml/kg/min<br />
In dem vom BISp geförderten Forschungsvorhaben wurde angestrebt, für den Bereich<br />
sportmotorischer Tests Normwerte über die Altersspanne zu entwickeln. Datenbasis der<br />
hier vorliegenden Normen ist eine systematische Reanalyse publizierter Testergebnisse<br />
der Jahre 1970 - 1992.<br />
Diese Ergebnisse sind in der DATENBANK SPODAT (SPOrtmotorische TestDATen)<br />
festgehalten.