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Einführung in die Sozialwissenschaften - Jürgen Bellers

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ihrerseits verwirrt, denn sie lehnten Homosexualität ab. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

def<strong>in</strong>ierten sie Homosexualität entsprechend ihrer Geschlechtskategorien<br />

und verstanden darunter sexuelle Beziehungen zwischen sich gleich<br />

verhaltenden Menschen, also zwischen Kriegern/Jägern auf der e<strong>in</strong>en und<br />

Sammler<strong>in</strong>nen/Bodenbauer<strong>in</strong>nen auf der anderen Seite. Als Forscher<br />

schließlich erkannten, daß <strong>die</strong>se berdaches e<strong>in</strong>en angesehenen,<br />

wohldef<strong>in</strong>ierten Status <strong>in</strong> ihrem jeweiligen Stamm besaßen, begannen sie<br />

allmählich von e<strong>in</strong>em dritten Geschlecht zu sprechen. Sie erklärten <strong>die</strong><br />

Existenz <strong>die</strong>ser Mann-Frauen - das mögliche vierte Geschlecht der Frau-<br />

Männer lernten sie als männliche Beobachter nicht kennen - mit der<br />

Funktion, auch solchen Männern e<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Stammesgesellschaft zu<br />

sichern, <strong>die</strong> sich mit der aggressiven Ausgestaltung der<br />

geschlechtsspezifischen Rollen e<strong>in</strong>es Kriegers und Jägers nicht anfreunden<br />

konnten.<br />

Rollenflexibilität dürfte aber wohl nicht der H<strong>in</strong>tergrund für das Phänomen<br />

e<strong>in</strong>es "dritten Geschlechts" se<strong>in</strong>, denn auch <strong>in</strong> den <strong>in</strong>dianischen Kulturen<br />

Nordamerikas kannte man weibliche Männer und männliche Frauen mit<br />

e<strong>in</strong>em an das Gegengeschlecht angelehnten Tätigkeitsprofil. Doch fiel bei<br />

<strong>die</strong>sen <strong>die</strong> biologische und <strong>die</strong> soziale Geschlechterzuordnung nicht<br />

ause<strong>in</strong>ander. Es läßt sich deshalb vermuten, daß es sich bei dem "dritten<br />

Geschlecht" um e<strong>in</strong>e Mixtur aus zwei kulturellen S<strong>in</strong>ngebungen für<br />

Geschlecht handelt, so daß <strong>die</strong> wenigen bekannten Ausnahmen e<strong>in</strong>er<br />

b<strong>in</strong>ären Geschlechterordnung auf e<strong>in</strong>er Fehl<strong>in</strong>terpretation des Beobachteten<br />

beruhen. Diese Vermutung wird - zum<strong>in</strong>dest im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>dianischen Kulturen Nordamerikas - dadurch unterstrichen, daß dort das<br />

bei uns so zentrale Kriterium "Penis/Nicht-Penis" für <strong>die</strong> biologische<br />

Geschlechterbestimmung unwesentlich war. Berdaches imitierten nicht nur<br />

<strong>die</strong> Körperfunktionen des jeweiligen physischen Gegengeschlechts perfekt,<br />

sie nannten auch ihre primären Geschlechtsmerkmale entsprechend des<br />

angenommenen Geschlechts um. Allerd<strong>in</strong>gs fehlte auch nach <strong>in</strong>dianischem<br />

Verständnis e<strong>in</strong>em berdache e<strong>in</strong> wesentliches biologisches Merkmal von<br />

Frauen: <strong>die</strong> Gebährfähigkeit. Wie erwähnt, nimmt man <strong>in</strong> vielen Teilen der<br />

Welt nicht den Penis oder se<strong>in</strong> Fehlen zum Anlaß der<br />

Geschlechtersegregation, sondern <strong>die</strong> biologische - allerd<strong>in</strong>gs immer im<br />

Rahmen kultureller Fortpflanzungstheorien gedeutetete - Tatsache, K<strong>in</strong>der<br />

gebären zu können. Aus <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>nverständnis heraus unterschied man <strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>dianischen Kulturen e<strong>in</strong>en berdache von e<strong>in</strong>er "richtigen" Frau, obwohl<br />

leibliche K<strong>in</strong>der dort wegen e<strong>in</strong>er extensiven Adoptionspraxis nicht<br />

unverzichtbar waren. Initiationszeremonien, <strong>in</strong> deren Verlauf e<strong>in</strong>em Jungen<br />

der Frauenrock angelegt wurde, machten <strong>die</strong>sen deshalb nicht zur Frau im<br />

biologischen S<strong>in</strong>ne. Sie ordneten ihn aber <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschlechtskategorie Frau<br />

e<strong>in</strong> Mit anderen Worten, sie verliehen ihm den sozialen und kulturellen<br />

Status e<strong>in</strong>er Frau, der sowohl zur Grundlage se<strong>in</strong>es korrekten, arbeitsteiligen<br />

Handelns wurde als auch zur Grundlage se<strong>in</strong>er weiblichen Mimik, Gestik<br />

und Sprache oder se<strong>in</strong>er jeweils als fem<strong>in</strong><strong>in</strong> def<strong>in</strong>ierten Persönlichkeitseigenschaften<br />

(Lang 1990: 146 ff.).<br />

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