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Einführung in die Sozialwissenschaften - Jürgen Bellers

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<strong>Jürgen</strong> <strong>Bellers</strong> / Peter Schulte (Hrsg.)<br />

<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong><br />

Grundlagen menschlichen Handelns


INHALT<br />

Vorwort 5<br />

Woll-Schumacher<br />

Irene: Handeln und Geschlecht 7<br />

He<strong>in</strong>rich,<br />

Elisabeth: Die moralische Dimension menschlichen 46<br />

Handelns als Problem der Philosophie.<br />

Der Beitrag Humes, Kants und Jonas’<br />

<strong>Bellers</strong>,<br />

<strong>Jürgen</strong>: Der Arbeiter und se<strong>in</strong>e Grenze 79<br />

Neutsch,<br />

Cornelius: Geschichte als Grundlage menschlichen 99<br />

Handelns. E<strong>in</strong>ige Anmerkungen für<br />

Stu<strong>die</strong>nanfänger<br />

<strong>Bellers</strong>,<br />

<strong>Jürgen</strong>: Der homo politicus 105<br />

Meyer,<br />

Thomas: Der Handlungsbegriff <strong>in</strong> der Soziologie 132<br />

<strong>Bellers</strong>,<br />

<strong>Jürgen</strong>: Geographie: Raum und Zeit 150<br />

Köster,<br />

Claudius R.: Sozialwissenschaft als Wissenschaft vom 161<br />

und für den Menschen<br />

Die Konferenz <strong>in</strong> St. Scildamente, Mex. 187<br />

3


Vorwort<br />

Dieser Band gibt e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> das Themen-, Forschungs- und<br />

Methodenfeld der <strong>Sozialwissenschaften</strong> im weiteren S<strong>in</strong>ne, wie sie sich<br />

<strong>in</strong>sbesondere an der Universität-Gesamthochschule Siegen entwickelt haben.<br />

Gerade an <strong>die</strong>ser Universität besteht <strong>die</strong> auch organisatorisch gegebene<br />

Möglichkeit e<strong>in</strong>er engen Kooperation von der Geographie bis Theologie.<br />

Allen <strong>die</strong>sen Wissenschaften ist <strong>die</strong> Frage nach den Grundlagen und<br />

Bed<strong>in</strong>gungen menschlichen Handelns geme<strong>in</strong>sam. Dieser Perspektive und<br />

<strong>die</strong>ser Fragestellung widmet sich <strong>die</strong>ser Band, sowohl grundlegend als auch<br />

weiterführend, so daß wir sicherlich auf so manche Aspekte von<br />

Gegenstandsbereichen noch neues Licht zu werfen vermögen.<br />

Die Herausgeber:<br />

J. <strong>Bellers</strong> / P. Schulte<br />

5


HANDELN UND GESCHLECHT<br />

Irene Woll-Schumacher<br />

S<strong>in</strong>n und Handeln<br />

Will man <strong>die</strong> Besonderheit des Handelns der Menschen im Unterschied zum<br />

Verhalten der Tiere kennzeichnen, wird der Begriff "S<strong>in</strong>n" zum<br />

Schlüsselwort. Die beim Tier genetisch vorgegebenen Situationsdeutungen,<br />

Handlungsziele und Handlungsformen gründen beim Menschen auf S<strong>in</strong>n.<br />

Durch S<strong>in</strong>n wird <strong>die</strong> Wahrnehmung jedes e<strong>in</strong>zelnen so gelenkt, daß er se<strong>in</strong>e<br />

natürliche und soziale Umwelt "versteht". Dies zeigt sich dar<strong>in</strong>, daß er<br />

bewußt oder unbewußt "weiß", <strong>in</strong> welcher Situation er sich gerade bef<strong>in</strong>det,<br />

oder wie er das Verhalten se<strong>in</strong>er Mitmenschen deuten und se<strong>in</strong> eigenes<br />

erklären kann. S<strong>in</strong>n konstituiert <strong>die</strong> Ordnung des menschlichen Erlebens<br />

und Handelns.<br />

Menschen handeln oder unterlassen Handeln, weil sie hoffen, daraus e<strong>in</strong>en<br />

Nutzen zu ziehen. Allgeme<strong>in</strong> gesprochen besteht <strong>die</strong>ser Nutzen im<br />

alltäglichen Überleben. Überleben kann der Mensch aber nur, wenn er zwei<br />

zentralen Bedürfnissen nachkommt: dem Streben nach physischem<br />

Wohlbef<strong>in</strong>den und dem Gew<strong>in</strong>n sozialer Wertschätzung (Esser 1996: 6 f.).<br />

Während physisches Wohlbef<strong>in</strong>den auf <strong>die</strong> Funktionserfordernisse des<br />

Organismus verweist und deshalb als e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung für Überleben jedem<br />

Laien e<strong>in</strong>sichtig ist, liegt der Überlebensnutzen von sozialer Wertschätzung<br />

weniger auf der Hand. Die Erklärung f<strong>in</strong>det sich im S<strong>in</strong>nbezug des menschlichen<br />

Handelns, denn S<strong>in</strong>n impliziert Bewertung. Durch S<strong>in</strong>n wird festgelegt,<br />

was bedeutend und unbedeutend, richtig und falsch, gut und böse ist.<br />

Sucht deshalb e<strong>in</strong> Mensch soziale Wertschätzung durch andere, wendet er<br />

sich der akzeptierten Seite im sozialen S<strong>in</strong>nsystem zu. Dort bef<strong>in</strong>den sich <strong>die</strong><br />

Plätze, <strong>die</strong> man e<strong>in</strong>nehmen muß, um legitimerweise <strong>die</strong> besten<br />

Lebenschancen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Akzeptables Handeln ist immer e<strong>in</strong> Handeln, das im Rahmen der<br />

gesellschaftlichen S<strong>in</strong>nsetzungen ausgeführt wird, <strong>die</strong> Situationsdeutungen,<br />

Handlungsziele und Handlungsformen e<strong>in</strong>es Menschen <strong>in</strong> ihrem Wert<br />

bestätigen. Dadurch erhält der Mensch - weil er nach sozialer Objektivität<br />

richtig und gut handelt - selbst e<strong>in</strong>en Wert. Sicherlich kann Handeln auch<br />

auf gänzlich subjektiver S<strong>in</strong>nsetzung beruhen, wie <strong>die</strong> illustrative Geschichte<br />

zeigt, <strong>die</strong> dem berühmten Thomas-Theorem zugrunde liegt. Dort g<strong>in</strong>g es um<br />

e<strong>in</strong>en Gefängnis<strong>in</strong>sassen, der mehrere Menschen getötet hatte, welche <strong>die</strong><br />

Angewohnheit besaßen, auf der Straße mit sich selbst zu reden. Der S<strong>in</strong>nh<strong>in</strong>tergrund<br />

für <strong>die</strong>ses Handeln war, daß der Totschläger aus den<br />

7


Lippenbewegungen der Passanten schloß, daß er übel beschimpft wurde<br />

und sich wehrte, <strong>in</strong>dem er <strong>die</strong>se Beschimpfungen e<strong>in</strong> für allemal unterband<br />

(Thomas 1965: 114). Da <strong>die</strong>se subjektive S<strong>in</strong>nsetzung jedoch von se<strong>in</strong>en<br />

Mitmenschen nicht nachvollzogen wurde, <strong>die</strong>se solches und ähnliches<br />

Handeln als schädlich, verrückt oder auch gottlos ablehnten, entzogen sie<br />

ihm jegliche Wertschätzung und unterstrichen <strong>die</strong>s durch se<strong>in</strong>e<br />

Ausgrenzung aus der Geme<strong>in</strong>schaft der Menschen mit Wert. Damit war se<strong>in</strong><br />

Bemühen, im Alltag zu leben und - im Falle e<strong>in</strong>er möglichen Todesstrafe - zu<br />

überleben gescheitert.<br />

Thomas folgerte aus <strong>die</strong>ser Handlungssequenz, daß Menschen, wenn sie<br />

e<strong>in</strong>er Situation e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n unterlegt hätten, sie <strong>die</strong>se Situation als real,<br />

als "wirklich", ansähen und ihr weiteres Handeln konsequent und s<strong>in</strong>nvoll<br />

von <strong>die</strong>ser Wirklichkeit ableiteten. Es gehört deshalb zu den<br />

Grundüberzeugungen der Soziologen, daß dem Handeln der Menschen stets<br />

e<strong>in</strong>e besondere "Def<strong>in</strong>ition der Situation" zugrunde liegt, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Wirklichkeit der Welt, <strong>in</strong> der gehandelt wird, ausmacht. Allerd<strong>in</strong>gs handeln<br />

oder agieren Menschen nicht für sich selbst, sondern mit direktem oder<br />

<strong>in</strong>direktem Bezug auf andere - sie "<strong>in</strong>teragieren". Es ist deshalb notwendig,<br />

daß alle an e<strong>in</strong>er Interaktion Beteiligten zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Def<strong>in</strong>ition der<br />

Situation kommen. Mit anderen Worten, sie müssen <strong>die</strong> Situation mit dem<br />

gleichen "S<strong>in</strong>nrahmen" versehen, wenn sie aufe<strong>in</strong>ander bezogen s<strong>in</strong>nvoll<br />

handeln wollen. Mißverständnisse können tödlich se<strong>in</strong>, wie das Lebensende<br />

von Capta<strong>in</strong> Cook 1779 auf Hawaii belegt. Anthropologen s<strong>in</strong>d sich nur<br />

dar<strong>in</strong> sicher, daß <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen Cook erschlugen, weil sie <strong>die</strong> Situation<br />

se<strong>in</strong>er Rückkehr anders def<strong>in</strong>ierten, als er und se<strong>in</strong>e hungrige Mannschaft<br />

<strong>die</strong>s taten. Welche Wirklichkeit dem Handeln der Hawaiianer zu zugrunde<br />

lag und welche Interpretation sie dem grausamen Geschehen gaben, ist<br />

dagegen bis heute strittig.<br />

E<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition der Situation, e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nhafte Rahmung des Geschehens, geht<br />

also allem Handeln voraus. Die jeweilige Def<strong>in</strong>ition oder Rahmung darf<br />

jedoch nicht alle<strong>in</strong> dem handelnden Individuum e<strong>in</strong>sichtig se<strong>in</strong> - sie darf also<br />

nicht alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en subjektiven S<strong>in</strong>n besitzen -, sondern sie muß dem<br />

Handelnden und se<strong>in</strong>en Mitmenschen gleichermaßen verständlich se<strong>in</strong> - sie<br />

muß also e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tersubjektiven, von den Interagierenden geteilten S<strong>in</strong>n<br />

besitzen. Diesen <strong>in</strong>tersubjektiven S<strong>in</strong>n bezeichnet man <strong>in</strong> den<br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong> geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> als Kultur. Damit wird unter Kultur nichts<br />

anderes verstanden, als e<strong>in</strong>e handlungsorientierende S<strong>in</strong>nkonfiguration oder<br />

e<strong>in</strong> Bedeutungsrahmen, <strong>in</strong> dem Ereignisse, D<strong>in</strong>ge, Handlungen, Motive,<br />

Institutionen und gesellschaftliche Prozesse dem Verstehen zugänglich<br />

werden (Soeffner 1988: 12). Dieser <strong>in</strong>tersubjektive kulturelle S<strong>in</strong>n steuert<br />

oder b<strong>in</strong>det <strong>die</strong> Handlungen der Menschen. Er weist ihnen e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e<br />

Richtung und Form, auch wenn er <strong>in</strong> der Regel nicht <strong>in</strong> exakt angebbare<br />

Handlungsanforderungen mündet.<br />

8


Geschlecht als e<strong>in</strong>e sozio-kulturelle S<strong>in</strong>nkonfiguration<br />

Alle bekannten Gesellschaften kennen e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>ngebendes Ordnungsschema,<br />

das <strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> Männer und Frauen unterteilt. Dabei wird nicht nur<br />

das Handeln, sondern auch <strong>die</strong> Persönlichkeit und Mentalität, selbst <strong>die</strong><br />

jeweilige gesellschaftliche Teilhabe nach der Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er der<br />

beiden Geschlechtskategorien geschieden. Solche Differenzierungen bieten<br />

dem Menschen Orientierung und - darauf fußend - Handlungssicherheit.<br />

Grundsätzlich gibt jedes Ordnungsschema dem Alltagshandeln e<strong>in</strong>en<br />

Rahmen, der zur leichteren Klassifizierung von Situationen und der<br />

dazugehörigen, "passenden" Handlungen führt. Bei e<strong>in</strong>er zweistelligen<br />

Ordnung wird jedoch <strong>in</strong> besonderem Maße <strong>die</strong> komplexe Welt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

"fraglose Lebenswelt" (Schütz 1971: 153) überführt, deren s<strong>in</strong>nhafte<br />

Bedeutung schneller zu übersehen und zu handhaben ist, als es bei mehrstelligen<br />

Klassifikationen der Fall wäre (Tyrell 1989: 70 ff.). Mit anderen<br />

Worten, b<strong>in</strong>äre Ordnungen, bei denen nach Maßgabe von "Identität" und<br />

"Differenz" <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Seite auf <strong>die</strong> andere verweist, br<strong>in</strong>gen den Menschen<br />

e<strong>in</strong>en klassifikationstechnischen Vorteil, der ihnen <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition jeder<br />

Situation erleichtert und ihre dazugehörigen Handlungsweisen<br />

standardisiert. Ihr Handeln wird nicht durch langwieriges Nachdenken und<br />

komplexe Wahlentscheidungen erschwert, sondern es wird zur problemlosen<br />

Rout<strong>in</strong>e.<br />

B<strong>in</strong>äre Geschlechterdifferenzierung begründet freilich e<strong>in</strong>e so universelle<br />

und grundlegende Ordnung des Alltags, daß sie als s<strong>in</strong>ngebendes und damit<br />

sozio-kulturelles Ordnungsschema selten erkannt wird. Die Menschen leben<br />

unkritisch nach dem jeweiligen S<strong>in</strong>n der kulturellen Geschlechtsunterschiede,<br />

weil er ihnen im Verlauf der Sozialisation als fraglose<br />

Ordnung der Welt und Direktive ihres Handels selbstverständlich geworden<br />

ist. In unserer Gesellschaft hat man <strong>die</strong> Fraglosigkeit der<br />

zweigeschlechtlichen Welt ehemals aus göttlicher Offenbarung abgeleitet,<br />

heute begründet man sie eher mit biologischer oder physiologischer<br />

Naturgesetzlichkeit. Wenn man deshalb aufzeigen will - wie im folgenden<br />

geschehen soll -, daß <strong>die</strong> Geschlechterunterscheidung e<strong>in</strong>e sozio-kulturelle<br />

S<strong>in</strong>nkonfiguration ist, <strong>die</strong> das Handeln der Menschen <strong>in</strong> Interaktionsbeziehungen<br />

erleichtert, muß man <strong>die</strong>se Selbstverständlichkeit aufbrechen<br />

und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit der zweigeschlechtlichen Welt <strong>in</strong> Frage stellen. Gemäß<br />

ethnomethodologisch orientierter Forschung (Garf<strong>in</strong>kel 1967, Kessler und<br />

McKenna 1978, auch Hagemann-White 1984) heißt es, den Beweis<br />

anzutreten, daß <strong>die</strong> Geschlechterdifferenzierung nicht von selbst entsteht,<br />

sondern <strong>in</strong> verschiedenen Kulturen - mit erheblichen <strong>in</strong>haltlichen Variationen<br />

- unterschiedlich hergestellt wird. Erst wenn <strong>die</strong> Künstlichkeit deutlich<br />

wird, läßt sich erkennen, daß <strong>die</strong> Geschlechterdifferenz im Kern e<strong>in</strong>e soziale<br />

Ordnungsform ist, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unübersichtlichen Welt <strong>in</strong>teragierenden<br />

9


Menschen zu e<strong>in</strong>deutigen Situationsdef<strong>in</strong>itionen verhilft und deshalb<br />

aufe<strong>in</strong>ander bezogenes Handeln <strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvollen Formen ermöglicht.<br />

E<strong>in</strong>e bekannte Erklärungsstrategie, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> Biologie rekurriert und <strong>in</strong><br />

geschlechtlich geschiedenen Handlungsmustern e<strong>in</strong>en naturalen Ursprung<br />

sieht, verme<strong>in</strong>t <strong>in</strong> den unterschiedlichen Körperkräften der Männer und<br />

Frauen e<strong>in</strong>e universell zw<strong>in</strong>gende Handlungsbasis zu erkennen, woraus sich<br />

auch e<strong>in</strong> überkultureller gesellschaftlicher Struktureffekt ableiten ließe<br />

(Murdock 1949: 7). Dem ist entgegenzuhalten, daß <strong>die</strong> Attribute "stärker"<br />

und "schwächer" zwar relative und durchschnittliche Verhältnisse zwischen<br />

Männern und Frauen bezeichnen; doch gibt es immer e<strong>in</strong>ige Frauen, <strong>die</strong><br />

stärker als e<strong>in</strong>ige Männer s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong>sbesondere wenn man Frauen und Männer<br />

unterschiedlichen Alters mite<strong>in</strong>ander vergleicht. Männliches und weibliches<br />

Tun wird aber <strong>in</strong> allen Gesellschaften mehr oder weniger streng geschieden -<br />

und zwar unabhängig von der e<strong>in</strong>zelnen Kraftanforderung, dem <strong>in</strong>dividuellem<br />

Vermögen und der altersabhängigen Fähigkeit. Es ist deshalb zu<br />

folgern, daß <strong>die</strong> strenge Klassifikation der Mitglieder e<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> b<strong>in</strong>ären Kategorien Frau oder Mann nicht auf unterschiedlicher<br />

Körperkraft gründet, zumal Körperkraft und davon abhängiges Handeln<br />

durch Nahrungsgewohnheiten und kulturelle Standards für physische<br />

Attribute verändert werden. In <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht bedenke man das verbreitete<br />

Kaloriendefizit bei Frauen oder ästhetische Vorstellungen über weibliche<br />

Schönheit, <strong>die</strong> von Schnürtaillen, kle<strong>in</strong>-verkrüppelten Füßen bis zu<br />

schlanken Be<strong>in</strong>en auf hohen Hacken und Plateausohlen reichen und zu<br />

Schwäche oder statischer Instabilität des weiblichen Geschlechts beitragen.<br />

Nicht zuletzt haben <strong>die</strong> gesellschaftlichen Produktions- und<br />

Arbeitsverhältnisse Auswirkungen auf <strong>die</strong> weibliche und männliche Physis.<br />

Unter kärglichen ökonomischen Verhältnissen kann ke<strong>in</strong>e Rücksicht auf<br />

körperabhängige Handlungsbed<strong>in</strong>gungen genommen werden. Bekannt s<strong>in</strong>d<br />

nicht nur <strong>die</strong> vielfältigen Berichte aus fremden Kulturen, <strong>in</strong> denen Frauen<br />

schwere Lasten tragen oder <strong>die</strong> Arbeiten verrichten, <strong>die</strong> körperliche<br />

Ausdauer erfordern. Wir wissen auch von unseren ärmeren bäuerlichen<br />

Vorfahren, daß Mann und Frau <strong>in</strong> gleicher Weise harte Feldarbeit aufgebürdet<br />

war, daß beide den Acker bearbeiten, den Pflug oder Wagen<br />

lenkten, daß sie geme<strong>in</strong>sam säten, ernteten und verkauften. Selbst <strong>die</strong><br />

permanenten Geburten änderten an <strong>die</strong>sen ungeschiedenen<br />

Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen nichts: "Die Weiber gebären wohl gar 'h<strong>in</strong>ter den<br />

Hecken', packen den neugeborenen Wurm auf, tragen ihn e<strong>in</strong>e Stunde Wegs<br />

weit nach Hause und stehen nach drei Tagen wieder an ihrer gewohnten<br />

Arbeit." (Riehl 1861, nach Tyrell 1989: 46 f.). Die Differenzen <strong>in</strong> den Körperkräften<br />

von Frau und Mann s<strong>in</strong>d deshalb kaum Ursache als vielmehr<br />

Wirkung der jeweils praktizierten geschlechtlichen Arbeitsteilung <strong>in</strong> den<br />

verschiedenen Gesellschaften. Mit Sicherheit begründen sie ke<strong>in</strong>e<br />

Handlungszwänge, denn sobald sich <strong>die</strong> "Natur" harter Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

durchsetzt, leistet sich der Mensch <strong>die</strong> "Natur" des Körpergegensatzes von<br />

Frauen und Männern nicht.<br />

10


Andere Theorien, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e biologische Grundlage für unterschiedliche<br />

Handlungsweisen - oder auch Persönlichkeitsstrukturen - bei Frauen und<br />

Männern annehmen, gehen mehr oder weniger von e<strong>in</strong>er genetisch oder<br />

hormonell unterschiedlichen Programmierung des geschlechtsspezifischen<br />

Verhaltens aus. Allerd<strong>in</strong>gs müßte sich hiernach im <strong>in</strong>terkulturellen Vergleich<br />

zeigen, daß entsprechende Handlungsmuster <strong>in</strong> allen bekannten<br />

Gesellschaften universell vorf<strong>in</strong>dbar und unveränderlich s<strong>in</strong>d, und daß<br />

zudem solche Gleichheit oder Ähnlichkeit biologisch verursacht ist<br />

(Hagemann-White 1984: 41). Inhaltlich überall gleiche Handlungs- und<br />

Persönlichkeitscharakteristika bei Frauen und Männern lassen sich jedoch <strong>in</strong><br />

den verschiedenen Kulturen nicht erkennen. Die Variation des<br />

geschlechtsspezifischen, jeweils als "männlich" oder "weiblich" apostrophierten<br />

Handelns s<strong>in</strong>d viel zu groß, als daß e<strong>in</strong>deutige Muster ausgemacht<br />

werden können. Die wenigen universell vorf<strong>in</strong>dbaren Gesetzmäßigkeiten<br />

wiederum s<strong>in</strong>d davon ableitbar, daß menschliches Handeln eben nicht<br />

biologisch oder hormonell fixiert ist, daß Menschen im Gegensatz zum Tier<br />

ke<strong>in</strong>e genetisch vorgegebenen Handlungsziele, Handlungsformen oder auch<br />

Situationsdeutungen kennen. Universell s<strong>in</strong>d deshalb sozio-kulturelle<br />

Arrangements, <strong>die</strong> das Handeln der Geschlechter leiten, <strong>die</strong> es <strong>in</strong>tersubjektiv<br />

s<strong>in</strong>nvoll und nachvollziehbar machen und dadurch das Überleben von<br />

Frauen und Männern als <strong>in</strong>teragierende Menschen sichern.<br />

Nicht unerwähnt bleiben soll zuletzt <strong>die</strong> These von der natürlichen<br />

Ursprünglichkeit geschlechtlicher Arbeitsteilung, <strong>die</strong> unter anderen schon<br />

Marx und Engels von der Teilung der Arbeit im Geschlechtsakt - genauer <strong>in</strong><br />

der Fortpflanzung - ableiteten. Durch <strong>die</strong> natürlichen Anlagen von Mann<br />

und Frau ergäbe sich <strong>die</strong>se Arbeitsteilung quasi von selbst und könne somit<br />

als naturwüchsige Grundlage für weitgefächerten Handlungsbereiche der<br />

Menschen <strong>die</strong>nen (MEW 1969: 3, 31; 21, 155; Beer 1984: 40 ff.; kritisch: Krais<br />

1993: 221 ff.). Verwoben werden hier <strong>die</strong> biologisch nur der Frau mögliche<br />

Gebärfähigkeit und <strong>die</strong> nur dem Manne mögliche Zeugungsfähigkeit mit<br />

e<strong>in</strong>er generativen gesellschaftlichen Reproduktion, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> hierarchisches<br />

Verhältnis der Geschlechter als Grundlage für privates und unentgeltliches<br />

Erbr<strong>in</strong>gen von Versorgungsleistungen voraussetzt. In <strong>die</strong>sem Rahmen läßt<br />

sich e<strong>in</strong>e geschlechtlichen Arbeitsteilung begründen, <strong>die</strong> den Frauen alle<br />

Tätigkeiten zuweist, <strong>die</strong> sich mit der Pflege von K<strong>in</strong>dern vere<strong>in</strong>baren läßt,<br />

während der Mann für deren Schutz im unmittelbaren wie auch mittelbaren<br />

Bezug verantwortlich ist - wobei der mittelbare Bezug sich auf alle kreativen,<br />

prestigeträchtigen oder E<strong>in</strong>fluß erbr<strong>in</strong>genden Tätigkeiten <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Gesellschaftsbereichen ausweiten läßt.<br />

Welche Unsicherheit und Fragen e<strong>in</strong>e solche Ableitung von geschlechtlicher<br />

Arbeitsteilung offenläßt, zeigen <strong>die</strong> <strong>in</strong> vielen Kulturen üblichen<br />

Initiationsriten im Zusammenhang mit der Pubertät. Ihr S<strong>in</strong>n ist es, über <strong>die</strong><br />

nur vermutbare Gebär- und Zeugungsfähigkeit h<strong>in</strong>aus, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige und<br />

unumkehrbare Geschlechtszugehörigkeit vorzunehmen. Solche<br />

11


Initiationsriten beziehen sich <strong>in</strong> den Gesellschaften nicht auf Frauen, <strong>in</strong><br />

denen <strong>die</strong> Geburt e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des als Beleg für Geschlechtszugehörigkeit<br />

anerkannt wird. Dann stellen Frauen mit der Geburt e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des ihr<br />

Geschlecht e<strong>in</strong>deutig unter Beweis, während e<strong>in</strong> Mann se<strong>in</strong>e Zeugungsfähigkeit<br />

niemals zweifelsfrei beweisen kann. Unter solchen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

des Geschlechterverständnisses muß <strong>die</strong> sichere Geschlechtszugehörigkeit<br />

e<strong>in</strong>es Knaben deshalb <strong>in</strong> Initiationszeremonien rituell hergestellt und se<strong>in</strong>e<br />

gesellschaftliche Stellung als Mann kulturell gesichert werden.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, daß <strong>die</strong> <strong>in</strong>terkulturelle Varianz der Tätigkeiten, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

verschiedenen Kulturen jeweils als geschlechtsspezifisch angesehenen<br />

werden, es wenig plausibel macht, aus dem menschlichen Geschlechtsleben<br />

und dessen Folgen stabile Handlungsmuster oder Rollenkomplexe für<br />

Frauen und Männer abzuleiten. Selbst <strong>die</strong> bei uns so wichtig genommene<br />

"Mutterschaft" ist <strong>in</strong> vielen Gesellschaften ke<strong>in</strong> handlungsrelevantes Thema.<br />

Dort nimmt man weder Rücksicht auf Schwangerschaft, Geburt oder<br />

Säugl<strong>in</strong>gsaufzucht, noch verfährt man mit K<strong>in</strong>dern rücksichtsvoll oder gar<br />

zeit<strong>in</strong>tensiv. Die auf Brutpflege oder Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen<br />

rekurrierenden Erklärungen für e<strong>in</strong>e geschlechtsspezifische Rollenverteilung<br />

können deshalb als ethnozentrische Sichtweise der Angehörigen westlicher<br />

Kulturen kritisiert werden (Rogers 1979: 132 ff.). Selbst das e<strong>in</strong>sichtige<br />

Argument, daß <strong>die</strong> um Aufzucht von K<strong>in</strong>der zentrierte Art der<br />

Arbeitsteilung Vorteile für <strong>die</strong> physische Reproduktion e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />

besitzt, kann nicht erklären, warum Gesellschaften Männer und Frauen für<br />

<strong>die</strong> gesamte Lebensspanne ause<strong>in</strong>anderhalten, warum sie <strong>die</strong> Geschlechter<br />

bereits als K<strong>in</strong>der oder noch als alte Menschen trennen. Unter Reproduktionsgesichtspunkten<br />

ist es weder nötig, junge oder k<strong>in</strong>derlose Frauen<br />

von "männlichen Arbeiten" fernzuhalten, <strong>die</strong> von den Haushalten weg an<br />

<strong>die</strong> Peripherie des Gruppenteritoriums oder darüber h<strong>in</strong>aus führen, noch ist<br />

es plausibel, auch <strong>die</strong> ältere Männer auf Jagd, Handelsunternehmungen oder<br />

Kriegszüge zu verweisen, weil "weibliche Arbeiten" im B<strong>in</strong>nenareal der<br />

Siedlungen kulturellen Prestigewerten widersprechen.<br />

Geschlechtsneutrale Flexibilität <strong>in</strong> der Arbeitsteilung f<strong>in</strong>det sich selten, auch<br />

wenn dem physischen Reproduktionszweck mit e<strong>in</strong>em flexiblen<br />

Arrangement ge<strong>die</strong>nt wäre. In allen Kulturen wird der jeweilige<br />

Geschlechterdualismus rituell überhöht und mystifiziert (Müller 1984: 235<br />

ff.), wodurch <strong>die</strong> Geschlechtersegregation sozio-kulturell fixiert und - damit<br />

eng verwoben - geschlechtsspezifischer Identitätsausbildung sozial<br />

konventionalisiert geannt werden muß. Auch wenn sich <strong>die</strong><br />

Geschlechterdifferenzierung nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Richtung Bahn bricht,<br />

geschlechtsspezifisch geschiedene Handlungsweisen und e<strong>in</strong>e geschlechtsspezifische<br />

sozio-kulturelle E<strong>in</strong>bettung der Gesellschaftsmitglieder s<strong>in</strong>d<br />

universell. Dies öffnet <strong>die</strong> Augen für zweierlei. Zum e<strong>in</strong>en sche<strong>in</strong>en<br />

geschlechtsbezogene Trennl<strong>in</strong>ien zu gewährleisten, daß der gesellschaftliche<br />

Arbeitshaushalt - mit se<strong>in</strong>en hierarchischen Implikationen - plausibel entlang<br />

der Geschlechtsachse geordnet werden kann. Zum anderen wird auch <strong>die</strong><br />

12


S<strong>in</strong>nfunktion der Geschlechtertrennung deutlich. Frauen und Männer lassen<br />

sich als Getrennte s<strong>in</strong>nhaft-komplementär aufe<strong>in</strong>ander beziehen, so daß des<br />

e<strong>in</strong>en Se<strong>in</strong> und Handeln ohne das Se<strong>in</strong> und Handeln des anderen "s<strong>in</strong>nlos"<br />

ist, d. h. ke<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tersubjektiv verstehbaren S<strong>in</strong>n ergibt.<br />

Diese S<strong>in</strong>nfunktion der Geschlechtertrennung hat man sich als e<strong>in</strong>e<br />

wesentliche kulturelle Leistung vorzustellen, <strong>die</strong> dazu führt, daß mit den<br />

Mitteln von Identitäts- und Differenzkategorien <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />

Integration der Menschen erleichtert wird. Niemand kann Frau se<strong>in</strong> oder als<br />

Frau handeln, ohne von Männern zu wissen - und umgekehrt -, weil<br />

Weiblichkeit und weibliches Handeln <strong>in</strong> Unterscheidung zu Männlichkeit<br />

und männlichem Handeln def<strong>in</strong>iert wird. Dies hat zur Folge, daß das<br />

geschlechtlich geschiedene Personal e<strong>in</strong>er Gesellschaft aufe<strong>in</strong>ander<br />

verwiesen ist - nun aber mittels e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>nhaft nachvollziehbaren Ordnung,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>er diffusen B<strong>in</strong>dung von Menschen weit überlegen ist. Sosehr auch<br />

der Unterschied zwischen den Geschlechtern im Vordergrund des<br />

gesellschaftlichen Wissens stehen mag, Geschlechterdifferenzierung macht<br />

nur S<strong>in</strong>n vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es Wissens um Zusammengehörigkeit -<br />

als Menschen. Deshalb haben sich Männer, auch wenn sie sich als das<br />

stärkere Geschlecht def<strong>in</strong>ierten oder sich gar als Mensch absolut setzten, bei<br />

aller Selbstüberschätzung immer nur <strong>in</strong> Gegensatz zu Frauen gesetzt und zu<br />

nichts sonst - nicht zu Gott und nicht zu den Tieren (Tyrell 1986: 464).<br />

Die Zusammengehörigkeit der Menschen kann auf vielerlei Weise durch<br />

Segregation untermauert werden, denn Segregation von Menschen bedeutet<br />

immer auch <strong>die</strong> Steigerung ihrer Abhängigkeit vone<strong>in</strong>ander. Auch bei der<br />

Geschlechtertrennung gründet <strong>die</strong> gegenseitige Verbundenheit auf<br />

Abhängigkeit, <strong>die</strong> <strong>in</strong> allen Gesellschaften gefestigt wird durch explizit<br />

ausgearbeitete Gleichheitstabus (Rub<strong>in</strong> 1975) und Zuganssperren zu den<br />

Handlungsbereiche, <strong>die</strong> kulturell jeweils dem anderen Geschlecht<br />

zugewiesen worden s<strong>in</strong>d. Diese Tabus und Zugangssperren machen<br />

deutlich, daß es sozio-kultureller Vorkehrungen bedarf, wenn <strong>die</strong><br />

Geschlechter ordentlich geschieden werden sollen. Die Polarisierung der<br />

Geschlechter muß über den biologischen Unterschied - der, wie <strong>die</strong><br />

Forschung nachweist, nicht besonders trennscharf ist (Bischof und<br />

Preuschoft 1980; Hagemann-White 1984: 29 ff.; Pomata 1983) -<br />

h<strong>in</strong>ausgetrieben werden. Wie erwähnt, nimmt man <strong>in</strong> vielen Kulturen <strong>die</strong><br />

primären Geschlechtsmerkmale auch nur zum Anlaß, <strong>in</strong> ausgefeilten Initiationsriten<br />

das "wirkliche" Geschlecht erst herzustellen.<br />

Der Funktionalitätsaspekt geschlechtspezifischer Differenzierung soll nicht<br />

bedeuten, daß es sich hierbei um e<strong>in</strong>e zw<strong>in</strong>gende Notwendigkeit<br />

menschlicher Vergesellschaftung handelt. Es lassen sich Alternativen für <strong>die</strong><br />

kulturelle Regelung von gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Interaktion<br />

denken. Zw<strong>in</strong>gend notwendig ist der Geschlechtsunterschied nur beim<br />

zeugenden Geschlechtsakt, ansonsten b<strong>in</strong>det er noch nicht e<strong>in</strong>mal sexuelles<br />

Handeln, wenn man an Homosexualität, Autoerotik oder <strong>die</strong> zahlreichen<br />

13


heterosexuellen Praktiken denkt, <strong>die</strong> den Geschlechtsunterschied nicht zur<br />

Vorraussetzung haben. Allerd<strong>in</strong>gs ist <strong>die</strong> b<strong>in</strong>äre Geschlechtertrennung gut<br />

praktikabel, so daß es <strong>in</strong> vielen Gesellschaften unabhängig vone<strong>in</strong>ander zur<br />

Geschlechterklassifikation und -differenzierung kommt. Die meisten Gesellschaften<br />

nehmen Geschlechterdifferenz als Anknüpfungspunkt, um e<strong>in</strong>e<br />

arbeitsteilige Integration ihrer Mitglieder herzustellen und e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nhafte<br />

Ordnung der Welt zu etablieren. Bei der - wie auch immer kulturell<br />

verstandenen - biologischen Geschlechterdifferenz handelt es sich mith<strong>in</strong> um<br />

e<strong>in</strong> Angebot, von dem wahrsche<strong>in</strong>lich ist, daß es für e<strong>in</strong>e weitergehende<br />

gesellschaftliche Rollendifferenzierung aufgegriffen wird (Tyrell 1989: 72 f).<br />

Gesellschaften, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ses Angebot nicht nutzen, sche<strong>in</strong>en selten zu se<strong>in</strong>.<br />

Zu <strong>die</strong>sen Seltenheiten werden <strong>in</strong>dianische Gesellschaften Nordamerikas<br />

gerechnet, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> sogenanntes "drittes Geschlecht" kennen. Dieses dritte<br />

Geschlecht, das genaugenommen e<strong>in</strong> Kürzel für vier mögliche<br />

Geschlechtskategorien ist, ergibt sich aus der Komb<strong>in</strong>ation von zwei<br />

Kriterien, <strong>die</strong> sich e<strong>in</strong>er Geschlechtertrennung zugrundelegen lassen: aus<br />

dem Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Penis bzw. dessen Fehlen und der Art und Weise<br />

des Handelns. Während wir den erstgenannten Geschlechtsunterschied<br />

unserer Geschlechterbestimmung zugrunde legen und von <strong>die</strong>sem<br />

Geschlechtsunterschied geschlechtsspezifisches Handeln ableiten, sche<strong>in</strong>en<br />

viele <strong>in</strong>dianische Stammeskulturen den umgekehrten Weg beschritten zu<br />

haben (Lang 1990). Sie trafen <strong>die</strong> Unterscheidung nach dem beobachtbaren<br />

Handeln und leiten davon das jeweilige Geschlecht ab. Handelte deshalb e<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>d wie e<strong>in</strong>e Frau, verrichtete Frauenarbeit oder kleidete sich als Frau,<br />

wurde es nach der Pubertät als Frau def<strong>in</strong>iert. Es erhielt - meist rituell<br />

umrahmt - den Status e<strong>in</strong>er Frau, auch wenn es e<strong>in</strong>en Penis besitzen sollte.<br />

Das gleiche sche<strong>in</strong>t für e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d gegolten zu haben, das wie e<strong>in</strong> Mann<br />

handelte. Trotz spärlicher Quellenlage ist davon auszugehen, daß e<strong>in</strong> solches<br />

K<strong>in</strong>d nach der Pubertät als Mann anerkannt und von allen<br />

Gesellschaftsmitgliedern - unabhängig von se<strong>in</strong>en primären Geschlechtsmerkmalen<br />

- als Mann behandelt wurde.<br />

Auch aus <strong>die</strong>ser handlungsbezogenen Geschlechterbestimmung ergeben<br />

sich nur zwei Geschlechter, <strong>die</strong> arbeitsteilig und s<strong>in</strong>nhaft ordnungsgebend<br />

aufe<strong>in</strong>ander bezogen werden können. Das b<strong>in</strong>äre Geschlechterarrangement<br />

wird allerd<strong>in</strong>gs aufgebrochen, wenn man e<strong>in</strong> weiteres Kriterium für <strong>die</strong><br />

Geschlechtertrennung h<strong>in</strong>zuzieht: den Penis. Es läßt sich freilich vermuten,<br />

daß <strong>die</strong> Indianer Nordamerikas <strong>die</strong>ses Kriterium ursprünglich nicht<br />

beachteten, daß es vielmehr der E<strong>in</strong>fluß der Weißen war, durch den e<strong>in</strong>e<br />

zweistellige Geschlechterklassifikation potenziert wurde. Als nämlich <strong>die</strong><br />

europäischen Missionare und weißen Forscher entdeckten, daß <strong>in</strong>dianische<br />

Frauen - auch Ehefrauen - e<strong>in</strong>en Penis haben konnten, waren sie höchst irritiert<br />

und "verstanden <strong>die</strong> Welt nicht mehr". S<strong>in</strong>n gaben sie <strong>die</strong>sem Phänomen<br />

nach den Kriterien ihrer Weltordnung. Sie nannten solche Mann-Frauen<br />

berdaches, e<strong>in</strong> aus dem Arabischen kommender, französich überformter<br />

Begriff für e<strong>in</strong>en homosexuellen Strichjungen. Die Indianer waren darüber<br />

14


ihrerseits verwirrt, denn sie lehnten Homosexualität ab. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

def<strong>in</strong>ierten sie Homosexualität entsprechend ihrer Geschlechtskategorien<br />

und verstanden darunter sexuelle Beziehungen zwischen sich gleich<br />

verhaltenden Menschen, also zwischen Kriegern/Jägern auf der e<strong>in</strong>en und<br />

Sammler<strong>in</strong>nen/Bodenbauer<strong>in</strong>nen auf der anderen Seite. Als Forscher<br />

schließlich erkannten, daß <strong>die</strong>se berdaches e<strong>in</strong>en angesehenen,<br />

wohldef<strong>in</strong>ierten Status <strong>in</strong> ihrem jeweiligen Stamm besaßen, begannen sie<br />

allmählich von e<strong>in</strong>em dritten Geschlecht zu sprechen. Sie erklärten <strong>die</strong><br />

Existenz <strong>die</strong>ser Mann-Frauen - das mögliche vierte Geschlecht der Frau-<br />

Männer lernten sie als männliche Beobachter nicht kennen - mit der<br />

Funktion, auch solchen Männern e<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Stammesgesellschaft zu<br />

sichern, <strong>die</strong> sich mit der aggressiven Ausgestaltung der<br />

geschlechtsspezifischen Rollen e<strong>in</strong>es Kriegers und Jägers nicht anfreunden<br />

konnten.<br />

Rollenflexibilität dürfte aber wohl nicht der H<strong>in</strong>tergrund für das Phänomen<br />

e<strong>in</strong>es "dritten Geschlechts" se<strong>in</strong>, denn auch <strong>in</strong> den <strong>in</strong>dianischen Kulturen<br />

Nordamerikas kannte man weibliche Männer und männliche Frauen mit<br />

e<strong>in</strong>em an das Gegengeschlecht angelehnten Tätigkeitsprofil. Doch fiel bei<br />

<strong>die</strong>sen <strong>die</strong> biologische und <strong>die</strong> soziale Geschlechterzuordnung nicht<br />

ause<strong>in</strong>ander. Es läßt sich deshalb vermuten, daß es sich bei dem "dritten<br />

Geschlecht" um e<strong>in</strong>e Mixtur aus zwei kulturellen S<strong>in</strong>ngebungen für<br />

Geschlecht handelt, so daß <strong>die</strong> wenigen bekannten Ausnahmen e<strong>in</strong>er<br />

b<strong>in</strong>ären Geschlechterordnung auf e<strong>in</strong>er Fehl<strong>in</strong>terpretation des Beobachteten<br />

beruhen. Diese Vermutung wird - zum<strong>in</strong>dest im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>dianischen Kulturen Nordamerikas - dadurch unterstrichen, daß dort das<br />

bei uns so zentrale Kriterium "Penis/Nicht-Penis" für <strong>die</strong> biologische<br />

Geschlechterbestimmung unwesentlich war. Berdaches imitierten nicht nur<br />

<strong>die</strong> Körperfunktionen des jeweiligen physischen Gegengeschlechts perfekt,<br />

sie nannten auch ihre primären Geschlechtsmerkmale entsprechend des<br />

angenommenen Geschlechts um. Allerd<strong>in</strong>gs fehlte auch nach <strong>in</strong>dianischem<br />

Verständnis e<strong>in</strong>em berdache e<strong>in</strong> wesentliches biologisches Merkmal von<br />

Frauen: <strong>die</strong> Gebährfähigkeit. Wie erwähnt, nimmt man <strong>in</strong> vielen Teilen der<br />

Welt nicht den Penis oder se<strong>in</strong> Fehlen zum Anlaß der<br />

Geschlechtersegregation, sondern <strong>die</strong> biologische - allerd<strong>in</strong>gs immer im<br />

Rahmen kultureller Fortpflanzungstheorien gedeutetete - Tatsache, K<strong>in</strong>der<br />

gebären zu können. Aus <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>nverständnis heraus unterschied man <strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>dianischen Kulturen e<strong>in</strong>en berdache von e<strong>in</strong>er "richtigen" Frau, obwohl<br />

leibliche K<strong>in</strong>der dort wegen e<strong>in</strong>er extensiven Adoptionspraxis nicht<br />

unverzichtbar waren. Initiationszeremonien, <strong>in</strong> deren Verlauf e<strong>in</strong>em Jungen<br />

der Frauenrock angelegt wurde, machten <strong>die</strong>sen deshalb nicht zur Frau im<br />

biologischen S<strong>in</strong>ne. Sie ordneten ihn aber <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschlechtskategorie Frau<br />

e<strong>in</strong> Mit anderen Worten, sie verliehen ihm den sozialen und kulturellen<br />

Status e<strong>in</strong>er Frau, der sowohl zur Grundlage se<strong>in</strong>es korrekten, arbeitsteiligen<br />

Handelns wurde als auch zur Grundlage se<strong>in</strong>er weiblichen Mimik, Gestik<br />

und Sprache oder se<strong>in</strong>er jeweils als fem<strong>in</strong><strong>in</strong> def<strong>in</strong>ierten Persönlichkeitseigenschaften<br />

(Lang 1990: 146 ff.).<br />

15


Geschlecht und arbeitsteiliges Handeln<br />

Kulturelle S<strong>in</strong>nsetzung treibt <strong>die</strong> Polarisierung der Geschlechter überall über<br />

<strong>die</strong> Biologie h<strong>in</strong>aus. Dadurch entstehen e<strong>in</strong>deutige Identitäts- und<br />

Differenzkategorien, <strong>die</strong> Frauen und Männer gleichermaßen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Lage<br />

versetzen, den eigenen Platz und den des Gegengeschlechts <strong>in</strong> der Welt der<br />

Alltagssituationen zu erkennen und damit orientierungssicher, aufe<strong>in</strong>ander<br />

bezogen zu handeln. Diese Handlungssicherheit durchzieht bis zu e<strong>in</strong>em<br />

gewissen Grad alle Tätigkeiten der Gesellschaftsmitglieder, denn so viel<br />

Trennendes es auch zwischen ihnen <strong>in</strong> physischer, psychischer oder soziokultureller<br />

H<strong>in</strong>sicht geben mag, immer verstehen sich <strong>die</strong> Menschen auch als<br />

Frauen oder Männer, so daß sie ihr Handeln selbst <strong>in</strong> unbekannten Situationen<br />

zum<strong>in</strong>dest an dem <strong>in</strong>tersubjektiv etablierten Geschlechters<strong>in</strong>n<br />

orientieren können.<br />

Wie zentral das Geschlecht als Orientierungsmöglichkeit im Alltagshandeln<br />

ist, zeigt sich dar<strong>in</strong>, daß Menschen Situationen, <strong>die</strong> nicht durch Geschlecht<br />

kategorisiert oder auf e<strong>in</strong>e andere Weise geschlechtsrelevant s<strong>in</strong>d, trotzdem<br />

für e<strong>in</strong>e Geschlechterdifferenzierung nutzen. Im Berufsleben modernen<br />

Gesellschaften etwa wäre es den Idealen der Rationalität und Effizienz oder<br />

dem unpersönlichen Leistungsdenken angemessen, wenn alle Interaktionen<br />

formal und funktional spezifisch abliefen. Das geschieht aber nicht, auch<br />

wenn zu Recht gesagt werden kann, daß <strong>die</strong> Organisation beruflicher<br />

Handlungsabläufe auf sachlich-spezifischer Zwecksetzung gründen.<br />

Gleichwohl werden auch Berufe geschlechtlich kategorisiert, so daß typische<br />

Frauen- und Männerberufe entstehen, <strong>die</strong> vom Gegengeschlecht nicht oder<br />

nur unter Schwierigkeiten ausgeübt werden können.<br />

E<strong>in</strong>e Geschlechtstypisierung von Berufen fördert - oder erzw<strong>in</strong>gt sogar - e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Dadurch wird<br />

Handeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutige Formen gegossen und als erwartbares Rollenhandeln<br />

dem gesellschaftlichen Personal zugewiesen. Dem steht nicht entgegen, daß<br />

sich <strong>die</strong> geschlechtsgeschiedene Wirklichkeit des Berufslebens <strong>in</strong> der<br />

Geschichte moderner Gesellschaften gewandelt hat. Schon viele Berufe oder<br />

Berufszweige haben im historischen Verlauf ihr "Geschlecht" gewechselt<br />

(Wetterer 1992: 1995). Aus dem männlichen Sekretär etwa wurde <strong>die</strong> weibliche<br />

Sekretär<strong>in</strong>, aus dem männlichen Barbier <strong>die</strong> weibliche Friseuse, aus<br />

dem "Herrn Ober" das "Fräule<strong>in</strong>". In der Mediz<strong>in</strong> verdrängten männliche<br />

Ärzte mittels Professionalisierung <strong>die</strong> heilkundigen Frauen, wobei <strong>die</strong>se<br />

lange Zeit auf e<strong>in</strong>fache Pflege verwiesen wurden. Seit e<strong>in</strong>igen Jahren<br />

wiederum wird <strong>die</strong> weibliche Konnotationen des Berufs der Krankenschwester<br />

durch männliche Pfleger verwirrt. Beiden stehen zunehmend<br />

männliche Wehr<strong>die</strong>nstverweigerer - also potentielle Soldaten - zur Seite, <strong>die</strong><br />

16


damit <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt des Helfens e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> bisher als weibliche Domäne<br />

galt (Bartjes 1996).<br />

Die Vergeschlechtlichung von Berufen erfolgt über S<strong>in</strong>nsetzungen, <strong>die</strong> durch<br />

gängige Formen des Geschlechtersymbolismus hervorgerufen werden.<br />

Grundsätzlich fungieren Symbole als H<strong>in</strong>weis für <strong>die</strong> angemessene<br />

Interpretation e<strong>in</strong>er Situation, e<strong>in</strong>er Handlung oder auch e<strong>in</strong>er ganzen<br />

Person. Symbole können etwa Wörter, Gesten, Bilder, der Habitus oder das<br />

Verhalten e<strong>in</strong>es Menschen se<strong>in</strong>. Alle Symbole <strong>die</strong>nen als sozio-kulturelle<br />

S<strong>in</strong>nträger, <strong>die</strong> Orientierung und darauf gründendes Handeln des e<strong>in</strong>zelnen<br />

und se<strong>in</strong>er Interaktionspartner leiten. In der Berufswelt besitzen <strong>die</strong><br />

verschiedensten Phänomene e<strong>in</strong>e geschlechtsspezifische Bedeutung und<br />

damit Symbolwert für geschlechtstypisches Handeln. Bekannt ist der<br />

Geschlechtsaspekt von Rationalität und Emotionalität, Sachbezug und<br />

Personenbezug, Dom<strong>in</strong>anz und Unterordnung, Aggressivität und Ausgleich,<br />

Professionalität und Semiprofessionalität. Erst recht gehört es zum selbstverständlichen,<br />

sozio-kulturell gefestigten Wissen, daß sich <strong>die</strong> beruflichen<br />

Interessen und Fähigkeiten der Geschlechter unterscheiden. In <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang rückt man gerne weibliche Berufe <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nähe von<br />

Hausarbeit oder hausarbeitsverwandten Tätigkeiten. Ebenso sieht man<br />

Dienstleistungen als weiblich an, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en direkten Personenbezug<br />

aufweisen oder eng mit der Pflege des Körpers verbunden s<strong>in</strong>d. Männliche<br />

Berufsarbeit dagegen verweist man komplementär dazu <strong>in</strong> Tätigkeitsfelder,<br />

<strong>die</strong> neben unmittelbarer Körperkraft oder sozial gelenkter Aggressivität,<br />

<strong>in</strong>strumentelle oder technische Kompetenzen erfordern und - auf<br />

gehobenem Niveau - Organisationstalent, Führungseigenschaften oder<br />

system<strong>in</strong>tegrierende Fähigkeiten zur Voraussetzung haben.<br />

E<strong>in</strong>e Untersuchung der geschlechtsspezifischen Zuordnung von Berufen und<br />

beruflichem Handeln unter <strong>in</strong>haltlichen Gesichtspunkten ergibt freilich, daß<br />

sich ke<strong>in</strong>e gleichbleibenden Gründe dafür f<strong>in</strong>den lassen, ob bestimmte<br />

Tätigkeiten hauptsächlich - oder fast ausschließlich - den Frauen und andere<br />

eher den Männern zugewiesen werden. Nicht nur daß der<br />

Geschlechtswechsel von Berufen e<strong>in</strong>er festen Geschlechtersymbolisierung<br />

und damit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen Zuordnung widerspricht, auch <strong>die</strong> Leichtigkeit,<br />

mit der <strong>die</strong> Symbolik e<strong>in</strong>er Tätigkeit weiblich oder männlich gewendet<br />

werden kann, zeigt an, daß es hier nicht um reale Inhalte geht. Ließen sich<br />

etwa im Druckereigewerbe des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen<br />

ke<strong>in</strong>e Männer für den später re<strong>in</strong>en Männerberuf des Setzers gew<strong>in</strong>nen,<br />

betonte man <strong>die</strong> Ähnlichkeit der neuen Setzmasch<strong>in</strong>en mit e<strong>in</strong>em Klavier.<br />

Fortan durften oder sollten <strong>die</strong> des Lesens und Schreibens kundigen<br />

Bürgertöchter an <strong>die</strong>sen Masch<strong>in</strong>en arbeiten, auf denen sie - wenn man den<br />

entsprechenden Reklamebildern glauben darf - wie an e<strong>in</strong>em Piano-forte<br />

anmutig <strong>die</strong> Tasten drückten (Robak 1992). Galt <strong>die</strong> Arbeit des<br />

Programmierens zunächst als Frauenarbeit (Hoffmann 1987), sprach man <strong>in</strong><br />

den achziger Jahren <strong>die</strong>ses Jahrhunderts Frauen e<strong>in</strong>en möglichen Zugang<br />

zur Elektronik und der darauf gestützten Computerarbeit eher ab. Als das<br />

17


der Techniknähe solcher Arbeiten geschuldete Prestige zu s<strong>in</strong>ken begann,<br />

weil der Ausführungscharakter der meisten Computerarbeiten zunahm,<br />

entdeckte man <strong>die</strong> Ähnlichkeit e<strong>in</strong>es Computers mit e<strong>in</strong>er Schreibmasch<strong>in</strong>e.<br />

Man überließ deren Be<strong>die</strong>nung den Sekretär<strong>in</strong>nen, wobei <strong>die</strong>sen Frauen -<br />

nicht selten ohne Schulung (Dippelhofer-Stiem 1994) - auch <strong>die</strong><br />

sachbezogene Verarbeitung von Texten, Tabellen und Zeichnungen<br />

zugetraut wurde. Soll schließlich das erfolgreiche Verkaufen von Waren und<br />

Diensten erklärt werden, das bekanntlich beiden Geschlechtern möglich ist,<br />

so gel<strong>in</strong>gt <strong>die</strong>s nach landläufiger Me<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>er Frau aufgrund ihres<br />

weiblichen E<strong>in</strong>fühlungsvermögens <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wünsche anderer Personen, e<strong>in</strong>em<br />

Mann dagegen eher aufgrund se<strong>in</strong>es Kampfgeists, der ihn <strong>die</strong> schwierigsten<br />

Probleme überw<strong>in</strong>den und den widerstrebendsten Kunden niederr<strong>in</strong>gen<br />

läßt. 1<br />

Mit der Untersuchung varianter Geschlechtersymbolik im Berufsleben lassen<br />

sich ganze Bibliotheken füllen (Wetterer 1995: 230 ff.). Das Fazit ist immer<br />

das Gleiche: Die Symbolisierung von Geschlecht im beruflichen Handeln hat<br />

ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlichen Gründe, <strong>die</strong> aus unterschiedlichen Fähigkeiten oder<br />

Interessen der Frauen und Männern abgeleitet werden können. Ihre<br />

Funktion sche<strong>in</strong>t vielmehr zu se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige und legitimierbare<br />

Regelung von menschlichem Handeln hervorzubr<strong>in</strong>gen. Geschlecht besitzt<br />

e<strong>in</strong>e soziale Ordnungsfunktion, <strong>die</strong> gesellschaftliche Arbeitsteilung über <strong>die</strong><br />

symbolbezogene Kanalisierung von Wahrnehmung, Orientierung und<br />

Wissen <strong>in</strong> spezifische Bahnen leitet. Im Gegensatz zu <strong>in</strong>haltlichen Attributen<br />

weist <strong>die</strong> geschlechtsbezogen geregelte Arbeitsteilung allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e<br />

formale Eigenschaft auf, <strong>die</strong> historisch <strong>in</strong>variant zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t: Sie sichert<br />

relativ unveränderbar e<strong>in</strong> selbstverständliches Rangverhältnis zwischen<br />

Männern und Frauen. Was sich als ziemlich durchgängiges Muster<br />

geschlechtsspezifischen Handelns erweist, ist e<strong>in</strong>e Hierarchie, <strong>in</strong> der <strong>die</strong><br />

Individuen gefangen s<strong>in</strong>d, sobald man sie - nicht nur im Berufsleben,<br />

sondern <strong>in</strong> allen Bereichen gesellschaftlicher Arbeit - der sozio-kulturellen<br />

Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit unterwirft (Teubner 1992; Krais<br />

1993; Knapp 1995).<br />

Auch <strong>in</strong> unserer modernen, egalitären Welt ist es üblich, <strong>die</strong> Menschen<br />

durch Geschlechtertrennung so zu arrangieren, daß herkömmliche Muster<br />

der Über- und Unterordnung aufrechterhalten und legitimiert werden<br />

können. Es ist nicht zu übersehen, daß noch immer <strong>die</strong> Rollen von Frauen<br />

und Männern so gestaltet s<strong>in</strong>d, daß Frauen den niedereren Rang und<br />

weniger Macht erhalten. Zwar wird ihnen nicht mehr der Zugang zum<br />

prestigeträchtigen öffentlichen Raum verwehrt, ihre Mobilität unterbunden<br />

oder ihre Netzwerke zerstört (Müller 1984: 260 ff.). Sie werden auch nicht<br />

mehr von religiösen und politischen Ämtern ausgeschlossen. Selbst <strong>die</strong> jahr-<br />

1 Vgl. <strong>die</strong> Werbung der Dresdner Bank für ihr Fondsmanagement. Dort bereiten sich kle<strong>in</strong>e<br />

Jungens <strong>in</strong> Boxhandschuhen auf e<strong>in</strong>en späteren Beruf als broker (bonds-Verkäufer) vor.<br />

18


tausendelang als männlich apostrophierte Jagd - weniger das Kriegeführen -<br />

steht ihnen offen. Doch noch immer erwartet man, daß Frauen sich mehr auf<br />

<strong>die</strong> Familie konzentrieren, so daß ihr Leben auch heute eher von direktem<br />

Personbezug und regionaler Kle<strong>in</strong>räumigkeit gekennzeichnet ist, als von<br />

Tätigkeiten, <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaften oder Gruppen übergreifen und deshalb zu<br />

Macht und E<strong>in</strong>fluß <strong>in</strong> der weiteren Gesellschaft führen. Unter der<br />

Geschlechtsperspektive lassen sich deshalb "primitive" und "zivilisierte"<br />

Gesellschaften kaum vone<strong>in</strong>ander scheiden. Beide nutzen <strong>in</strong> gleicher Weise<br />

<strong>die</strong> Polarisierung der Geschlechter, um Arbeitsteilung zusammen mit der<br />

Plazierung von Oben und Unten, von Führern und Geführten zu<br />

konstituieren.<br />

Dieses hierarchische Arrangement der Geschlechter ist e<strong>in</strong> wiederkehrendes<br />

Merkmal <strong>in</strong> allen Gesellschaftstypen. Es zeigt deshalb <strong>die</strong> tiefe Bedeutung<br />

der sozio-kulturellen Geschlechterdifferenzierung an. Mit der Aufgliederung<br />

nach Geschlechtern erreichen Gesellschaften e<strong>in</strong>e enorme Vere<strong>in</strong>fachung<br />

ihrer arbeitsteiligen Organisation. Sobald Frauen und Männer geschlechtlich<br />

geschieden s<strong>in</strong>d, können sie auf der Grundlage e<strong>in</strong>er unveränderbaren<br />

Natur dazu gebracht werden, zum Wohle sozialer Integration <strong>in</strong> bestimmter<br />

Weise zu handeln und sich <strong>in</strong> dem daraus entstehenden<br />

Hierarchieverhältnis nahezu widerspruchslos e<strong>in</strong>zurichten. Die symbolischideologische<br />

Untermauerung <strong>die</strong>ses Handelns und Plazierens führt dann zu<br />

e<strong>in</strong>er Festigung der gewünschten Arbeitsteilung, was se<strong>in</strong>erseits - wie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em circulus vitiosus - <strong>die</strong> geschlechtsspezifische Bedeutung der<br />

Arbeitsteilung perpetuiert. Entgegen der herkömmlicher Ideologie besitzen<br />

deshalb nicht Fähigkeit und Qualifikation e<strong>in</strong>es Individuums<br />

Schlüsselfunktionen für se<strong>in</strong>e beruflichen und gesellschaftlichen Chancen,<br />

sondern umgekehrt, <strong>die</strong> Geschlechterordnung und das <strong>in</strong> sie e<strong>in</strong>gebundene<br />

Hierarchieverhältnis br<strong>in</strong>gt Fähigkeiten, Qualifikationen und entsprechendes<br />

Handeln hervor - auch entgegen der Idee gleicher Chancen für alle und<br />

selbst entgegen den emanzipatorischen Strukturen moderner Gesellschaften.<br />

Die Lebens- und Arbeitsorientierung der Geschlechter hat somit viel zu tun<br />

mit den Zwängen gesellschaftlicher Organisation und dem legitimen<br />

Zugang zu E<strong>in</strong>fluß und Macht im sozialen Ordnungsgefüge. Entsprechend<br />

ihrer zentralen Bedeutung wird <strong>die</strong> geschlechtsorientierte Scheidung von<br />

Handlungsmustern bereits <strong>in</strong> der Familie e<strong>in</strong>geübt. Auch wenn heute bei<br />

K<strong>in</strong>dern und Heranwachsenden geschlechtsspezifisches Rollenverhalten<br />

immer weniger deutlich gefordert wird - viele Eltern sogar bewußt dagegen<br />

anerziehen wollen -, noch immer lernt der Sohn, daß er kräftiger und<br />

robuster als se<strong>in</strong>e Schwester ist, er deshalb vergleichsweise ungefährdet<br />

weite Räume durchstreifen und - im konkreten wie übertragenen S<strong>in</strong>ne - als<br />

Pionier erobern kann. Die Tochter dagegen wird noch immer als zarter und<br />

verletzlicher angesehen. Man gewährt ihr deshalb vielfältigen Schutz, so daß<br />

sie lange <strong>in</strong> der Nähe ihrer Familie oder unter der Obhut von Erwachsenen<br />

verbleibt. Dadurch lernt sie - von anderen gelenkt und geführt -, sich auf<br />

personale B<strong>in</strong>dungen zu konzentrieren und <strong>die</strong> gefährliche Welt der<br />

19


allgeme<strong>in</strong>en, sachlichen und funktionsspezifischen Beziehungen den<br />

Männern zu überlassen.<br />

Im Alltagshandeln der Geschlechter heißt <strong>die</strong>s, daß der Mann auch <strong>in</strong><br />

unserer Gesellschaft von e<strong>in</strong>er Reihe familiärer oder häuslicher<br />

Verpflichtungen befreit wird, so daß er se<strong>in</strong>en Aufgaben <strong>in</strong> Beruf und<br />

Öffenlichkeit nachkommen kann. Umgekehrt lehnen Frauen manche<br />

Tätigkeiten außerhalb des Hauses und des Haushalts als schwierig oder<br />

unangemessen ab. Sobald Frauen und Männer jedoch solchermaßen der<br />

sozio-kulturellen Formierung geschlechtsspezifischer Handlungs- und<br />

E<strong>in</strong>flußbereiche folgen, s<strong>in</strong>d sie gezwungen, e<strong>in</strong>e wie auch immer geartete<br />

Koalition e<strong>in</strong>zugehen. Nur auf <strong>die</strong>se Weise haben beide <strong>die</strong> Möglichkeit, das<br />

zu bekommen, was sie brauchen, ohne <strong>die</strong>jenigen Arbeiten ausführen zu<br />

müssen, <strong>die</strong> für jemanden der "eigenen Art" unpassend s<strong>in</strong>d. Männer<br />

benötigen für häusliche Arbeiten Frauen, wobei bei <strong>die</strong>ser Arbeitsteilung<br />

auch sichergestellt ist, daß - wann immer sie nach Hause kommen - e<strong>in</strong>e<br />

Frau anwesend ist, <strong>die</strong> ihre außerhäusliche Kompetenz bewundert. Frauen<br />

wiederum sorgen dafür, daß <strong>in</strong> der öffentlichen Sphäre e<strong>in</strong>iges von Männern<br />

für sie erledigt wird, so daß beide Geschlechter e<strong>in</strong>ander wechselseitig<br />

beibr<strong>in</strong>gen, viele D<strong>in</strong>ge - durchaus auch schwierige und unangenehme - für<br />

das jeweils andere zu besorgen. Die geschlechtlich orientierte Arbeitsteilung<br />

und darauf gründende Abhängigkeit der Geschlechter wirkt dabei ganz<br />

natürlich und deshalb <strong>in</strong>variant. Die dem Mann zugeschriebene Natur<br />

begründet se<strong>in</strong>e Abhängigkeit von e<strong>in</strong>er Frau, was reziprok auch für <strong>die</strong><br />

Beziehung e<strong>in</strong>er Frau zu e<strong>in</strong>em Mann gilt. Die Person, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Mann braucht,<br />

um entsprechend se<strong>in</strong>es Geschlechts handeln zu können, ist genau <strong>die</strong><br />

Person, <strong>die</strong> ihn braucht, um entsprechend ihres Geschlechts handeln zu<br />

können (Goffman 1994: 128 f.).<br />

Geschlechtsidentität und situatives Handeln<br />

Die Geschlechtsspezifik des Handelns erweist sich bei genauerem H<strong>in</strong>sehen<br />

als alltagsweltlich plausible Ersche<strong>in</strong>ungsform sozialer Arbeitsteilung,<br />

Integration und Statusdistribution. Sobald sich <strong>die</strong> Mitglieder e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft als Frauen und Männer entlang der Geschlechtsachse ordnen<br />

lassen, können sie mittels geschlechtsspezifischer Handlungsmuster wieder<br />

komplementär aufe<strong>in</strong>ander verwiesen und auf entsprechende Statusebenen<br />

gelenkt werden. Doch nicht nur für <strong>die</strong> arbeitsteilige Integration und<br />

Hierarchisierung der Gesellschaft ist der Geschlechtsbezug menschlichen<br />

Handelns funktional. Er erleichtert auch <strong>die</strong> alltägliche Interaktion der Menschen,<br />

weil er es dem e<strong>in</strong>zelnen ermöglicht, Identitäten se<strong>in</strong>er Mitmenschen<br />

zu erkennen. Sobald <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Interaktionssituation beteiligte Personen als<br />

ganzes oder <strong>in</strong> Teilen "identifizierbar" s<strong>in</strong>d, läßt sich Art und Vollzug ihres<br />

Handelns mit guter Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit abschätzen und zum Maßstab für<br />

eigenes Handeln machen. In <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne erleichtert das Geschlecht - als<br />

20


zentraler Bestandteil von Identität - <strong>die</strong> schnelle E<strong>in</strong>ordnung von Personen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Handlungssituation, worauf sich realistische Erwartungen über<br />

Fortgang und Richtung der weiteren Handlungen günden lassen.<br />

Die Tatsache, daß Menschen nur unter Schwierigkeiten <strong>in</strong>teragieren können,<br />

wenn sie sich alle<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>e personunabhängige, strukturelle Def<strong>in</strong>ition der<br />

Situation, also auf deren Positions-, Rollen- und Normanteil beziehen<br />

müssen, zeigt, wie wichtig das Erkennen von Identitäten beim Handeln ist.<br />

Erst wenn jeder weiß, ob se<strong>in</strong> Gegenüber etwa e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d oder e<strong>in</strong><br />

Erwachsener, e<strong>in</strong> Inländer oder e<strong>in</strong> Ausländer, e<strong>in</strong> Akademiker oder e<strong>in</strong><br />

Arbeiter und eben auch e<strong>in</strong>e Frau oder e<strong>in</strong> Mann ist, kann er <strong>die</strong><br />

Interaktionssituation korrekt e<strong>in</strong>schätzen und vorhersehen, auf welche Art<br />

und Weise er handeln muß. Darüberh<strong>in</strong>aus ist er gezwungen, se<strong>in</strong> Handeln<br />

auf <strong>die</strong> Identität oder auf e<strong>in</strong>zelne Identitätsaspekte des Gegenübers zu<br />

beziehen, da <strong>die</strong>ser selbst handelt, so daß jeder Interagierende<br />

Anhaltspunkte benötigt, auf deren Grundlage er vermuten kann, wie se<strong>in</strong><br />

Gegenüber <strong>die</strong> Situation wahrsche<strong>in</strong>lich def<strong>in</strong>ieren und deshalb handeln<br />

wird. Da <strong>die</strong>se Def<strong>in</strong>ition und darauf gründendes Handeln wiederum von<br />

zahlreichen Momenten der Identität abhängen - sie reichen von der<br />

jeweiligen Biographie, über spezifische Handlungsziele, bis h<strong>in</strong> zur situativen<br />

Teilnahmemotivation und Machtausstattung -, ist <strong>die</strong> Treffsicherheit<br />

umso genauer, wenn jeder weiß, "wen" er vor sich hat.<br />

21


Die Voraussetzung für <strong>die</strong> richtige E<strong>in</strong>schätzungen e<strong>in</strong>es Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Interaktionssituation ist, daß <strong>die</strong> Interaktionspartner e<strong>in</strong>ander identifizieren<br />

und damit Identitäten erkennen können. Diese Identifikation wird<br />

erleichtert, wenn durch Symbole, <strong>die</strong> allen bekannt s<strong>in</strong>d und deshalb e<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>tersubjektiven S<strong>in</strong>n besitzen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Interaktionssituation angezeigt wird,<br />

wer jeder e<strong>in</strong>zelne ist oder auch se<strong>in</strong> will. Aus <strong>die</strong>sem Grunde erlangen<br />

Menschen selbst e<strong>in</strong>en Symbolgehalt, durch den sie für ihre Interaktionspartner<br />

zu e<strong>in</strong>em Moment der jeweiligen Situation werden.<br />

Selbstverständlich muß <strong>die</strong>ser Symbolgehalt - wie jeder Aspekt e<strong>in</strong>er sozialer<br />

Situation - berücksichtigt werden, wenn erfolgreich gehandelt werden soll.<br />

Die Situation wird freilich dadurch kompliziert, daß Menschen niemals als<br />

e<strong>in</strong> statisches Moment der Situation betrachtet werden können. Alle handeln<br />

und s<strong>in</strong>d deshalb gezwungen, ihr Verhalten an anderen Menschen<br />

auszurichten, <strong>die</strong> wie sie selbst Symbole der Handlungssituation verstehen<br />

und dementsprechend <strong>in</strong> ihre eigenen Handlungen e<strong>in</strong>planen. Um<br />

erfolgreich handeln zu können, muß deshalb jeder abschätzen können, "was"<br />

und "wie" se<strong>in</strong> Gegenüber "versteht" und "plant". Zwar ist <strong>die</strong> Welt, <strong>in</strong> der<br />

alle handeln, meist e<strong>in</strong>e mit <strong>in</strong>tersubjektivem, kulturellem S<strong>in</strong>n ausgestattet,<br />

und alle haben <strong>in</strong> der Regel während ihrer Sozialisation <strong>die</strong> Symbole <strong>die</strong>ser<br />

S<strong>in</strong>nwelt erlernt, so daß sie gleichermaßen mit genügend Handlungswissen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Interaktionssituation gehen. Gleichwohl besitzt jeder eigene Handlungsziele<br />

und Vorerfahrungen, wodurch er für den jeweils anderen e<strong>in</strong>en<br />

situativen Stellenwert und e<strong>in</strong>e Identität erlangt, <strong>die</strong> es adäquat zu identifizieren<br />

gilt, soll <strong>die</strong> Interaktion nicht an Unvorhersehbarem scheitern.<br />

Zur Identifizierung kann jede Geste, jedes Accessoire, jedes Körpermerkmal<br />

und auch jede Handlungsweise <strong>die</strong>nen (Hirschauer 1994: 684 ff.). Es dürfte<br />

<strong>in</strong> menschlichen Gesellschaften wohl ke<strong>in</strong> Phänomen geben, daß nicht mit<br />

kultureller Bedeutung ausgestattet und dadurch zum Teil e<strong>in</strong>er Identität<br />

werden könnte. Ohne Zweifel gehört das Geschlecht - wie h<strong>in</strong>reichend<br />

deutlich geworden se<strong>in</strong> dürfte - zu den kulturell bedeutsamsten<br />

Phänomenen. Durch e<strong>in</strong>e Vielfalt geschlechtsspezifischer Symbole wird<br />

deshalb <strong>in</strong> Interaktionen <strong>die</strong> Geschlechtszugehörigkeit als zentraler Aspekt<br />

der Identität e<strong>in</strong>es Menschen angezeigt. Am bekanntesten ist <strong>die</strong><br />

Geschlechtssymbolisierung mit Hilfe unterschiedlicher Kleidung.<br />

Traditionell tragen <strong>in</strong> Europa Männer Hosen und Frauen Röcke. Zwar ist<br />

<strong>die</strong>se Unterscheidung heute nicht mehr zw<strong>in</strong>gend, da beide Geschlechter<br />

gleichermaßen Hosen - allerd<strong>in</strong>gs nicht Röcke - anziehen. Doch gibt es<br />

genügend weitere Symbole, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e hosentragende Frau von e<strong>in</strong>er<br />

männlichen Ersche<strong>in</strong>ung trennen. In der Regel haben <strong>die</strong> Hosen von Frauen<br />

andere Schnitte oder andere Farben - und selbst wenn e<strong>in</strong>e Frau etwa Jeans<br />

trägt, <strong>die</strong> unte dem logo "unisex" verkauft werden, bevorzugt sie dazu<br />

andere Schuhe und andere Oberteile als e<strong>in</strong> Mann. Sollte sich e<strong>in</strong>e Frau wie<br />

e<strong>in</strong> Mann kleiden, wird ihre weibliche Identität doch erkennbar bleiben,<br />

wenn sich ihre Frisur von der e<strong>in</strong>es Mannes unterscheidet. Besteht auch hier<br />

ke<strong>in</strong>e große Differenz, trägt e<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> der Regel mehr oder anderen<br />

22


Schmuck als e<strong>in</strong> Mann, so daß e<strong>in</strong>e Verwechslung weiterh<strong>in</strong> ausgeschlossen<br />

bleibt.<br />

Reziproke Möglichkeiten für e<strong>in</strong>en Mann, sich ähnlich wie e<strong>in</strong>e Frau zu<br />

kleiden, zu frisieren oder zu schmücken, existieren <strong>in</strong> unserer Gesellschaft<br />

nicht, auch wenn Chancengleichheit und <strong>in</strong>dividuelle Freiheit zentrale Werte<br />

s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Mann darf ke<strong>in</strong>e Röcke anziehen, ke<strong>in</strong>e hohen Schuhe tragen,<br />

möglichst wenig bunte Farben wählen und auch se<strong>in</strong> Haarschnitt sollte kurz<br />

se<strong>in</strong>. Bevorzugt e<strong>in</strong> Mann lange Haare, darf er <strong>die</strong>se nicht ondulieren oder<br />

zeitaufwendig "stylen". Langhaarigen Männern wird zudem nahegelegt, e<strong>in</strong><br />

Erkennen ihrer Männlichkeit dadurch zu sichern, daß sie sich auch<br />

Gesichtshaare wachsen lassen - als Bart, Schnäutzer oder lange Koteletten.<br />

Die Erklärung für <strong>die</strong>se geschlechtsorientierte Ungleichbehandlung liegt <strong>in</strong><br />

der kulturellen Verknüpfung von geschlechtstypischen Symbolen unterschiedlichen<br />

Charakters. Da Symbole nicht für sich stehen, sondern e<strong>in</strong>em<br />

übergeordneten S<strong>in</strong>nsystem angehören, müssen sie vergleichsweise<br />

widerspruchsfrei zusammengefaßt werden können. Auch Geschlechtssymbole<br />

dürfen sich <strong>in</strong> ihrer Bedeutung nicht gegenseitig relativieren,<br />

sondern müssen als ganzes e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Aussagefähigkeit für <strong>die</strong><br />

geschlechtliche Zuordnung der Träger besitzen. Aus <strong>die</strong>sem Grunde darf e<strong>in</strong><br />

Mann nicht dah<strong>in</strong>gehend zurechtgemacht se<strong>in</strong>, daß er mit se<strong>in</strong>er Kleidung<br />

der Männlichkeitssymbolik von Sachlichkeit, Effizienz und Zielstrebigkeit<br />

widerspricht. E<strong>in</strong> ornamentaler Stil, zeitaufwendige Körperpflege oder e<strong>in</strong><br />

Schuhwerk, mit dem man zwar erotisch ansprechen aber kaum ans Ziel<br />

e<strong>in</strong>es direkten Weges gelangen kann, ist deshalb für e<strong>in</strong>en Mann auch <strong>in</strong><br />

unserer Gesellschaft tabu.<br />

Das "Outfit" e<strong>in</strong>er Person bietet freilich nur e<strong>in</strong>e Möglichkeit, <strong>die</strong>se als<br />

männlich oder weiblich zu identifizieren und das Handeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Interaktionssituation darauf e<strong>in</strong>zustellen. Stimmlage und Intonation sowie<br />

das gesamte Sprachverhalten (Braun 1993: 191 ff.) <strong>die</strong>nen ebenfalls der<br />

Geschlechtersymbolisierung und werden deshalb geschlechtstypisch<br />

normiert. Frauen müssen stärkere Tonhöhenbewegungen produzieren, <strong>die</strong><br />

Töne länger ausgleiten lassen und ihre Worte stärker behauchen. Dies führt<br />

zu Sprechmustern, <strong>die</strong> emphatisch oder emotional kl<strong>in</strong>gen und deshalb<br />

Gefühlsbetonung signalisieren (Kotthoff 1994: 181 f.). Umgekehrt vermittelt<br />

e<strong>in</strong> Mann durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Tonhöhe tiefer angesetzte, wenig bewegte<br />

Sprechweise Gefühlsdiszipl<strong>in</strong>, Sachlichkeit und Kompetenz. Nüchtern,<br />

<strong>in</strong>formativ und deshalb Autorität vermittelnd hat er se<strong>in</strong>e Sätze zu bilden.<br />

Die Tonlage sollte am Satzende möglichst abfallen, damit jeder Zuhörer<br />

versteht, daß nun alles Wichtige gesagt worden ist. E<strong>in</strong>e Frau dagegen muß<br />

ihren Aussagen öfter e<strong>in</strong>en Fragecharakter verleihen, <strong>in</strong>dem sie etwa am<br />

Ende ihrer Sätze <strong>die</strong> Stimme hebt. Dadurch vermeidet sie den E<strong>in</strong>druck<br />

unangemessener Sachkenntnis oder e<strong>in</strong>er bedeutsamen Rede. Statt dessen<br />

zeigt sie mit ihrem <strong>in</strong>tonierten Fragezeichen an, daß sie - wie <strong>die</strong><br />

Geschlechtstypik den Frauen unterstellt - sozial engagiert und <strong>in</strong>volviert se<strong>in</strong><br />

möchte und deshalb auf <strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ung ihrer Mitmenschen Wert legt - denn<br />

23


e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Frageform gekleidete Aussage bedarf der Bestätigung und Bekräftigung<br />

durch <strong>die</strong> Zuhörer, wenn sie gelten soll.<br />

Die angeführten Beispiele können nur andeuten, wie das kulturelle<br />

Ideensystem von Männlichkeit und Weiblichkeit <strong>die</strong> Identifizierung von<br />

Personen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Interaktionssituation anleitet, so daß das Handeln<br />

unbekannter Menschen <strong>in</strong> vielen Aspekten und ganze Sequenzen<br />

voraussehbar wird. Die Verhaltenssymbolik, derer sich <strong>die</strong> Geschlechter<br />

be<strong>die</strong>nen, gründet dabei <strong>in</strong> umfassenden S<strong>in</strong>nkomplexen, <strong>die</strong> sich meist<br />

historisch verorten lassen. In unserer Gesellschaft entstammt manches den<br />

Bereichen der höfischen Etikette, dem Militär oder dem e<strong>in</strong>fachen<br />

Landleben. Auch <strong>die</strong> Tierfolklore spielt e<strong>in</strong>e Rolle. Grundsätzlich orientiert<br />

sich jedoch <strong>die</strong> Symbolik der Geschlechter an entgegengesetzen Idealbildern.<br />

So ist <strong>die</strong> Vorstellung von Männlichkeit an dem Bild e<strong>in</strong>es starken, mutigen,<br />

kompetenten und beschützenden Mannes orientiert. Im Gegenzug zu <strong>die</strong>ser<br />

männlichen Stärke - verbunden mit Durchsetzungsvermögen - werden<br />

Frauen als zerbrechlich und deshalb beschützenswert angesehen. H<strong>in</strong>zu<br />

kommen <strong>die</strong> Attribute der Mütterlichkeit, Sanftheit, Unschuld oder auch der<br />

sexuellen Attraktivität.<br />

Als e<strong>in</strong> zentrales S<strong>in</strong>nsystem, durch das <strong>die</strong> Geschlechtersymbolik <strong>in</strong> unserer<br />

Gesellschaft geprägt ist, wurde das Eltern-K<strong>in</strong>d-Verhältnis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Idealversion ausgemacht (Goffman 1981: 20 ff.). Zu <strong>die</strong>sem Grundmuster<br />

gehört e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> komplementäre Verb<strong>in</strong>dung zwischen hilflosem K<strong>in</strong>d<br />

und beschützendem Erwachsenen, andererseits <strong>die</strong> Machtasymmetrie und<br />

das Statusgefälle, <strong>die</strong> der Eltern-K<strong>in</strong>d-Beziehung bekanntermaßen eignen.<br />

Wenn deshalb <strong>die</strong> soziale Vorstellung von Weiblichkeit an <strong>die</strong> e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des<br />

und <strong>die</strong> von Männlichkeit an <strong>die</strong> e<strong>in</strong>es Erwachsenen angelehnt wird,<br />

entspricht e<strong>in</strong>e Frau nicht nur der Def<strong>in</strong>ition von k<strong>in</strong>dlicher Emotionalität<br />

und Hilflosigkeit, <strong>die</strong> sich zu e<strong>in</strong>em Bild männlicher Souveränität, Kompetenzlogik<br />

und Seriosität <strong>in</strong> Beziehung setzen läßt. Sie wird auch<br />

automatisch e<strong>in</strong>em Hierarchieverhältnis unterstellt, weil <strong>die</strong>ser Form der<br />

Geschlechtersymbolik e<strong>in</strong> Automatismus selbstverständlicher Über- und<br />

Unterordnung anhaftet. Zwar nehmen Erwachsene gegenüber e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

der Regel e<strong>in</strong>e liebevolle Beschützerrolle e<strong>in</strong>, doch Beschütztwerden<br />

be<strong>in</strong>haltet immer auch e<strong>in</strong>e Reihe von Restriktionen, <strong>die</strong> der Beschützer<br />

gegenüber dem Beschützen geltend machen kann. Es ist deshalb nicht<br />

verwunderlich, daß Frauen häufig unmittelbaren physischen oder<br />

psychischen E<strong>in</strong>schränkungen unterworfen werden, zu denen nicht nur<br />

liebevolles Hänseln und Nichternstnehmen gehören, sondern auch<br />

unzählige Variationen von Bevormundung und Verfügung, <strong>die</strong> zu<br />

Herabstufung des Personwerts von Frauen führen (Interkulturell<br />

vergleichend Müller 1984: 303 ff.).<br />

Sicherlich ergeben sich aus Statusunterschieden auch Privilegien für <strong>die</strong><br />

Untergeordneten, <strong>die</strong> im Handeln der Gesellschaftsmitglieder - so auch <strong>in</strong><br />

der Interaktion von Männern und Frauen - zum Ausdruck kommen. Viele<br />

24


Frauen werden den K<strong>in</strong>dern vergleichbar nur bed<strong>in</strong>gt den Härten und<br />

Gefahren der realen Wirklichkeit ausgesetzt. Zum<strong>in</strong>dest entspricht e<strong>in</strong>e Frau<br />

dem traditionellen Bild von Weiblichkeit am besten, wenn sie sich von den<br />

Unbilden und Konkurrenzkämpfen <strong>in</strong> der Welt außerhalb des Hauses<br />

fernhält (Goffman 1994: 150). Auf <strong>die</strong>se Weise haben <strong>die</strong> geschlechtsspezifischen<br />

Ideale zwar e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> gesellschaftspolitische Wirkung, den<br />

männlichen Personen <strong>die</strong> Hälfte der möglichen Konkurrenz im Wettstreit zu<br />

ersparen. Gleichzeitig aber erfahren Frauen Schonung sowie Trost und<br />

Verzeihen, sollten sie sich auf unweibliches Terra<strong>in</strong> außerhalb der<br />

häuslichen Sphäre verirren und dementsprechend Handlungsfehler<br />

begehen. In unserer Gesellschaft wurde e<strong>in</strong> solches Geschlechterverhältnis -<br />

und <strong>die</strong> entsprechende Symbolik für männliche und weibliche Identitäten -<br />

lange durch Gesten des höfischen Rituals unterstützt. Man denke an <strong>die</strong><br />

Regeln, e<strong>in</strong>er Frau <strong>die</strong> Tür aufzuhalten, <strong>in</strong> den Mantel zu helfen, den Stuhl<br />

beim Setzen unterzuschieben und vieles mehr. Doch solche Bevorzugung -<br />

<strong>die</strong> als re<strong>in</strong>e Etikette allerd<strong>in</strong>gs am Verschw<strong>in</strong>den ist - ändert nichts am<br />

durchgängig hierarchischen Geschlechterverhältnis, das fast alle Interaktionssituationen<br />

kennzeichnet und den Frauen <strong>in</strong> Beziehung zu Männern<br />

den ger<strong>in</strong>geren Status - verbunden mit ger<strong>in</strong>gerer Def<strong>in</strong>itions- und<br />

Handlungsmacht - zuweist.<br />

Aus den Ausführungen dürfte deutlich geworden se<strong>in</strong>, daß Frauen e<strong>in</strong>en<br />

anderen situativen Stellenwert besitzen als Männer. E<strong>in</strong>e adäquate<br />

Def<strong>in</strong>ition der Situation hängt deshalb nicht nur von der Kenntnis des<br />

Geschlechts ab, das <strong>die</strong> Identität der Menschen und damit ihr Handeln zu<br />

e<strong>in</strong>em erheblichen Maß bestimmt. Sie steht und fällt auch mit der korrekten<br />

E<strong>in</strong>schätzung der Def<strong>in</strong>itions- und Handlungsmacht, <strong>die</strong> Interaktionspartner<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Interaktionssituation ausspielen können, um den<br />

Handlungsablauf zu steuern. Hier aber unterscheiden sich Frauen und<br />

Männer, da Geschlecht <strong>die</strong> Handlungsweisen von Menschen nicht nur<br />

geschlechtsspezifisch, sondern auch hierarchisch bestimmt. Für kompetentes<br />

Handeln ist es deshalb unverzichtbar, daß beide Geschlechter als tendenziell<br />

Über- und Unterlegene <strong>die</strong>sen Aspekt <strong>in</strong> ihrem Handeln berücksichtigen.<br />

Freilich ist das hierarchische Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht<br />

ganz unabhängig von der Geschlechtsspezifik der Situation selbst. Es macht<br />

e<strong>in</strong>en Unterschied, ob man e<strong>in</strong>er Frau oder e<strong>in</strong>em Mann im Bereich<br />

öffentlicher Organisationen auf der e<strong>in</strong>en und geme<strong>in</strong>schaftsorientierten<br />

Gruppen auf der anderen Seite begegnet. Die Geschlechter beanspruchen<br />

<strong>die</strong>se Bereiche - wie jeder weiß - unterschiedlich als ihr "natürliches Handlungsrevier".<br />

Für kompetentes, adäquates Verhalten muß man deshalb <strong>die</strong><br />

Geschlechtstypik der Situation zum Geschlecht der anwesenden Personen <strong>in</strong><br />

Beziehung setzen.<br />

Zwar sche<strong>in</strong>t vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ser Triangulierung - Geschlechtstypik<br />

der Situation, Geschlecht der Interaktionspartner, Hierarchieverhältnis<br />

zwischen ihnen - e<strong>in</strong> geschlechtsorientiertes Handeln eher kompliziert als<br />

leicht zu se<strong>in</strong>. Doch wird <strong>die</strong>se Komplexität durch das B<strong>in</strong>ärsystem der<br />

25


Geschlechtersymbolik wieder kompensiert. Da sich <strong>die</strong> geforderten<br />

Handlungen letztlich auf nur zwei Zeichen gründen, s<strong>in</strong>d sie leichter zu<br />

realisieren als wenn sie sich auf multible Merkmale der Situation oder der<br />

beteiligten Personen beziehen müßten. Aspekte des Alters oder der<br />

Gruppenzugehörigkeit etwa <strong>die</strong>nen <strong>in</strong> den meisten Kulturen ebenfalls als<br />

Anhaltspunkte für <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>er Situation, <strong>die</strong> Hierarchiestruktur des<br />

Interaktionsgeschehens sowie <strong>die</strong> Identität der beteiligten Personen. Doch<br />

verh<strong>in</strong>dern <strong>die</strong> vielfältigeren Untergliederungen <strong>die</strong>ser Merkmale e<strong>in</strong>e<br />

unkomplizierte Anwendung, weswegen sie weniger leicht <strong>in</strong><br />

Verhaltensrout<strong>in</strong>en umgemünzt werden können. Das Geschlecht dagegen<br />

kann trotz des Triangulierungserfordernisses als e<strong>in</strong>fache Orientierungsund<br />

Handlungshilfe bezeichnet werden. Se<strong>in</strong>e Symbolik leitet <strong>die</strong> Gesellschaftsmitglieder<br />

auf relativ schlichte Weise an, e<strong>in</strong>e Situation - auch <strong>in</strong><br />

ihrem Personenbezug - zu durchleuchten und darauf Rücksicht zu nehmen.<br />

Solange jeder <strong>die</strong> kulturellen Vorstellungen erlernt hat, wie Frauen und<br />

Männer <strong>in</strong> welchen Situationen zu behandeln s<strong>in</strong>d, ist der Erfolg e<strong>in</strong>er<br />

Interaktion eher gegeben, als wenn ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte für <strong>die</strong><br />

Geschlechtsidentität e<strong>in</strong>es Gegenübers vorhanden wären.<br />

Wie zentral das E<strong>in</strong>gehen auf <strong>die</strong> Geschlechtsidentität des jeweiligen<br />

Interaktionspartners ist, zeigt <strong>die</strong> Pe<strong>in</strong>lichkeit, <strong>die</strong> auf beiden Seiten entsteht,<br />

wenn e<strong>in</strong>er den anderen geschlechtlich falsch e<strong>in</strong>geordnet hat. Der Fluß der<br />

Interaktion stockt, nicht nur weil <strong>die</strong> Beteiligten <strong>die</strong> Situation neu def<strong>in</strong>ieren<br />

und ihre Handlungsstrategie neu entwerfen müssen. Sie stockt auch, weil<br />

jeder sich fragen muß, <strong>in</strong> welchem Ausmaß er unfähig ist, <strong>die</strong> kulturellen<br />

Symbole se<strong>in</strong>er Gesellschaft zu entschlüsseln. Jeder weiß, daß er bei<br />

gravierenden Fehlern <strong>die</strong> Achtung se<strong>in</strong>er Mitmenschen verliert, weil se<strong>in</strong><br />

Verhalten - sicherlich <strong>in</strong> Abstufung - dem e<strong>in</strong>gangs erwähnten Totschläger<br />

ähnlich ist. Zu viele Schnitzer darf man sich nicht erlauben, wenn man nicht<br />

aus der Geme<strong>in</strong>schaft der sozialisierten und deshalb kompetenten<br />

Mitglieder der eigenen Gesellschaft ausgestoßen werden will. Auch breitet<br />

sich Hilflosigkeit bei demjenigen aus, der das Geschlecht e<strong>in</strong>es Interaktionspartners<br />

nicht erkennt und deshalb <strong>die</strong> Interaktion geschlechtsneutral halten<br />

muß. Schon e<strong>in</strong> Gespräch - selbst <strong>in</strong> der Version des small talk - wird <strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>direkter Rede beh<strong>in</strong>dert, wenn nicht bekannt ist, ob man von "ihr" oder<br />

"ihm" reden soll. Erst recht kann man <strong>in</strong> solchen Fällen ke<strong>in</strong>e stimmige<br />

Handlungsstrategie entwerfen oder komplexe Handlungsabfolgen<br />

durchhalten. Bei Geschlechtsunklarheit fühlen sich <strong>die</strong> Menschen wie<br />

"gefesselt" und s<strong>in</strong>d damit beschäftigt, geschlechtsbezogene E<strong>in</strong>deutigkeit zu<br />

erlangen, um <strong>die</strong> Situation def<strong>in</strong>ieren und - darauf aufbauend - zügig<br />

agieren zu können.<br />

Geschlechtsdarstellung<br />

26


Die Menschen wissen - bewußt oder unbewußt - daß <strong>in</strong>teraktives Handeln<br />

auf der Identifizierung von Identitäten beruht. Sie s<strong>in</strong>d deshalb bemüht, sich<br />

so darzustellen, daß jeder sie richtig wahrnimmt. Permanent überprüfen sie<br />

deshalb, wie sie auf andere wirken, als was sie erkannt und wie sie beurteilt<br />

werden. Dabei müssen sie durch <strong>die</strong> Symbolik ihres Habitus oder Handelns<br />

möglichen Interaktionspartnern Anhaltspunkte dafür liefern, wer sie s<strong>in</strong>d,<br />

da Erkennbarkeit und Zuschreibung von Identität durch <strong>die</strong> Informationen<br />

gesteuert wird, <strong>die</strong> andere von e<strong>in</strong>em Menschen haben. Aus <strong>die</strong>sem Grunde<br />

gehört es zu den unverzichtbaren Fertigkeiten e<strong>in</strong>es kompetenten<br />

Gesellschaftsmitglieds, daß es geltende Symbole beherrscht, mit deren Hilfe<br />

es se<strong>in</strong>en Interaktionspartnern anzeigt, welche Art von Person es ist oder<br />

se<strong>in</strong> will. Allerd<strong>in</strong>gs müssen <strong>die</strong>se Anzeigen der Situation entsprechen, denn<br />

nur <strong>in</strong> passenden Situationen kann künftiges Handeln mit relativer<br />

Erfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeit abgeschätzt werden. Mit anderen Worten, nur im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er bestimmten sozialen Situation läßt sich üblicherweise<br />

vorhersehen, was <strong>die</strong> anderen glauben, wer man selbst ist und wie man<br />

somit handeln wird. Umgekehrt läßt sich meist nur situationsbezogen<br />

abschätzen, wie man handeln muß, damit sich e<strong>in</strong> erwünschtes, von der<br />

eigenen Identitätsdarstellung geleitetes Interaktionsgeschehen entwickeln<br />

wird.<br />

An Interaktionssituationen gebundene Identitäten existieren freilich<br />

außerhalb der Situation nur latent, weil sie von den Positionen und Rollen<br />

abhängen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Person <strong>in</strong> der jeweiligen Situationen e<strong>in</strong>nimmt. Sie s<strong>in</strong>d<br />

deshalb <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen sozialen Zusammenhang kaum erkennbar und<br />

entsprechend handlungsunwirksam. So kann e<strong>in</strong>e Person <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Hörsaal<br />

leicht als Student oder Student<strong>in</strong> identifiziert und entsprechend behandelt<br />

werden, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schwimmbad ist <strong>die</strong>s jedoch nicht der Fall. Dort muß <strong>die</strong><br />

Person sehr betont Symbole für ihr Stu<strong>die</strong>ren e<strong>in</strong>setzen - etwa e<strong>in</strong> deutlich<br />

beschriftetes Lehrbuch, das sie liest oder sichtbar auf das Liegetuch drapiert<br />

-, sofern sie auch <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Situation als Student oder Student<strong>in</strong> erkannt<br />

werden will. Es läßt sich freilich bezweifeln, daß alle Schwimmbadbesucher<br />

<strong>die</strong> angewandte Symbolik verstehen und richtig e<strong>in</strong>ordnen, erst recht, daß<br />

sie ihr Handeln darauf e<strong>in</strong>stellen können. Die Wirkung <strong>die</strong>ser<br />

Identitätspräsentation ist deshalb e<strong>in</strong>e sehr selektive. Nur e<strong>in</strong> ausgesuchtes<br />

Publikum kommt als potentielle Interaktionspartner <strong>in</strong> Frage. Die meisten<br />

Schwimmbadbesucher werden dagegen jede Interaktion vermeiden, weil sie<br />

auf unbekanntem Terra<strong>in</strong> nicht Gefahr laufen wollen, das Falsche zu tun<br />

oder zu sagen und sich auf <strong>die</strong>se Weise als sozial <strong>in</strong>kompetent zu blamieren.<br />

In ihrem Geschlecht allerd<strong>in</strong>gs wird <strong>die</strong> fragliche Person mit größter<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit <strong>in</strong> beiden Situation erkannt werden und <strong>in</strong> beiden<br />

Situationen wissen <strong>die</strong> Anwesenden, wie man sich gegenüber e<strong>in</strong>er<br />

männlichen und gegenüber e<strong>in</strong>er weiblichen Person verhält. Das Geschlecht<br />

- genauer das Sichtbarmachen der Geschlechtsidentität - br<strong>in</strong>gt deshalb e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Sicherheit <strong>in</strong> jede Handlungssituation, da sie <strong>die</strong><br />

Sitationsabhängigkeit und Wandelbarkeit von sozialen Identitäten<br />

27


elativiert. Durch ihren situationsübergreifenden, omnivalenten Charakter<br />

kann das Vermuten, wer der andere ist, und wie er wahrsche<strong>in</strong>lich handeln<br />

wird, <strong>in</strong> relative Identitäts- und Handlungssicherheit überführt werden.<br />

Auf der Basis des Geschlechts ist e<strong>in</strong> Mensch vergleichsweise leicht zu<br />

identifizieren und entsprechend richtig zu behandeln, wodurch das<br />

dazugehörige Interaktionsgeschehen weitgehend problemlos und<br />

rout<strong>in</strong>isiert ablaufen kann.<br />

In der Alltags<strong>in</strong>teraktion besitzt e<strong>in</strong>e Person ihr Geschlecht jedoch nur als<br />

Folge der Zeichen, Gesten und Tätigkeiten, <strong>die</strong> sie als männlich oder<br />

weiblich ausweisen. Nur mittels richtig angewandter Geschlechtersymbolik<br />

wird e<strong>in</strong> Gesellschaftsmitglied als Frau oder Mann erkannt. Niemand schaut<br />

nach, welche Genitalien <strong>die</strong> jeweiligen Interaktionspartner besitzen. Jeder<br />

verläßt sich auf <strong>die</strong> Symbolisierungen des Geschlechts, so daß nicht Biologie<br />

oder Natur, sondern e<strong>in</strong>e richtig dargestellte Geschlechtsidentität garantiert,<br />

daß sie von allen Beteiligten bemerkt und <strong>in</strong> erwartbarer Weise beantwortet<br />

wird. Dies gilt für alle Interaktionspartner wechselseitig. Frauen wie Männer<br />

s<strong>in</strong>d deshalb gezwungen, <strong>die</strong> Symbole ihrer Geschlechtszugehörigkeit im<br />

Lauf der Sozialisation zu erlernen, sich mit ihnen zu identifizieren und sie<br />

als Bestandteil ihrer Identität <strong>in</strong> Interaktionssituationen zu dramatisieren.<br />

Durch e<strong>in</strong>e immerwährende Darstellung der Geschlechtszugehörigkeit<br />

machen sie Weiblichkeit und Männlichkeit sichtbar, was unverzichtbar ist,<br />

wenn Interaktion im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit gel<strong>in</strong>gen soll<br />

(Goffman 1981). Gleichzeitig sichern sie durch ihre permanente<br />

Geschlechtdarstellung <strong>die</strong> gesellschaftliche Funktion der<br />

Zweigeschlechtlichkeit, nämlich allen Situationen - auch den unbekannten -<br />

e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tersubjektiven S<strong>in</strong>n beizugeben, den jeder verstehen und auf dessen<br />

Basis jeder handeln kann.<br />

Der Erwerb der Geschlechtsidentität und <strong>die</strong> Präsentation der<br />

dazugehörigen Symbole ist für erfolgreiches soziales Handeln so<br />

grundlegend, daß sich ke<strong>in</strong> Individuum e<strong>in</strong>er geschlechtlichen Zuordnung<br />

verweigern kann. Es ist gezwungen, e<strong>in</strong> Geschlecht symbolisch zu<br />

<strong>in</strong>szenieren, wenn es den Status e<strong>in</strong>es Vollmitglieds se<strong>in</strong>er Gesellschaft und<br />

<strong>die</strong> damit verbundene soziale Wertschätzung erlangen will. In den USA<br />

etwa wurde schon bei Vorschulk<strong>in</strong>dern beobachtet, wie beschäftigt sie damit<br />

waren, sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschlechtskategorien e<strong>in</strong>zuordnen und sich demgemäß<br />

als Junge oder Mädchen zu unterscheiden. Sie bewerteten korrektes<br />

Geschlechtsrollenspiel mit der dazugehörigen Beherrschung der<br />

Geschlechtersymbolik e<strong>in</strong>deutig als Zeichen für soziale Kompetenz, denn<br />

nur als richtiger Junge und richtiges Mädchen unterschieden sie sich - <strong>in</strong><br />

k<strong>in</strong>dlichem Verständnis ausgedrückt - von e<strong>in</strong>em Baby (West und<br />

Zimmermann 1991: 28). Diese K<strong>in</strong>der mußten zum entsprechenden jungenoder<br />

mädchenhaften Verhalten nicht durch diffizile Sozialisations-, Erziehungs-<br />

und Kontrollpraktiken gebracht werden. In ihr Geschlecht<br />

sozialisierten sie sich mit ziemlicher Rigidität selbst - manchmal auch gegen<br />

den Willen der Erzieher -, denn schon <strong>die</strong>se Kle<strong>in</strong>en verstanden <strong>die</strong><br />

28


unausgesprochene Sanktionsdrohung, <strong>die</strong> von der bloßen sozialen<br />

Ordnungsfunktion der Zweigeschlechtlichkeit ausgeht: Wenn du nicht<br />

lernst, e<strong>in</strong> richtiger Junge und später e<strong>in</strong> Mann oder e<strong>in</strong> richtiges Mädchen<br />

und später e<strong>in</strong>e Frau zu se<strong>in</strong>, wirst du weder den Erwachsenenstatus<br />

erlangen noch als anerkanntes Mitglied de<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>die</strong> entsprechenden<br />

Handlungsbereiche e<strong>in</strong>geführt werden.<br />

Spätestens hier erhebt sich <strong>die</strong> Frage, was K<strong>in</strong>der und Heranwachsende <strong>in</strong><br />

westlichen Kulturen erlernen, um als Frauen und Männer erkannt und<br />

anerkannt zu werden? Welche Symbole, welche Darstellungspraktiken<br />

gelten und besitzen daher e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tersubjektiv hergestellten S<strong>in</strong>n, der<br />

Handeln sichert? Es ist anzunehmen, daß Geschlechtsidentität durch solche<br />

Symbole angezeigt wird, <strong>die</strong> <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>en Vorstellungen über Männer<br />

und Frauen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e leicht verstehbare Form br<strong>in</strong>gen. Sprachsymbole führen<br />

dabei sicherlich zu den e<strong>in</strong>deutigsten Aussagen. Auch der Aufbau e<strong>in</strong>es<br />

Gesprächs selbst kann geschlechtspezifische Vorstellungen transportieren.<br />

So müssen Frauen etwa mehr Fragen stellen, um belehrt werden zu können,<br />

Gesprächspausen schnell überbrücken, um gegenseitiges Verstehen zu<br />

dokumentieren, spannende Gesprächsanfänge wählen, um Gehör zu f<strong>in</strong>den<br />

(West und Zimmermann 1991: 25). Im allgeme<strong>in</strong>en präsentieren Frauen ihre<br />

Geschlechtsidentität, <strong>in</strong>dem sie sich um e<strong>in</strong>e rücksichtsvollere Wortwahl als<br />

Männer bemühen. Sie bevorzugen höflichere Wendungen und vermeiden<br />

e<strong>in</strong>en Gesprächsstil, der Wettbewerb oder Dom<strong>in</strong>anzverhalten signalisiert.<br />

Grundsätzlich sche<strong>in</strong>en sie nach kooperativen und harmonischen<br />

Kommunikationsbeziehungen zu streben, während sich Männer<br />

eigenwilliger und leistungsorientierter gebärden sowie ihre Positionen<br />

offensiver und autoritärer vertreten (Braun 1993: 199 f.).<br />

E<strong>in</strong>e Kennzeichnung von Männlichkeit und Weiblichkeit sche<strong>in</strong>t mit e<strong>in</strong>er<br />

bildhaften Symbolsprache allerd<strong>in</strong>gs am besten zu gel<strong>in</strong>gen. Zum e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d<br />

Bilder genügend vage, wodurch sie der Alltagsmensch kaum e<strong>in</strong>er<br />

rationalen Kritik unterziehen kann. Zum anderen gel<strong>in</strong>gt es Bildern, <strong>die</strong><br />

ganze Person - auch <strong>in</strong> ihrer Körperlichkeit - zu erfassen, wodurch <strong>die</strong><br />

gesellschaftliche Wirklichkeit der Geschlechterordnung im wahren S<strong>in</strong>ne des<br />

Wortes "verkörpert" wird (Hirschauer 1994: 674). Zudem läßt sich <strong>die</strong><br />

Geschlechtersymbolik, wenn sie bildhaft durchgeführt und von der ganzen<br />

Person gezeigt wird, eher als natürlich, stabil und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geltung<br />

unbezweifelbar sozial durchsetzen. Aus <strong>die</strong>sem Grunde analysierte Goffman<br />

1979 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er klassischen Stu<strong>die</strong> über Praktiken der Geschlechtsdarstellung<br />

Werbebilder. Da Werbung <strong>die</strong> kulturellen Glaubensvorstellungen über das<br />

Wesen der Geschlechter sehr deutlich reflektiert, weil sie Geschlechtsvorstellungen<br />

besonders klischeehaft übertreibt, konnte er mit ihrer Hilfe plausibel<br />

herausarbeiten, welche Symbole Frauen und Männer <strong>in</strong> situativer Rout<strong>in</strong>e<br />

benutzen, um ihr Geschlecht darzustellen. Werbebilder lassen ke<strong>in</strong>e Zweifel<br />

zu, weil jedermann ihre Botschaft rasch verstehen muß, wenn sie ihren<br />

Werbezweck erfüllen sollen. Zwar s<strong>in</strong>d sie der Mode und auch dem sozialen<br />

Wandel unterworfen, gleichwohl bieten sie zu jeder Zeit e<strong>in</strong>en leicht<br />

29


ablesbaren und deshalb schnell verständlichen Ausdruck der gültigen<br />

Geschlechtersymbolik e<strong>in</strong>er Gesellschaft (Vgl. auch Brosius und Staab 1988;<br />

Schmerl 1992).<br />

Wichtigstes Instrument der Geschlechtersymbolik ist - wie gesagt - der<br />

Körper, mit dessen Hilfe Männer und Frauen ihre Geschlechtszugehörigkeit<br />

anzeigen. Dabei benutzen sie neben re<strong>in</strong>en Körpermerkmalen <strong>in</strong>sbesondere<br />

Gestik und Mimik sowie Körperhaltung und Körperbewegung zur<br />

Repräsentation des Geschlechts. In der Werbung <strong>die</strong>nen bei Frauen häufig<br />

feste Brüste und gerundete Hüften, e<strong>in</strong>e schmale Taille und schlanke Be<strong>in</strong>e<br />

sowie lange F<strong>in</strong>gernägel als Symbol e<strong>in</strong>deutiger Weiblichkeit. Beim Mann<br />

dagegen zeigen kurze F<strong>in</strong>gernägel, e<strong>in</strong> muskulöser Oberkörper, schmale<br />

Hüften sowie vorhandene, aber maßvolle Körperbehaarung e<strong>in</strong> Idealbild<br />

se<strong>in</strong>er Männlichkeit. Frauen werden häufig <strong>in</strong> unsicherer Haltung, mit<br />

verschämt angew<strong>in</strong>kelten Knien oder nur auf e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong> fest stehend<br />

abgebildet, während <strong>die</strong> männliche Haltung <strong>in</strong> jeder Lage e<strong>in</strong>en sicheren<br />

Stand ausdrückt. Männer stehen schließlich mit beiden Be<strong>in</strong>en im Leben, so<br />

daß für sie <strong>die</strong> Möglichkeit, Spielbe<strong>in</strong> und Standbe<strong>in</strong> zu wechseln, ke<strong>in</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n macht. Frauen dagegen signalisieren, daß sie mit ihrem fragilen<br />

Stehvermögen auf Schutz oder zum<strong>in</strong>dest Wohlwollen durch andere<br />

angewiesen s<strong>in</strong>d. Werden Männer und Frauen zusammen abgebildet,<br />

symbolisiert der Mann mit e<strong>in</strong>er aufrechten, relativ geraden Haltung den<br />

Halt, den <strong>die</strong> Frau braucht, um sich anzulehnen. Im Extrem deutet <strong>die</strong><br />

Körperhaltung der Frauen an, daß sie sich notfalls - den stammlosen Schl<strong>in</strong>gpflanzen<br />

vergleichbar - um den Mann herumranken können.<br />

30


Frauen zeigen sich <strong>in</strong> der Werbung oft mit Händen oder F<strong>in</strong>gern vor Mund<br />

und Gesicht. Je nach nach Ausgestaltung werden beim Zuschauer damit<br />

sexuelle Dienste oder aber e<strong>in</strong> dem K<strong>in</strong>dchenschema angelehntes Bild von<br />

Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit hervorgerufen. 2 Ähnlich ist <strong>die</strong><br />

Tendenz <strong>in</strong> der Werbung zu <strong>in</strong>terpretieren, Frauen mit schräger Körper- und<br />

Kopfhaltung abzubilden, wodurch sie kle<strong>in</strong>er ersche<strong>in</strong>en und - wiederum<br />

wie Dienende oder wie K<strong>in</strong>der - genötigt s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e Situation aus der<br />

unteren, statusm<strong>in</strong>dernden Perspektive zu betrachten. Bleiben solche<br />

Symbole bereitwilliger Unterwerfung, Schutzsuche oder auch Liebenswürdigkeit<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Werbespot unbeachtet, weil Sachkompetenz signalisiert<br />

werden soll, ist e<strong>in</strong>e fast haßerfüllte Ablehnung der Werbeträger<strong>in</strong> <strong>die</strong> Folge.<br />

Zum<strong>in</strong>dest widerfuhr <strong>die</strong>s Ilona Christen <strong>in</strong> ihrer Ariel-Werbung, <strong>in</strong> der sie<br />

mit aufrechter Körperhaltung, geradem Kopf und direktem Blick <strong>die</strong><br />

Kunden befragte und <strong>die</strong> Zuschauer belehrte. Es kommt deshalb nicht von<br />

ungefähr, daß selbst statushohe Frauen <strong>in</strong> Situationen, <strong>in</strong> denen sie größte<br />

Macht besitzen, weibliche Körperhaltungen und damit e<strong>in</strong>en<br />

rangm<strong>in</strong>dernden Habitus bevorzugen. Professor<strong>in</strong>nen zeigen <strong>in</strong> Prüfungen<br />

gegenüber Stu<strong>die</strong>renden zwar <strong>die</strong> gleichen Gesten der Aufmerksamkeit wie<br />

ihre männlichen Kollegen - beide unterstützen etwa das K<strong>in</strong>n <strong>in</strong> lockerer<br />

Form mit der Hand - doch <strong>die</strong> Professor<strong>in</strong> neigt dabei den Kopf und ist um<br />

e<strong>in</strong> aufmunterndes Lächeln bemüht, während der Professor se<strong>in</strong>en Kopf<br />

gerade hält und mit se<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>enspiel <strong>die</strong> Wichtigkeit des gesamten<br />

Geschehens widerspiegelt.<br />

Lächeln, Freundlichkeit, charmante Gebärden s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>deutige Symbole für<br />

Weiblichkeit. Werden Männer und Frauen <strong>in</strong> Werbespots zusammen<br />

gezeigt, führen sich Frauen dementsprechend wesentlich strahlender auf als<br />

der Mann. Nicht selten besitzen <strong>die</strong> Aktivitäten von Frauen e<strong>in</strong>en verspielten<br />

Unernst - es sei denn <strong>die</strong> mütterliche oder hausfrauliche Komponente von<br />

Weiblichkeit wird herausgestellt - so daß sich junge Frauen <strong>in</strong> der Regel<br />

clownhaft, verschmitzt, lachend, herumalbernd oder herumtollend<br />

präsentieren. In letzter Zeit wird <strong>die</strong>ses Bild der jungen Frau durch Bilder<br />

unkonventioneller alter Frauen ergänzt, <strong>die</strong> zwar traditionelle<br />

Rollenklischees aufbrechen, deren Unernst und Emotionalität aber <strong>die</strong><br />

Durchschlagkraft ihrer "modernen Lebenführung" m<strong>in</strong>dern. Selbst <strong>die</strong><br />

karrierebewußten Superfrauen der neunziger Jahre (Spieß 1992), <strong>die</strong><br />

ehrgeizig, erfolgreich, cool-androgyn oder nazistisch-schön ihr Leben selbst<br />

bestimmen, be<strong>die</strong>nen gleichwohl <strong>die</strong> Vorstellung von Weiblichkeit als<br />

körperhafter Attraktivität und Charme, so daß ihrer dargestellten<br />

Kompetenz meist etwas Äußerliches und Unglaubwürdiges anhaftet,<br />

wodurch sie der Selbstverständlichkeit männlicher Kompetenz, Seriosität<br />

und Ernsthaftigkeit wenig entgegenzusetzen haben.<br />

2 Das Gesicht h<strong>in</strong>ter schützende Händen zu verstecken ist <strong>die</strong> typische Reaktion des K<strong>in</strong>des,<br />

das e<strong>in</strong>er bedrohlichen Situation - oft mit recht unzweckmäßigen Mitteln - ausweichen<br />

will.<br />

31


Werbung bestätigt selbstverständlich <strong>die</strong> hierarchischen Elemente des<br />

Geschlechterverhältnisses. Männer übernehmen <strong>in</strong> der Regel <strong>die</strong> führende,<br />

unterweisende oder erklärende Rolle, sofern e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Vorhaben<br />

zwischen den Geschlechtern visuell dargestellt wird. Die Frau h<strong>in</strong>gegen<br />

lauscht dem männlichen Experten und läßt sich aufklären oder unterweisen.<br />

Dieser geschlechtsbezogene Rangunterschied wird zusätzlich durch <strong>die</strong><br />

räumliche Anordnung von Männern und Frauen bestätigt. So positioniert<br />

man e<strong>in</strong>e männliche Person meist optisch größer wirkend oder erhöht, damit<br />

sich der Mann zur Frau herunterbeugen kann, um sie über irgendetwas zu<br />

belehren. 3 Frauen werden häufig auch sitzend oder liegend abgebildet,<br />

wodurch sie nicht nur Vorstellungen von Unterordnung aktivieren, sondern<br />

zudem Bilder e<strong>in</strong>er dauerhaften sexuellen Verfügbarkeit. Männer dagegen<br />

sexualisiert man <strong>in</strong> aufrechter Körperhaltung, wobei sie den begehrenden<br />

Blicken entfernt positionierter Frauen ausgesetzt s<strong>in</strong>d, was e<strong>in</strong>en<br />

Größenvergleich verh<strong>in</strong>dert.<br />

Sicherlich experimentieren <strong>die</strong> Werbetreibenden heute immer häufiger auch<br />

mit variablen Auslegungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>dividuelle Lebensformen und Lebensperspektiven von Männern und<br />

Frauen hervorheben (Krohne 1995: 152). In <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne zeigen sie<br />

Familienväter oder Ehepartner nicht mehr als männliche Führer weiblicher<br />

Dummerchen, wie noch <strong>in</strong> den fünfziger und sechiger Jahren. Gleichwohl<br />

wird auch heute noch männliche Unterordnung - etwa Männer <strong>in</strong> niedriger<br />

sozialer Position oder aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiblichen Tätigkeitsfeld -<br />

abgefangenen, <strong>in</strong>dem man dem Verhalten solcher Männer e<strong>in</strong> gewisser<br />

Unernst unterlegt. Sobald e<strong>in</strong>e Handlung als Jux oder als lustiges Wagnis<br />

präsentiert wird, kann der E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er Rangm<strong>in</strong>derung oder<br />

Entmännlichung kaum entstehen. Gleichzeitig aber zollt man mit solchen<br />

Persiflagen der zunehmenden Akzeptanz erweiterter Handlungsspielräume<br />

von Männern und Frauen <strong>in</strong> der heutigen Gesellschaft den gebührenden<br />

symbolischen Respekt.<br />

Geschlechtsbesitz und Geschlechtswandel<br />

Im Alltag verwenden <strong>die</strong> Gesellschaftsmitglieder <strong>die</strong> gültige<br />

Geschlechtersymbolik sicherlich etwas subtiler und differenzierter, um <strong>in</strong><br />

Interaktionen weibliche oder männliche Identität darzustellen und zu<br />

wahren. Gleichwohl muß sich jede Person mit Hilfe <strong>die</strong>ser<br />

Geschlechtersymbolik nahezu ununterbrochen als männlich oder weiblich<br />

<strong>in</strong>szenieren, wenn sie am gesellschaftlichen Interaktionsgeschehen teilnehmen<br />

will. Das bedeutet, daß es kaum e<strong>in</strong>e Interaktionssituation gibt, <strong>in</strong><br />

3 Zum Belehren als kommunikatives Machtmittel vgl. Kotthoff 1993: 84 ff.<br />

32


der <strong>die</strong> Teilnehmer nicht ihr Geschlecht handelnd hervorbr<strong>in</strong>gen und den<br />

anderen als Anhaltspunkt für weiteres Handeln präsentieren. Im<br />

angelsächsischen Sprachraum nennt man <strong>die</strong>ses Handeln "do<strong>in</strong>g gender".<br />

Mit <strong>die</strong>ser Bezeichnung wird deutlich gemacht, daß man se<strong>in</strong> Geschlecht<br />

nicht hat, sondern daß man es entsprechend der umfassenden kulturellen<br />

Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit handelnd herstellt - und zwar <strong>in</strong><br />

permanenter Interaktion mit anderen.<br />

Die These von der Produktion des Geschlechts durch Handeln widerspricht<br />

dem gängigen Alltagsbewußtse<strong>in</strong>. Wenn sich auch nachweisen läßt, daß <strong>die</strong><br />

Menschen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Situationen genau wissen, wie sie ihr Geschlecht<br />

<strong>in</strong> Szene setzen müssen, so wissen sie doch nicht, daß sie es <strong>in</strong> Szene setzen.<br />

Sie stellen Ihr Geschlecht zwar dar, um es von anderen als wahr und<br />

wirklich bestätigen zu lassen - denn niemand kann Mann oder Frau se<strong>in</strong>,<br />

wenn ihm <strong>die</strong>se Identität von anderen nicht auch zugeschrieben wird. Ihr<br />

Glaube an <strong>die</strong> Natürlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit verh<strong>in</strong>dert jedoch<br />

gleichzeitig, daß sie ihre Geschlechtsidentität als e<strong>in</strong> Ergebnis <strong>die</strong>ser<br />

Darstellung und damit als Konsequenz ihres alltäglichen Handelns<br />

wahrnehmen. Erst recht ist es für sie vor dem H<strong>in</strong>tergrund ihres Natürlichkeitsglaubens<br />

kaum vorstellbar, daß sie durch Handeln ihr Geschlecht auch<br />

verlieren oder willentlich wandeln können. Die Praxis aber zeigt, daß<br />

Geschlecht - entsprechend se<strong>in</strong>er umfassenden sozialen und nicht<br />

biologischen Bedeutung - nicht nur <strong>in</strong>teraktiv hergestellt wird, sondern<br />

<strong>in</strong>teraktiv auch veränderbar ist. Zeugnis für <strong>die</strong>se Tatsache legen <strong>die</strong><br />

verblüffenden Berichte über transsexuelle Menschen ab, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Leben als<br />

geschätzte Männer oder Frauen führten, bei denen man nach ihrem Ableben<br />

jedoch feststellen mußte, daß sie im biologischen S<strong>in</strong>ne dem Gegengeschlecht<br />

angehörten.<br />

E<strong>in</strong> Geschlechterwechsel alle<strong>in</strong> auf der Basis von Handeln ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong><br />

unserer Gesellschaft selten geworden. Der tiefverankerte Glaube an<br />

Bedeutung und Aussagekraft der Natur br<strong>in</strong>gt es mit sich, daß auch <strong>die</strong><br />

Personen, <strong>die</strong> ihr biologisches Geschlecht für e<strong>in</strong>en Irrtum der Natur halten,<br />

nicht auf <strong>die</strong> Macht des Handelns vertrauen, sondern ihre im Handeln meist<br />

lange vollzogene Geschlechtsumwandlung durch Hormone<strong>in</strong>nahme und<br />

Operation unterstützen (Garf<strong>in</strong>kel 1967; L<strong>in</strong>demann 1993). Offenbar setzt<br />

sich auch beim Geschlechterwechsel <strong>die</strong> Sozialität des Menschen mit Macht<br />

durch. Der Zwang zum gesellschaftlichen S<strong>in</strong>nverstehen und S<strong>in</strong>nvollzug<br />

verbietet es e<strong>in</strong>em Gesellschaftsmitglied, daß es se<strong>in</strong>en subjektiven S<strong>in</strong>n<br />

gänzlich außerhalb des gesellschaftlichen, <strong>in</strong>tersubjektiven S<strong>in</strong>ns stellt. Niemand<br />

möchte sich als Schauspieler verstehen, selbst wenn er sehr bewußt<br />

<strong>die</strong> kulturell gültige Geschlechtersymbolik erlernt hat und anwendet. Jeder<br />

will e<strong>in</strong>er Geschlechtskategorie e<strong>in</strong>deutig angehören. Doch da <strong>die</strong><br />

Geschlechtskategorien - zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> westlichen Gesellschaften - durch<br />

Besitz oder Nichtbesitz des Penis def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d, wird e<strong>in</strong> Mensch von se<strong>in</strong>er<br />

sozialen Umwelt - und von sich selbst - e<strong>in</strong>er der beiden<br />

Geschlechtskategorien nur dann tatsächlich zugeordnet, wenn er se<strong>in</strong><br />

33


Geschlecht im S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong>ses Merkmals aufweist (Gildemeister und Wetterer<br />

1995: 213 f.).<br />

Aus <strong>die</strong>sem Grunde wird das biologische Geschlecht <strong>in</strong> Interaktionen selten<br />

überspielt, verborgen oder unkenntlich gemacht. Das hat zur Folge, daß<br />

jeder Mann und jede Frau relativ sicher se<strong>in</strong> kann, daß ihre<br />

Handlungspartner das dargestellte Geschlecht auch tatsächlich besitzen. Sie<br />

können mit Recht davon ausgehen, daß ihre Mitmenschen nur <strong>die</strong> Symbole<br />

benutzen, <strong>die</strong> ihrem biologischen Geschlecht - genau genommen ihren<br />

primären Geschlechtsmerkmalen - entsprechen (Kessler and McKenna 1978:<br />

1-6). Doch wirklich sicher kann niemand se<strong>in</strong>, wie Transsexuelle auf ihrem<br />

Weg zur Geschlechtsumwandlung gut dokumentiert belegen. Sobald <strong>die</strong>se<br />

nämlich <strong>die</strong> vielen Gesten, Zeichen und Symbole des von ihnen angestrebten<br />

Geschlechts erlernt haben und <strong>in</strong> den erforderlichen Nuancen beherrschen,<br />

werden sie von ihrer Umwelt ohne Argwohn <strong>in</strong> <strong>die</strong> von ihnen handelnd<br />

präsentierte Geschlechtskategorie e<strong>in</strong>geordnet. Die Geschlechtsbestätigung<br />

durch <strong>die</strong> soziale Umwelt ermöglicht es ihnen wiederum, <strong>die</strong> dazugehörige<br />

Geschlechtsidentität zu entwickeln und deshalb so selbstverständlich und<br />

rout<strong>in</strong>isiert das gewünschte Geschlecht zu se<strong>in</strong>, daß niemand auf <strong>die</strong> Idee<br />

kommt, daß ihre Geschlechtsidentität nicht mit der dazugehörigen<br />

biologischen Grundlage harmoniert.<br />

Es läßt sich deshalb festhalten: Sobald e<strong>in</strong>e Person <strong>in</strong> Habitus und Handeln<br />

als weiblich oder männlich identifiziert ist, wird sie dementsprechend als<br />

Mädchen oder Junge, als Frau oder Mann behandelt. Dieser Behandlung<br />

zementiert gleichzeitig <strong>die</strong> ausagierte Geschlechtsidentität - <strong>die</strong> Person ist<br />

dann weiblich oder männlich. Selbstverständlich gel<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> Kreation e<strong>in</strong>es<br />

geschlechtsspezifischen Se<strong>in</strong>s um so perfekter, wenn <strong>die</strong><br />

geschlechtsorientierte S<strong>in</strong>nrahmung von Handlungssituationen nahelegt,<br />

daß sich Männer und Frauen erkennbar <strong>in</strong> ihrem Handeln unterscheiden.<br />

Doch auch <strong>in</strong> geschlechtsneutralen Situationen kann e<strong>in</strong>e Person, <strong>die</strong> als<br />

Frau oder Mann sozial bestätigt ist, unbehelligt <strong>die</strong>ses Geschlecht leben. Das<br />

"Unbehelligtse<strong>in</strong>" ist allerd<strong>in</strong>gs von großer Bedeutung. Auch wenn<br />

Geschlecht im sozialen Alltag handelnd hergestellt wird, <strong>in</strong>dem <strong>die</strong><br />

passenden Zeichen präsentiert werden, heißt das noch lange nicht, daß jeder<br />

beliebig und nach <strong>in</strong>dividuellen Präferenzen Geschlechtersymbole<br />

anwenden dürfte. Beim "do<strong>in</strong>g gender" bef<strong>in</strong>den wir uns nicht auf e<strong>in</strong>em<br />

"vergnüglichen Maskenball", auf dem wir alle "nach Lust und Laune e<strong>in</strong>mal<br />

Frau und e<strong>in</strong>mal Mann" se<strong>in</strong> dürfen (Hagemann-White 1993: 69). Auch<br />

Geschlechtsherstellung durch Handeln muß das sozio-kulturelle System der<br />

Zweigeschlechtlichkeit bestätigen, denn das Geschlecht ist nicht nur e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>dividueller, sondern auch e<strong>in</strong> gesellschaftlicher Besitz. Als soziale S<strong>in</strong>nkonfiguration<br />

<strong>die</strong>nt es schließlich als soziales Ordnungspr<strong>in</strong>zip, das e<strong>in</strong>e der<br />

Grundlagen für Handeln und Interaktion von Menschen bildet.<br />

Aus <strong>die</strong>sem Grunde führt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sackgasse, mit Hilfe der<br />

Geschlechtersymbolik willkürlich <strong>die</strong> Geschlechterordnung und mit ihr<br />

34


vielleicht sogar <strong>die</strong> geschlechtlich geschiedene Gesellschaftsordnung zu<br />

verändern. Auch wenn <strong>die</strong> Beziehungen zwischen biologischem Geschlecht<br />

und Geschlechtsidentität mittels kultureller Mechanismen hergestellt<br />

werden, e<strong>in</strong>e Entnaturalisierung geschlechtlicher Identität - etwa durch<br />

parodistische Vervielfältigung (Butler 1991: 202 ff.) - ist auf den Bühnen des<br />

gesellschaftlichen Alltags kaum möglich. Geschlechterfreiheit wird nicht<br />

e<strong>in</strong>geläutet, wenn e<strong>in</strong> Professor <strong>in</strong> Stöckelschuhen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Vorlesung<br />

kommt. Eher läuft er Gefahr, als Kandidat für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong>s<br />

psychiatrische Landeskrankenhaus betrachtet zu werden. Solche Entmündigung<br />

wäre zum<strong>in</strong>dest <strong>die</strong> logische Konsequenz e<strong>in</strong>es Handelns, das <strong>die</strong><br />

Kompetenz e<strong>in</strong>es Erwachsenen vermissen läßt, <strong>die</strong> <strong>in</strong>tersubjektiv bestätigte<br />

Geschlechtersymbolik se<strong>in</strong>er Gesellschaft richtig anzuwenden. Wie oben<br />

ausgeführt, üben entsprechende Fähigkeiten schon Vorschulk<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>, weil<br />

sie sich von e<strong>in</strong>em "Baby" unterscheiden wollen. H<strong>in</strong>zu kommt, daß der<br />

Professor mit Stöckelschuhen nicht nur <strong>die</strong> Zeichen geschlechtlicher<br />

Zuordnung verwirrt, er signalisiert mit <strong>die</strong>ser Symbolik auch Instabilität und<br />

Schutzbedürftigkeit, wodurch er das geschlechtsspezifische Hierarchieverhältnis<br />

auf den Kopf stellt. Dies mag den Professor vielleicht wenig<br />

berühren, weil er Kompetenz nicht als bloße Männlichkeit verstehen will.<br />

Doch wenn Kollegen und Stu<strong>die</strong>rende von se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stabilen "stand<strong>in</strong>g" auf<br />

hohen Hacken auf e<strong>in</strong> wenig gefestigtes "stand<strong>in</strong>g" <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Fach schließen<br />

würden, käme ihn <strong>die</strong>se Schuhwahl teuer zu stehen.<br />

Geschlechtsdarstellung ist ke<strong>in</strong> Spiel, sondern bitterer Ernst. Da <strong>die</strong><br />

gesellschaftliche Geschlechterordnung e<strong>in</strong>deutige S<strong>in</strong>nverhältnisse und<br />

damit Orientierungs- und Handlungssicherheit bei den Individuen fun<strong>die</strong>rt,<br />

darf sie von e<strong>in</strong>zelnen nicht ungestraft <strong>in</strong> Unordnung gebracht werden. Wer<br />

das nicht akzeptiert, wird streng sanktioniert. Er riskiert soziale<br />

Anerkennung und private Freundschaft, kann se<strong>in</strong>en Arbeitsplatz oder e<strong>in</strong><br />

öffentliches Amt verlieren. Nicht zuletzt läuft er Gefahr,<br />

zusammengeschlagen oder sexuell gedemütigt zu werden (Hagemann-<br />

White 1993: 76). Auch wenn ihm se<strong>in</strong> biologisch zugewiesenes Geschlecht<br />

bedeutungslos - also subjektiv s<strong>in</strong>nlos - ersche<strong>in</strong>en mag, für se<strong>in</strong>e<br />

Mitmenschen ist es niemals bedeutungs- und s<strong>in</strong>nlos. Deshalb ahnden sie<br />

geschlechtsbezogene Abweichungen und bestrafen sie wie jedes<br />

abweichende Handeln, das <strong>die</strong> <strong>in</strong>tersubjektiv s<strong>in</strong>nhafte und dadurch wirkliche<br />

Weltordnung stört.<br />

Wegen se<strong>in</strong>er Verankerung <strong>in</strong> der Wirklichkeit der Zweigeschlechtlichkeit<br />

läßt sich geschlechtsspezifisches Handeln auch nicht vermeiden oder gar<br />

durch entsprechende Sozialisationspraktiken abschaffen. Es genügt nicht,<br />

Jungen und Mädchen anders zu erziehen, wenn man<br />

Geschlechterdifferenzen aufheben will. Geschlechtszugehörigkeit und<br />

Geschlechtsidentität loten tiefer, als <strong>die</strong>s mit Geschlechtsrollenlernen erklärt<br />

und verändert werden kann. E<strong>in</strong> richtig ausgespieltes Geschlecht sichert<br />

e<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft, auf den sich <strong>in</strong> allen Interaktionssituationen<br />

zurückgreifen läßt. Die Individuen erziehen sich deshalb über weite Strecken<br />

35


selbst, um sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> gesellschaftliche Geschlechterordnung e<strong>in</strong>zupassen.<br />

Mit anderen Worten, e<strong>in</strong> Individuum, das se<strong>in</strong> Geschlecht nicht leben und<br />

<strong>die</strong> geschlechtsspezifische Symbolik nicht anwenden kann - oder auch<br />

willkürlich nicht anwendet - wird nicht anders als der e<strong>in</strong>gangs erwähnte<br />

Totschläger aus der sozialen Geme<strong>in</strong>schaft ausgeschlossen. Es droht durch<br />

se<strong>in</strong>e subjektive S<strong>in</strong>nsetzung <strong>die</strong> gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihrem<br />

<strong>in</strong>tersubjektiven S<strong>in</strong>n zu unterm<strong>in</strong>ieren und dadurch e<strong>in</strong> Chaos<br />

hervorzurufen, das <strong>die</strong> Grundlagen von Gesellschaft und Handeln zerstört.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs handeln Menschen niemals alle<strong>in</strong> nach Maßgabe des<br />

vorgefertigten S<strong>in</strong>ns ihrer Gesellschaft und Kultur. Für den e<strong>in</strong>zelnen besitzt<br />

e<strong>in</strong>e Situation nicht nur e<strong>in</strong>en sozial bestätigten, <strong>in</strong>tersubjektiven S<strong>in</strong>n, sie<br />

besitzt immer auch e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuell gefertigten S<strong>in</strong>n. Dieser <strong>in</strong>dividuelle<br />

S<strong>in</strong>n speist sich aus den E<strong>in</strong>stellungen, Motiven, Zielsetzungen,<br />

Bedürfnissen, nicht zuletzt auch aus der Biographie des Menschen. Dies hat<br />

zur Folge, daß jeder auch auf der Basis von Bedeutungen handelt, <strong>die</strong> er<br />

selbst als S<strong>in</strong>nsetzung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Handlungssituation e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt. Aus <strong>die</strong>sem<br />

Grunde beruht Handeln immer auch auf der subjektiven Wahrnehmung<br />

e<strong>in</strong>er Situation, damit auf e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen S<strong>in</strong>nkonstruktion und nicht<br />

nur auf nachvollziehendem S<strong>in</strong>ngebrauch. In jeder Handlungssituation ist<br />

der Mensch deshalb sowohl e<strong>in</strong> Nachschöpfer als auch gezielt e<strong>in</strong><br />

Neuschöpfer von S<strong>in</strong>n und Bedeutungen, wenn er se<strong>in</strong>e Sichtweise und<br />

Zielsetzung im Interaktionsgeschehens durchzusetzen versucht.<br />

Individueller Handlungss<strong>in</strong>n entsteht freilich zum überwiegenden Teil ohne<br />

Wollen und Absicht der Menschen. Er ist zumeist - entsprechend der<br />

Prämissen des symbolischen Interaktionismus - <strong>die</strong> schlichte Konsequenz<br />

des Bemühens um e<strong>in</strong>e adäquate Reproduktion des gesellschaftlichen S<strong>in</strong>ns.<br />

Der <strong>in</strong>tersubjektive S<strong>in</strong>n, der von den Gesellschaftsmitgliedern<br />

nachvollzogen werden soll, muß von <strong>die</strong>sen erst e<strong>in</strong>mal verstanden und<br />

deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung <strong>in</strong>terpretiert werden. Interpretation ist jedoch<br />

nur möglich, wenn dem Interpretierten e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n gegeben wird, der dem<br />

S<strong>in</strong>nhorizont des <strong>in</strong>terpretierenden Menschen zum<strong>in</strong>dest nicht widerspricht.<br />

Jeder Mensch unterlegt deshalb - ohne es zu bemerken - den zu<br />

<strong>in</strong>terpretierenden Phänomenen oder Geschehnissen se<strong>in</strong>en eigenen S<strong>in</strong>n. Das<br />

führt aber immer auch zu <strong>in</strong>dividueller, subjektiver S<strong>in</strong>ngebung, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

gesellschaftliche, <strong>in</strong>tersubjektive S<strong>in</strong>nsetzung mehr oder weniger verändern<br />

kann. Aus <strong>die</strong>sem Grunde gibt es beim S<strong>in</strong>nverstehen und S<strong>in</strong>nvollzug<br />

nichts Statisches, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung e<strong>in</strong> für allemal Feststehendes.<br />

Vielmehr benutzt und handhabt jeder <strong>die</strong> Symbole etwas anders, wodurch<br />

er sie bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad stetig variiert und modifiziert.<br />

Die Veränderung des gesellschaftlichen S<strong>in</strong>ns durch Handeln ist somit etwas<br />

Selbstverständliches. Zwar wird - wie oben dargelegt - streng darauf<br />

geachtet, daß niemand mit den kulturellen Symbolen der Gesellschaft<br />

leichtfertig umgeht und dadurch ihre Ordnungsfunktion aus den Angeln<br />

hebt. Gleichwohl dürfen und müssen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen Rahmen <strong>die</strong><br />

36


Individuen ihr <strong>in</strong>dividuelles Verständnis von der Situation und den<br />

beteiligten Personen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Handlungsablauf e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Das bedeutet<br />

allerd<strong>in</strong>gs auch, daß sie <strong>in</strong> Interaktionen gezwungen s<strong>in</strong>d, ihr subjektives<br />

S<strong>in</strong>nverstehen aufe<strong>in</strong>ander abzustimmen und ihre modifizierten<br />

S<strong>in</strong>nsetzungen zu koord<strong>in</strong>ieren. Dadurch handeln sie letztendlich aus, was<br />

gelten soll, und wie <strong>die</strong> angewandte Symbolik aufzufassen ist. Der<br />

Notwendigkeit, im Handeln kulturellen S<strong>in</strong>n nachzuvollziehen und zu<br />

deuten, entspricht deshalb der permanente Zwang, <strong>in</strong> Interaktionen kulturell<br />

verfügbare Symbole mit anderen zu verhandeln. Daraus aber resultiert<br />

Variation und Wandel, so daß Interaktion immer auch <strong>die</strong> Chance e<strong>in</strong>schließt,<br />

kulturelle Symbole neu zu gestalten.<br />

Auch <strong>die</strong> Ideen und Bilder zum Wesen der beiden Geschlechter unterliegen<br />

selbstverständlich permanenter Veränderung. Indem Männer und Frauen<br />

<strong>in</strong>teraktiv <strong>die</strong> kulturelle Geschlechtersymbolik nachvollziehen, variieren sie<br />

<strong>die</strong> Zeichen oder entwickeln sie fort. Gleichzeitig br<strong>in</strong>gen sie ihren<br />

<strong>in</strong>dividuellen S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>die</strong> Handlungssituationen e<strong>in</strong>. Bis zu e<strong>in</strong>em gewissen<br />

Grad bleibt es dabei ihrer Kreativität überlassen, wie sie <strong>die</strong> kulturellen<br />

S<strong>in</strong>nbezüge ihres Geschlechts <strong>in</strong>dividualisieren und <strong>in</strong> <strong>die</strong> eigenen<br />

Handlungen e<strong>in</strong>fügen. Frauen wie Männer können deshalb niemals als<br />

Marionetten der Zweigeschlechtlichkeit und ihrer Symbolik betrachtet<br />

werden, beide s<strong>in</strong>d immer auch ihres <strong>in</strong>teraktiven Glückes Schmied. Zwar<br />

werden sie gezwungen, <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nvorgabe ihres Handelns durch S<strong>in</strong>nreproduktion<br />

soweit zu standardisieren, daß den Empfängern ihrer Zeichen<br />

e<strong>in</strong> Entschlüsseln der Symbole möglich ist. In <strong>die</strong>sem Rahmen aber dürfen<br />

sie den S<strong>in</strong>n ihres Handelns so weit <strong>in</strong>dividualisieren, daß er mit ihrer<br />

subjektiven Zielsetzung harmoniert oder zum<strong>in</strong>dest mit ihren eigenen<br />

Bedürfnissen möglichst wenig konfligiert.<br />

E<strong>in</strong>es ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang jedoch bemerkenswert: Auch wenn<br />

beide Geschlechter gleichermaßen <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> kulturellen Ideen<br />

über <strong>die</strong> Geschlechter und ihr daran orientiertes Handeln kreativ zu<br />

verändern, so bemühen sich Frauen und Männer doch mit unterschiedlicher<br />

Intensität darum, ihre Geschlechts<strong>in</strong>szenierung zu variieren oder gar dem<br />

gesamtgesellschaftlichen S<strong>in</strong>n von Weiblichkeit und Männlichkeit zu<br />

entziehen. In allen Gesellschaften sche<strong>in</strong>en für Männer<br />

geschlechtsspezifische Segregationsprozesse und damit zusammenhängend<br />

der Nachweis, daß ihr Handeln im traditionellen S<strong>in</strong>n ihrem Geschlecht entspricht,<br />

weitaus bedeutsamer zu se<strong>in</strong> als für Frauen (Müller 1984: 101 ff.,<br />

Tyrell 1986: 465). Vielleicht läßt sich <strong>die</strong>ser Unterschied dadurch erklären,<br />

daß das kulturelle Geschlechterverständnis nicht nur e<strong>in</strong> b<strong>in</strong>är symmetrisches,<br />

sondern auch e<strong>in</strong> b<strong>in</strong>är asymmetrisches Verhältnis zwischen Frauen<br />

und Männern hervorbr<strong>in</strong>gt. Für Männer bedeutet e<strong>in</strong> Unsichtbarwerden der<br />

Geschlechterdifferenz oder e<strong>in</strong>e Angleichung an das Gegengeschlecht wenig<br />

Vorteile. Ihnen droht meist e<strong>in</strong> Statusverlust, wenn sie den symbolischen<br />

S<strong>in</strong>n der Zweigeschlechtlichkeit verändern. Bei Frauen dagegen könnte e<strong>in</strong><br />

Statusgew<strong>in</strong>n <strong>die</strong> Folge se<strong>in</strong>. Frauen s<strong>in</strong>d deshalb eher als Männer darum<br />

37


emüht, <strong>die</strong> hierarchisierenden Geschlechtsunterschiede auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum<br />

zu reduzieren und <strong>die</strong> kulturellen Ideen zur Weiblichkeit so umzuformulieren,<br />

daß sie e<strong>in</strong>e Aufwertung als Frau - und ihres Handelns als Frau -<br />

erreichen.<br />

Insbesondere wenn Frauen an der Ausübung sozialer Macht teilnehmen<br />

wollen, entsprechen sie <strong>die</strong>sem Ziel am besten, wenn sie Geschlechterideen<br />

modifizieren oder Geschlechterdifferenzen verwischen. S<strong>in</strong>nvollzug und<br />

S<strong>in</strong>nsetzung im Geschlechterverhältnis bedeutet deshalb handlungslogisch<br />

betrachtet, daß es den männlichen Akteuren stets darum gehen muß, <strong>die</strong><br />

Symbolik der Geschlechterdifferenz zu bekräftigen oder neu herzustellen,<br />

während <strong>die</strong> weiblichen Akteure umgekehrt damit befaßt se<strong>in</strong> müssen, <strong>die</strong><br />

kulturelle S<strong>in</strong>nkonstruktion der Differenz außer Kraft zu setzen (Wetterer<br />

1995: 239 f.). Das soll nicht heißen, daß Frauen mittels massiver<br />

Geschlechterdifferenzierung partiell nicht auch erfolgreiche und machtorientierte<br />

Politik betreiben könnten. Dies zeigen zum<strong>in</strong>dest <strong>die</strong> praktischen<br />

Ergebnisse der akribischen Geschlechtertrennung <strong>in</strong> Schrift oder öffentlicher<br />

Rede und <strong>die</strong> damit fe<strong>in</strong> verwobene Frauenförderung, wie sie <strong>in</strong><br />

Deutschland durchgesetzt wurden. Gleichwohl aber läuft solche Differenzbetonung<br />

immer auch Gefahr - etwa im S<strong>in</strong>ne der geschmähten Quotenfrau -<br />

zur Grundlage erneuter Hierarchisierung zu werden, denn nur was getrennt<br />

wird, kann schließlich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Rangverhältnis gebracht werden.<br />

Auch im Privaten ergeben sich für Frauen nicht nur Nachteile aus der<br />

kulturellen S<strong>in</strong>nkonstruktion der Geschlechterdifferenz. Es lassen sich hier<br />

genügend Vorteile ausmachen, <strong>die</strong> Frauen zu e<strong>in</strong>er regelrechten<br />

Komplizenschaft mit der Zweigeschlechtlichkeit und ihrer Symbolik<br />

veranlassen können. Wie oben angedeutet, kann e<strong>in</strong> <strong>in</strong>feriorer Status<br />

ausgesprochene Privilegien be<strong>in</strong>halten. Diese Privilegien, <strong>die</strong> zum größten<br />

Teil aus der Eltern-K<strong>in</strong>d-Symbolik im Geschlechterverhältnis resultieren,<br />

führen Frauen allerd<strong>in</strong>gs im öffentlichen Leben <strong>in</strong> Interaktionsfallen. In der<br />

Berufswelt etwa müssen sie k<strong>in</strong>dliche Unterordnung oder <strong>die</strong> Zuweisung<br />

von Inkompetenz vermeiden, <strong>in</strong> ihren privaten Beziehungen aber dürfen sie<br />

auf Schutz und Übernahme von außerhäuslicher Verantwortung durch<br />

e<strong>in</strong>en Mann hoffen. Sollte vor <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong> Mann etwa se<strong>in</strong><br />

werbendes Interesse an e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> dadurch bekunden, daß er ihr vor<br />

Bürobeg<strong>in</strong>n den Computer e<strong>in</strong>stellt und sie damit vor technischer Überforderung<br />

bewahrt, br<strong>in</strong>gt er sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kaum auflösbare<br />

handlungspraktische Verlegenheit. Durch se<strong>in</strong> Verhalten signalisiert er<br />

nämlich, daß er <strong>die</strong>se Frau auch <strong>in</strong> privater Beziehung unterstützen und<br />

versorgen möchte, wobei <strong>die</strong> Kompensation möglicher weiblicher<br />

Handikaps e<strong>in</strong>e nicht zu unterschätzende Rolle spielen soll. Der<br />

letztgenannte Bedeutungsgehalt der Werbung wiegt schwer, denn wenn e<strong>in</strong>e<br />

dauerhafte Verb<strong>in</strong>dung der beiden zustande kommt, ist mit K<strong>in</strong>dern zu<br />

rechnen - e<strong>in</strong> Faktor, der auch <strong>in</strong> modernen Gesellschaften als Handikap für<br />

Eigenständigkeit und Selbstbestimmung e<strong>in</strong>er Frau bewertet werden muß.<br />

Der Bedeutungsgehalt <strong>die</strong>ser Werbungssymbolik ist somit doppelbödig. Er<br />

38


aktiviert e<strong>in</strong>e hierarchische Relation zwischen umworbener Frau und<br />

werbendem Mann, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Frau wahrsche<strong>in</strong>lich - zum<strong>in</strong>dest für öffentliche<br />

Handlungsbereiche - nicht akzeptieren möchte. Wie soll sie sich aber<br />

verhalten, wenn sie berufliche Inkompetenz und Unterordnung<br />

zurückweisen, <strong>die</strong> Werbung des Mannes für ihr privates Leben aber<br />

gleichzeitig annehmen will?<br />

Solche Konflikte fordern <strong>die</strong> Kreativität und symbolische Schöpferkraft der<br />

handelnden Menschen, wobei sich - wie oben begründet - Frauen und<br />

Männer eher <strong>in</strong> entgegengesetzter Richtung an der S<strong>in</strong>ngebung der<br />

Zweigeschlechtlichkeit beteiligen. Gleichwohl zeigen beide Geschlechter viel<br />

E<strong>in</strong>fallsreichtum, wenn es um soziale Teilhabe und Ressourcen geht. So ist<br />

es den Männern über Jahrhunderte h<strong>in</strong>weg gelungen, <strong>die</strong><br />

Geschlechtersymbolik mittels Naturalisierung, Analogiebildung und<br />

Plausibilitätsverweisen so auszurichten, daß <strong>die</strong> meisten Frauen vom<br />

öffentlichen Leben ferngehalten, sie <strong>in</strong>sbesondere von Ausbildung,<br />

beruflicher Professionalisierung und <strong>in</strong>stitutioneller Macht ausgeschlossen<br />

wurden. Mit ebensoviel Kreativität haben Frauen wiederum zahlreiche<br />

Facetten <strong>die</strong>ser Geschlechtersymbolik zerstört. Zwar gibt es bei ihnen<br />

manche "Doppelb<strong>in</strong>dung", denn man kann weibliche Lebenswege nicht von<br />

Grund auf verändern, wenn man <strong>die</strong>s nur "als Frau" tun darf (Hirschauer<br />

1993: 65). Entsprechend er<strong>in</strong>nert das Tauziehen zwischen den Geschlechtern<br />

auch an e<strong>in</strong> Hase-und-Igel-Spiel (Wetterer 1995: 239), weil Frauen - wenn sie<br />

nicht ihre soziale Akzeptanz verlieren wollen - <strong>die</strong> angestrebten Änderungen<br />

nur <strong>in</strong>nerhalb des Rahmens der kulturell konstruierten Zweigeschlechtlichkeit<br />

mit se<strong>in</strong>en hierarchischen Zwängen ausführen dürfen.<br />

Gleichwohl wurde von ihnen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Jahrhundert e<strong>in</strong>e kulturelle<br />

Dynamik des Geschlechtersymbolismus <strong>in</strong> Gang gesetzt, durch <strong>die</strong> sie im<br />

privaten wie öffentlichen Leben e<strong>in</strong>ige Männerbastionen zum E<strong>in</strong>sturz<br />

gebracht haben.<br />

39


Leicht ist <strong>die</strong>s nicht, denn Symbole s<strong>in</strong>d subtil. Nach der Gesetzeslage etwa<br />

mag Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern noch so<br />

selbstverständlich se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Symbolwelt kann jedoch schwer überbrückbare<br />

Hürden aufstellen. Was soll e<strong>in</strong>e Frau tun, <strong>die</strong> erkennen muß, daß <strong>die</strong><br />

aufstiegsnotwenigen Netzwerke <strong>in</strong> ihrem Betrieb unter anderem e<strong>in</strong>e<br />

Geme<strong>in</strong>schaft voraussetzen, deren Zusammenhalt durch das Geheimnis<br />

geme<strong>in</strong>samer Bordellbesuche gefestigt wird? (Emrich et al. 1996: 147) Wie<br />

soll e<strong>in</strong> weibliches Mitglied des deutschen Zentralbankrats e<strong>in</strong>e vielstündige<br />

Sitzung absolvieren, wenn auf der "obersten" Etage, <strong>in</strong> der der Rat zu tagen<br />

pflegt, nur Herrentoiletten <strong>in</strong>stalliert s<strong>in</strong>d? Und was ist zu tun, wenn der<br />

Kapitän e<strong>in</strong>es schuleigenen Segelschiffs entgegen den geltenden Regeln der<br />

Koedukation verkündet: "Auf me<strong>in</strong> Schiff kommt nur jemand, der stehend<br />

über <strong>die</strong> Rel<strong>in</strong>g pissen kann"? In solchen Fällen braucht es sehr viel<br />

Selbstbewußtse<strong>in</strong> und harten Willen, verbunden mit noch mehr Witz und<br />

Phantasie, um sich von der Geschlechtersymbolik nicht unterkriegen zu<br />

lassen. Doch immer wieder gel<strong>in</strong>gt es e<strong>in</strong>zelnen oder Gruppen - ohne <strong>die</strong><br />

gesellschaftliche Geschlechterordnung <strong>in</strong> ihrer Ordnungsfunktion zu<br />

zerstören - Symbole als das zu offenbaren, was sie s<strong>in</strong>d, nämlich immaterielle<br />

Zeichen und Bilder. So g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>es Tages e<strong>in</strong> Mädchen an Bord des<br />

erwähnten Segelschiffs - es hatte e<strong>in</strong>en Trichter und e<strong>in</strong>en kurzen Schlauch<br />

bei sich - und sprach: "Hier b<strong>in</strong> ich."<br />

40


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44


Die moralische Dimension menschlichen Handelns als<br />

Problem der Philosophie. Der Beitrag Humes, Kants und<br />

Jonas’<br />

Elisabeth He<strong>in</strong>rich.<br />

Menschliches Handeln unterscheidet sich von Ereignissen wie dem freien<br />

Fall e<strong>in</strong>es Körpers oder der <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Flucht e<strong>in</strong>es Tieres durch se<strong>in</strong>e<br />

Zweckgerichtetheit. Es f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kontext statt, der wesentlich<br />

bestimmt ist durch <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividuelle Wahrnehmung e<strong>in</strong>er jeweiligen<br />

Situation, durch gleichzeitig bestehende und mite<strong>in</strong>ander konkurrierende<br />

Absichten, durch <strong>die</strong> Interaktion mit anderen Personen sowie durch bereits<br />

früher vollzogene eigene Handlungen. Unser Handeln ist im allgeme<strong>in</strong>en an<br />

der Befriedigung von Bedürfnissen und an der Realisierung von Glück<br />

ausgerichtet, und wir bewerten solche Handlungen als richtig oder gut, <strong>die</strong><br />

der Verwirklichung unserer Zwecke <strong>die</strong>nen.<br />

Der Mensch kennt aber auch e<strong>in</strong> Gefühl der Verpflichtung, das zu tun, was<br />

er als moralisch gut e<strong>in</strong>gesehen hat, und nur allzu häufig steht das moralisch<br />

Geforderte im Widerspruch zu solchen Handlungen, <strong>die</strong> der Realisierung<br />

persönlicher Interessen nützen. Wie können wir wissen, was moralisch gut<br />

ist, und was motiviert uns, sittlich zu handeln, auch wenn <strong>die</strong>s <strong>die</strong><br />

Verwirklichung unserer <strong>in</strong>dividuellen Interessen gefährdet? Wor<strong>in</strong> gründet<br />

das Gefühl, zu e<strong>in</strong>er bestimmten Handlung moralisch verpflichtet zu se<strong>in</strong>,<br />

und was legitimiert unsere moralische Beurteilung der Handlungen<br />

anderer? Am Beispiel der Ethik von David Hume (1711-1776), Immanuel<br />

Kant (1724-1804) und Hans Jonas (1903-1993) soll im folgenden gezeigt<br />

werden, was <strong>die</strong> Philosophie zur Aufklärung der moralischen Dimension<br />

menschlichen Handelns beitragen kann. Im Zentrum der ethischen<br />

Überlegungen steht <strong>die</strong> Bemühung, e<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dliches Pr<strong>in</strong>zip aufzuf<strong>in</strong>den<br />

und zu begründen, das unsere Handlungen bestimmen sollte. Es können<br />

aber zuweilen auch psychologische oder soziologische Gesichtspunkte <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

moralphilosophische Reflexion mit e<strong>in</strong>fließen, so z.B. wenn nach den <strong>in</strong>neren<br />

Ursachen oder nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen für <strong>die</strong><br />

Entstehung moralischer Urteile gefragt wird (<strong>die</strong>s läßt sich etwa bei Hume<br />

beobachten). Im wesentlichen geht es der Philosophie jedoch darum, <strong>die</strong><br />

Gültigkeitsbed<strong>in</strong>gungen moralischer Urteile festzulegen und zu def<strong>in</strong>ieren.<br />

Sie kann dadurch dem moralisch Handelnden helfen, se<strong>in</strong>e Entscheidungen<br />

rationaler zu treffen und sich nicht bl<strong>in</strong>d durch Vorurteile oder Traditionen<br />

bestimmen zu lassen.<br />

1. Humes Lehre vom moralischen Gefühl (moral sentiment)<br />

45


Humes Moralphilosophie erschien erstmals 1740. In ihrer ursprünglichen<br />

Fassung bildet sie das dritte Buch se<strong>in</strong>es Jugendwerks A Treatise of Human<br />

Nature (1739/40) 4 , mit dem Hume e<strong>in</strong>e Erneuerung der bisherigen<br />

Philosophie bewirken wollte. Charakteristisch für se<strong>in</strong>en Ansatz ist <strong>die</strong><br />

Anwendung der experimentellen Methode (experimental method) der<br />

Beweisführung auf <strong>die</strong> Gegenstände philosophischer Forschung 5 . Humes<br />

Forderung, <strong>die</strong> philosophische Reflexion konsequent auf Erfahrung<br />

(experience) und Beobachtung (observation) zu gründen, ist durch <strong>die</strong><br />

Fortschritte der neuzeitlichen Naturwissenschaften <strong>in</strong>spiriert, und sie hat <strong>die</strong><br />

entschiedene Abkehr von der spekulativen Methode der rationalistischen<br />

Philosophie zur Folge. Dezi<strong>die</strong>rt wendet sich Hume z.B. im Enquiry<br />

concern<strong>in</strong>g the Pr<strong>in</strong>ciples of Morals gegen den Rationalismus, welcher „zuerst<br />

e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es, abstraktes Pr<strong>in</strong>zip aufstellt, das sodann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von e<strong>in</strong>zelnen<br />

Folgerungen und Schlüssen aufgegliedert wird“ (Enquiry II, 93/174). Im<br />

Unterschied dazu verlangt Humes experimentelle Methode <strong>die</strong> sorgfältige<br />

Beobachtung und <strong>die</strong> möglichst vollständige Erfahrung aller Wirkungen des<br />

menschlichen Geistes (vgl. Treatise I, 7/XIX, sowie ebd. 5/XVII). Die auf<br />

<strong>die</strong>se Weise gesammelten Daten sollen systematisch gesammelt, mite<strong>in</strong>ander<br />

verglichen und schließlich <strong>in</strong>duktiv verallgeme<strong>in</strong>ert werden (vgl. ebd.,<br />

7/XIX, Enquiry I, 26 f./13, sowie Enquiry II, 93/174). Hume glaubt, <strong>die</strong><br />

Tätigkeiten des menschlichen Geistes so auf „e<strong>in</strong>e möglichst ger<strong>in</strong>ge Anzahl<br />

e<strong>in</strong>fachster Ursachen“ (Treatise I, 5/XVII; vgl. außerdem Enquiry I, 28/14)<br />

zurückführen zu können. Er vermeidet es jedoch, e<strong>in</strong>e klare Prognose<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der Reichweite se<strong>in</strong>es Verfahrens zu geben. Die Erkenntnis der<br />

letzten Pr<strong>in</strong>zipien des menschlichen Bewußtse<strong>in</strong>s oder der Welt überhaupt<br />

(das Ich bzw. <strong>die</strong> Seele, Gott als erste Ursache des Universums) muß <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Empirismus problematisch bleiben, denn letzte Pr<strong>in</strong>zipien<br />

transzen<strong>die</strong>ren <strong>die</strong> Erfahrungswelt, s<strong>in</strong>d empirisch also nicht e<strong>in</strong>zuholen.<br />

Hume hält daher fest:<br />

46<br />

„Es ist wahrsche<strong>in</strong>lich, daß e<strong>in</strong>e Operation und e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zip des<br />

Geistes von e<strong>in</strong>em anderen abhängt, das wiederum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

allgeme<strong>in</strong>eren und umfassenderen aufgehoben se<strong>in</strong> kann. Wie weit<br />

<strong>die</strong>se Untersuchungen möglicherweise geführt werden können, das<br />

4 Für <strong>die</strong> Titel der Schriften Humes werden folgende Abkürzungen verwendet:<br />

Enquiry I (= An Enquiry concern<strong>in</strong>g Human Understand<strong>in</strong>g); Enquiry II (= An<br />

Enquiry concern<strong>in</strong>g the Pr<strong>in</strong>ciples of Morals); Treatise I (= A Treatise of Human<br />

Nature, Book I: Of the Understand<strong>in</strong>g); Treatise II (= A Treatise of Human<br />

Nature, Book II: Of the Passions); Treatise III (= A Treatise of Human Nature,<br />

Book III: Of Morals). Wo Hume zitiert wird, bezieht sich <strong>die</strong> erste Seitenangabe<br />

jeweils auf den deutschen Text und <strong>die</strong> zweite Seitenangabe jeweils auf den<br />

englischen Text. Die verwendeten Textausgaben s<strong>in</strong>d im Literaturverzeichnis<br />

angegeben.<br />

5 Entsprechend lautet der Untertitel des Treatise: „Be<strong>in</strong>g an Attempt to <strong>in</strong>troduce<br />

the experimental Method of Reason<strong>in</strong>g <strong>in</strong>to Moral Subjects.“


genau zu bestimmen wird uns vor, ja sogar nach sorgfältiger<br />

Untersuchung schwerfallen.“ (Enquiry I, 28/14 f.)<br />

Hume veröffentlicht se<strong>in</strong>e Ethik e<strong>in</strong> zweites Mal im Enquiry concern<strong>in</strong>g the<br />

Pr<strong>in</strong>ciples of Morals (1751), e<strong>in</strong>er Schrift, <strong>die</strong> er von allen se<strong>in</strong>en historischen,<br />

philosophischen und literarischen Schriften am meisten schätzte. Der<br />

Enquiry II ist nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Kurzfassung des dritten Buches se<strong>in</strong>es<br />

Treatise. G. Strem<strong>in</strong>ger weist darauf h<strong>in</strong>, daß Aufbau und<br />

Schwerpunktsetzung, teilweise aber auch <strong>die</strong> Term<strong>in</strong>ologie und <strong>die</strong><br />

theoretische Ausarbeitung differieren (vgl. Strem<strong>in</strong>ger: 1984, 21 ff.). Auffällig<br />

ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>die</strong> größere Lebensnähe des Enquiry II, <strong>die</strong> sich vor allem<br />

an der Fülle von Beispielen und an dem engagierten Schreibstil zeigt, der im<br />

Leser <strong>die</strong> Bereitschaft zu e<strong>in</strong>em tugendhaften Leben wecken will. Ich beziehe<br />

mich im folgenden primär auf <strong>die</strong> zweite und letztgültige Fassung der<br />

Moralphilosophie Humes, auf den Enquiry concern<strong>in</strong>g the Pr<strong>in</strong>ciples of Morals.<br />

Humes Untersuchung setzt mit e<strong>in</strong>er Analyse jener charakterlichen<br />

Eigenschaften e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> geschätzt werden und e<strong>in</strong>em Menschen<br />

persönliches Ansehen verleihen. Untersucht werden aber auch solche<br />

Gewohnheiten und Verhaltensweisen, <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> Tadel hervorrufen. Um<br />

zu jenen allgeme<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>zipien zu gelangen, <strong>die</strong> der Billigung und dem<br />

Tadel zu Grunde liegen, will Hume <strong>die</strong> den positiv und <strong>die</strong> den negativ<br />

bewerteten Eigenschaften jeweils geme<strong>in</strong>sam zukommenden Merkmale<br />

bestimmen. Ist gezeigt, was im Verhalten anderer Menschen Billigung oder<br />

Mißbilligung hervorruft, so kann darüber entschieden werden, ob <strong>die</strong> Moral<br />

ihren Ursprung im Verstand oder im Gefühl hat. Mit <strong>die</strong>ser Fragestellung<br />

knüpft Hume an e<strong>in</strong>e Kontroverse der Moralphilosophie se<strong>in</strong>er Zeit an.<br />

Vertraten Anhänger des Rationalismus wie z.B. S. Clarke <strong>die</strong> Auffassung,<br />

moralische Urteile würden a priori vermittelst des Verstandes gefällt, so<br />

hielten Vertreter der moral-sense-Theorie wie z.B. A. A. C. Shaftesbury und<br />

F. Hutcheson dagegen, <strong>die</strong> moralische Bewertung des Handelns beruhe auf<br />

e<strong>in</strong>er Regung des Gefühls, <strong>die</strong> sich bei der Beobachtung von<br />

Verhaltensweisen und bei der Betrachtung von Gemütsbeschaffenheiten<br />

e<strong>in</strong>stelle. Bereits im ersten Abschnitt se<strong>in</strong>es Enquiry II deutet Hume an, daß<br />

er e<strong>in</strong> Zusammenwirken von Verstand und Gefühl <strong>in</strong> Fragen der Moral für<br />

das Wahrsche<strong>in</strong>lichste hält. Denn der Verstand hat ke<strong>in</strong>e Macht über <strong>die</strong><br />

Gemütsbewegungen, d.h. er kann nicht festlegen, was wir für liebenswert<br />

halten und was wir verabscheuen. Moralische Empf<strong>in</strong>dungen müssen somit<br />

auf e<strong>in</strong>e ursprüngliche Beschaffenheit des Gemüts zurückgehen, und sie<br />

s<strong>in</strong>d nach Hume darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> der Lage, <strong>die</strong> aktiven Kräfte des<br />

Menschen <strong>in</strong> Bewegung zu setzen. Hume nimmt an, daß e<strong>in</strong> allen Menschen<br />

geme<strong>in</strong>samer <strong>in</strong>nerer S<strong>in</strong>n (<strong>in</strong>ternal sense) oder e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es moralisches<br />

Gefühl (moral sentiment) bestimmt, was wir als Tugend und Laster beurteilen<br />

(vgl. Enquiry II, 91/173 u. 205/276). Dabei unterscheidet er sich von den<br />

moral-sense-Theoretikern u.a. dadurch, daß er das moralische Gefühl auf<br />

47


e<strong>in</strong>en vormoralischen Basisaffekt zurückführt 6 , <strong>die</strong>ses also nicht als e<strong>in</strong>e<br />

urspüngliche Gegebenheit ansieht (vgl. Schrader: 1984, 178 ff.). Hume betont<br />

also <strong>die</strong> Rolle des Gefühls für <strong>die</strong> Moral, er geht aber zugleich davon aus,<br />

daß <strong>die</strong> moralische Empf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> der Regel nicht unabhängig von der<br />

Verstandestätigkeit entsteht. Vielmehr schreibt er dem Verstand e<strong>in</strong>e<br />

propädeutische Funktion für das moralische Gefühl zu. Indem <strong>die</strong>ser<br />

Gegenstände von moralischer Relevanz korrekt beschreibt, <strong>die</strong> fe<strong>in</strong>en<br />

Unterschiede von Eigenschaften berücksichtigt und genau mite<strong>in</strong>ander<br />

vergleicht und schließlich auch <strong>die</strong> Konsequenzen der Handlungen<br />

untersucht, ebnet er nach Hume dem moralischen Gefühl überhaupt erst den<br />

Weg (vgl. Enquiry II, 91/172 f.).<br />

Hume beg<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong>e Untersuchung der schätzenswerten<br />

Charaktereigenschaften mit den sozialen Tugenden des Wohlwollens und<br />

der Gerechtigkeit, von deren Analyse er sich zugleich e<strong>in</strong>igen Aufschluß<br />

über den Ursprung der weiteren Tugenden erhofft (vgl. ebd., 93/173 f.) 7 .<br />

Hume hält es für unzweifelhaft gesichert, daß das Wohlwollen (benevolence)<br />

sowie <strong>die</strong> auf das engste benachbarten Eigenschaften Humanität (humanity),<br />

Freundschaft (friendship), Dankbarkeit (gratitude) und Geme<strong>in</strong>schaftss<strong>in</strong>n<br />

(public spirit) <strong>die</strong> Hierarchie der Tugenden anführen (vgl. ebd., 96/178) 8 . Die<br />

Wertschätzung, <strong>die</strong> dem Wohlwollen zu allen Zeiten entgegengebracht<br />

wurde, führt er wenigstens teilweise auf den Nutzen zurück, der der<br />

Gesellschaft aus <strong>die</strong>ser Tugend erwächst (vgl. ebd. 96 ff./178 ff.) 9 . Radikaler<br />

vertritt Hume den Gedanken der Nützlichkeit im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit 10 . Im dritten Abschnitt des Enquiry II bemüht er sich um den<br />

6 vgl. unten, 50 ff.<br />

7 Ich beschränke mich im folgenden auf Humes Untersuchung jener Eigenschaften<br />

und Handlungen, <strong>die</strong> im allgeme<strong>in</strong>en geschätzt werden.<br />

8 Diese Bewertung des Wohlwollens wird im dritten Anhang des Enquiry II jedoch<br />

relativiert. Hume weist hier darauf h<strong>in</strong>, daß Wohlwollen und Gerechtigkeit<br />

mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Konflikt geraten können, da sie <strong>in</strong> ihrer Wirkungsweise<br />

verschieden s<strong>in</strong>d. Während im Falle des Wohlwollens schon durch e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>zelhandlung Gutes hervorgebracht wird, erreicht <strong>die</strong> Gerechtigkeit nur dann<br />

ihr Ziel, wenn möglichst alle Individuen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft mit den<br />

Rechtsvorschriften übere<strong>in</strong>stimmen. Auch bei wohlwollenden Handlungen<br />

dürfen also <strong>die</strong> Erfordernisse der Gerechtigkeit nicht außer acht gelassen werden,<br />

sollen <strong>die</strong>se Handlungen nicht zuletzt schaden; vgl. ebd., 239/306.<br />

9 Hume ist darüber h<strong>in</strong>aus davon überzeugt, daß das Wohlwollen auch deshalb<br />

geschätzt wird, weil es dem Wohlwollenden selbst angenehm ist; vgl. ebd.,<br />

212/282.<br />

10 Mit Gerechtigkeit (justice) ist im Enquiry II primär das Recht auf Eigentum bzw.<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>haltung der Eigentumsregeln geme<strong>in</strong>t. Hume schließt aber offenbar auch<br />

<strong>die</strong> Unversehrtheit von Leib und Leben bzw. <strong>die</strong> Freiheit der Person <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> (vgl. ebd., 106/187).<br />

48


Nachweis, daß „der öffentliche Nutzen der alle<strong>in</strong>ige Ursprung von Gerechtigkeit<br />

ist und daß Erwägungen über <strong>die</strong> wohltätigen Folgen <strong>die</strong>ser Tugend <strong>die</strong> alle<strong>in</strong>ige<br />

Grundlage ihres Wertes s<strong>in</strong>d“ (ebd. 101/183). Hume stützt <strong>die</strong>se Behauptung<br />

u.a. mit Hilfe hypothetischer Konstrukte. Beispielsweise setzt er den Fall, der<br />

Mensch bef<strong>in</strong>de sich von Natur aus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation des<br />

verschwenderischsten Überflusses (vgl. ebd.) oder er sei mit e<strong>in</strong>em<br />

unbegrenzten Altruismus ausgestattet (vgl. ebd., 103/184 f.). Es liegt auf der<br />

Hand, daß das Gebot der Gerechtigkeit <strong>in</strong> beiden Fällen überflüssig ist.<br />

Gleiches gilt, wenn, wie nach e<strong>in</strong>em Schiffbruch, äußerster Mangel herrscht<br />

(vgl. ebd. 104 f./186 f.), oder wenn e<strong>in</strong> tugendhafter Mensch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hände<br />

von Verbrechern fällt und sich aus Notwehr verteidigen muß (vgl. ebd., 105<br />

f./187). S<strong>in</strong>d im ersten Fall Gewalt und Ungerechtigkeit ke<strong>in</strong>e größeren Übel<br />

mehr, als das ohneh<strong>in</strong> herrschende Elend, und würden wir jeden für<br />

legitimiert halten, sich über bestehende Eigentumsverhältnisse<br />

h<strong>in</strong>wegzusetzen, wenn es um <strong>die</strong> Sicherung des eigenen Überlebens geht, so<br />

würden wir auch im zweiten Fall akzeptieren, wenn der Angegriffene sich<br />

mit e<strong>in</strong>em eben gestohlenen Schwert verteidigte. Denn Gerechtigkeit stiftet<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er aussichtslosen Lage, <strong>in</strong> der es um Leben und Tod geht, ke<strong>in</strong>en<br />

Nutzen mehr.<br />

Die von Hume gewählten Beispiele machen deutlich, daß <strong>die</strong> Forderung<br />

nach Gerechtigkeit ganz und gar von dem besonderen Zustand und der<br />

jeweiligen Lage der Menschen abhängt. Somit entspr<strong>in</strong>gt <strong>die</strong>se Tugend alle<strong>in</strong><br />

dem Nutzen, der von ihr erwartet werden kann, und auch für das<br />

Wohlwollen läßt sich kaum bestreiten, daß se<strong>in</strong>e Wertschätzung zu e<strong>in</strong>em<br />

erheblichen Teil <strong>in</strong> dem öffentlichen Nutzen gründet, der durch <strong>die</strong>ses<br />

gestiftet wird. Das von Hume gesuchte geme<strong>in</strong>same Merkmal der sozialen<br />

Tugenden ist also ihre Nützlichkeit, und es muß nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren<br />

Schritt gefragt werden, was <strong>in</strong> uns <strong>die</strong> Billigung solcher Eigenschaften oder<br />

Charaktere hervorruft, <strong>die</strong> der Gesellschaft nützlich s<strong>in</strong>d 11 . Es ist <strong>die</strong>s <strong>die</strong><br />

Frage nach den allgeme<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>zipien der Moral (general pr<strong>in</strong>ciples of<br />

11 Tugendhaft ist nach Hume allerd<strong>in</strong>gs nicht nur, was der Gesellschaft nützt, wie<br />

se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition der Tugend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anmerkung des Enquiry II deutlich zeigt:<br />

„Es ist das Wesen, ja tatsächlich <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition von Tugend, daß sie e<strong>in</strong>e<br />

Charaktereigenschaft ist, <strong>die</strong> jedem, der darüber nachdenkt oder sie<br />

betrachtet, angenehm ist oder von ihm gebilligt wird.“ (ebd., 188, Anm.) So<br />

kommt es, daß Humes Tugendbegriff neben den oben genannten Eigenschaften<br />

auch natürliche Fähigkeiten und Begabungen, Etikette und Umgangsformen<br />

e<strong>in</strong>schließt, sofern <strong>die</strong>se dem E<strong>in</strong>zelnen oder der Gesellschaft angenehm oder<br />

nützlich s<strong>in</strong>d. Hume ist sich dessen bewußt, daß <strong>die</strong> Weite se<strong>in</strong>es Tugendbegriffs<br />

angreifbar ist. Er setzt sich daher im Anhang IV, „Über e<strong>in</strong>ige<br />

Wortstreitigkeiten“ , ausführlich mit dem Problem der Begriffsbestimmung von<br />

Tugend und Laster ause<strong>in</strong>ander; vgl. ebd., 245-257/312-323..<br />

49


morals), d.h. nach den der menschlichen Natur eigenen Kräfte oder Gesetze,<br />

<strong>die</strong> das Zusammenleben der Menschen bestimmen 12 .<br />

Leitet sich, wie oben dargestellt, <strong>die</strong> Wertschätzung der sozialen Tugenden<br />

aus dem durch sie bewirkten Nutzen her, so ist klar, daß wir <strong>die</strong>se Tugenden<br />

billigen, weil sich das mit ihnen verbundene Wohl der Gesellschaft e<strong>in</strong>er<br />

natürlichen Neigung <strong>in</strong> uns bemächtigt. Es kommen jedoch grundsätzlich<br />

zwei e<strong>in</strong>ander entgegengesetzte Neigungen <strong>in</strong> Frage, <strong>die</strong> uns für <strong>die</strong>sen<br />

Zweck Partei nehmen lassen: <strong>die</strong> Selbstliebe und der Altruismus. Um zu<br />

entscheiden, welche <strong>die</strong>ser beiden Neigungen unserer Anerkennung der<br />

sozialen Tugenden zu Grunde liegt, wägt Hume <strong>die</strong> Argumente ab, <strong>die</strong> für<br />

e<strong>in</strong> egoistisch bzw. altruistisch fun<strong>die</strong>rtes Interesse am Geme<strong>in</strong>wohl<br />

sprechen. Naheliegend ist es, <strong>die</strong> soziale Ausrichtung des Menschen auf <strong>die</strong><br />

Selbstliebe zurückzuführen. Denn der Mensch ist e<strong>in</strong> Wesen, das ohne<br />

se<strong>in</strong>esgleichen <strong>in</strong> der Natur nicht bestehen kann, und dessen Sicherheit und<br />

Wohlstand von der Kooperation mit anderen abhängt. Besteht aber e<strong>in</strong> solch<br />

unauflösbarer Zusammenhang zwischen den allgeme<strong>in</strong>en und den<br />

partikularen Interessen, so wird das Individuum alle<strong>in</strong> aus Eigen<strong>in</strong>teresse<br />

jede Tugend positiv bewerten, <strong>die</strong> sich vorteilhaft auf das gesellschaftliche<br />

Zusammenleben auswirkt.<br />

Hume verwirft <strong>die</strong>se ethisch unbefriedigende Erklärung, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Unterscheidung zwischen dem mir Nützlichen und dem moralisch Guten<br />

zuläßt. Er besteht demgegenüber auf der Möglichkeit, daß unserer<br />

Wertschätzung der sozialen Tugenden e<strong>in</strong>e altruistische Neigung zu Grunde<br />

liegt. Diese Position ist allerd<strong>in</strong>gs dem seit alters her vorgebrachten E<strong>in</strong>wand<br />

ausgesetzt, der Mensch verfüge über ke<strong>in</strong>e uneigennützige Neigung,<br />

sondern suche bewußt oder unbewußt stets se<strong>in</strong>en eigenen Vorteil 13 . Will<br />

Hume se<strong>in</strong>e Moraltheorie auf Mitmenschlichkeit oder e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es<br />

Wohlwollen 14 gründen, muß er also zunächst plausibel machen, daß zur<br />

menschlichen Natur auch e<strong>in</strong>e solche altruistische Neigung gehört. Hume<br />

beruft sich zu <strong>die</strong>sem Zweck auf „<strong>die</strong> Stimmen der Natur und der Erfahrung “<br />

(Enquiry II, 137/215), <strong>die</strong> der Theorie e<strong>in</strong>es bloß egoistischen Interesses an<br />

12 Humes Frage nach den allgeme<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>zipien der Moral ist also nicht <strong>die</strong> Frage<br />

nach normativen Regeln wie z.B. Kants kategorischem Imperativ, der angeben<br />

soll, wie wir moralisch richtig handeln. Die von Hume gesuchten allgeme<strong>in</strong>en<br />

Pr<strong>in</strong>zipien der Moral s<strong>in</strong>d Pr<strong>in</strong>zipien der menschlichen Natur (pr<strong>in</strong>ciples of<br />

human nature), und e<strong>in</strong>e Untersuchung <strong>die</strong>ser Pr<strong>in</strong>zipien hatte er sich ja bereits<br />

im Treatise zum Ziel gesetzt.<br />

13 Mit <strong>die</strong>sem philosophischen Grundsatz, den u.a. der antike Denker Epikur, dann<br />

aber auch <strong>die</strong> unmittelbaren Vorläufer Humes, T. Hobbes und J. Locke, vertraten,<br />

setzt Hume sich im zweiten Anhang se<strong>in</strong>es Enquiry II ause<strong>in</strong>ander; vgl. ebd., 228<br />

ff./296 ff.<br />

14 Zur Unterscheidung zwischen allgeme<strong>in</strong>em und besonderem Wohlwollen vgl.<br />

50<br />

unten, 51.


den sozialen Tugenden entgegenstehen. Tatsächlich glauben wir ja zumeist,<br />

zu wohlwollenden, uneigennützigen Empf<strong>in</strong>dungen fähig zu se<strong>in</strong>. Hume<br />

argumentiert aber auch mit e<strong>in</strong>er Reihe von Beispielen, <strong>in</strong> denen der<br />

Zusammenhang zwischen Individual- und Gattungs<strong>in</strong>teresse weitgehend<br />

gelöst ist. So stimmen wir tugendhaften Handlungen selbst dann zu, wenn<br />

wir ke<strong>in</strong>en persönlichen Vorteil von ihnen haben können, weil sie <strong>in</strong> längst<br />

vergangenen Zeiten oder <strong>in</strong> entfernten Ländern stattgefunden haben (vgl.<br />

ebd., 137/215 f.). Auch s<strong>in</strong>d wir <strong>in</strong> der Lage, <strong>die</strong> großzügige und mutige Tat<br />

e<strong>in</strong>es Gegners anzuerkennen, und zwar sogar dann, wenn <strong>die</strong>se uns<br />

voraussichtlich schaden wird (vgl. ebd., 137/216). Hume läßt nicht gelten,<br />

daß wir <strong>die</strong> genannten Handlungen nur deshalb billigen, weil wir uns <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>jenigen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen, denen sie tatsächlich nützten. Denn wir haben ja<br />

stets eigene, d.h. wirkliche Interessen, <strong>die</strong> sich von jenen bloß vorgestellten<br />

Interessen unterscheiden und <strong>die</strong> zudem stark genug s<strong>in</strong>d, um unsere<br />

Wertschätzungen dauerhaft zu bestimmen (vgl. ebd., 138 f./217).<br />

Hume br<strong>in</strong>gt also Beispiele und Gründe vor, <strong>die</strong> zeigen sollen, daß der<br />

Mensch zu unegoistischen Empf<strong>in</strong>dungen und Handlungen fähig ist. Auch<br />

stützt er se<strong>in</strong>e Position durch den H<strong>in</strong>weis darauf, daß <strong>die</strong> These e<strong>in</strong>es<br />

universellen Egoismus bisher e<strong>in</strong>en bloß hypothetischen Charakter hat (vgl.<br />

ebd., 230 f./298). Hume ist sich aber letztlich darüber im klaren, daß er das<br />

Vorkommen e<strong>in</strong>er altruistischen Neigung nicht im strengen S<strong>in</strong>ne beweisen<br />

kann. Im zweiten Anhang se<strong>in</strong>es Enquiry II, „Über <strong>die</strong> Selbstliebe “ , nimmt er<br />

das Wohlwollen <strong>in</strong> der menschlichen Natur deshalb „aufgrund allgeme<strong>in</strong>er<br />

Erfahrung ohne irgende<strong>in</strong>en weiteren Beweis als wirklich existierend an.“ (ebd.,<br />

230/298, Anm.) Hume weist also jene Theorie zurück, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Billigung der<br />

sozialen Tugenden aus dem Pr<strong>in</strong>zip der Selbstliebe erklärt, und er führt<br />

stattdessen e<strong>in</strong>e eher auf <strong>die</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit bezogene Neigung e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Moraltheorie trägt 15 . Ich werde <strong>die</strong>se Neigung im folgenden näher<br />

bestimmen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren Schritt zeigen, wie Hume von hier aus <strong>die</strong><br />

Entstehung des moralischen Urteils erklärt.<br />

Die Empf<strong>in</strong>dung des Wohlwollens (benevolence) oder der Menschlichkeit<br />

(humanity), auf <strong>die</strong> Hume se<strong>in</strong>e Ethik im Enquiry II gründet (vgl. ebd.,<br />

141/219), ist nicht identisch mit e<strong>in</strong>em unbegrenzten Altruismus, wie <strong>die</strong>s<br />

<strong>die</strong> Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>em besonderen Wohlwollen (particular<br />

benevolence) und e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Wohlwollen (general benevolence) im<br />

zweiten Anhang vermuten lassen könnte (vgl. ebd., 230/298, Anm.). Hier<br />

bestimmt Hume das besondere Wohlwollen als e<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dung, <strong>die</strong> wir<br />

nur solchen Menschen entgegenbr<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> uns emotional näher stehen als<br />

andere. Das allgeme<strong>in</strong>e Wohlwollen, das Hume se<strong>in</strong>er Moraltheorie zu<br />

Grunde legt, bezieht sich demgegenüber auf pr<strong>in</strong>zipiell alle Menschen, und<br />

zwar unabhängig davon, ob wir mit ihnen durch Freundschaft,<br />

Bekanntschaft oder Verwandtschaft verbunden s<strong>in</strong>d, oder ob wir sie wegen<br />

15 Hume negiert allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>die</strong> Realität des menschlichen Egoismus; vgl. ebd.,<br />

199/270 f., 201/273, 205/275 f.<br />

51


estimmter Eigenschaften verehren. Es ist jedoch zu unterscheiden von e<strong>in</strong>er<br />

allgeme<strong>in</strong>en Menschenliebe, <strong>die</strong> sich dem anderen uneigennützig<br />

aufopfert 16 . In der genannten Anmerkung des Enquiry II bestimmt Hume<br />

das allgeme<strong>in</strong>e Wohlwollen zunächst nur als e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Mitgefühl<br />

(general sympathy), d.h. als e<strong>in</strong> Mitleiden mit den Schmerzen oder als e<strong>in</strong>e<br />

Mitfreude mit dem Vergnügen anderer (vgl. Enquiry II, 230/298, Anm.).<br />

Diese Bedeutung herrscht auch <strong>in</strong> weiten Teilen des fünften Abschnitts der<br />

Schrift, „Warum <strong>die</strong> Nützlichkeit gefällt “ , vor. Die hier gepriesene „Macht von<br />

Menschlichkeit und Wohlwollen“ (ebd., 142/220) äußert sich zunächst <strong>in</strong> nichts<br />

anderem als e<strong>in</strong>er emotionalen Reaktion auf <strong>die</strong> Gefühle, <strong>die</strong> wir bei anderen<br />

Menschen beobachten. Umfaßte das allgeme<strong>in</strong>e Wohlwollen nicht mehr als<br />

<strong>die</strong>sen psychologischen ‘Mechanismus’ 17 , so könnte Hume wohl kaum<br />

verständlich machen, daß es gerade <strong>die</strong>se Empf<strong>in</strong>dung ist, <strong>die</strong> der Billigung<br />

der sozialen Tugenden zu Grunde liegt. Die positive Bewertung von<br />

Tugenden, <strong>die</strong> den Nutzen und <strong>die</strong> Freude anderer bewirken, impliziert e<strong>in</strong>e<br />

uneigennützige Parte<strong>in</strong>ahme für deren Glück. Das Gefühl des Wohlwollens<br />

oder der Menschlichkeit muß daher außer dem Mitgefühl auch e<strong>in</strong><br />

Verlangen nach dem Glück anderer umfassen, soll es das Fundament des<br />

moralischen Gefühls se<strong>in</strong>. Tatsächlich denkt Hume im Wohlwollen beide<br />

Aspekte zusammen. Sieht er <strong>die</strong>ses e<strong>in</strong>erseits durch <strong>die</strong> Fähigkeit des<br />

Mitgefühls bestimmt, (vgl. Enquiry II, 142 ff./220 ff.), so schreibt er ihm<br />

andererseits e<strong>in</strong>e positive Übere<strong>in</strong>stimmung mit den Belangen der<br />

Menschheit zu (vgl. ebd., 150/227, 153/230 u. 168/243 f.) 18 .<br />

16 E<strong>in</strong> solches Wohlwollen schließt Hume schon deshalb aus, weil es <strong>die</strong> soziale<br />

Tugend der Gerechtigkeit überflüssig machen würde (vgl. Enquiry II, 103 f./184<br />

f. u. Treatise III, 238 f./494 f.<br />

17 Die emotionale Wirkung der Gefühle anderer auf uns untersucht Hume bereits <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Affektenlehre; vgl. Treatise II, 48 ff./316 ff. Für das Phänomen des<br />

Mitleidens und der Mitfreude, <strong>die</strong> unmittelbare Übertragung von<br />

Gemütsbewegungen auf andere also, prägt er hier den Term<strong>in</strong>us des begrenzten<br />

Mitgefühls (limited sympathy), den er dem Begriff des erweiterten Mitgefühls<br />

(extensive sympathy) gegenüberstellt; vgl. ebd., 123/387. Hume veranschaulicht<br />

das begrenzte Mitgefühl folgendermaßen: „Die Menschen verhalten sich <strong>in</strong> ihrem<br />

Innern zue<strong>in</strong>ander wie Spiegel. Und <strong>die</strong>s nicht nur <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß sie ihre<br />

Gefühlserregungen wechselseitig spiegeln; sondern es werden auch <strong>die</strong><br />

Strahlungen der Affekte, Gefühle, Me<strong>in</strong>ungen wiederholt h<strong>in</strong>- und<br />

zurückgeworfen, bis sie ganz allmählich verlöschen.“ (ebd., 98 f./365) Das<br />

erweiterte Mitgefühl bestimmt er als e<strong>in</strong> Interesse am zukünftigen Glück anderer;<br />

vgl. ebd., 121 ff./385 ff.<br />

18 Spricht Hume im Enquiry II von der Fähigkeit des Menschen, sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gefühle<br />

anderer h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen, so gebraucht er <strong>in</strong> der Regel den Begriff des<br />

Mitgefühls (sympathy). Begriffe wie Wohlwollen (benevolence), Menschlichkeit<br />

(humanity) oder Menschenliebe (philanthropy) dom<strong>in</strong>ieren h<strong>in</strong>gegen da, wo von<br />

unserem Interesse am Glück anderer <strong>die</strong> Rede ist. Hume verwendet <strong>die</strong> Begriffe<br />

52


Mit der Annahme e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Wohlwollens unterstellt Hume, daß der<br />

Mensch anderen gegenüber nicht gleichgültig ist. Das allgeme<strong>in</strong>e<br />

Wohlwollen ist von der besonderen Liebe zu bestimmten Personen<br />

unterschieden. Es ist auch nicht als <strong>die</strong> Bereitschaft zu e<strong>in</strong>em selbstlosen<br />

Leben für andere zu verstehen und läßt <strong>in</strong>sofern den starken egoistischen<br />

Antrieben des Menschen ihr Recht. Das allgeme<strong>in</strong>e Wohlwollen ist letztlich<br />

nicht mehr als e<strong>in</strong>e Gestimmtheit oder Disposition, denn es führt nur <strong>in</strong><br />

seltenen Fällen zu e<strong>in</strong>er praktischen Hilfeleistung (vgl. ebd., 158 f./234,<br />

Anm.). Es ist vielleicht am treffendsten als e<strong>in</strong> Gefühl der<br />

Zusammengehörigkeit oder Solidarität bestimmt, das auf der Empf<strong>in</strong>dung<br />

e<strong>in</strong>er Gattungsähnlichkeit beruht (vgl. Lüthe: 1991, 57). Das allgeme<strong>in</strong>e<br />

Wohlwollen ist nach Hume jenes vormoralische Gefühl, das <strong>die</strong> Grundlage<br />

des moralischen Gefühls bildet, und es ist hierzu aus mehreren Gründen<br />

qualifiziert. Es befähigt uns zunächst, an den Gefühlen anderer teilzuhaben<br />

und auf <strong>die</strong>se Weise unseren egoistischen Standpunkt zu überw<strong>in</strong>den. Auch<br />

eignet es nach Hume allen Menschen, und es bezieht sich, im Gegensatz zum<br />

besonderen Wohlwollen, auf <strong>die</strong> gesamte Menschheit (vgl. Enquiry II,<br />

200/272). Das allgeme<strong>in</strong>e Wohlwollen besitzt somit e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Merkmalen, <strong>die</strong> auch für das moralische Gefühl charakteristisch s<strong>in</strong>d. H<strong>in</strong>zu<br />

kommt, daß <strong>die</strong>selben charakterlichen Eigenschaften durch das Wohlwollen<br />

und durch das moralische Gefühl gebilligt werden. Da sie also offenbar „<strong>in</strong><br />

jeder, selbst der kle<strong>in</strong>sten E<strong>in</strong>zelheit von denselben Gesetzen beherrscht und durch<br />

<strong>die</strong>selben Objekte ausgelöst werden“ , schließt Hume, „daß <strong>die</strong>se Gefühle<br />

ursprünglich <strong>die</strong>selben s<strong>in</strong>d“ (ebd., 160/235). Allerd<strong>in</strong>gs weist das Wohlwollen<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Unregelmäßigkeit auf, von der das moralische Gefühl frei se<strong>in</strong><br />

muß, wenn es <strong>die</strong> Grundlage solcher Urteile se<strong>in</strong> se<strong>in</strong> soll, für <strong>die</strong> wir<br />

Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit beanspruchen. Zwar ist das Wohlwollen von Natur aus<br />

auf <strong>die</strong> ganze Menschheit bezogen. Es wird jedoch stärker von solchen<br />

Charakteren und Handlungen affiziert, <strong>die</strong> Personen <strong>in</strong> räumlicher und<br />

zeitlicher Nähe betreffen (vgl. ebd., 150/227).<br />

E<strong>in</strong>e Gleichmäßigkeit des Gefühls angesichts bestimmter<br />

Charaktereigenschaften oder Handlungen wird nach Hume erst durch das<br />

Urteilsvermögen hervorgebracht. Dieses korrigiert <strong>die</strong> verschieden starke<br />

Intensität unserer Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>in</strong>dem es uns darstellt, wie e<strong>in</strong>e jeweilige<br />

Handlung aus der Nähe auf uns wirken würde (vgl. ebd., 150 f./227 f.).<br />

Generell geht Hume davon aus, daß wir mit Hilfe von Überlegungen<br />

„bestimmte feste und allgeme<strong>in</strong>e Standpunkte der Betrachtung“ (Treatise III,<br />

335/581 f.) ausbilden. Denn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, <strong>in</strong> der unser Verhältnis zu<br />

anderen Personen oder zu den uns umgebenden D<strong>in</strong>gen beständigen<br />

Veränderungen unterworfen ist, würden wir anders zu ke<strong>in</strong>er<br />

gleichbleibenden Beurteilung derselben gelangen können. Die<br />

Herausbildung allgeme<strong>in</strong>er Gesichtspunkte ist <strong>die</strong> notwendige<br />

Voraussetzung für e<strong>in</strong>e Orientierung <strong>in</strong> der Welt, und sie ist zudem<br />

Mitgefühl und Menschlichkeit aber auch synonym (vgl. ebd., 155/231, 187/260,<br />

oder 230/298, Anm.)<br />

53


unerläßlich für e<strong>in</strong>e konstante Beurteilung moralisch relevanter<br />

Sachverhalte. Sie ermöglicht darüber h<strong>in</strong>aus überhaupt erst den Gebrauch<br />

der Sprache und ist <strong>in</strong>sofern auch <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es gesellschaftlichen<br />

Austauschs über unsere Gefühle der Billigung oder Mißbilligung angesichts<br />

bestimmter Charaktereigenschaften. Dieser Austausch hat „e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en,<br />

unveränderlichen Maßstab“ (Enquiry II, 152/229) zur Folge, anhand dessen<br />

Charaktere und Handlungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Gesellschaft moralisch<br />

bewertet werden.<br />

Wohlwollen und moralisches Gefühl s<strong>in</strong>d nach Hume ursprünglich<br />

identisch. Die Entstehung e<strong>in</strong>es spezifisch moralischen Gefühls setzt jedoch<br />

voraus, daß wir e<strong>in</strong>e Situation unabhängig von den kont<strong>in</strong>genten<br />

Bed<strong>in</strong>gungen unserer jeweiligen Wahrnehmungen und im Zusammenhang<br />

mit e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Kommunikation über unsere Wertschätzungen<br />

beurteilen. Das moralische Urteil beruht somit nicht alle<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>em Gefühl,<br />

sondern es ist zugleich von der Verstandestätigkeit der Urteilenden<br />

abhängig. Erst durch das Zusammenwirken von Verstand und Gefühl wird<br />

nach Hume auch plausibel, warum wir im moralischen Urteil „nur <strong>die</strong><br />

Tendenzen der Handlungen und Charaktere, nicht aber ihre wirklichen, zufälligen<br />

Konsequenzen“ (ebd., 151/228, Anm.) berücksichtigen. Urteilten wir bloß auf<br />

Grund unserer unmittelbaren Wahrnehmungen, so müßte es sich genau<br />

entgegengesetzt verhalten, und wir brächten demjenigen e<strong>in</strong>e größere<br />

Achtung entgegen, der es verstand, der Gesellschaft wirklich nützlich zu<br />

werden. Das den äußeren Ansche<strong>in</strong> korrigierende Urteilsvermögen bewirkt<br />

jedoch, daß wir e<strong>in</strong>en glücklos handelnden Menschen mit e<strong>in</strong>er<br />

tugendhaften Ges<strong>in</strong>nung demjenigen moralisch gleichstellen, dessen<br />

Handlungen auf Grund günstigerer Umstände zum Erfolg führten. Hume<br />

räumt allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>, daß „unser Herz an <strong>die</strong>sen allgeme<strong>in</strong>en [moralischen; d.<br />

Verf.] Begriffen nicht vollständig Anteil nimmt“ (ebd., 152/229). E<strong>in</strong>e herzliche<br />

Liebe empf<strong>in</strong>den wir von Natur aus nur für Menschen, <strong>die</strong> uns persönlich<br />

angenehm oder nützlich s<strong>in</strong>d, und wir fühlen denen gegenüber, <strong>die</strong> uns<br />

schaden, e<strong>in</strong>e heftige Abneigung. Partikularer und universaler Standpunkt<br />

bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> uns <strong>in</strong> beständigem Widerstreit. Doch <strong>die</strong> moralischen<br />

Unterscheidungen besitzen kraft ihrer transsubjektiven Gültigkeit e<strong>in</strong>e<br />

größere Autorität als <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividuellen Gefühle von Liebe und Haß (vgl.<br />

ebd.).<br />

Moralisch ist also nach Hume e<strong>in</strong> Charakter, sofern er durch das moralische<br />

Gefühl gebilligt wird, oder e<strong>in</strong>e Handlung, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong>ses motiviert ist. Als<br />

das geme<strong>in</strong>same Merkmal jener charakterlichen Eigenschaften oder<br />

Handlungen, <strong>die</strong> wir billigen, ließ sich <strong>die</strong> Nützlichkeit erweisen, <strong>die</strong> somit<br />

bei Hume zum <strong>in</strong>haltlichen Kriterium der Tugend wird. Da Menschen aber<br />

auch aus re<strong>in</strong> egoistischen Motiven an der Maximierung des Nutzens für<br />

sich und andere <strong>in</strong>teressiert se<strong>in</strong> können, kommt für <strong>die</strong> Moral alles darauf<br />

an, daß e<strong>in</strong>e Handlung auf Grund des spezifisch moralischen Gefühls<br />

gebilligt bzw. gewählt wird. Das moralische Gefühl konnte Hume dadurch<br />

def<strong>in</strong>ieren, daß er dessen Genese rekonstruierte, und so ist <strong>die</strong>ses Gefühl<br />

zunächst durch se<strong>in</strong>e Gewordenheit gekennzeichnet. Es ist weiter als e<strong>in</strong><br />

54


durch <strong>die</strong> Vernunft korrigiertes Gefühl zu bestimmen, dem e<strong>in</strong> der<br />

menschlichen Natur ursprünglich eigenes allgeme<strong>in</strong>es Wohlwollen zu<br />

Grunde liegt. Die Moral basiert somit auf e<strong>in</strong>em Pr<strong>in</strong>zip, das <strong>die</strong> Menschen<br />

untere<strong>in</strong>ander emotional verb<strong>in</strong>det.<br />

Mit dem moralischen Gefühl hat Hume, ähnlich wie <strong>die</strong> Theoretiker des<br />

moral-sense, e<strong>in</strong>e Grundlage der Moral gefunden, <strong>die</strong> den Menschen nicht<br />

nur zu e<strong>in</strong>er Erkenntnis des sittlich Guten befähigt, sondern durch <strong>die</strong> er<br />

zugleich <strong>in</strong> der Lage sche<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> moralische Ges<strong>in</strong>nung zu e<strong>in</strong>em aktiven<br />

Pr<strong>in</strong>zip zu machen. Obgleich <strong>die</strong> moralischen Empf<strong>in</strong>dungen den heftigen<br />

Leidenschaften an Stärke unterlegen s<strong>in</strong>d, vermögen sie uns doch eher zum<br />

Handeln zu bewegen, als bloße Vernunft. Ist Humes Moralphilosophie <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht den von ihm kritisierten Systemen des Rationalismus<br />

überlegen, so ist sie ihrerseits mit dem Problem des Relativismus behaftet,<br />

das sich aus der empirischen Normenbegründung ergibt. Hume gründet<br />

se<strong>in</strong>e Aufstellung der Tugenden und Laster auf <strong>die</strong> faktische Zustimmung<br />

oder Ablehnung, <strong>die</strong> Menschen angesichts der Charakterzüge und<br />

Eigenschaften anderer zeigen. Allerd<strong>in</strong>gs beruhen <strong>die</strong> moralischen Urteile,<br />

wie oben dargestellt, ke<strong>in</strong>eswegs auf dem subjektiven Geschmack e<strong>in</strong>zelner<br />

Individuen. Das moralische Urteil setzt <strong>die</strong> gesellschaftliche Kommunikation<br />

voraus, <strong>die</strong> <strong>die</strong> charakterlichen Eigenschaften oder Handlungen von<br />

Menschen zum Gegenstand hat. Se<strong>in</strong>e Gültigkeit erstreckt sich <strong>in</strong>sofern über<br />

das e<strong>in</strong>zelne Subjekt h<strong>in</strong>aus auf <strong>die</strong> Gruppe (den Stamm oder Staat), der es<br />

se<strong>in</strong>e Entstehung verdankt. Es hat damit aber noch ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dlichkeit für<br />

<strong>die</strong> gesamte Menschheit. E<strong>in</strong>e solche könnte es nur dann beanspruchen,<br />

wenn es aus e<strong>in</strong>er globalen Kommunikation resultierte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Interessen<br />

und Gefühle aller Individuen berücksichtigte 19 . Doch selbst dann würde das<br />

moralische Urteil noch ke<strong>in</strong>e unbed<strong>in</strong>gte Allgeme<strong>in</strong>heit oder Notwendigkeit<br />

mit sich führen, wie Kant <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kritik der empirischen Pr<strong>in</strong>zipien der<br />

Moral zeigt. E<strong>in</strong> absolutes moralisches Urteil kann nicht empirisch<br />

begründet werden, denn was an sich gut ist wissen wir erst, wenn wir von<br />

der zufälligen Beschaffenheit der menschlichen Natur absehen und alle<strong>in</strong> auf<br />

<strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Vernunft rekurrieren.<br />

2. Die formale Bestimmung der Pflicht <strong>in</strong> Kants Ethik<br />

19 Diese Kommunikation müßte zudem <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er ‘idealen<br />

Sprechsituation’ erfüllen, d.h. sie müßte frei se<strong>in</strong> von Herrschaftsstrukturen und<br />

anderen Kommunikationshemmnissen; vgl. Habermas/Luhmann: 1971, 136 ff.<br />

55


Erstmals <strong>in</strong> der 1785 erschienenen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, auf<br />

<strong>die</strong> 1788 <strong>die</strong> Kritik der praktischen Vernunft 20 folgt, legt Kant dar, daß Moral<br />

alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der re<strong>in</strong>en Vernunft gründet. In beiden Schriften zeigt er außerdem,<br />

daß empirische Pr<strong>in</strong>zipien ungeeignet s<strong>in</strong>d, moralische Gesetze zu<br />

begründen, <strong>die</strong> unterschiedslos für alle vernünftigen Wesen gelten sollen.<br />

Als empirische Pr<strong>in</strong>zipien kritisiert Kant vor allem das Pr<strong>in</strong>zip des<br />

physischen Gefühls, welches der Ethik Epikurs zu Grunde liegt (vgl. Kritik,<br />

40), und das Pr<strong>in</strong>zip des moralischen Gefühls, wie es z.B. bei Hutcheson zu<br />

f<strong>in</strong>den ist (vgl. ebd.) 21 . Beide Pr<strong>in</strong>zipien kommen nach Kant dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>,<br />

daß sie auf <strong>die</strong> Glückseligkeit des Menschen abzielen 22 . E<strong>in</strong> solches Streben<br />

nach Glückseligkeit ist unmittelbar evident, wo <strong>die</strong> Ethik, wie bei Epikur,<br />

konsequent am Pr<strong>in</strong>zip der Lust ausgerichtet ist 23 . Glückseligkeit ist aber<br />

auch da im Spiel, wo e<strong>in</strong> moralisches Gefühl das Kriterium der Tugend ist.<br />

Denn der <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>druck, der beim Anblick von Tugend entsteht, ist uns<br />

angenehm, während jener E<strong>in</strong>druck, der beim Anblick des Lasters entsteht,<br />

unangenehm ist. Das Bewußtse<strong>in</strong> der Tugend ist also unmittelbar mit<br />

Zufriedenheit oder Glück verbunden, und so läuft auch <strong>in</strong> der Ethik des<br />

moralischen Gefühls alles auf das Verlangen nach Glückseligkeit h<strong>in</strong>aus (vgl.<br />

ebd., 38).<br />

20 Für <strong>die</strong> Titel der Schriften Kants verwende ich folgende Abkürzungen:<br />

Grundlegung (= Grundlegung zur Metaphysik der Sitten); Kritik (= Kritik der<br />

praktischen Vernunft).<br />

21 Trotz der Differenzen zwischen Hutcheson und Hume ist aber auch <strong>die</strong> Ethik<br />

Humes von Kants Kritik des moralischen Gefühls betroffen.<br />

22 Das Streben nach Glückseligkeit kann nach Kant aber auch da der eigentliche<br />

Bestimmungsgrund des Willens se<strong>in</strong>, wo <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien der Sittlichkeit rationaler<br />

Natur s<strong>in</strong>d. So weist Kant den bei C. Wolff und bei den Stoikern vorkommenden<br />

Vernunftbegriff der Vollkommenheit (vgl. Kritik, 40) zurück, der se<strong>in</strong>er Ansicht<br />

nach nichts umfaßt als Talente und Geschicklichkeit des Menschen. Die sittliche<br />

Forderung nach höchster Vollkommenheit be<strong>in</strong>haltet daher nur <strong>die</strong> Ausbildung<br />

von Eigenschaften und Fähigkeiten, <strong>die</strong> zur Glückseligkeit des Individuums<br />

beitragen (vgl. ebd., 41). Ähnlich kritisiert Kant C. A. Crusius, der den<br />

theologischen Begriff e<strong>in</strong>es göttlichen, vollkommenen Willens zum sittlichen<br />

Pr<strong>in</strong>zip erhebt (vgl. ebd., 40). Denn auch Crusius’ Forderung nach e<strong>in</strong>er<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung mit dem Willen Gottes läuft letztlich auf <strong>die</strong> Glückseligkeit des<br />

Menschen h<strong>in</strong>aus (vgl. ebd., 41). Die Geme<strong>in</strong>samkeit der von Kant verworfenen<br />

rationalen Pr<strong>in</strong>zipien besteht dar<strong>in</strong>, daß der Wille jeweils durch e<strong>in</strong>en Gegenstand<br />

(<strong>die</strong> menschliche Vollkommenheit, den göttlichen Willen), nicht aber durch das<br />

Pr<strong>in</strong>zip des Wollens überhaupt bestimmt ist.<br />

23 Epikur ruft allerd<strong>in</strong>gs nicht zu e<strong>in</strong>em Leben der s<strong>in</strong>nlichen Ausschweifungen auf,<br />

da <strong>die</strong>ses stets Leiden zur Folge hat. Eigentliches Glück ist für ihn nicht durch das<br />

Erleben e<strong>in</strong>zelner Lust zu erreichen. Es entsteht vielmehr dann, wenn der Mensch<br />

e<strong>in</strong>e ausgeglichene Ruhe des Geistes (Ataraxie) erlangt. Das Streben nach Glück<br />

muß daher durch Vernunft geleitet se<strong>in</strong>.<br />

56


Dem Pr<strong>in</strong>zip des physischen Gefühls widerspricht nach Kant zunächst <strong>die</strong><br />

Erfahrung, denn unser Wohlbef<strong>in</strong>den richtet sich ke<strong>in</strong>eswegs nach dem<br />

Wohlverhalten. H<strong>in</strong>zu kommt, daß <strong>die</strong>ses Pr<strong>in</strong>zip den Unterschied zwischen<br />

e<strong>in</strong>em glücklichen und e<strong>in</strong>em guten Menschen verwischt. Vor allem aber<br />

kritisiert Kant, daß das Pr<strong>in</strong>zip des physischen Gefühls <strong>die</strong> Sittlichkeit<br />

untergräbt, <strong>in</strong>dem es <strong>die</strong> Motive tugend- und lasterhaften Handelns auf e<strong>in</strong>e<br />

Ebene stellt (vgl. Grundlegung, 442). Ebenso, wie das Pr<strong>in</strong>zip des physischen<br />

Gefühls, verwirft Kant das Pr<strong>in</strong>zip des moralischen Gefühls, obwohl er<br />

<strong>die</strong>ses höher schätzt, weil es immerh<strong>in</strong> der Tugend selbst e<strong>in</strong> unmittelbares<br />

Wohlgefallen zuschreibt (vgl. ebd., 442 f.). Gefühle können nach Kant ke<strong>in</strong>en<br />

gleichmäßigen Maßstab für Gut und Böse abgeben, da sie großen<br />

Schwankungen unterworfen s<strong>in</strong>d. H<strong>in</strong>zu kommt, daß sie nicht bei allen<br />

Individuen <strong>in</strong> gleicher Weise auftreten und somit nicht zu Urteilen von<br />

transsubjektiver Gültigkeit führen (vgl. ebd., 442). Kant ist davon überzeugt,<br />

daß das moralische Gefühl den Begriff von Moral bereits zur Voraussetzung<br />

hat, <strong>die</strong>sen jedoch nicht zu begründen vermag (vgl. Kritik, 38).<br />

Kant spricht dem physischen Gefühl e<strong>in</strong>e spezifisch moralische Qualität ab,<br />

und er bestreitet darüber h<strong>in</strong>aus, daß das moralische Gefühl der eigentliche<br />

Ursprung unserer moralischen Urteile ist. Vor allem aber wendet er gegen<br />

<strong>die</strong> auf empirischen Pr<strong>in</strong>zipien beruhenden Moralvorstellungen e<strong>in</strong>, daß der<br />

Wille hier durch e<strong>in</strong>en Gegenstand bestimmt wird, der weder sicher<br />

def<strong>in</strong>iert noch für alle vernünftigen Wesen überhaupt als gegeben<br />

angenommen werden kann. So haben wir nur e<strong>in</strong>e unklare Erkenntnis<br />

dessen, was Glückseligkeit ist, denn <strong>die</strong> Urteile darüber, was <strong>die</strong>se<br />

ausmacht, fallen von Individuum zu Individuum sehr verschieden aus, und<br />

sogar dasselbe Individuum urteilt niemals gleich. Auch kann das Streben<br />

nach Glück nicht bei jedem vernünftigen Wesen als gegeben vorausgesetzt<br />

werden, so z.B. nicht bei Gott, der <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht vollkommen ist. Sofern<br />

also der Wille durch empirische Pr<strong>in</strong>zipien bestimmt wird, hat er e<strong>in</strong> Objekt<br />

zum Bestimmungsgrund, dessen subjektive Bed<strong>in</strong>gung <strong>die</strong> menschlichen<br />

Neigungen s<strong>in</strong>d.<br />

Kants Kritik an der empirischen Moralbegründung ist e<strong>in</strong>e Kritik an der<br />

Heteronomie, d.h. an der Fremdgesetzlichkeit des Willens, und <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

H<strong>in</strong>sicht stimmt sie ganz mit se<strong>in</strong>er Kritik an den rationalen Moralpr<strong>in</strong>zipien<br />

der Tradition übere<strong>in</strong> 24 . E<strong>in</strong>e Heteronomie des Willens liegt stets dann vor,<br />

wenn <strong>die</strong>ser auf e<strong>in</strong> Objekt gerichtet ist, das ihm <strong>die</strong> Regel vorschreibt, wenn<br />

also der Wille sich nicht selbst <strong>die</strong> Regel gibt (vgl. Grundlegung, 441). E<strong>in</strong><br />

heteronom bestimmter Wille gelangt nur zu hypothetischen, d.h. bed<strong>in</strong>gten<br />

Geboten oder Imperativen, deren Verb<strong>in</strong>dlichkeit davon abhängt, daß ich<br />

e<strong>in</strong> bestimmtes Objekt will. Kant unterscheidet zwei Arten von<br />

hypothetischen Imperativen, <strong>die</strong> jeweils „<strong>die</strong> praktische Nothwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />

möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will“ (ebd., 414)<br />

vorstellen: <strong>die</strong> Imperative der Geschicklichkeit und <strong>die</strong> Vorschriften der<br />

24 vgl. oben, 56, Anm. 22.<br />

57


Klugheit. Imperative der Geschicklichkeit s<strong>in</strong>d Gebote, <strong>die</strong> etwas befehlen,<br />

das zu e<strong>in</strong>er möglichen Absicht (z.B. dem Bau e<strong>in</strong>es Hauses) gut ist. Sie<br />

beziehen sich also auf solche Zwecke, von denen wir nicht sicher sagen<br />

können, daß sie wirkliche Zwecke e<strong>in</strong>es Willens s<strong>in</strong>d, und sie gebieten<br />

Handlungen, <strong>die</strong> erforderlich s<strong>in</strong>d, um <strong>die</strong>se Zwecke zu erreichen.<br />

Imperative der Geschicklichkeit s<strong>in</strong>d daher problematisch-praktische<br />

Pr<strong>in</strong>zipien (vgl. ebd., 415), und sie setzen e<strong>in</strong> Wissen voraus, das technisch<strong>in</strong>strumenteller<br />

Art ist. E<strong>in</strong> Imperativ der Geschicklichkeit könnte<br />

beispielsweise lauten: Wenn du dir e<strong>in</strong> Haus bauen willst, mußt du sparen.<br />

Anders verhält es sich mit den Vorschriften der Klugheit. Diese s<strong>in</strong>d<br />

assertorisch-praktische Pr<strong>in</strong>zipien (vgl. ebd., 415), denn sie beziehen sich auf<br />

e<strong>in</strong>e Absicht, <strong>die</strong> man bei allen vernünftigen Wesen, sofern sie endlich s<strong>in</strong>d,<br />

als wirklich voraussetzen kann: <strong>die</strong> Absicht auf Glückseligkeit. Vorschriften<br />

der Klugheit haben dennoch e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren Grad an Verb<strong>in</strong>dlichkeit, als<br />

<strong>die</strong> Imperative der Geschicklichkeit. Denn es ist schwierig zu sagen, wor<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Individuum jeweils se<strong>in</strong>e Glückseligkeit f<strong>in</strong>det, und so haben <strong>die</strong><br />

Vorschriften der Klugheit letztlich nur den Charakter von Ratschlägen (vgl.<br />

ebd., 416).<br />

Wegen ihrer Abhängigkeit von Objekten, <strong>die</strong> nicht von allen vernünftigen<br />

Wesen erstrebt werden, haben Imperative der Geschicklichkeit und<br />

Vorschriften der Klugheit nach Kant nicht den Charakter sittlicher Gebote.<br />

E<strong>in</strong> Imperativ der Sittlichkeit gebietet e<strong>in</strong>e für sich selbst notwendige<br />

Handlung, <strong>die</strong> durch ke<strong>in</strong>en anderen Zweck bed<strong>in</strong>gt ist, er gebietet<br />

kategorisch, d.h. unbed<strong>in</strong>gt. Das moralische Gesetz hat also ke<strong>in</strong>e materiale<br />

Bed<strong>in</strong>gung, <strong>die</strong> von der Beschaffenheit der menschlichen Natur und von den<br />

Umständen des Handelns <strong>in</strong> der Welt abh<strong>in</strong>ge. Zwar ist jedes Wollen auf<br />

e<strong>in</strong>en Gegenstand gerichtet, und ohne Zwecke würden wir überhaupt nicht<br />

handeln. Die Gegenstände dürfen jedoch nicht zum Kriterium für <strong>die</strong><br />

Moralität e<strong>in</strong>er Handlung erhoben werden, und sie dürfen auch nicht der<br />

Bestimmungsgrund des Willens se<strong>in</strong>, soll <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>e moralische Qualität<br />

haben. E<strong>in</strong>e Handlung der Nächstenliebe z.B. kann nicht moralisch genannt<br />

werden, wenn das natürliche Bedürfnis nach dem Wohlbef<strong>in</strong>den des<br />

anderen der Bestimmungsgrund des Willens ist, denn e<strong>in</strong> solches Bedürfnis<br />

kann nicht bei jedem vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden (vgl. Kritik,<br />

34) 25 . Das moralische Gesetz, anderer Glückseligkeit zu fördern, entspr<strong>in</strong>gt<br />

somit nicht der Voraussetzung, daß Glückseligkeit e<strong>in</strong> Objekt für jeden<br />

Willen ist, sondern es hat se<strong>in</strong>en Grund <strong>in</strong> der Übere<strong>in</strong>stimmung mit dem<br />

25 Als e<strong>in</strong>en möglichen Bestimmungsgrund des moralischen Willen schließt Kant <strong>die</strong><br />

Neigungen konsequent aus; vgl. unten, 61 f. Die Rigorosität, mit der er dabei<br />

zuweilen <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen für andere zurückweist, verliert sich jedoch <strong>in</strong> der<br />

Metaphysik der Sitten. Kant fordert hier <strong>die</strong> Kultivierung von Mitleid und Liebe,<br />

sei es, um <strong>die</strong> menschliche Schwäche im H<strong>in</strong>blick auf das moralische Handeln<br />

auszugleichen, sei es, um zu e<strong>in</strong>er Vervollkommnung der Welt beizutragen; vgl.<br />

Metaphysik der Sitten, 457 f. Als Bestimmungsgrund e<strong>in</strong>es moralischen Willen<br />

kommen <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen aber auch jetzt nicht <strong>in</strong> Frage.<br />

58


kategorischen Imperativ, welcher nicht den Gegenstand, sondern <strong>die</strong> bloße<br />

Form des Wollens, <strong>die</strong> Ges<strong>in</strong>nung, betrifft. Ich werde im folgenden<br />

darstellen, wie Kant <strong>in</strong> der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorgeht, um<br />

das oberste Pr<strong>in</strong>zip der Moral, den kategorischen Imperativ, aufzusuchen<br />

und näher zu bestimmen 26 .<br />

Kant setzt im ersten Abschnitt se<strong>in</strong>er Schrift bei der „geme<strong>in</strong>en sittlichen<br />

Vernunfterkenntniß“ (Grundlegung, 392) an, um von hier aus zu deren<br />

moralischen Bestimmungsgrund zu gelangen. Obwohl er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von dem Faktum der moralischen<br />

Erfahrung im gewöhnlichen Leben ausgeht, fällt er nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Empirismus zurück, wie er der Ethik Humes zu Grunde liegt. Kant fragt<br />

nicht nach den Merkmalen von Tugend und Laster, um sodann auf <strong>die</strong><br />

Pr<strong>in</strong>zipien der menschlichen Natur zu schließen, <strong>die</strong> uns das e<strong>in</strong>e billigen<br />

und das andere mißbilligen lassen. Er setzt vielmehr voraus, daß <strong>in</strong> allen<br />

unseren moralischen Urteilen e<strong>in</strong> apriorisches Element enthalten ist, das sich<br />

durch e<strong>in</strong>e Analyse des Begriffs des moralisch Guten von den empirischen<br />

Elementen trennen und isoliert betrachten läßt. Kant setzt deshalb <strong>die</strong> im<br />

Verlauf se<strong>in</strong>er Analyse entdeckten Pr<strong>in</strong>zipien nicht dogmatisch fest, sondern<br />

er rekurriert auf <strong>die</strong> Wirklichkeit des moralischen Bewußtse<strong>in</strong>s (vgl.<br />

Kaulbach: 1988, IX f.).<br />

Trotz des Stellenwerts, den Kant der gewöhnlichen moralischen Erfahrung<br />

zuweist, beg<strong>in</strong>nt der erste Abschnitt se<strong>in</strong>er Grundlegung nicht etwa mit e<strong>in</strong>er<br />

ausführlichen Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit der Moral. Der<br />

erste Satz führt vielmehr unmittelbar den Grundgedanken der Schrift e<strong>in</strong>:<br />

„Es ist überall nichts <strong>in</strong> der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken<br />

möglich, was ohne E<strong>in</strong>schränkung für gut könnte gehalten werden, als alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

guter Wille.“ (Grundlegung, 393). Anderes, wie z.B. <strong>die</strong> „ Talente des Geistes“ ,<br />

„Eigenschaften des Temperaments“ oder „Glücksgaben “ (ebd.) ist nach Kant<br />

nur relativ gut, denn es kann e<strong>in</strong> schlechter Gebrauch davon gemacht<br />

werden. Auch hat es se<strong>in</strong>en Wert nicht <strong>in</strong> sich selbst, sondern ist gut nur <strong>in</strong><br />

bezug auf e<strong>in</strong>en anderen Zweck (<strong>die</strong> Glückseligkeit). Zur Bestätigung se<strong>in</strong>er<br />

Auffassung verweist Kant darauf, daß e<strong>in</strong> unparteiischer Beobachter niemals<br />

Zufriedenheit angesichts des Wohllebens solcher Menschen empf<strong>in</strong>det,<br />

denen jeder gute Wille fehlt. Des Glückes würdig sche<strong>in</strong>t also nur derjenige,<br />

der e<strong>in</strong>en guten Willen hat (ebd., 28). Kant spricht auch solchen<br />

Eigenschaften jeden moralischen Wert ab, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Tradition als Tugenden<br />

hoch geschätzt wurden. Denn auch „Mäßigung <strong>in</strong> Affecten und Leidenschaften “ ,<br />

26 Ich beziehe mich im folgenden auf <strong>die</strong> Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,<br />

<strong>in</strong> der es Kant primär um den Aufweis der apriorischen Quellen der Moral und<br />

um <strong>die</strong> Anwendung des obersten Moralpr<strong>in</strong>zips geht. Die Kritik der praktischen<br />

Vernunft macht demgegenüber e<strong>in</strong>e Reihe komplizierter Zusatzüberlegungen<br />

erforderlich, <strong>die</strong> das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft<br />

betreffen, denn sie ordnet Kants Moralphilosophie auch <strong>in</strong> den größeren<br />

Zusammenhang se<strong>in</strong>er kritischen Philosophie e<strong>in</strong>.<br />

59


„Selbstbeherrschung “ und „nüchterne Überlegung “ (ebd., 394) können schlechte<br />

Folgen zeitigen, wo der Wille nicht mit dem moralischen Gesetz<br />

übere<strong>in</strong>stimmt. Ohne e<strong>in</strong>en guten Willen können <strong>die</strong> genannten<br />

Eigenschaften <strong>die</strong> Schlechtigkeit von Menschen sogar noch steigern, denkt<br />

man an Verbrecher, denen Kaltblütigkeit sehr zugute kommt (vgl. ebd.) 27 .<br />

Nur der gute Wille ist nicht <strong>in</strong> der Weise gut wie e<strong>in</strong> Mittel, das e<strong>in</strong>em<br />

Zweck <strong>die</strong>nt, sondern er hat se<strong>in</strong>en moralischen Wert <strong>in</strong> sich selbst. Der gute<br />

Wille ist absolut gut, und zwar sogar dann, wenn er auf Grund se<strong>in</strong>es<br />

ger<strong>in</strong>gen Vermögens oder ungünstiger Umstände vielleicht nicht <strong>in</strong> der Lage<br />

ist, e<strong>in</strong>e moralisch geforderte Handlung umzusetzen. Kants Ethik erweist<br />

sich hier als Ges<strong>in</strong>nungsethik, <strong>die</strong> nicht den Erfolg e<strong>in</strong>er Handlung beurteilt,<br />

sondern das ihr zu Grunde liegende Wollen 28 . Der gute Wille wäre nach<br />

Kant jedoch falsch verstanden, würde man sich se<strong>in</strong> Wollen als e<strong>in</strong> bloßes<br />

Wünschen denken (vgl. Grundlegung, 394). Die moralische Ges<strong>in</strong>nung<br />

schließt e<strong>in</strong> Streben nach der Realisierung des moralisch Gebotenen e<strong>in</strong>, und<br />

so umfaßt der gute Wille „<strong>die</strong> Aufbietung aller Mittel, so weit sie <strong>in</strong> unserer<br />

Gewalt s<strong>in</strong>d“ (ebd.). Denn der gute Wille ist zwar „das höchste Gut “ , nicht aber<br />

„das e<strong>in</strong>zige und das ganze “ (ebd., 396).<br />

Um nun den Begriff e<strong>in</strong>es an sich selbst guten Willens zu entwickeln, greift<br />

Kant auf den Begriff der Pflicht oder des Sollens zurück, der beim Menschen<br />

mit dem Begriff des guten Willens zusammenhängt. Denn dem<br />

menschlichen Willen entstehen aus s<strong>in</strong>nlich bed<strong>in</strong>gten Empf<strong>in</strong>dungen und<br />

Wünschen H<strong>in</strong>dernisse, d.h. er ist ke<strong>in</strong> notwendig moralischer Wille,<br />

sondern er kann sich auch durch Neigungen bestimmen lassen 29 . Kant<br />

erörtert drei Möglichkeiten des menschlichen Willens, sich für moralisch<br />

27 Kants Tugendbegriff ist damit deutlich enger als der Humes; vgl. oben, 49, Anm.<br />

60<br />

11.<br />

28 M. Weber unterscheidet zwischen dem Typus der Ges<strong>in</strong>nungsethik und dem<br />

Typus der Verantwortungsethik. Besteht für <strong>die</strong> Ges<strong>in</strong>nungsethik das wesentlich<br />

Gute e<strong>in</strong>er Handlung im Pr<strong>in</strong>zip des Wollens selbst, so erhält <strong>in</strong> der<br />

Verantwortungsethik der Erfolg der Handlung moralische Bedeutung, wobei<br />

jedoch alles darauf ankommt, daß <strong>die</strong> zu erwartenden Folgen nicht nur dem<br />

Handelnden selbst nützen; vgl. Der S<strong>in</strong>n der „Wertfreiheit “ der soziologischen<br />

und ökonomischen Wissenschaften, 467 u. 476. Die Unterscheidung zwischen<br />

Ges<strong>in</strong>nungs- und Verantwortungsethik erhält ihre Bedeutung vor allem im<br />

H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Politik. Denn der Politiker hat nach Weber <strong>die</strong> Frage nach den<br />

Folgen e<strong>in</strong>er konkreten Handlung <strong>in</strong> das Zentrum se<strong>in</strong>er Gewissensentscheidung<br />

zu stellen; vgl. Politik als Beruf, 236 f.<br />

29 Der menschliche Wille unterscheidet sich hier vom göttlichen Willen, der durch<br />

<strong>die</strong> Vernunft „unausbleiblich bestimmt “ (ebd., 412) wird. Der göttliche Wille ist<br />

somit „e<strong>in</strong> Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was <strong>die</strong> Vernunft unabhängig<br />

von der Neigung als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt.“ (ebd.) So<br />

kommt es, daß für den göttlichen Willen jene Handlungen, <strong>die</strong> er als objektiv<br />

notwendig erkennt, auch subjektiv notwendig s<strong>in</strong>d.


Gefordertes zu entscheiden, und er charakterisiert den guten Willen als jene<br />

Verfassung des Willens, <strong>in</strong> welcher e<strong>in</strong>e Handlung aus Pflicht geschieht.<br />

Kant führt zunächst pflichtmäßige Handlungen an, zu denen wir ke<strong>in</strong>e<br />

unmittelbare Neigung haben, sondern <strong>die</strong> auf e<strong>in</strong>er anderen Neigung<br />

beruhen. Um <strong>die</strong>sen Typus von Handlungen zu illustrieren, verweist er auf<br />

das Beispiel e<strong>in</strong>es Kaufmanns, der e<strong>in</strong>en unerfahrenen Kunden nicht<br />

übervorteilt, weil er auf se<strong>in</strong>en guten Ruf und somit auf se<strong>in</strong>en eigenen<br />

Vorteil bedacht ist. Dieser Kaufmann wird nicht unmittelbar durch<br />

Nächstenliebe getrieben, sondern se<strong>in</strong>e Handlung ist durch <strong>die</strong> Neigung der<br />

Selbstliebe motiviert. Der Kaufmann handelt pflichtmäßig, denn auch das<br />

moralische Gesetz verlangt von ihm, den Kunden gerecht zu behandeln.<br />

Se<strong>in</strong>e Handlung hat jedoch ke<strong>in</strong>en moralischen Wert, denn sie erfolgte nicht<br />

deshalb, weil sie durch das moralische Gesetz geboten wird.<br />

Auch auf Grund unmittelbarer Neigungen kann sich der menschliche Wille<br />

entschließen, moralisch Gefordertes zu tun, aber auch <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Falle ist <strong>die</strong><br />

Handlung nur pflichtmäßig, besitzt also ke<strong>in</strong>e moralische Qualität. E<strong>in</strong>e<br />

Handlung z.B., <strong>die</strong> <strong>die</strong> Erhaltung des eigenen Lebens zum Zweck hat, kann<br />

auf der Neigung der Selbsterhaltung beruhen. Wir werden deshalb erst dann<br />

annehmen, daß sie moralisch motiviert ist, wenn sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation<br />

vollzogen wird, <strong>in</strong> der der Handelnde ke<strong>in</strong>en Geschmack mehr am Leben<br />

f<strong>in</strong>det 30 . Denn <strong>die</strong> Handlung wird nun nicht aus Neigung geschehen,<br />

sondern alle<strong>in</strong> aus Pflicht. Das Kriterium e<strong>in</strong>er moralischen Handlung ist<br />

also nicht ihre Pflichtmäßigkeit, denn auch Handlungen, <strong>die</strong> aus Neigung<br />

geschehen, können pflichtmäßig se<strong>in</strong>. Von den beiden Arten pflichtmäßigen<br />

Handelns, denen Neigungen zu Grunde liegen, hebt Kant daher das<br />

Handeln des guten Willens ab. Dieses ist e<strong>in</strong> Handeln aus Pflicht, d.h. das<br />

moralisch Geforderte wird aus e<strong>in</strong>er Ges<strong>in</strong>nung der Pflicht heraus getan<br />

(vgl. 397 ff.) 31 .<br />

Kant entfaltet den Begriff e<strong>in</strong>es guten Willens <strong>in</strong> drei Sätzen über <strong>die</strong> Pflicht,<br />

aus denen schließlich auch der kategorische Imperativ hervorgeht. Der erste<br />

Satz, den Kant nicht explizit als solchen aufstellt, resultiert aus se<strong>in</strong>er<br />

Betrachtung der verschiedenen Möglichkeiten des menschlichen Willens,<br />

sich für e<strong>in</strong>e moralisch geforderte Handlung zu entscheiden: E<strong>in</strong>e Maxime,<br />

30 In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß Kant im zweiten Abschnitt se<strong>in</strong>er<br />

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten e<strong>in</strong> absolutes Verbot des Selbstmords<br />

aus Überdruß am Leben zu begründen versucht; vgl. ebd., 421 f. u. 429.<br />

31 Allerd<strong>in</strong>gs werden wir weder von uns selbst noch von anderen jemals sicher<br />

sagen können, e<strong>in</strong>e Handlung sei re<strong>in</strong> aus Pflicht erfolgt (vgl. ebd., 406 f.). Denn<br />

wir müssen immer damit rechnen, daß e<strong>in</strong> „geheimer Antrieb der Selbstliebe<br />

unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee [der Pflicht; d. Verf.] <strong>die</strong> eigentliche<br />

bestimmende Ursache des Willens gewesen sei“ (ebd., 407).<br />

61


d.h. e<strong>in</strong> subjektives Pr<strong>in</strong>zip des Wollens 32 , hat nur dann e<strong>in</strong>en moralischen<br />

Wert, wenn sie den Entschluß zu e<strong>in</strong>er Handlung nicht aus Neigung,<br />

sondern aus Pflicht be<strong>in</strong>haltet (vgl. ebd., 398). Dieser Satz betrifft <strong>die</strong> formale<br />

Seite des Wollens, nicht <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Neigungen vorgegebenen Zwecke. Er<br />

besagt, daß e<strong>in</strong>e Maxime, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>er moralischen Handlung zu Grunde liegt,<br />

von der Art se<strong>in</strong> muß, daß sie <strong>die</strong>se Handlung will, weil sie moralisch<br />

gefordert ist. Aus dem ersten Satz ergibt sich der zweite Satz über <strong>die</strong><br />

Pflicht: „[...] e<strong>in</strong>e Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht <strong>in</strong> der<br />

Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern <strong>in</strong> der Maxime, nach der sie<br />

beschlossen wird“ (ebd., 399). Kant kommt hier auf <strong>die</strong> mit dem Willen<br />

verknüpften Zwecke zu sprechen. Machten sie den moralischen Wert e<strong>in</strong>er<br />

Handlung aus, so könnte <strong>die</strong>ser nicht dadurch geschmälert werden, daß <strong>die</strong><br />

Handlung auf Neigungen beruht. Die dem Willen zu Grunde liegenden<br />

Zwecke s<strong>in</strong>d aber für <strong>die</strong> moralische Beurteilung nicht relevant. Geschieht<br />

e<strong>in</strong>e Handlung aus Pflicht, so ordnet sich der Wille e<strong>in</strong>em formellen Pr<strong>in</strong>zip<br />

des Wollens unter, das alle se<strong>in</strong>e Maximen bestimmen kann. Aus den ersten<br />

beiden Sätzen folgert Kant den dritten Satz: „Pflicht ist <strong>die</strong> Nothwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>er Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ (ebd., 400)<br />

Der dritte Satz über <strong>die</strong> Pflicht deutet den Bestimmungsgrund e<strong>in</strong>es<br />

moralischen Willens an, das Gesetz. Auch führt er den Begriff der Achtung<br />

e<strong>in</strong>, deren Aufgabe es ist, zwischen e<strong>in</strong>em subjektiven Pr<strong>in</strong>zip des Handelns<br />

(Maxime) und dem objektiven Pr<strong>in</strong>zip (Gesetz) zu vermitteln, <strong>die</strong> Befolgung<br />

des Gesetzes also subjektiv notwendig zu machen. Kant bestimmt <strong>die</strong><br />

Achtung als e<strong>in</strong> durch Vernunft „ selbstgewirktes Gefühl“ (ebd., 401, Anm.),<br />

das aus der Betrachtung des Gesetzes resultiert. Die Achtung ist also ke<strong>in</strong><br />

natürlich gegebenes Gefühl, das auf der menschlichen S<strong>in</strong>nlichkeit beruht.<br />

Sie ist „das Bewußtse<strong>in</strong> der Unterordnung me<strong>in</strong>es Willens unter e<strong>in</strong>em Gesetze“<br />

oder <strong>die</strong> „Vorstellung von e<strong>in</strong>em Werthe, der me<strong>in</strong>er Selbstliebe Abbruch thut. “<br />

(ebd.) Die Achtung ist zu unterscheiden von Empf<strong>in</strong>dungen wie Neigung<br />

und Furcht, hat aber mit <strong>die</strong>sen auch etwas geme<strong>in</strong>sam. So ähnelt sie der<br />

Furcht, weil das Bewußtse<strong>in</strong>, dem Gesetz unterworfen zu se<strong>in</strong>, mit dem<br />

Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung me<strong>in</strong>er Selbstliebe verbunden ist. Sie hat<br />

zugleich e<strong>in</strong>e Ähnlichkeit mit der Neigung, denn das Gesetz ist uns „von uns<br />

selbst“ , obgleich „als an sich nothwendig “ , auferlegt, es ist „e<strong>in</strong>e Folge unsers<br />

Willens“ (ebd.). Kant spricht hier <strong>die</strong> Autonomie des Willens an. Danach ist<br />

der Wille e<strong>in</strong>es jeden vernünftigen Wesens so beschaffen, daß er sich selbst,<br />

unabhängig von allen möglichen Objekten, alle<strong>in</strong> durch se<strong>in</strong>e Form, e<strong>in</strong><br />

32 Kant geht davon aus, daß e<strong>in</strong> vernünftiges Wesen grundsätzlich nach Regeln<br />

handelt. Diese s<strong>in</strong>d entweder subjektiv oder objektiv gültig, d.h. sie gelten<br />

entweder nur für das Individuum oder für e<strong>in</strong> vernünftiges Wesen überhaupt.<br />

Die subjektiven, privaten Regeln der Individuen bezeichnet Kant als Maximen;<br />

vgl. ebd., 420 f.<br />

62


Gesetz des Handelns ist (vgl. ebd., 440). Der Wille ist also frei, d.h. er vermag<br />

sich alle<strong>in</strong> durch Beweggründe der Vernunft selbst zu bestimmen 33 .<br />

Doch was ist das für e<strong>in</strong> Gesetz, das sich der Wille selbst auferlegt und das<br />

ihn bestimmen muß, soll er „schlechterd<strong>in</strong>gs und ohne E<strong>in</strong>schränkung gut<br />

heißen“ (ebd., 402)? Nachdem Kant alle s<strong>in</strong>nlichen Bestimmungsgründe als<br />

moralisch irrelevant ausgeschlossen hat, bleibt nur „<strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />

Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt“ (ebd.), <strong>die</strong> dem Willen als<br />

moralisches Pr<strong>in</strong>zip <strong>die</strong>nen kann. Kant formuliert das Sittengesetz im ersten<br />

Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten daher wie folgt: „[...] ich<br />

soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, me<strong>in</strong>e Maxime<br />

solle e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gesetz werden.“ (ebd.). Hier ist e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zip gedacht,<br />

das nichts enthält als <strong>die</strong> Form e<strong>in</strong>es Gesetzes überhaupt und das im<br />

H<strong>in</strong>blick auf den Menschen den Charakter e<strong>in</strong>es Gebotes hat. Kant erläutert<br />

<strong>die</strong> Anwendung <strong>die</strong>ses Pr<strong>in</strong>zips anhand der Maxime: Wenn ich mich <strong>in</strong><br />

Verlegenheit bef<strong>in</strong>de, werde ich mich durch e<strong>in</strong> falsches Versprechen daraus<br />

befreien (vgl. ebd., 402 f.). Diese Maxime hat nur dann Bestand vor dem<br />

Sittengesetz, wenn sie selbst als e<strong>in</strong> Gesetz gedacht werden kann, das<br />

Gültigkeit für mich und für andere hat. Verwerflich ist <strong>die</strong> Maxime, wenn sie<br />

nicht verallgeme<strong>in</strong>erbar ist, denn sie paßt dann nicht als Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

mögliche allgeme<strong>in</strong>e Gesetzgebung. Nun lautet <strong>die</strong> oben formulierte<br />

Maxime gesetzartig verallgeme<strong>in</strong>ert: Jedermann soll sich durch e<strong>in</strong> falsches<br />

Versprechen aus e<strong>in</strong>er Verlegenheit befreien. Es ist leicht zu erkennen, daß<br />

<strong>die</strong> gewählte Maxime als e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gesetz nicht möglich ist. Würde sie<br />

allgeme<strong>in</strong> gelten, so gäbe es ke<strong>in</strong>e Versprechen mehr, da jedes Vertrauen <strong>in</strong><br />

Versprechen zerstört wäre. In ihrer allgeme<strong>in</strong>en Form be<strong>in</strong>haltet <strong>die</strong> Maxime<br />

e<strong>in</strong>en Widerspruch im Wollen. Denn ich will, daß es Versprechen gibt, will<br />

aber zugleich falsche Versprechen, etwas also, was Versprechen unmöglich<br />

macht. Me<strong>in</strong>e Maxime ist ungültig, weil sie sich, gesetzartig verallgeme<strong>in</strong>ert,<br />

selbst zerstören müßte.<br />

Ausgehend von der allgeme<strong>in</strong>en sittlichen Vernunfterkenntnis ist Kant bis<br />

zum obersten Pr<strong>in</strong>zip der Moral gelangt, das <strong>die</strong> gewöhnliche<br />

Menschenvernunft „jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer<br />

Beurtheilung braucht.“ (ebd., 403) Der zweite Abschnitt der Grundlegung zur<br />

Metaphysik der Sitten beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>er Kritik an der populären<br />

Moralphilosophie, auf <strong>die</strong> Kant e<strong>in</strong>e Explikation se<strong>in</strong>er ‘Metaphysik der<br />

Sitten’ folgen läßt. Diese versteht sich als e<strong>in</strong>e Philosophie, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Grundlagen der Moral aus Begriffen a priori vorträgt, aus Begriffen also, <strong>die</strong><br />

alle<strong>in</strong> der Vernunft entstammen. Kant entfaltet das oberste Moralpr<strong>in</strong>zip<br />

nun <strong>in</strong> drei Formeln, von denen er <strong>die</strong> erste und <strong>die</strong> dritte sogar zweimal<br />

33 Kant unterscheidet <strong>in</strong> der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten e<strong>in</strong>en<br />

negativen Freiheitsbegriff, <strong>die</strong> Unabhängigkeit des Willens von der Nötigung<br />

durch s<strong>in</strong>nliche Antriebe, und e<strong>in</strong>en positiven Freiheitsbegriff, <strong>die</strong><br />

Selbstgesetzgebung oder Autonomie des Willens; vgl. ebd., 446 f.<br />

63


faßt 34 . Die erste Formel hebt auf <strong>die</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit des Sittengesetzes ab,<br />

wobei Kant <strong>die</strong> im ersten Abschnitt der Grundlegung gewählte Formulierung<br />

jetzt positiv wendet: „[...] handle nur nach derjenigen Maxime, durch <strong>die</strong> du<br />

zugleich wollen kannst, daß sie e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gesetz werde.“<br />

(Grundlegung, 421) In <strong>die</strong>sem Zusammenhang teilt Kant auch <strong>die</strong> Pflichten <strong>in</strong><br />

vollkommene und unvollkommene Pflichten e<strong>in</strong>, wobei er unter<br />

vollkommenen Pflichten solche versteht, <strong>die</strong> den Neigungen ke<strong>in</strong>erlei<br />

Spielraum lassen und somit ausnahmslos gelten, wie das Verbot des<br />

Selbstmords aus Überdruß am Leben oder <strong>die</strong> Pflicht der Wahrhaftigkeit<br />

(vgl. ebd., 421 f.). Die unvollkommenen Pflichten, wie z.B. <strong>die</strong> Pflicht der<br />

Entfaltung der eigenen Talente und <strong>die</strong> Pflicht zur Wohltätigkeit gegen<br />

andere (vgl. ebd., 422 f.), charakterisiert Kant als ver<strong>die</strong>nstliche Pflichten<br />

(vgl. ebd., 424) 35 . Fordert <strong>die</strong> erste Formel, daß wir uns vor jeder Handlung<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Rolle e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Gesetzgebers versetzen sollen, so denkt Kant<br />

mit der zweiten Formel den Menschen und überhaupt jedes vernünftige<br />

Wesen als e<strong>in</strong>en Zweck an sich selbst 36 . Die zweite Formel schließt damit<br />

aus, daß e<strong>in</strong> vernünftiges Wesen als e<strong>in</strong> bloßes Mittel zum beliebigen<br />

Gebrauch für e<strong>in</strong>en Willen betrachtet werden darf. Wollen wir unsere<br />

Maxime auf der Grundlage <strong>die</strong>ser Formel überprüfen, so müssen wir uns<br />

fragen, ob auch jedes andere vernünftige Wesen dem Zweck unserer<br />

Handlung zustimmen könnte (vgl. Grundlegung, 429 f.). Die dritte Formel<br />

enthält <strong>die</strong> ‘Idee’ des Willens aller vernünftigen Wesen als e<strong>in</strong>es Willens, der<br />

sich selbst das Gesetz gibt (vgl. ebd., 431), denkt also jedes vernünftige<br />

34 Die Entfaltung der Formeln ergibt sich aus den <strong>in</strong> der ersten Formel enthaltenen<br />

Implikationen. Sie resultiert aber auch aus der Frage nach der Form, nach dem<br />

Inhalt und nach der Synthesis von Form und Inhalt e<strong>in</strong>es gesetzmäßigen Wollens;<br />

vgl. ebd., 436, sowie Kaulbach: 1988, 94 ff. - Zu den verschiedenen Formeln des<br />

kategorischen Imperativs und ihrem Verhältnis zue<strong>in</strong>ander vgl. auch Fleischer:<br />

1964, 201-226.<br />

35 Vollkommene und unvollkommene Pflichten werden von Kant unterschiedlich<br />

begründet. Die pflichtwidrige Maxime e<strong>in</strong>er vollkommenen Pflicht enthält,<br />

gesetzartig verallgeme<strong>in</strong>ert, e<strong>in</strong>en Widerspruch, wie er oben am Beispiel des<br />

falschen Versprechens dargestellt wurde. Die pflichtwidrige Maxime e<strong>in</strong>er<br />

unvollkommenen Pflicht kann h<strong>in</strong>gegen als allgeme<strong>in</strong>es Gesetz gedacht werden.<br />

Es ist aber nach Kant dennoch unmöglich, sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Allgeme<strong>in</strong>heit zu wollen,<br />

weil e<strong>in</strong> solcher Wille sich selbst widersprechen würde. Denn e<strong>in</strong> vernünftiges<br />

Wesen will notwendig <strong>die</strong> Entfaltung aller se<strong>in</strong>er Vermögen, und es will ebenso<br />

notwendig Glückseligkeit und mit <strong>die</strong>ser zugleich solche Handlungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Glückseligkeit befördern; vgl. ebd., 422 f. u. 430.<br />

36 Wenn Kant im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ von e<strong>in</strong>em<br />

Zweck spricht, so handelt es sich um den objektiven oder absoluten Zweck, der <strong>in</strong><br />

dem allgeme<strong>in</strong>en Vernunftpr<strong>in</strong>zip des Willens selbst impliziert ist; vgl. hierzu<br />

Kaulbach: 1988, 74 f. Im Unterschied dazu beruhen <strong>die</strong> subjektiven Zwecke des<br />

Menschen, <strong>die</strong> oben als Grundlage der Moral zurückgewiesen wurden, auf<br />

Neigungen.<br />

64


Wesen als Subjekt der praktischen Gesetzgebung. Kant betrachtet <strong>die</strong><br />

verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs als Formeln e<strong>in</strong>es und<br />

desselben Gesetzes, <strong>die</strong> jeweils bestimmte, im Gesetz enthaltene<br />

Implikationen explizit machen (vgl. ebd., 436 f.). Für <strong>die</strong> sittliche Beurteilung<br />

von Handlungen verweist er jedoch auf <strong>die</strong> ‘strenge Methode’, <strong>die</strong> <strong>die</strong> erste<br />

Formel des Sittengesetzes gebietet (vgl. ebd., 437).<br />

Die Analysen im ersten und zweiten Abschnitt der Grundlegung zur<br />

Metaphysik der Sitten hatten den Zweck, das <strong>in</strong> unseren moralischen Urteilen<br />

enthaltene apriorische Element von den empirischen Elementen zu trennen<br />

und als solches zu entfalten. Im dritten Abschnitt der Schrift stellt sich Kant<br />

nun der Frage nach der objektiven Realität des kategorischen Imperativs,<br />

versucht also zu zeigen, wie e<strong>in</strong> solcher Imperativ für den Menschen, der<br />

se<strong>in</strong>er Natur nach auch Neigungen unterworfen ist, Verb<strong>in</strong>dlichkeit haben<br />

kann. Die Schwierigkeit <strong>die</strong>ses Unterfangens wird im Kontrast zu den<br />

hypothetischen Imperativen deutlich, deren objektiv vorgestellte<br />

Notwendigkeit sich auf e<strong>in</strong>en jeweils vorausgesetzten Zweck stützen kann.<br />

E<strong>in</strong> hypothetischer Imperativ (z.B. das Gebot, zu sparen) erhält se<strong>in</strong>e<br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit mit dem Wollen jenes Zwecks, aus dem er analytisch folgt<br />

(z.B. der Bau e<strong>in</strong>es Hauses). Im Unterschied dazu ist der kategorische<br />

Imperativ als e<strong>in</strong> „synthetisch-praktischer Satz a priori“ (ebd., 420) zu<br />

kennzeichnen. Den Charakter der Synthesis hat er, weil sich das durch ihn<br />

gebotene Handeln nicht analytisch aus dem Wollen e<strong>in</strong>es bestimmten<br />

Zwecks gew<strong>in</strong>nen läßt, sondern vielmehr unmittelbar als solches mit dem<br />

Willen verknüpft wird. H<strong>in</strong>zu kommt, daß der kategorische Imperativ mit<br />

unbed<strong>in</strong>gter Notwendigkeit gebietet. Er ist daher e<strong>in</strong> apriorischer Satz, denn<br />

aus der Erfahrung läßt sich nicht e<strong>in</strong>mal auf <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es Gesetzes<br />

schließen, das für alle vernünftigen Wesen überhaupt Gültigkeit hat (vgl.<br />

ebd., 408). In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten begründet Kant <strong>die</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit des Sittengesetzes für den Menschen über den Begriff der<br />

Freiheit (vgl. Fleischer: 1963, 389-397). Diese Begründung bleibt jedoch<br />

problematisch, und so denkt Kant <strong>die</strong> Unterwerfung des Willens unter den<br />

kategorischen Imperativ <strong>in</strong> der Kritik der praktischen Vernunft als e<strong>in</strong><br />

‘Faktum’, das mit dem ‘Faktum’ des Sittengesetzes selbst gegeben ist (vgl.<br />

ebd., 399 f.).<br />

Das Pr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>es schlechterd<strong>in</strong>gs guten Willen ist nach Kant der<br />

kategorische Imperativ, und e<strong>in</strong>e Handlung hat für ihn nur dann e<strong>in</strong>en<br />

moralischen Wert, wenn sie aus Achtung vor dem Sittengesetz geschieht.<br />

Mit se<strong>in</strong>er ersten Formel, <strong>die</strong> nach Kant für <strong>die</strong> sittliche Beurteilung von<br />

Handlungen Priorität hat, fordert der kategorische Imperativ nichts als <strong>die</strong><br />

Tauglichkeit e<strong>in</strong>er Maxime zu e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Gesetz. Der kategorische<br />

Imperativ gebietet re<strong>in</strong> formal, ist h<strong>in</strong>sichtlich der Objekte des Wollens also<br />

völlig unbestimmt. Gerade <strong>die</strong> Unabhängigkeit des Sittengesetzes von e<strong>in</strong>em<br />

Objekt, das dem Willen <strong>die</strong> Regel vorschreibt, gestattet es Kant, <strong>die</strong><br />

Unbed<strong>in</strong>gtheit des moralisch Gebotenen zu denken. Liegt <strong>die</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit der moralischen Normen <strong>in</strong> ihnen selbst, so s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se nicht<br />

dem Vorwurf des Relativismus ausgesetzt. Demgegenüber verwies Humes<br />

65


Ethik den moralisch Handelnden auf <strong>die</strong> subjektiven menschlichen Zwecke,<br />

<strong>die</strong> er pr<strong>in</strong>zipiell teilt. Das moralische Gefühl, für Hume Bed<strong>in</strong>gung<br />

moralischen Urteilens und Handelns, reagiert zustimmend nur auf solche<br />

Eigenschaften und Charaktere, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Zwecke fördern oder <strong>die</strong> dem<br />

Menschen ganz e<strong>in</strong>fach angenehm s<strong>in</strong>d. Die moralischen Normen der Ethik<br />

Humes haben somit e<strong>in</strong>e nur e<strong>in</strong>geschränkte Gültigkeit.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Vorteil der formalen Pflichtbestimmung Kants sche<strong>in</strong>t dar<strong>in</strong> zu<br />

liegen, daß sie <strong>die</strong> freie Willkür der Handelnden harmonisch zu<br />

koord<strong>in</strong>ieren vermag. Würde das Sittengesetz allgeme<strong>in</strong> befolgt, d.h.<br />

handelte jeder nur nach solchen Maximen, <strong>die</strong> sich gesetzartig<br />

verallgeme<strong>in</strong>ern lassen, so müßte daraus <strong>die</strong> systematische Verknüpfung der<br />

vielfältigen subjektiven Zwecke <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ‘Reich der Zwecke’ resultieren (vgl.<br />

Grundlegung, 433). Dies setzt jedoch voraus, daß sich anhand des geforderten<br />

Gedankenexperiments <strong>in</strong> wirklich jedem Fall klar entscheiden läßt, welche<br />

Handlung moralisch gefordert ist. Nun ergibt <strong>die</strong> kritische Betrachtung e<strong>in</strong>es<br />

berühmten Beispiels von Kant, daß sich für manche moralische Gesetze, <strong>die</strong><br />

auf der Basis des kategorischen Imperativs formuliert werden können, auch<br />

Alternativen denken lassen. Gesetzt, ich verfüge über e<strong>in</strong> Depositum, dessen<br />

Verwahrung mir niemand nachweisen kann. Wenn ich mich nun frage, ob<br />

ich <strong>die</strong>ses Depositum me<strong>in</strong>em eigenen Vermögen zuschlagen darf, so zeigt<br />

sich nach Kant ohne weiteres, daß e<strong>in</strong>e solche Maxime dem Sittengesetz<br />

widerspricht: sie kann als e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gesetz nicht bestehen, denn sie<br />

würde bewirken, daß es e<strong>in</strong> Depositum, wie das von mir verwahrte, gar<br />

nicht mehr gäbe (vgl. Kritik, 27). Tatsächlich vermag das von Kant geforderte<br />

Gedankenexperiment aber nicht mehr als <strong>die</strong> Selbstwidersprüchlichkeit<br />

e<strong>in</strong>es Wollens aufzudecken. Unbeantwortet bleibt dagegen <strong>die</strong> Frage, ob e<strong>in</strong><br />

Depositum überhaupt se<strong>in</strong> soll 37 .<br />

Die Unabhängigkeit der Ethik Kants von allen empirischen Inhalten<br />

möglicher Zwecksetzungen birgt also auch erhebliche Schwierigkeiten <strong>in</strong><br />

37 Vgl. hierzu auch G. W. F. Hegel, Über <strong>die</strong> wissenschaftlichen Behandlungsarten<br />

66<br />

des Naturrechts, 466 f. Hegel überzieht jedoch mit se<strong>in</strong>er Kritik an Kant, wenn<br />

er behauptet: „Aber jede Bestimmtheit ist fähig, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Begriffsform aufgenommen<br />

und als e<strong>in</strong>e Qualität gesetzt zu werden; und es giebt gar nichts, was nicht auf<br />

<strong>die</strong>se Weise zu e<strong>in</strong>em sittlichen Gesetz gemacht werden könnte.“ (ebd., 465 f.). Zur<br />

Pflicht der Wahrhaftigkeit z.B. ist ke<strong>in</strong>e vernünftige Alternative denkbar, denn<br />

würde <strong>die</strong> Lüge zum allgeme<strong>in</strong>en Gesetz erhoben, so würde <strong>die</strong>s jede<br />

Kommunikation unmöglich machen. Die Unbed<strong>in</strong>gtheit des Gebots der<br />

Wahrhaftigkeit wird allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> solchen Handlungssituationen zum Problem, <strong>in</strong><br />

denen mehrere moralische Grundnormen zu berücksichtigen s<strong>in</strong>d. Dies ist z.B.<br />

dann der Fall, wenn durch e<strong>in</strong>e Lüge Menschenleben gerettet werden könnten.<br />

Kant entscheidet hier zugunsten des Gebots der Wahrhaftigkeit, zumal der<br />

Ausgang e<strong>in</strong>er solchen Situation grundsätzlich ungewiß ist; vgl. Kants Schrift<br />

Über e<strong>in</strong> verme<strong>in</strong>tliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen. Befriedigender wäre<br />

es, Ausnahmen zu moralischen Geboten zuzulassen, <strong>die</strong> jedoch selbst moralisch<br />

gerechtfertigt se<strong>in</strong> müssen; vgl. hierzu Patzig: 1983, 159 ff. u. 164 f.


sich, und so wird man e<strong>in</strong>räumen müssen, daß <strong>die</strong> Überprüfung von<br />

Maximen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em privaten Gedankenexperiment nicht immer ausreicht, um<br />

moralische Entscheidungen zu treffen 38 . In vielen Fällen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Interessen<br />

aller von unseren Handlungen Betroffenen zu berücksichtigen. Auch werden<br />

wir häufig auf das gesicherte Erfahrungswissen der modernen<br />

Naturwissenschaften zurückgreifen müssen, um beurteilen zu können, ob<br />

e<strong>in</strong>e von uns <strong>in</strong>ten<strong>die</strong>rte Handlung allgeme<strong>in</strong> verantwortet werden kann.<br />

Das Problem des Kantschen Formalismus wird im zwanzigsten Jahrhundert<br />

u.a. von Hans Jonas wieder aufgegriffen. In se<strong>in</strong>em Pr<strong>in</strong>zip Verantwortung<br />

fordert Jonas e<strong>in</strong>en empirischen Gehalt der Ethik e<strong>in</strong>, hält aber zugleich an<br />

der Unbed<strong>in</strong>gtheit des moralischen Gesetzes fest, deren Notwendigkeit Kant<br />

dargelegt hatte. Jonas’ Ethik schreibt <strong>die</strong> moralische Relevanz der Belange<br />

der zukünftigen Menschen fest, und sie nimmt auch das empirische Wissen<br />

um <strong>die</strong> möglichen Folgen unserer Handlungen <strong>in</strong> den Katalog der moralisch<br />

gebotenen Pflichten mit auf. Jonas beansprucht allerd<strong>in</strong>gs nicht, e<strong>in</strong>e Ethik<br />

konzipiert zu haben, <strong>die</strong> alle Bereiche menschlichen Handelns umfaßt. Se<strong>in</strong>e<br />

Intention ist es, <strong>die</strong> traditionelle Ethik zu ergänzen, nicht aber, <strong>die</strong>se zu<br />

destruieren.<br />

3. Der ontologische Imperativ <strong>in</strong> Jonas’ Ethik<br />

In se<strong>in</strong>em Pr<strong>in</strong>zip Verantwortung 39 kritisiert Jonas <strong>die</strong> Ethik Kants 40 ,<br />

bezichtigt aber darüber h<strong>in</strong>aus <strong>die</strong> überlieferten moraltheoretischen Systeme<br />

überhaupt e<strong>in</strong>es Desiderats, welches e<strong>in</strong>e neue Ethik erforderlich mache.<br />

Jonas sieht <strong>die</strong> bisherige Ethik vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie<br />

<strong>die</strong> Sphäre moralisch bedeutsamen Handelns eng auf den unmittelbaren<br />

Umgang zwischen Menschen beschränkt. Die überlieferte Ethik ist<br />

anthropozentrisch, denn sie erstreckt sich nicht auf jene Handlungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

außermenschliche Welt (<strong>die</strong> Natur und den Bereich des Herstellens, der<br />

Technik) betreffen (vgl. Verantwortung, 22). H<strong>in</strong>zu kommt, daß sich <strong>die</strong><br />

Vorschriften der bisherigen Ethik nur auf Handlungen beziehen, <strong>die</strong><br />

Konsequenzen für „Teilhaber e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Gegenwart “ (ebd., 23) haben.<br />

38 Kant h<strong>in</strong>gegen unterstellt: „Was ich also zu thun habe, damit me<strong>in</strong> Wollen sittlich<br />

gut sei, dazu brauche ich gar ke<strong>in</strong>e weit ausholende Scharfs<strong>in</strong>nigkeit. Unerfahren<br />

<strong>in</strong> Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle desselben<br />

gefaßt zu se<strong>in</strong>, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, daß de<strong>in</strong>e Maxime e<strong>in</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>es Gesetz werde?“ (Grundlegung, 403)<br />

39 Der volle Titel des Buches lautet: Das Pr<strong>in</strong>zip Verantwortung. Versuch e<strong>in</strong>er<br />

Ethik für <strong>die</strong> technologische Zivilisation. Ich werde im folgenden stets den<br />

Kurztitel Verantwortung verwenden.<br />

40 Zu den Punkten, <strong>die</strong> speziell Kant betreffen, vgl. unten, 71 f.<br />

67


Die Begrenztheit der bisherigen Ethik führt Jonas darauf zurück, daß <strong>die</strong><br />

früheren Moraltheoretiker von der Unveränderlichkeit des menschlichen<br />

Wesens und der Natur der D<strong>in</strong>ge ausg<strong>in</strong>gen. Auf <strong>die</strong>ser Grundlage glaubten<br />

sie, das für den Menschen Gute „unschwer und e<strong>in</strong>sichtig “ (ebd., 15)<br />

feststellen zu können.<br />

Jonas ist davon überzeugt, daß <strong>die</strong> bisherige Ethik den Herausforderungen<br />

der modernen Welt nicht gerecht wird. Denn mit der technologischen<br />

Zivilisation haben sich <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen menschlichen Handelns<br />

grundlegend geändert. Auszugehen ist von der „räumlichen Ausbreitung und<br />

Zeitlänge der Kausalreihen, welche <strong>die</strong> technische Praxis, auch wenn für Nahzwecke<br />

unternommen, <strong>in</strong> Gang setzt.“ (ebd., 27) Handlungen im Zeitalter der<br />

Hochtechnologie zeichnen sich also durch e<strong>in</strong>e immens gesteigerte<br />

Größenordnung aus. H<strong>in</strong>zu kommen ihre „Unumkehrbarkeit “ und ihr<br />

„kumulativer Charakter “ , d.h. „ihre Wirkungen ad<strong>die</strong>ren sich, so daß <strong>die</strong> Lage für<br />

späteres Handeln und Se<strong>in</strong> nicht mehr <strong>die</strong>selbe ist wie für den anfänglich<br />

Handelnden“ (ebd.). Verändert sich zum e<strong>in</strong>en das Raum-Zeit-Gefüge und<br />

mit <strong>die</strong>sem „das Wesen menschlichen Handelns “ (ebd., 15), so ist zum anderen<br />

dem Phänomen des ‘kollektiven Täters’ Rechnung zu tragen (vgl. ebd, 32).<br />

Denn <strong>in</strong>dustrielles Herstellen vollzieht sich arbeitsteilig, und es hat zudem<br />

<strong>die</strong> Tendenz zu weltweiter Vernetzung. Jonas trifft daher <strong>die</strong> ethisch<br />

bedeutsame Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>em „Bereich kollektiven Tuns, <strong>in</strong> dem<br />

Täter, Tat und Wirkung nicht mehr <strong>die</strong>selben s<strong>in</strong>d wie <strong>in</strong> der Nahsphäre“ , und<br />

e<strong>in</strong>er Sphäre der „<strong>in</strong>timen Unmittelbarkeit “ (ebd., 26). Gelten für <strong>die</strong><br />

letztgenannte weiterh<strong>in</strong> Normen der bisherigen Ethik wie „Gerechtigkeit,<br />

Barmherzigkeit, Ehrlichkeit, usw.“ (ebd.) 41 , so ist <strong>die</strong> kollektive Praxis nach<br />

Jonas „für <strong>die</strong> ethische Theorie noch e<strong>in</strong> Niemandsland “ (ebd., 7). Denn <strong>die</strong><br />

überkommene Ethik wendete sich stets an das Individuum, und sie machte<br />

jeweils den e<strong>in</strong>zelnen Täter für se<strong>in</strong> Tun verantwortlich.<br />

Es ist daher Jonas’ Ziel, e<strong>in</strong>e Ethik für <strong>die</strong> kollektive Praxis (<strong>die</strong> <strong>in</strong>dustrielle<br />

Produktion, <strong>die</strong> Entwicklung neuer Technologien etc.) zu konzipieren. Diese<br />

muß e<strong>in</strong>e globale Dimension haben, und sie soll jene Handlungen regulieren,<br />

deren Langzeitwirkungen Risiken für <strong>die</strong> Zukunft des Menschen und der<br />

Welt <strong>in</strong> sich bergen. Im Unterschied zur Ethik Kants erhalten daher bei Jonas<br />

<strong>die</strong> Folgen von Handlungen e<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert (vgl. ebd., 37), und<br />

so kommt es, daß auch das prognostische Wissen zu e<strong>in</strong>er, ja der<br />

„vordr<strong>in</strong>glichen Pflicht “ (ebd., 28) wird. Dieses Wissen muß der Reichweite<br />

unserer Handlungen entsprechen, e<strong>in</strong>e Forderung, <strong>die</strong> unerfüllbar ist,<br />

bedenkt man, daß technisches Handeln zunächst immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation<br />

stattf<strong>in</strong>det, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Erfahrung von den Folgen noch fehlt. Jonas erklärt<br />

daher <strong>die</strong> „Anerkennung der Unwissenheit “ (ebd.) zu e<strong>in</strong>em Bestandteil se<strong>in</strong>er<br />

41 Jonas’ E<strong>in</strong>schränkung des Geltungsbereichs der genannten Tugenden auf <strong>die</strong><br />

Sphäre des privaten Handelns ist nicht ganz nachvollziehbar. Immerh<strong>in</strong> könnte<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>ternationale Beachtung von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Ehrlichkeit<br />

weltweit manche Katastrophen abwenden.<br />

68


Ethik 42 . Er geht aber auch <strong>in</strong>sofern über <strong>die</strong> bisherige Moralphilosophie<br />

h<strong>in</strong>aus, als er deren anthropozentrische Beschränkung überw<strong>in</strong>den will.<br />

Jonas glaubt, daß wir der Natur gegenüber unmittelbar, d.h. unabhängig<br />

davon, daß wir sie brauchen, verpflichtet s<strong>in</strong>d. Er beabsichtigt deshalb zu<br />

zeigen, daß wir nicht nur den Menschen, sondern auch <strong>die</strong> Natur als e<strong>in</strong>en<br />

Zweck an sich selbst anzuerkennen haben (vgl. ebd., 29) 43 . Jonas’ Ethik<br />

wendet sich schließlich an den ‘kollektiven Täter’, d.h. ihr Adressat ist <strong>die</strong><br />

öffentliche Politik, nicht aber das private Verhalten (vgl. Verantwortung, 32 u.<br />

37) 44 .<br />

Die Dr<strong>in</strong>glichkeit e<strong>in</strong>er Ethik vom Zuschnitt der Jonasschen wird deutlich,<br />

wenn man bedenkt, welch konkreten Risiken wir schon heute durch <strong>die</strong><br />

neuen Technologien ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Die veränderten Bed<strong>in</strong>gungen<br />

menschlichen Handelns haben dazu geführt, daß wir nur noch schwer <strong>die</strong><br />

Folgen unseres Tuns abschätzen können. H<strong>in</strong>zu kommt, daß sich durch den<br />

Zuwachs an Mitteln und Macht immer mehr Zwecke realisieren lassen, über<br />

deren Verantwortbarkeit erst noch zu entscheiden ist. Die <strong>in</strong>zwischen<br />

erkennbaren Gefahren betreffen den Menschen und <strong>die</strong> Natur<br />

gleichermaßen. Es ist heute klar, daß <strong>die</strong> menschlichen E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> <strong>die</strong> Natur<br />

zu e<strong>in</strong>er vollständigen Zerstörung des Ökosystems und der Biosphäre<br />

führen können (vgl. ebd., 26 f.). Schon jetzt haben wir <strong>die</strong> Erde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Weise zersiedelt und okkupiert, daß es ke<strong>in</strong>en Unterschied mehr zwischen<br />

„dem Künstlichen und dem Natürlichen “ (ebd., 33) zu geben sche<strong>in</strong>t. Aber auch<br />

der Mensch selbst ist zu e<strong>in</strong>em Objekt der modernen Technik geworden, wie<br />

<strong>die</strong> heutigen Möglichkeiten der Lebensverlängerung, der<br />

42 Aus der Unsicherheit des prognostischen Wissens leitet Jonas später <strong>die</strong><br />

„praktische Vorschrift “ ab, „der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben<br />

[...] als der Heilsprophezeiung.“ (ebd., 70) Jonas formuliert weitere spezielle<br />

Tugenden und Pflichten, <strong>die</strong> sich aus der veränderten Natur des menschlichen<br />

Handelns und dem unsicheren prognostischen Wissen ergeben, so z.B. <strong>die</strong><br />

Haltung der Demut angesichts unserer heutigen Macht (vgl. ebd., 55), das „Gebot<br />

der Bedächtigkeit“ (ebd., 71) und <strong>die</strong> Pflicht zur „Wachsamkeit über <strong>die</strong> Anfänge “<br />

(ebd., 72).<br />

43 Der Begriff des Zwecks an sich ist bedeutsam <strong>in</strong> Kants Ethik (vgl. oben, 64), aber<br />

auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Naturphilosophie. Kant unterscheidet zwischen Zwecken, <strong>die</strong><br />

ihrerseits zugleich Mittel für e<strong>in</strong>en anderen Zweck s<strong>in</strong>d (bed<strong>in</strong>gte Zwecke), und<br />

dem Zweck an sich (letzter Zweck, Endzweck), der nicht um e<strong>in</strong>es anderen willen<br />

ist, sondern den Zweck se<strong>in</strong>er Existenz <strong>in</strong> sich selbst hat. Zweck an sich ist für<br />

Kant nur der Mensch als moralisches Wesen und als das e<strong>in</strong>zige Wesen, das<br />

Verstand besitzt und daher e<strong>in</strong>en zweckmäßigen Gebrauch von der Natur<br />

machen kann. Die Natur bestimmt Kant als e<strong>in</strong> System bed<strong>in</strong>gter Zwecke, <strong>die</strong><br />

wechselseitig aufe<strong>in</strong>ander h<strong>in</strong>geordnet s<strong>in</strong>d; vgl. Kritik der Urtheilskraft, 425 ff.<br />

44 Jonas sche<strong>in</strong>t mir hier <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividuelle Verantwortung <strong>in</strong> der Sphäre kollektiven<br />

Handelns allzusehr zu negieren! Zur Frage der Durchsetzbarkeit der Ethik Jonas’<br />

über <strong>die</strong> Politik vgl. Fleischer: 1993, 158 ff.<br />

69


Verhaltenskontrolle und der genetischen Manipulation zeigen, <strong>die</strong> wir<br />

ke<strong>in</strong>eswegs une<strong>in</strong>geschränkt bejahen können (vgl. ebd., 47 ff.). Gefahren<br />

bergen <strong>die</strong> modernen Technologien aber auch dann für den Menschen, wenn<br />

er nicht zu deren Objekt wird. Die ethische Relevanz der Technologien ergibt<br />

sich nach Jonas alle<strong>in</strong> daraus, daß sich der heutige Mensch primär als ‘homo<br />

faber’ und kaum noch als ‘homo sapiens’ versteht (vgl. ebd., 31). Im<br />

Mittelpunkt se<strong>in</strong>es Lebens stehe das Gel<strong>in</strong>gen des technischen Handelns,<br />

woh<strong>in</strong>gegen <strong>die</strong> Frage nach den obersten Lebenszwecken, <strong>die</strong> traditionell<br />

den weisen Menschen auszeichnet, kaum noch gestellt werde.<br />

Dabei ist es <strong>die</strong> moderne Technik selbst, <strong>die</strong> <strong>die</strong> stete Aufmerksamkeit des<br />

Menschen geradezu erzw<strong>in</strong>gt. Schon zur Erhaltung des bereits Geschaffenen<br />

bedarf es immer neuer Erf<strong>in</strong>dungen und schöpferischer Phantasie. Die<br />

Technologien schlagen den Menschen aber auch deswegen <strong>in</strong> ihren Bann,<br />

weil er an ihnen se<strong>in</strong>en eigenen Erfolg erlebt (vgl. ebd., 31 f.). Jonas<br />

gewichtet <strong>die</strong>sen Punkt außerordentlich stark. Immer wieder weist er auf<br />

das Zwanghafte des technischen Handelns h<strong>in</strong> (vgl. ebd., 7 u. 54). So eignet<br />

<strong>die</strong>sem e<strong>in</strong>e „utopische Treibtendenz “ , gleich, „ob <strong>die</strong> ‘Utopie’ am Ende des Weges<br />

geplant oder ungeplant sei“ (ebd., 54). Menschheitsträume, <strong>die</strong> früher als e<strong>in</strong><br />

müßiger Utopismus abgetan werden konnten, haben sich heute „<strong>in</strong><br />

konkurrierende Entwürfe für ausführbare Projekte verwandelt“ (ebd.). Daneben<br />

haben wir mit e<strong>in</strong>em „ungewollten, mite<strong>in</strong>gebauten, automatischen Utopismus “<br />

(ebd.) zu rechnen, der sich aus dem oben erwähnten kumulativen Charakter<br />

heutigen Handelns ergibt. Beiden Arten des Utopismus sieht Jonas den<br />

Menschen nicht gewachsen, und so bestätigt sich an <strong>die</strong>sem Punkt der<br />

Analyse <strong>die</strong> Ausgangsthese se<strong>in</strong>es Buches, wonach „<strong>die</strong> Verheißung der<br />

modernen Technik <strong>in</strong> Drohung umgeschlagen ist“ (ebd., 7).<br />

In <strong>die</strong>ser Situation kann nach Jonas nur <strong>die</strong> „vorausgedachte Gefahr selber “<br />

(ebd.) den Weg weisen 45 , und sie soll uns zu e<strong>in</strong>em Imperativ führen, der<br />

45 Jonas spricht daher auch von e<strong>in</strong>er „‘Heuristik der Furcht’ “ (ebd., 8), d.h. <strong>die</strong><br />

Entdeckung des neuen ethischen Wissens vollzieht sich 1. über <strong>die</strong> „Beschaffung<br />

der Vorstellung von den Fernwirkungen“ (ebd., 64, Zwischenüberschrift) unserer<br />

Handlungen und 2. über <strong>die</strong> „Aufbietung des dem Vorgestellten angemessenen<br />

Gefühls“ (ebd., 65, Zwischenüberschrift). Weder <strong>die</strong> Vorstellung von den<br />

Fernwirkungen noch das dem Vorgestellten angemessene Gefühl stellen sich von<br />

selbst e<strong>in</strong>, und so handelt es sich hier um zwei ‘e<strong>in</strong>leitende Pflichten’, <strong>die</strong> ihre<br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit von Jonas’ ontologischem Imperativ her erhalten. Die Vorstellung<br />

von den Fernwirkungen ist eigens zu beschaffen, denn vorgestellt werden muß<br />

e<strong>in</strong> Übel, von dem wir noch ke<strong>in</strong>e Erfahrung haben. Auch ruft das vorgestellte<br />

Übel nicht im gleichen S<strong>in</strong>ne Furcht hervor, wie e<strong>in</strong> erfahrenes Übel. Das<br />

vorgestellte Geschick künftiger Menschen läßt uns e<strong>in</strong>e Furcht geistiger Art<br />

empf<strong>in</strong>den, ähnelt <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht also dem Gefühl der Achtung vor dem<br />

Sittengesetz bei Kant (vgl. oben, 62). Nachdem Jonas <strong>die</strong> e<strong>in</strong>leitenden Pflichten<br />

festgeschrieben hat, nähert er sich se<strong>in</strong>em ontologischen Imperativ im Rekurs auf<br />

das Element des Glücksspiels oder der Wette, das dem technologischen Handeln<br />

70


den Formalismus Kants überw<strong>in</strong>det. Jonas kritisiert den kategorischen<br />

Imperativ Kants, weil hier „<strong>die</strong> Grundüberlegung der Moral nicht selber<br />

moralisch, sondern logisch ist“ (ebd., 35). Jonas <strong>in</strong>terpretiert also Kants<br />

Imperativ so, als ob <strong>die</strong>ser nichts als <strong>die</strong> „logische Selbstverträglichkeit “ (ebd.)<br />

der Maxime und ihrer gesetzartigen Verallgeme<strong>in</strong>erung fordert 46 , e<strong>in</strong>e<br />

Regel, <strong>die</strong> ihm ungeeignet sche<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> Pflicht der zukünftigen Existenz der<br />

Menschheit zu begründen (vgl. Verantwortung, 35) 47 . Die Regel der<br />

Selbste<strong>in</strong>stimmigkeit der Vernunft rekurriert auf <strong>die</strong> bereits Lebenden, <strong>die</strong><br />

danach handeln sollen, und sie faßt ke<strong>in</strong>e realen Folgen von Handlungen <strong>in</strong>s<br />

Auge (vgl. Verantwortung, 37). Erst <strong>die</strong> Antizipation der Folgen unseres Tuns<br />

führt aber nach Jonas zu e<strong>in</strong>em Imperativ, der <strong>die</strong> Zukunft der Menschheit<br />

gebietet. E<strong>in</strong> solcher kann unterschiedlich formuliert werden, z.B. „‘Handle<br />

so, daß <strong>die</strong> Wirkungen de<strong>in</strong>er Handlung verträglich s<strong>in</strong>d mit der Permanenz echten<br />

menschlichen Lebens auf Erden’“ , oder auch „‘Schließe <strong>in</strong> de<strong>in</strong>e gegenwärtige<br />

Wahl <strong>die</strong> zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand de<strong>in</strong>es Wollens<br />

e<strong>in</strong>’“ (ebd., 36).<br />

Jonas’ Imperativ umfaßt <strong>die</strong> Pflicht zum Dase<strong>in</strong> und <strong>die</strong> Pflicht zum Sose<strong>in</strong><br />

des Menschen, d.h. er gebietet <strong>die</strong> Fortpflanzung der Gattung, aber auch <strong>die</strong><br />

Bewahrung des menschlichen Wesens (vgl. ebd., 86 ff.). Dieses Wesen,<br />

dessen Erhalt <strong>die</strong> Voraussetzung für e<strong>in</strong> ‘echtes’ menschliches Leben ist,<br />

sieht Jonas durch <strong>die</strong> „Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit “<br />

(ebd., 74) bestimmt. Er schreibt damit fest, daß der Mensch <strong>die</strong> Fähigkeit zur<br />

Erkenntnis besitzen, immer aber auch schon e<strong>in</strong> potentiell moralisches<br />

Wesen se<strong>in</strong> soll. Ebenso unwiderruflich gehört zur Natur des Menschen <strong>die</strong><br />

Freiheit zu allerlei Zwecken, ja sogar <strong>die</strong> Freiheit zur Ausrottung der eigenen<br />

Gattung und zur Zerstörung der Natur. Jonas’ Imperativ, der explizit nur<br />

<strong>die</strong> Zukunft des Menschen gebietet, schließt <strong>die</strong> Pflicht zur Zukunft der<br />

Natur mit e<strong>in</strong> (vgl. ebd., 245), und <strong>die</strong>s ke<strong>in</strong>eswegs bloß, weil der Mensch<br />

auf <strong>die</strong> Natur angewiesen ist. Die Natur hat für Jonas e<strong>in</strong> sittliches<br />

Eigenrecht, denn sie ist, wie der Mensch auch, als e<strong>in</strong> Zweck an sich selbst<br />

se<strong>in</strong>er unvorhersehbaren Nebenwirkungen wegen eignet (vgl. Verantwortung,<br />

76 ff.).<br />

46 Jonas’ Kritik greift hier sicher zu kurz, denn es geht Kant ja auch um e<strong>in</strong>en<br />

Widerspruch im Wollen, d.h. me<strong>in</strong>e Maxime hebt sich auch der Sache nach auf;<br />

vgl. oben, 63.<br />

47 Jonas’ E<strong>in</strong>schätzung der Ethik Kants ist hier problematisch. Denn der kategorische<br />

Imperativ Kants ist für <strong>die</strong> Zukunftsethik durchaus offen (vgl. Fleischer: 1993, 153<br />

f.), und auch <strong>die</strong> Bestimmung der Stellung des Menschen <strong>in</strong> der Welt, <strong>die</strong> Kant <strong>in</strong><br />

der Kritik der Urtheilskraft vorlegt, bietet Anhaltspunkte, aus denen sich <strong>die</strong><br />

Forderung nach der Existenz des Menschen ableiten ließe. Allerd<strong>in</strong>gs erhebt Kant<br />

<strong>die</strong> Forderung nach Zukunft nicht - aus naheliegenden Gründen, folgt man Jonas’<br />

Analyse des heutigen technologischen Handelns. Es ist also das bleibende<br />

Ver<strong>die</strong>nst Jonas’, <strong>die</strong> Perspektive der Zukunft <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ethik e<strong>in</strong>gebracht zu haben.<br />

71


anzuerkennen 48 . Jonas begründet <strong>die</strong> Selbstzweckhaftigkeit der Natur<br />

ausgehend vom Menschen, der als e<strong>in</strong> Zwecke habendes und Zwecke<br />

setzendes Wesen Teil der Natur ist (vgl. ebd., 136 ff.). Vom Menschen aus<br />

durch <strong>die</strong> Tierreihe herabsteigend dehnt Jonas Subjektivität i.S. des Strebens<br />

bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> unbewußte Natur h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> aus, wobei er e<strong>in</strong>e unendliche<br />

Schattierung e<strong>in</strong>räumt, „<strong>in</strong> der das ‘Vorstellige’ wohl irgendwann verschw<strong>in</strong>det<br />

(vermutlich da, wo es noch ke<strong>in</strong>e spezifischen S<strong>in</strong>nesorgane gibt)“ (ebd., 141) 49 .<br />

Se<strong>in</strong>er Überlegung liegt der Gedanke der Evolution zu Grunde, der nach<br />

Jonas nur dann konsequent gedacht ist, wenn er das Pr<strong>in</strong>zip der <strong>in</strong>haltlichen<br />

Kont<strong>in</strong>uität e<strong>in</strong>schließt (vgl. ebd., 135 f.). Wir treffen also Zweckhaftigkeit<br />

überall <strong>in</strong> der Natur an, und <strong>in</strong> ihren Zwecken zeigt sie, daß es ihr<br />

wenigstens um e<strong>in</strong>s geht: um das Leben (vgl. ebd., 142 f.). Doch s<strong>in</strong>d wir<br />

damit noch nicht verpflichtet, den Zweck der Natur zu respektieren und zu<br />

fördern und uns um se<strong>in</strong>etwillen sogar e<strong>in</strong>zuschränken. Jonas muß zuvor<br />

zeigen, daß Zweckhaftigkeit oder <strong>die</strong> Fähigkeit zu Zweck e<strong>in</strong> Wert, ja daß sie<br />

e<strong>in</strong> absoluter Wert oder e<strong>in</strong> Gut an sich ist. Dies gel<strong>in</strong>gt ihm jedoch letztlich<br />

nicht, und so erklärt er es für bloß „<strong>in</strong>tuitiv gewiß “ , daß <strong>die</strong> Fähigkeit zu<br />

Zweck „aller Zwecklosigkeit des Se<strong>in</strong>s unendlich überlegen “ (ebd., 154), mith<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Gut an sich ist.<br />

Jonas’ Imperativ gebietet <strong>die</strong> Zukunft des Menschen und der Natur, hat also<br />

im Gegensatz zum Imperativ Kants e<strong>in</strong>en materialen Gehalt. Er ist e<strong>in</strong><br />

ontologischer Imperativ, denn er macht <strong>die</strong> Bewahrung e<strong>in</strong>es bestimmten<br />

Se<strong>in</strong>s zum <strong>in</strong>haltlichen Kriterium moralischen Handelns. Legt Jonas den<br />

Formalismus Kants ab, so hält er andererseits an der Notwendigkeit e<strong>in</strong>es<br />

kategorischen Imperativs <strong>in</strong> der Ethik fest, und er ist sogar der Ansicht, den<br />

e<strong>in</strong>zigen wirklich kategorisch gebietenden Imperativ entdeckt zu haben (vgl.<br />

ebd., 91 f.). Angesichts der Schwierigkeiten, <strong>die</strong> sich se<strong>in</strong>er ontologischen<br />

Begründung des neuen Imperativs <strong>in</strong> den Weg stellen, kann <strong>die</strong>se<br />

Unbed<strong>in</strong>gtheit allerd<strong>in</strong>gs nicht aufrechterhalten werden. Der Imperativ ist<br />

vielmehr durch den moralisch Handelnden selbst mittels e<strong>in</strong>er freien Wahl<br />

allererst <strong>in</strong> Kraft zu setzen (vgl. Fleischer: 1993, 160 ff. u. 166 ff.). Nicht<br />

zuletzt durch se<strong>in</strong>e Ontologie hat Jonas jedoch dafür gesorgt, daß e<strong>in</strong>e solche<br />

Wahl nicht bl<strong>in</strong>d geschieht, sondern anhand von Plausibilitätserwägungen<br />

stattf<strong>in</strong>den kann.<br />

Jonas faßt <strong>die</strong> angesichts der gegenwärtigen Bedrohung neu ersche<strong>in</strong>ende<br />

Pflicht zur Zukunft auch im Begriff der Verantwortung zusammen (vgl.<br />

Verantwortung, 8). Der Begriff der Verantwortung be<strong>in</strong>haltet zuallererst <strong>die</strong><br />

48 Damit ist nicht gesagt, daß der Mensch sich <strong>in</strong> jedem Fall den Belangen der Natur<br />

unterordnen soll, denn der „Egoismus der Arten “ (ebd., 246,<br />

Zwischenüberschrift) ist ja selbst naturgegeben! Der Mensch ist aber zur<br />

Selbstbeschränkung aufgefordert, wo er das symbiotische Gleichgewicht der<br />

Natur aus dem Lot br<strong>in</strong>gt; vgl. ebd., 247 f.<br />

49 Jonas spricht nun von „‘Zielung’“ , „Zielorientierung “ oder „Zieldisposition “ ;<br />

72<br />

ebd., 143.


Unabhängigkeit von der klassischen Idee des Rechts, „wonach me<strong>in</strong>e Pflicht<br />

das Gegenbild fremden Rechtes“ (ebd., 84), das Recht des anderen aber zugleich<br />

auch me<strong>in</strong> Recht ist. Es entfällt also das Moment der Reziprozität (vgl. ebd.,<br />

177 f.), und gerade <strong>die</strong>s ist es, was den Verantwortungsbegriff für <strong>die</strong><br />

Zukunftsethik so unverzichtbar macht. Denn wir haben es hier mit Nochnicht-Seiendem<br />

zu tun, mit etwas also, dem <strong>die</strong> gegenwärtig Lebenden nicht<br />

auf Grund e<strong>in</strong>es Rechts verpflichtet se<strong>in</strong> können (vgl. ebd., 84). Jonas ortet<br />

den Ursprung der Idee der Verantwortung im Verhältnis der Eltern zu<br />

e<strong>in</strong>em neugeborenen K<strong>in</strong>d, denn <strong>die</strong>ses Verhältnis ist ganz und gar nichtreziprok<br />

(vgl. ebd., 85). Die den Eltern erwachsene Pflicht entspricht jedoch<br />

noch nicht vollständig der von Jonas formulierten Pflicht gegen spätere<br />

Generationen. Denn <strong>die</strong>se ist ja auch e<strong>in</strong>e Pflicht zur Urheberschaft künftiger<br />

Menschen (vgl. ebd., 85 f.).<br />

Moralisches Verhalten setzt voraus, daß <strong>die</strong> Gültigkeit von Pflichten<br />

e<strong>in</strong>gesehen wird, es beruht jedoch m<strong>in</strong>destens ebensosehr auf der<br />

Empfänglichkeit des Menschen für <strong>die</strong> Forderung der Pflicht. Jonas’ Theorie<br />

der Verantwortung faßt daher auch den psychologischen Grund für <strong>die</strong><br />

Wirksamkeit des sittlich Gebotenen, das Verantwortungsgefühl, <strong>in</strong>s Auge.<br />

Dieses konstituiert sich, <strong>in</strong>dem wir auf den Anspruch der D<strong>in</strong>ge hören und<br />

uns zugleich der Macht unseres Könnens bewußt werden (vgl. ebd., 175).<br />

Jonas geht davon aus, daß der Mensch grundsätzlich affizierbar ist durch<br />

das, was er als an sich gut e<strong>in</strong>gesehen hat 50 , und es ist <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Sache<br />

ausgelöste Empf<strong>in</strong>dung, <strong>die</strong> ihn überhaupt tätig werden läßt. Das Gefühl der<br />

Verantwortung unterscheidet sich grundlegend von dem vernunftgewirkten<br />

Gefühl der Achtung bei Kant, welches nicht durch e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Gegenstand, sondern durch <strong>die</strong> Betrachtung des Sittengesetz selbst<br />

hervorgerufen wird. Im Gefühl der Verantwortung ist e<strong>in</strong> Subjekt mit<br />

se<strong>in</strong>em Objekt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise verbunden, <strong>die</strong> es um se<strong>in</strong>etwillen tätig<br />

werden läßt. Mehr noch glaubt Jonas, „daß es <strong>die</strong>s Gefühl mehr als irgende<strong>in</strong><br />

anderes ist, welches e<strong>in</strong>e Willigkeit <strong>in</strong> uns erzeugen kann, den Anspruch des<br />

Objektes auf Existenz durch unser Tun zu unterstützen.“ (ebd., 170)<br />

Mit dem Verantwortungsgefühl etabliert Jonas e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zip, das dem<br />

moralischen Gefühl bei Hume <strong>in</strong>sofern ähnelt, als es den Menschen auf<br />

Grund se<strong>in</strong>er emotionalen B<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>en Gegenstand handeln läßt. Dabei<br />

erweitert Jonas den Gegenstandsbereich der Ethik um <strong>die</strong> Zukunft des<br />

Menschen und der Natur, und er erklärt auch das Wissen um <strong>die</strong> Folgen<br />

unserer Handlungen zur Pflicht. Jonas vertritt ganz bewußt e<strong>in</strong>e Ethik, <strong>in</strong><br />

der sich der Mensch nicht autonom zum Handeln bestimmt (vgl. ebd., 170).<br />

Jonas’ Ethik ist heteronom, denn es ist <strong>die</strong> Wahrnehmung e<strong>in</strong>es durch den<br />

Menschen bedrohten wertvollen Seienden, das der Handlung <strong>die</strong> Regel gibt.<br />

Dennoch hält Jonas an der Notwendigkeit e<strong>in</strong>es kategorischen Imperativs <strong>in</strong><br />

50 Wenn Jonas davon spricht, daß das Fühlen von Verantwortung „ vermutlich e<strong>in</strong><br />

allgeme<strong>in</strong> menschliches Potential“ (ebd., 164, Hervorhebung d. Verf.) ist, so ist<br />

klar, daß er hier Ausnahmen zuläßt.<br />

73


der Ethik fest, e<strong>in</strong>e Notwendigkeit, <strong>die</strong> bei Hume noch gar nicht <strong>in</strong> den Blick<br />

kommt. Die Heteronomie se<strong>in</strong>er Ethik geht jedoch ungewollt zu Lasten der<br />

Unbed<strong>in</strong>gtheit des ontologischen Imperativs, denn Jonas kann <strong>die</strong> Pflicht zur<br />

Zukunft nicht wirklich beweisen.<br />

Wird bei Jonas <strong>die</strong> Bewahrung des Menschen und der Natur zum<br />

<strong>in</strong>haltlichen Kriterium moralischen Handelns, so ist es bei Hume <strong>die</strong><br />

Nützlichkeit für <strong>die</strong> Zwecke des Menschen. Auch bei Hume bestimmt sich<br />

der Wille also nicht selbst, sondern es ist e<strong>in</strong> Gegenstand der<br />

Erfahrungswelt, der ihm <strong>die</strong> Regel gibt. Und auch bei Hume kommt es für<br />

das moralische Urteil auf <strong>die</strong> Folgen von Handlungen bzw. auf <strong>die</strong><br />

Wirkungen von Charakteren an. Hume ist jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gerem Maße<br />

an den realen Folgen oder Wirkungen von Handlungen oder Charkteren<br />

orientiert als Jonas. Das moralische Gefühl <strong>in</strong> der Ethik Humes billigt <strong>die</strong><br />

nützliche Tendenz selbst dann, wenn e<strong>in</strong> Mensch auf Grund ungünstiger<br />

äußerer Umstände vielleicht nie wirklichen Nutzen stiften sollte, und so<br />

sche<strong>in</strong>t Hume der ‘Ges<strong>in</strong>nungsethik’ näher als der radikale<br />

‘Verantwortungsethiker’ Jonas. E<strong>in</strong>e entscheidende Rolle bei der<br />

Konstitution konkreter Normen kommt <strong>in</strong> der Moraltheorie Humes der<br />

gesellschaftlichen Kommunikation zu. Die moralischen Urteile entspr<strong>in</strong>gen<br />

also nicht dem subjektiven Geschmack E<strong>in</strong>zelner. Sie haben dennoch e<strong>in</strong>e<br />

nur e<strong>in</strong>geschränkte Gültigkeit, da sie an <strong>die</strong> zufällige Beschaffenheit der<br />

menschlichen Natur gebunden bleiben.<br />

Bei Kant ist das Gute e<strong>in</strong>er Handlung nichts, was dem moralischen Akt<br />

äußerlich wäre. Denn das Kriterium der Moral besteht für ihn <strong>in</strong> der<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung mit e<strong>in</strong>em absoluten sittlichen Pr<strong>in</strong>zip, das der Wille sich<br />

selbst gibt. Moralische Normen s<strong>in</strong>d bei Kant nicht empirisch abgeleitet, und<br />

sie lassen sich auch nicht empirisch überprüfen. Die Unabhängigkeit des<br />

kategorischen Imperativs von allem empirischen Gehalt begründet den<br />

Anspruch moralischer Gesetze auf une<strong>in</strong>geschränkte Gültigkeit. In <strong>die</strong>sem<br />

Anspruch auf Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit liegt das Besondere der Ethik Kants, an<br />

dem i.S. e<strong>in</strong>es Ideals festgehalten werden sollte. Denn nur, wenn wir alle<br />

nach Maximen handeln, <strong>die</strong> unterschiedslos für jedes vernünftige Wesen<br />

gelten, verstehen wir uns als e<strong>in</strong>ander gleichberechtigt und können zudem<br />

mit e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>barkeit unsererer Maximen rechnen. Um jedoch im<br />

E<strong>in</strong>zelfall zu verantwortbaren Entscheidungen zu gelangen, bedarf es heute<br />

mehr denn je gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und der<br />

Kommunikation mit e<strong>in</strong>er Weltbevölkerung. Es mag sogar se<strong>in</strong>, daß Kants<br />

Pr<strong>in</strong>zip der gesetzartigen Verallgeme<strong>in</strong>erbarkeit noch grundsätzlicher der<br />

Ergänzung durch <strong>die</strong> Idee des Wohlwollens oder der Verantwortung bedarf.<br />

Zum<strong>in</strong>dest würde e<strong>in</strong>e solche Ergänzung <strong>die</strong> E<strong>in</strong>beziehung von Menschen<br />

und Naturwesen <strong>in</strong> den Geltungsbereich der Ethik erleichtern, zu denen wir<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nicht-reziproken Verhältnis stehen (vgl. Kuhlmann: 1994, 298 ff.).<br />

74


Literatur<br />

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<strong>in</strong>: Se<strong>in</strong> und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik,<br />

herausgegeben von P. Engelhardt, Ma<strong>in</strong>z 1963, 387-404.<br />

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der Sitten, <strong>in</strong>: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), 201-226.<br />

-: Verantwortung und S<strong>in</strong>nbewahrung. Zur Zukunftsethik von Hans Jonas, <strong>in</strong>:<br />

Person und S<strong>in</strong>nerfahrung. Philosophische Grundlagen und <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre<br />

Perspektiven. Festschrift für Georg Scherer zum 65. Geburtstag, herausgegeben<br />

von C. F. Gethmann und P. L. Oesterreich, Darmstadt 1993, 149-169.<br />

Habermas, J./N. Luhmann: Theorie derGesellschaft oder Sozialtechnologie - Was<br />

leistet <strong>die</strong> Systemforschung?, Frankfurt a.M. 1971.<br />

Hegel, G. W. F.: Über <strong>die</strong> wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts,<br />

se<strong>in</strong>e Stelle <strong>in</strong> der praktischen Philosophie, und se<strong>in</strong> Verhältnis zu den positiven<br />

Rechtswissenschaften, <strong>in</strong>: ders., Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe <strong>in</strong><br />

zwanzig Bänden. Auf Grund des von L. Boumann, F. Förster, E. Gans, K.<br />

Hegel, L. v. Henn<strong>in</strong>g, H. G. Hotho, P. Marhe<strong>in</strong>ke, K. L. Michelet, K.<br />

Rosenkranz u. I. Schulze besorgten Orig<strong>in</strong>aldrucks im Faksimileverfahren<br />

herausgegeben von H. Glockner. Erster Band, Stuttgart 1958, 435-537.<br />

Hume, D.: E<strong>in</strong> Traktat über <strong>die</strong> menschliche Natur, übersetzt, mit<br />

Anmerkungen und Register versehen von T. Lipps. Mit neuer <strong>E<strong>in</strong>führung</strong><br />

und Bibliographie herausgegeben von R. Brandt. Band II, Zweites Buch:<br />

Über <strong>die</strong> Affekte, Drittes Buch: Über Moral, Hamburg 1978.<br />

-: A Treatise of Human Nature, edited, with an analytical <strong>in</strong>dex, by L. A. Selby-<br />

Bigge. Second edition with text revised and variant read<strong>in</strong>gs by P. H.<br />

Nidditch, Oxford 1992.<br />

-: E<strong>in</strong>e Untersuchung über <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien der Moral, übersetzt und<br />

herausgegeben von G. Strem<strong>in</strong>ger, Stuttgart 1984.<br />

-: An Enquiry concern<strong>in</strong>g the Pr<strong>in</strong>ciples of Morals, <strong>in</strong>: Enquiries concern<strong>in</strong>g<br />

Human Understand<strong>in</strong>g and concern<strong>in</strong>g the Pr<strong>in</strong>ciples of Morals, repr<strong>in</strong>ted from<br />

the posthumous edition of 1777 and edited with <strong>in</strong>troduction, comparative<br />

table of contents, an analytical <strong>in</strong>dex by L. A. Selby-Bigge. Third edition<br />

with text revised an notes by P. H. Nidditch, Oxford 1989, 167-323.<br />

75


Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, <strong>in</strong>: Kant’s gesammelte Schriften,<br />

herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der<br />

Wissenschaften, Bd. IV, Berl<strong>in</strong> 1911, 385-463.<br />

- :Kritik der praktischen Vernunft, <strong>in</strong>: ebd., Bd. V, Berl<strong>in</strong> 1913, 1-163.<br />

-: Metaphysik der Sitten, <strong>in</strong>: ebd., Bd. VI, Berl<strong>in</strong> 1914, 203-493.<br />

-: Über e<strong>in</strong> verme<strong>in</strong>tliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, <strong>in</strong>: ebd., Bd. VIII,<br />

Berl<strong>in</strong> 1923.<br />

Kaulbach, F.: Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten “.<br />

Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988.<br />

Kuhlmann, W.: ‘Pr<strong>in</strong>zip Verantwortung’ versus Diskursethik, <strong>in</strong>: D. Böhler<br />

(Hrsg.), Ethik für <strong>die</strong> Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, 277-<br />

302.<br />

Lüthe, R.: David Hume. Historiker und Philosoph, Freiburg<br />

(Breisgau)/München 1991.<br />

Patzig, G.: Ethik ohne Metaphysik, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage,<br />

Gött<strong>in</strong>gen 1983.<br />

Schrader, W. H.: Ethik und Anthropologie <strong>in</strong> der englischen Aufklärung. Der<br />

Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984.<br />

Strem<strong>in</strong>ger, G.: E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> D. Hume, E<strong>in</strong>e Untersuchung über <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien<br />

der Moral, übersetzt und herausgegeben von G. Strem<strong>in</strong>ger, Stuttgart 1984,<br />

3-84.<br />

Weber, M.: Der S<strong>in</strong>n der „Wertfreiheit “ der soziologischen und ökonomischen<br />

Wissenschaften, <strong>in</strong>: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,<br />

Tüb<strong>in</strong>gen 1922, 451-502.<br />

-: Politik als Beruf, <strong>in</strong>: Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und<br />

Reden, Bd. 17, herausgegeben von W. J. Mommsen u. W. Schluchter <strong>in</strong><br />

Zusammenarbeit mit B. Morgenbrod, Tüb<strong>in</strong>gen 1992, 156-252.<br />

76


Der Arbeiter und se<strong>in</strong>e Grenze<br />

ganz frei nach E. Jünger und K. Marx<br />

Grundlagen wirtschaftlichen Handelns der Menschen<br />

von J. <strong>Bellers</strong><br />

Arbeit als Konstitutivum der Menschheit: E<strong>in</strong> geistesgeschichtlicher<br />

Rückblick <strong>in</strong> aller Kürze<br />

Seitdem <strong>die</strong> ersten Menschen aus dem Para<strong>die</strong>s vertrieben wurden, s<strong>in</strong>d sie<br />

zur Strafe ihrer Sündhaftigkeit zum Fluch der Arbeit verdammt. "Und zum<br />

Menschen sprach Gott: Weil Du (Adam) auf de<strong>in</strong>es Weibes Stimme gehört<br />

und von dem Baume gegessen hast, von dem ich dir gebot: du sollst nicht<br />

davon essen, so ist um de<strong>in</strong>etwillen der Erdboden verflucht. Mit Mühsal<br />

sollst du dich von ihm nähren de<strong>in</strong> Leben lang. Dornen und Disteln soll es<br />

dir tragen, und das Kraut des Feldes sollst du essen. Im Schweiße de<strong>in</strong>es<br />

Angesichtes sollst du de<strong>in</strong> Brot essen, bis du wieder zur Erde kehrst, von der<br />

du gekommen bist." (1. Mose 3, 17 - 19)<br />

Mit der Vertreibung aus der unbegrenzten Fülle des Para<strong>die</strong>ses ist der<br />

Mensch mit der Knappheit der natürlichen Ressourcen (Nahrung, Boden<br />

usw.) konfrontiert, <strong>die</strong> er durch Arbeit und durch Kampf (<strong>die</strong>s soll uns im<br />

folgenden nicht <strong>in</strong>teressieren) zu reduzieren oder gar zu überw<strong>in</strong>den<br />

versucht.<br />

Damit ist das Grundproblem und <strong>die</strong> Grundfrage allen Wirtschaftens<br />

thematisiert, nämlich trotz Knappheit e<strong>in</strong> menschenwürdiges Leben zu<br />

sichern. Wirtschaften ist der - auf Leben oder Tod, Gedeih oder Verderb<br />

notwendige - Versuch, durch Investition menschlicher Tätigkeit aus dem<br />

gegebenen Wenigen etwas mehr zu machen, <strong>in</strong>dem z.B. durch<br />

systematischen Ackerbau der Natur mehr an Nahrungsmitteln entnommen<br />

werden kann, als das natürliche, zufällige Anfallen verwertbarer<br />

Nahrungsmittel (Beeren, Früchte usw.) zu bieten vermag.<br />

Bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> europäische Neuzeit um das 15./16. Jahrhundert n. Chr. wurde<br />

solche Arbeit als Mühsal und Last betrachtet, dem man nach Möglichkeit zu<br />

entr<strong>in</strong>nen trachtete. (vgl. Ebert 1984: 10 ff.) Das höchste Ideal der Griechen <strong>in</strong><br />

der vorchristlichen Epoche, wie es z.B. <strong>in</strong> den Philosophien von Platon und<br />

Aristoteles zum Ausdruck kommt, war <strong>die</strong> Muße (Rieseberg 1992: 149 ff.),<br />

<strong>die</strong> freie, nicht durch <strong>die</strong> Not(wendigkeit) des Arbeitens bestimmte Zeit, <strong>in</strong><br />

der sich kontemplativ-theoretisch-philosophisch - modern ausgedrückt - den<br />

großen Fragen der Zeit und aller Zeiten (Gott, ewige Werte, das gute<br />

Handeln usw.) oder politisch dem Allgeme<strong>in</strong>wohl des Geme<strong>in</strong>wesens<br />

gewidmet werden kann. Dazu sei der alltäglich Arbeitende nicht <strong>in</strong> der<br />

Lage, da er sich weder bilden noch weiterbilden noch überhaupt Zeit habe,<br />

sich mit <strong>die</strong>sen Fragen zu befassen. Das war übrigens bis <strong>in</strong>s 20. Jahrhundert<br />

77


h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> e<strong>in</strong> weit verbreitetes Argument, <strong>die</strong> Nicht-Gebildeten zu den<br />

politischen Wahlen nicht zuzulassen. (generell hierzu: Eichenauer 1988)<br />

Auch <strong>die</strong> Christen lebten <strong>in</strong> der Tradition <strong>die</strong>ses Ideals, zeitweise, vor allem<br />

<strong>in</strong> der vorkonstant<strong>in</strong>ischen Epoche, schwärmten <strong>die</strong> frühen Christen<br />

scharenweise <strong>in</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>samen Klöster und E<strong>in</strong>siedeleien der Wüsten des<br />

südlichen Mittelmeerraumes, um - abgewandt von <strong>die</strong>ser bösen Welt - Gott<br />

im Gebet zu <strong>die</strong>nen. Das war allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e generalisierbare Lebensform,<br />

so daß das Christentum alsbald zwischen dem mönchischen Dase<strong>in</strong> für <strong>die</strong><br />

wenigen und dem weltlichen Dase<strong>in</strong> für <strong>die</strong> vielen zu unterscheiden begann.<br />

Denn das Christentum konnte nicht mehr den "Ausweg" der Griechen<br />

gehen, <strong>die</strong> Arbeit zum<strong>in</strong>dest z.T. (wenn auch das Ausmaß lange übertrieben<br />

wurde) auf als nicht-menschlich betrachtete Wesen wie <strong>die</strong> Sklaven<br />

abzuwälzen. Für <strong>die</strong> Christen waren alle Menschen (und dazu gehörten<br />

auch <strong>die</strong> Sklaven) zum<strong>in</strong>dest vor Gott gleich. Und daher mußten pr<strong>in</strong>zipiell<br />

alle arbeiten, wenn auch <strong>in</strong> unterschiedlichen Maßen und Umständen: <strong>die</strong><br />

Bauern auf dem Felde; der Adel im Kriege; und der Klerus im Dienst an<br />

Gott, was allerd<strong>in</strong>gs schon nicht mehr als Arbeit im klassischen S<strong>in</strong>ne zu<br />

verstehen ist. (vgl. <strong>in</strong>sgesamt Petrovic 1992: 103 ff.)<br />

Arbeit war daher - wie oben angedeutet - unabwendbare Last, <strong>die</strong> aber <strong>in</strong><br />

Kauf zu nehmen war, um das Leben zu fristen - quasi als Strafe Gottes <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Jammertal. Daher waren und s<strong>in</strong>d für <strong>die</strong> Benedikt<strong>in</strong>er "ora et<br />

labora" e<strong>in</strong>e unauftrennbare E<strong>in</strong>heit.<br />

Im Hochmittelalter wurde aber - wie schon eben anhand des Klerus<br />

angedeutet - Arbeit wieder durch Muße verdrängt oder relativiert -<br />

entsprechend der Dom<strong>in</strong>anz des Klerus <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Zeit -, hier galt weiterh<strong>in</strong><br />

das über Th. v. Aqu<strong>in</strong> vermittelte Muße-Ideal der Antike, vor allem<br />

repräsentiert im Stand des Priesters, der se<strong>in</strong> Leben dem Dienst an Gott<br />

widmete.<br />

Erst mit der Neuzeit, mit der Moderne, mit den Anfängen des<br />

aufkommenden Bürgertums änderte sich <strong>die</strong>s: Schon Luther sah Arbeit als<br />

Beruf, dem man sich voll widmen müsse, als gottgegebenen Auftrag zur<br />

Gestaltung der Welt im S<strong>in</strong>ne deren Vermenschlichung: "Mache Dir <strong>die</strong> Erde<br />

untertan!"<br />

Der bedeutendste Sozialphilosoph des neuen Bürgertums, John Locke, sah<br />

Eigentum - der Arbeit entsprungen - als Ausdruck der Freiheit des Bürgers,<br />

quasi als Menschenrecht.<br />

Für Hegel, der se<strong>in</strong>en Adam Smith genauestens stu<strong>die</strong>rt hatte und auf der<br />

Basis <strong>die</strong>ser Wissens <strong>die</strong> entstehende bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft<br />

schon vor Karl Marx hellsichtig analysierte, war Arbeit e<strong>in</strong> zentraler Begriff<br />

der Ause<strong>in</strong>andersetzung des Menschen mit der Natur: Durch Arbeit<br />

verändert der Mensch <strong>die</strong> Natur, humanisiert sie, emaniert se<strong>in</strong><br />

menschliches Wesen <strong>in</strong> der Natur, während umgekehrt <strong>die</strong> ggf. derart<br />

veränderte Natur wieder dialektisch-wechselseitig auf den arbeitenden<br />

Menschen zurückwirkt. (vgl. Lim 1966: 55 ff.)<br />

78


Der Hegel-Schüler Marx radikalisierte <strong>die</strong>sen Ansatz <strong>in</strong> materialistischer<br />

Richtung, <strong>in</strong> dem er <strong>die</strong> Menschwerdung des Menschen durch und nur<br />

durch Arbeit begriff. Und se<strong>in</strong> Weggefährte Engels simplifizierte den<br />

Sachverhalt zur Formel: "Die Menschwerdung des Affen durch Arbeit".<br />

(Lange 1980)<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Exkurs <strong>in</strong> der Geistesgeschichte:<br />

(Die Vision des Schwagers von Marx, Lafargue, daß <strong>die</strong> Faulheit, und nicht<br />

<strong>die</strong> Arbeit, den Fortschritt <strong>in</strong> der Geschichte gewährleistet, blieb vorerst<br />

Episode und sollte erst <strong>in</strong> der Freizeitgesellschaft der nach<strong>in</strong>dustriellen<br />

Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts Bedeutung erlangen. (Buhle 1990:<br />

167; Schmidt 1991: 8)) Er argumentierte, daß nur <strong>die</strong> Faulheit des Menschen<br />

ihn veranlaßt habe, Masch<strong>in</strong>en zur Arbeitsentlastung zu erf<strong>in</strong>den, was dann<br />

<strong>die</strong> Industrialisierung und <strong>die</strong> Moderne zur Folge gehabt habe. Aber dazu<br />

später mehr.) (Auf <strong>die</strong> rückwärtsgewandte, rousseauistische ("der gute<br />

Wilde") Utopie des letzten Jahrhunderts, der auch Engels anh<strong>in</strong>g, daß<br />

nämlich <strong>in</strong> den ozeanischen Gesellschaften das Para<strong>die</strong>s und Schlaraffenland<br />

tatsächlich existiert und noch lange Zeit erhalten habe, soll wegen ihres<br />

nichtwissenschaftlichen Charakters hier nicht e<strong>in</strong>gegangen werden. Sie<br />

wurde von Mead endgültig widerlegt. Auch haben <strong>die</strong> Vertreter <strong>die</strong>ser<br />

Theorie wohl auch vergessen, daß der Zugang zum Schlaraffenland nur<br />

dann möglich war, wenn man sich zuvor durch e<strong>in</strong>e 30 Meter dicke Wand<br />

aus Grießbrei durchgefressen hatte - durch wohlmöglich tödlich wirkenden<br />

Überfluß zum Überfluß - das ist <strong>die</strong> Moral <strong>die</strong>ser Geschichte, auch Überfluß<br />

- der der christlichen Untugend des Übermaßes zuzurechnen ist - zeitigt also<br />

Folgen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Überfluß an Leid erzeugen. Überfluß kann nicht zum<br />

glücklichen Leben führen. Überfluß macht lethargisch und hat e<strong>in</strong>en<br />

allgeme<strong>in</strong>en Stillstand, allgeme<strong>in</strong>e Langeweile zur Folge: Segen der<br />

Knappheit!!)<br />

(Exkurs Ende)<br />

Die erwähnte philosophische Grundlegung bei Hegel und Marx hatte zur<br />

realsoziologischen Grundlage <strong>die</strong> bürgerliche Gesellschaft, von der selbst<br />

deren Fundamentalkritiker Marx und Engels bee<strong>in</strong>flußt waren: Wie Max<br />

Weber aufgezeigt hat, ist <strong>die</strong> bürgerliche Gesellschaft wesentlich geprägt von<br />

e<strong>in</strong>em positiven Begriff der Arbeit, wie er e<strong>in</strong>er Version des Calv<strong>in</strong>ismus<br />

entsprang: Durch Arbeit und dem dadurch bed<strong>in</strong>gten irdischen Erfolg<br />

erhoffte sich der Christ demgemäß, für e<strong>in</strong>en "Platz im Himmelreich"<br />

prädest<strong>in</strong>iert zu se<strong>in</strong>: Arbeit wird zur Tugend, sie verliert ihren Charakter<br />

als Last. Sie wird zur religiösen Pflicht im Auftrage Gottes und als Zeichen<br />

der Gotterwähltheit.<br />

Und damit war dann <strong>die</strong> geistesgeschichtliche Grundlage für das gelegt, was<br />

durch Industrialisierung <strong>die</strong> mittelalterliche Gesellschaft mit ihren<br />

ständischen und zünftigen Begrenzungen erschütterte und zur modernen<br />

Arbeitsgesellschaft führte. Des Bürgers Ideal war das Sparen - Weber nannte<br />

es "<strong>in</strong>nerweltliche Askese", durchaus als Form der christlichen Askese - und<br />

79


das Sparen ermöglichte produktive Investitionen, <strong>die</strong> Mechanisierung und<br />

Industrialisierung bewirkten. Nicht mehr das schnelle Konsumieren war das<br />

Ziel von Arbeit, und Arbeit war nicht mehr beschränkt auf <strong>die</strong> Befriedigung<br />

der konsumptiven Bedürfnisse, sondern Arbeit wurde zum Eigenwert, der<br />

erst langfristig Reichtum - über erst <strong>in</strong> Zukunft rentable Investitionen -<br />

sichern sollte.<br />

Daß dann allerd<strong>in</strong>gs der derart durch Arbeit um der Arbeit willen erzeugte<br />

Reichtum langfristig Arbeit überflüssig machen würde: <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>en<br />

erledigen alles ohne Mensch (und damit <strong>die</strong> Abkehr von der<br />

Arbeitsgesellschaft e<strong>in</strong>leiten sollte), sah zwar schon Marx (ohne aber zu<br />

ahnen, was das bedeuten würde, nämlich das Entstehen e<strong>in</strong>er Art von<br />

Sozialismus unter kapitalistischen Vorzeichen). Es wurde jedoch erst zum<br />

Problem der hoch <strong>in</strong>dustrialisierten OECD- Gesellschaften des Nordens der<br />

Welt unsere Zeit (hier allerd<strong>in</strong>gs eher für <strong>die</strong> Unterschichten, <strong>die</strong> arbeitslos<br />

werden, ohne deshalb <strong>in</strong> Armut zu verfallen; <strong>die</strong> Oberschichten,<br />

<strong>in</strong>sbesondere <strong>die</strong> Manager leiden eher an e<strong>in</strong>em Zuviel an Arbeit), so daß<br />

<strong>in</strong>folgedessen der Wert der Arbeit zu ero<strong>die</strong>ren beg<strong>in</strong>nt. Die Arbeitslosen<br />

leben u.a. von Sozialhilfee<strong>in</strong>kommen, dessen Empfang von der Erbr<strong>in</strong>gung<br />

von Leistung = Arbeit abgekoppelt ist; und für <strong>die</strong> Manager ist das, was sie<br />

Arbeit nennen, Hobby oder Sucht.) Inglehard spricht <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang von der postmaterialistischen Gesellschaft, deren Zentrum<br />

<strong>in</strong> der Freizeitgestaltung liegt.<br />

Die Last des Wirtschaftens wird <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Gesellschaften des Überflusses<br />

(man denke nur an <strong>die</strong> Agrarüberproduktionen!) dem Menschen<br />

genommen, se<strong>in</strong>e "Plage" liegt vielmehr nur noch dar<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Freizeit <strong>in</strong><br />

immer mehr Urlaub s<strong>in</strong>nvoll u.a. durch Zurhilfenahme von Me<strong>die</strong>n und<br />

Freizeit-"Animateuren" gestalten zu können. (vgl. Haupt 1989/90: 89 ff.)<br />

Damit soll aber nicht der E<strong>in</strong>druck erweckt werden, als sei der Typ des<br />

"Arbeiter" obsolet. Von <strong>die</strong>ser Freizeitgesellschaft profitiert<br />

weltgesellschaftlich gesehen nur e<strong>in</strong>e privilegierte M<strong>in</strong>derheit der<br />

Menschheit. Vielmehr umgekehrt wird das Problem der Dase<strong>in</strong>sfristung (bei<br />

knapper werdenden Ressourcen durch e<strong>in</strong>e ständig wachsende<br />

Erdbevölkerung) zunehmend akut und lebensgefährdend, vor allem <strong>in</strong> den<br />

Entwicklungsländern Schwarzafrikas, während <strong>die</strong> Nationalstaaten<br />

Südostasiens e<strong>in</strong>e rasantes Wirtschaftswachstum aufweisen.<br />

Die Last oder der Segen der Arbeit werden also auf absehbare Zeit auf der<br />

Tagesordnung der Menschheitsgeschichte stehen bleiben - wie immer man<br />

<strong>die</strong>s nun im e<strong>in</strong>zelnen bewerten mag.<br />

Charakterologie des Arbeiters<br />

80


Wie aufgezeigt, ist das Wirtschaften als Konstitutivum des Menschen<br />

anthropologisch und stammesgeschichtlich fun<strong>die</strong>rt - übrigens e<strong>in</strong>ige der<br />

wenigen Konstitutiva, <strong>die</strong> wohl unbestritten s<strong>in</strong>d.<br />

Der Typus des Arbeiters hat sich jedoch im Verlaufe der Geschichte und<br />

gesellschaftlichen Evolution erheblich gewandelt. Dazu kommen <strong>die</strong><br />

verschiedenen Ausformungen <strong>die</strong>ses Typus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit oder Epoche.<br />

Darauf soll im folgenden des näheren e<strong>in</strong>gegangen werden.<br />

Wie uns <strong>die</strong> Archäologie lehrt, war <strong>die</strong> erste Form der Arbeit - ehe sich<br />

größere gesellschaftliche Formationen herausbildeten - das Jagen und<br />

Sammeln, und zwar <strong>in</strong> geschlechtlicher Arbeitsteilung (Marx nannte sie <strong>die</strong><br />

erste, "natürliche" Arbeitsteilung). Dabei übernahmen <strong>die</strong> Männer aufgrund<br />

ihrer biologischen Konstitution <strong>die</strong> Aufgaben der Jagd, <strong>die</strong> Frauen das<br />

Sammeln von Beeren und Früchten. Dies erfolgte organisatorisch <strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>eren oder größeren Familienverbänden (Sippen, Clans), <strong>die</strong> meist<br />

zwischen den fruchtbaren Orten wanderten. Der Mensch war noch abhängig<br />

von dem, was ihm <strong>die</strong> Natur "naturwüchsig" (um e<strong>in</strong>en weiteren Begriff von<br />

Marx zu verwenden) bot. Vorratshaltung war wegen der begrenzten<br />

Konservierungsmöglichkeiten und wegen der nomadischen Lebensart kaum<br />

möglich. Allerd<strong>in</strong>gs bildeten sich mit fortschreitender Zivilisierung schon <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser Frühzeit vor der Seßhaftwerdung des Menschen e<strong>in</strong>fache<br />

handwerkliche Produktionen heraus, wie <strong>die</strong> Herstellung von Nadeln sowie<br />

Waffen und Töpfen und sonstigen Behältnissen aller Art, <strong>die</strong> der<br />

Nahrungsmittelaufbewahrung <strong>die</strong>nten und nach deren Ornamentik <strong>die</strong><br />

Archäologen menschlichen Epochen <strong>die</strong>ser Vor-Zeit benennen. Dazu kamen<br />

Messer zur Bearbeitung des Fleisches und Feuerstätten, um es eßbar zu<br />

machen.<br />

Damit entstand e<strong>in</strong>e weitere Differenzierung des Typus des Arbeiters,<br />

nämlich der Handwerker, wenn auch noch <strong>in</strong> primitiver und nicht<br />

eigenständiger Form, d.h. es gab wohl noch nicht den Handwerker, der nur<br />

Handwerker war, sondern es war vielmehr e<strong>in</strong>e Nebenrolle neben anderen<br />

Tätigkeiten (der Bauer, der auch schmiedete; <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> auch Textilien<br />

herstellte; usw.)<br />

Schon früh, eigentlich schon immer gab es e<strong>in</strong>en weiteren Typus, der aber<br />

nur <strong>in</strong>direkt mit dem Wirtschaften zusammenh<strong>in</strong>g (aber bis heute von<br />

Bedeutung ist), nämlich der Krieger, der u.a. <strong>die</strong> Aufgabe hatte, <strong>die</strong><br />

gegebenen Nahrungsräume gegen Fe<strong>in</strong>de zu verteidigen. Denn mit<br />

wachsender Population wurden vor allem <strong>in</strong> Eiszeiten <strong>die</strong> Ressourcen<br />

knapper. Der Krieger gehört nicht im engeren S<strong>in</strong>ne zum Typus des<br />

Arbeiters, ist vielmehr dessen Voraussetzung und Folge zugleich.<br />

Der Handwerker brachte bald e<strong>in</strong>en weiteren, neuen "Beruf" mit sich,<br />

nämlich den des Händlers, denn <strong>die</strong> Töpferwaren verbreiteten sich schnell<br />

über große Gebiete Europas (wie man durch Grabungen feststellen konnte)<br />

und <strong>die</strong>nten auch als Tauschmittel, um andere Güter mit ihnen zu erwerben.<br />

81


(Nahrungsmittel wurden wohl nur im engeren Umkreis gehandelt - wegen<br />

der schnellen Verderblichkeit <strong>die</strong>ser Güter).<br />

Erst mit der Seßhaftwerdung der Menschen um 10.000 v.Chr. (und zwar<br />

vorerst nur im Nahen Osten, am Nil, am Euphrat) wurde das Problem der<br />

Ressourcenknappheit ansatzweise gelöst, <strong>in</strong>dem nun systematisch<br />

Landwirtschaft betrieben wurde und der Mensch damit nicht mehr nur auf<br />

das ihm von der Natur Angebotene angewiesen war. Durch Feldbau an<br />

e<strong>in</strong>em Ort (e<strong>in</strong>- oder mehrmals im Jahr) konnte e<strong>in</strong>e regelmäßige und<br />

planbare Versorgung (durch Vorratshaltung auch über den W<strong>in</strong>ter h<strong>in</strong>weg)<br />

gesichert werden (Naturkatastrophen und ungünstige<br />

Witterungsverhältnisse ausgeschlossen).<br />

Daß <strong>die</strong>se sog. neolithische Revolution gelang, hatte zur Voraussetzung, daß<br />

der Mensch 1. <strong>die</strong>se "Erf<strong>in</strong>dung" zu akzeptieren bereit oder <strong>in</strong> Lage war (was<br />

angesichts der Vorteile schnell erfolgte), und 2. daß er seßhaft wurde, denn<br />

nur so konnte er <strong>die</strong> Felder beständig besäen, pflegen und beernten, um <strong>die</strong><br />

derart gewonnenen Nahrungsmittel zu Brot u. dgl. handwerklich zu<br />

verarbeiten. Das setzte auch e<strong>in</strong> gewisses M<strong>in</strong>destmaß an Arbeitsteilung <strong>in</strong><br />

den sich herausbildenden, wohl noch rudimentär städtischen, noch stark<br />

agrarisch geprägten Gebilden heraus, zwischen Landwirtschaft <strong>in</strong>- und<br />

außerhalb der Städte, den Kriegern (<strong>die</strong> alsbald aufgrund ihres<br />

Waffenmonopols politisch privilegierte Position e<strong>in</strong>nahmen) und den<br />

Handwerkertum usw.<br />

Es entstanden urban durchsetzte Agrargesellschaften, <strong>die</strong> <strong>in</strong> regenarmen<br />

Gegenden u.a. von komplizierten Bewässerungssystemen abhängig waren,<br />

<strong>die</strong> wiederum von zentralen staatlichen Instanzen (König, Priestertum, oft<br />

noch identisch) langfristig geplant werden mußten. Bewässerungssysteme<br />

kann man nur geme<strong>in</strong>schaftlich aufbauen, organisieren und <strong>in</strong> ihrem<br />

Weiterbestand gegenüber Versandung z.B. sichern. (Daher wurden <strong>die</strong>se<br />

Gesellschaften von Wittfogel auch als "hydraulische Gesellschaften"<br />

bezeichnet.) Und damit all <strong>die</strong>se Funktionen zusammenwirken, bedarf es<br />

e<strong>in</strong>er hierarchischen, religiös legitimierten politischen Organisation, <strong>die</strong> <strong>die</strong>s<br />

bewirkt. Mit der bäuerlichen Gesellschaft entwickelten sich (zunächst noch<br />

<strong>in</strong> Personenidentität mit dem "Bauern") weitere funktionale<br />

Aufgabenbereiche, dem der Verarbeitung des Getreides (Müller usw.) und<br />

auch dem der Instandhaltung der Bewässerungsanlagen.<br />

Die unterschiedlichen wirtschaftlichen Funktionen wurden im Verlaufe der<br />

Zeit (wir dehnen nun <strong>die</strong> zeitliche Perspektive erheblich, transepochal aus)<br />

sozial und organisatorisch zusammengefaßt (später nannte man sie Stände),<br />

denen Angehörige gleicher Berufe (Küfner, Gerber, Müller usw.)<br />

angehörten. Diese Stände kontrollierten den Umfang der Produktion, um<br />

Überproduktion zu vermeiden. Andererseits bedeuteten <strong>die</strong>se Stände e<strong>in</strong>e<br />

Strangulierung des wirtschaftlichen Potentials, und e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung der<br />

explosiven Innovationskraft des <strong>in</strong>dustriellen, postagrarischen Kapitalismus<br />

war es, daß er <strong>die</strong>se Standesschranken seit Beg<strong>in</strong>n des 19. Jahrhunderts<br />

82


aufhob und der wirtschaftlichen Tätigkeit freien Lauf ließ (Laissez-faire,<br />

laissez-aller als Devise des kapitalistischen Liberalismus.)<br />

Agrargesellschaften s<strong>in</strong>d jedoch nicht nur derart negativ zu betrachten, sie<br />

waren und s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>die</strong> Voraussetzung für städtische und/oder<br />

städtisch dom<strong>in</strong>ierte Gesellschaftsformationen, wie sie sich heutzutage voll<br />

ausgebildet haben und <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e weitere Differenzierung der wirtschaftlichen<br />

Arbeitsformen ermöglichte (wobei auf z.T. schon zuvor gegebenen<br />

Arbeitstypen z.B. im Handwerk zurückgegriffen wird, <strong>die</strong> nun aber e<strong>in</strong>en<br />

anderen, bedeutenderen Stellenwert erhalten und vererbt werden konnten).<br />

Das städtische Leben (Jericho, Babylon als den ersten Städten) wird durch<br />

e<strong>in</strong>e landwirtschaftliche Überproduktion ermöglicht, <strong>die</strong> es erlaubt, daß sich<br />

<strong>die</strong> Städter - entlastet von der Nahrungsmittelproduktion - mit anderen<br />

wirtschaftlichen (und politischen sowie kulturellen!) Aufgaben auf Dauer<br />

befassen können. (Allerd<strong>in</strong>gs hat sich <strong>die</strong>ser Differenzierungsprozeß nur<br />

historisch langfristig vollzogen, da auch noch <strong>in</strong> den Städten bis <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Neuzeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> Landwirtschaft, z. T. <strong>in</strong> Gärtnereiform, betrieben wurde.<br />

Selbst <strong>in</strong> Großstädten heutiger Entwicklungsländer sieht man noch <strong>die</strong>se<br />

bäuerliche Nebenerwerbslandwirtschaft, <strong>in</strong> dem z.B. <strong>in</strong> Mietwohnungen<br />

Hühner gehalten werden, oder e<strong>in</strong> Stall im H<strong>in</strong>terhof. Auch hier ist<br />

historische Entwicklung nicht abrupt - trotz allen Geredes von<br />

"Revolutionen" -, sondern kont<strong>in</strong>uierlich-graduell <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em langen,<br />

geschichtlichen Prozeß.<br />

Mit der Freisetzung von der bäuerlichen Tätigkeit konnte das städtische<br />

Handwerk erblühen. Es spezialisierte sich auf zunehmend verfe<strong>in</strong>erte<br />

Bedürfnisse, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Städter - und auch <strong>die</strong> reichen Bauern - erlauben<br />

konnten. Die Städter vermochten hierfür <strong>die</strong> notwendige Kaufkraft<br />

aufzubieten, weil sie sich u.a. im Handel engagierten und hier - auch im<br />

Fernhandel - erhebliche Gew<strong>in</strong>ne zu erzielen <strong>in</strong> der Lage waren. Die<br />

herrschende Schicht der Städte (Priester, Könige, Verwaltungsbeamte)<br />

verfügten über <strong>die</strong> Steuere<strong>in</strong>nahmen, mit denen sie sich <strong>die</strong>se Produkte<br />

leisten konnten.<br />

Schon früh gab es sogar Beziehungen nach Ch<strong>in</strong>a, von wo besondere<br />

Spezereien bezogen wurden.<br />

E<strong>in</strong>ige Völker spezialisierten sich geradezu auf den Handel wie <strong>die</strong><br />

Phönizier und z.T. <strong>die</strong> Griechen, <strong>die</strong> das Mittelmeer mit e<strong>in</strong>em dichten Netz<br />

von kolonial gestützten Handelsbeziehungen überlegten.<br />

Diese städtisch-ländliche, durch z.T. transkont<strong>in</strong>entalen, wenn auch<br />

peripheren Handel ergänzte Formation prägte <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />

Entwicklung letztlich bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> frühe Neuzeit des 16. Jahrhunderts nach<br />

Christi Geburt (und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Regionen bis heute).<br />

Erst mit dem Bruch zur Moderne <strong>in</strong> der Zeit des Humanismus und Luthers<br />

kamen neue Arbeitstypen auf, <strong>die</strong> <strong>die</strong> bisherigen ergänzten, aber auch<br />

zurückdrängten und relativierten. Die geistigen Grenzen des Mittelalters<br />

83


wurden durchbrochen, neue geistige Horizonte eröffneten sich, was nicht<br />

nur <strong>in</strong> der "Entdeckung" Amerikas zum Ausdruck kam. Der Mensch der<br />

Renaissance fühlte sich nicht mehr an religiös vorgegebene Grenzen<br />

gebunden, sondern als Herr der Welt wollte er sie mit Wissen erobern:<br />

"Wissen ist Macht", hieß es daher nicht zu Unrecht typisch für <strong>die</strong>se Zeit des<br />

16. Jahrhunderts bei dem englischen Politiker und Sozialutopisten F. Bacon.<br />

Der Mensch fühlte sich nicht mehr endlich, er entwickelte spätestens im 17.<br />

Jahrhundert den Begriff der Unendlichkeit, wie es u.a. <strong>in</strong> der Erf<strong>in</strong>dung der<br />

Inf<strong>in</strong>itesimalrechnung von Leibniz und Newton zum Ausdruck kommt.<br />

Das begann bereits zur Zeit des späten Mittelalters mit den großen Handelsund<br />

Kaufmannsstädten Oberitaliens wie Florenz und Venedig, <strong>die</strong> auch e<strong>in</strong>e<br />

weitere Form des Wirtschaftens zur Vollendung brachten, nämlich das der<br />

Kreditgewährung (nicht zufällig entstammen bis heute zahlreiche Begriffe<br />

des Bankwesens dem Italienischen): Will man Waren produzieren, so bedarf<br />

es meist der Vorprodukte, um <strong>die</strong> Ware überhaupt fabrizieren zu können.<br />

Diese Vorprodukte können jedoch oft nicht f<strong>in</strong>anziert werden, da der<br />

Produzent erst durch den Verkauf se<strong>in</strong>es fertigen Produktes über <strong>die</strong><br />

notwendige Liquidität verfügt. Diese F<strong>in</strong>anzierungslücke helfen Banken zu<br />

überbrücken, <strong>die</strong> - auf der Basis des bei ihnen angesparten Geldes - Kredite<br />

gegen Z<strong>in</strong>s vergeben, <strong>die</strong> dann mit den E<strong>in</strong>nahmen aus dem fertigen<br />

Produkt zurückgezahlt werden. Den Stadtstaaten Oberitaliens gelang jedoch<br />

nicht der E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> <strong>die</strong> moderne, <strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft, aus<br />

verschiedenen Gründen: 1. <strong>die</strong> Staaten waren wohl zu kle<strong>in</strong> und<br />

untere<strong>in</strong>ander verfe<strong>in</strong>det, so daß sich ke<strong>in</strong>e Territorialstaaten mit großen<br />

Märkten als Voraussetzung des Absatzes von größeren Mengen von<br />

Produkten bilden konnten. (Denn e<strong>in</strong> umfangreicher Markt mit e<strong>in</strong>er<br />

Vielzahl von Kunden ist Bed<strong>in</strong>gung für <strong>in</strong>dustrielle Produktion, <strong>die</strong> sich ja<br />

dadurch auszeichnet, daß auf mechanisierte Weise effizient-arbeitsteilig<br />

Waren <strong>in</strong> großen Mengen und durch <strong>die</strong> Massenproduktion verbilligt<br />

hergestellt werden - <strong>die</strong> Massen an Produkten bedürfen auch Massen an<br />

Abnehmern.)<br />

2. Die durch Handel und Bankwesen gewonnenen E<strong>in</strong>nahmen wurden zu<br />

e<strong>in</strong>em großen Teil nicht produktiv z.B. <strong>in</strong> Fabrik und Handwerk <strong>in</strong>vestiert,<br />

sondern zur künstlerischen Ausstattung der Städte verwandt, woran sich <strong>die</strong><br />

Touristen bis heute erfreuen. Damit soll nicht gesagt werden, daß<br />

Luxuskonsum nicht auch zur Industrialisierung beitragen kann - unter<br />

bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen. Im absolutistischen Frankreich entstand z.B. um<br />

den Hof zu Versailles e<strong>in</strong>e eigene, vor allem Textil<strong>in</strong>dustrie.<br />

3. In Oberitalien waren <strong>die</strong>se Bed<strong>in</strong>gungen nicht gegeben, auch deshalb, weil<br />

sich das Wirtschaftsleben zu sehr auf Handel und Kreditgewährung<br />

konzentrierte - und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne nur wenig produktiv war, sondern<br />

lediglich reproduktiv, von der Produktion anderswo lebend.<br />

Der <strong>in</strong>novative Unternehmer, der entrepreneur, der Abenteurer (der auch<br />

andere Kont<strong>in</strong>ente eroberte) und der vor allem se<strong>in</strong> wie auch immer<br />

gewonnenes (erbeutetes, erspartes) Kapital <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong>vestiert, daß aus<br />

84


dem Produzierten e<strong>in</strong> Mehrfaches an Gew<strong>in</strong>n entsteht, das dann wieder<br />

<strong>in</strong>vestiert wird, usw. - <strong>die</strong>ser moderne Unternehmer trat - wie oben bereits<br />

angedeutet - erst ab dem 16. Jahrhundert auf <strong>die</strong> historische Bühne - und<br />

zwar <strong>in</strong> Nordwesteuropa, <strong>in</strong> England und <strong>in</strong> den englischen Kolonien <strong>in</strong><br />

Nordamerika, also vorrangig <strong>in</strong> protestantisch geprägten Gebieten. Das ist<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergrund der These von Max Weber wichtig, der behauptete,<br />

daß der spezifische Geist des Protestantismus - vorrangig bestimmter<br />

calv<strong>in</strong>istischer Sekten - e<strong>in</strong> asketisches Verhalten und sparsames Leben mit<br />

sich gebracht habe, was zur Akkumulation von Reichtum und e<strong>in</strong>er<br />

Ablehnung luxuriöser Lebenshaltung führte. Statt der endlosen Kette immer<br />

schönerer weltlicher und kirchlicher Bauten im Feudalismus entwickelte sich<br />

e<strong>in</strong>e endlose Kette von immer mehr Investitionen, <strong>die</strong> als <strong>in</strong>dustrialistische<br />

Welle <strong>die</strong> Welt immer mehr und mittlerweile fast gänzlich zu penetrieren, zu<br />

durchdr<strong>in</strong>gen vermochte und sich auch <strong>die</strong> Natur untertan zu machen<br />

versucht. Dabei ist der Prozeß jedoch heutzutage an se<strong>in</strong>e Grenzen gelangt -<br />

mit der Gefahr, daß sich der Industrialismus se<strong>in</strong>e eigene, natürliche<br />

Grundlage zerstört. Aber noch im "Kommunistischen Manifest" von Marx<br />

und Engels ist <strong>die</strong> emphatische Bewunderung für <strong>die</strong>se Kraft des<br />

Kapitalismus zu spüren. (siehe zur Gegenwart Häußler 1994: 177 ff.)<br />

Der <strong>in</strong>dustrielle Abenteurer (und das waren z.B. <strong>die</strong> ersten Krupps<br />

angesichts der Ungewißheit des Ausgangs ihres Unterfangens durchweg)<br />

war allerd<strong>in</strong>gs nicht ohne sie begünstigende Rahmenbed<strong>in</strong>gungen denkbar:<br />

Der sich ausbildende Zentral- und später Nationalstaat mit ausgebauter<br />

Militär-, Verwaltungs- und Wohlfahrtsbürokratie förderte sie, er schuf, wie<br />

erwähnt, auch <strong>die</strong> großen Märkte, <strong>in</strong>dem das Verkehrssystem entwickelt<br />

wurde - z.T. gegen den Widerstand der städtischen Zünfte, <strong>die</strong> es<br />

bevorzugten, <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>gefahrenen, mittelalterlichen Bahnen e<strong>in</strong>er<br />

regulierten Wirtschaft zu verbleiben, <strong>die</strong> Innovationen gerade verh<strong>in</strong>derten.<br />

(Daher begann der frühe Prozeß der Industrialisierung auch auf dem Lande.<br />

Nur <strong>in</strong> ressourcenarmen Gegenden wie der Schweiz verbanden sich<br />

Handwerk und erste Ansätze der <strong>in</strong>dustriellen Fertigung. Damit ist jedoch<br />

nicht gesagt, daß <strong>die</strong> Industrialisierung nicht aus e<strong>in</strong>em breiten<br />

Handwerkertum hervorwuchs - im Gegenteil.)<br />

Die staatliche Förderung der Wirtschaft seit dem 17./18. Jahrhundert waren<br />

<strong>die</strong> Essenz dessen, was man Merkantilismus (für Frankreich) und<br />

Kameralismus (für Deutschland und Österreich) nennt. E<strong>in</strong>e kompetente<br />

Verwaltung legte Wege und Straßen an, reizte zu Investitionen an und<br />

"peuplisierte", besiedelte das Land, d.h. lud handwerklich ausgebildete<br />

Bevölkerungsteile zur Niederlassung im eigenen Staat e<strong>in</strong> (z.B. <strong>die</strong><br />

Hugenotten und Holländer <strong>in</strong> Preußen).<br />

Es gab auch schon früh schillernde "Zwischentypen", z.B. Wallenste<strong>in</strong><br />

während des dreißigjährigen Krieges, der Krieg quasi <strong>in</strong>dustriell betrieb, d.h.<br />

nicht nur konventionell Schlachten schlug, sondern - quasi e<strong>in</strong>e Vorform des<br />

Unternehmertums - auch für <strong>die</strong> hierfür notwendige wirtschaftliche und<br />

f<strong>in</strong>anzielle Infrastruktur schuf.<br />

85


Gegenstück zum oben dargestellten Unternehmer ist der Arbeiter (im<br />

engeren S<strong>in</strong>ne), der Proletarier, wie er seit Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

massenhaft auftrat und wie er das Werk sowohl von Marx als auch von<br />

Jünger prägt, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form jedoch "untergegangen" ist, da er sich heute<br />

zum saturierten Arbeitnehmer gewandelt hat. Der frühe, proletarische<br />

Arbeiter war von der gleichen Arbeitswut wie der (frühe) Kapitalist geprägt<br />

- allerd<strong>in</strong>gs gezwungenermaßen, denn <strong>die</strong> vormaligen Arbeitsmöglichkeiten<br />

<strong>in</strong> der Landwirtschaft wurden ihm durch <strong>die</strong> Bauernbefreiung genommen,<br />

<strong>die</strong> oft nur zur Folge hatte, daß <strong>die</strong> Bauern zwar aus der faktischen<br />

Leibeigenschaft gegenüber dem Gutsherrn entlassen wurden, aber das Land<br />

nicht kaufen konnten, von dem sie sich hätten ernähren können, so daß nur<br />

<strong>die</strong> Abwanderung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Industrien der Städte übrig blieb. Beide - Kapitalist<br />

und Proletarier - waren aber trotz aller Klassengegensätze gleichermaßen<br />

Teile und Träger der kapitalistischen Arbeitskultur, <strong>die</strong> sich von der<br />

vormodernen "Mußegesellschaft" erheblich unterschied. Deren Zentralwert<br />

war nicht <strong>die</strong> Arbeit, sondern das gottgefällige Leben - zum<strong>in</strong>dest der<br />

Ideologie nach. In der mit dem Industrialismus here<strong>in</strong>brechende<br />

Materialismus der Arbeit, der (Neu-)Schaffung der Welt durch Arbeit (und<br />

nicht durch Gott!) s<strong>in</strong>d sich Marxismus und Kapitalismus e<strong>in</strong>ig. Wegen<br />

<strong>die</strong>ses potentiellen oder tatsächlichen Atheismus ist zum<strong>in</strong>dest im<br />

Katholizismus e<strong>in</strong> offenes oder verstecktes Ressentiment gegen den<br />

Kapitalismus festzustellen - beim gegenwärtigen Papst als Kampf und<br />

Mission gegen den westlichen Konsumerismus.<br />

Nur noch <strong>in</strong> Rudimenten hielt sich lange Zeit <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dustriellen<br />

Gesellschaft der Gegentyp des Arbeiters, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> pervertierter Form: als<br />

Flaneur und Dandy (vgl. Dandy 1995: 14) , der - von der Gesellschaft<br />

gleichzeitig abgelehnt und im Stillen bewundert - der Lust um der Lust lebt<br />

(<strong>die</strong> f<strong>in</strong>anziellen Grundlagen vorausgesetzt). Auch der Adel hat z.T. noch<br />

<strong>die</strong>sen Flair des Nichtarbeitenmüssens und -wollens (auch wenn er sich<br />

großteils schon frühzeitig vor allem <strong>in</strong> England <strong>in</strong> den Prozeß der<br />

Industrialisierung und <strong>in</strong> Preußen <strong>in</strong> den militärischen und adm<strong>in</strong>istrativen<br />

Apparat <strong>in</strong>tegrierte. Wo das nicht gelang, wie <strong>in</strong> Frankreich, verlor er auch<br />

früh an Bedeutung und Macht.)<br />

Erst <strong>in</strong> neuerer Zeit seit Beg<strong>in</strong>n der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sche<strong>in</strong>t<br />

das Arbeitsideal an Überzeugungskraft zu verlieren (was allerd<strong>in</strong>gs erst<br />

dadurch möglich wurde, daß <strong>die</strong> materiellen Versorgungsprobleme <strong>in</strong> den<br />

OECD-Staaten des Nordens gelöst s<strong>in</strong>d - bis zur Überproduktion von<br />

Nahrungsmitteln und <strong>in</strong>dustriellen Produkten). Durch <strong>die</strong>sen sog.<br />

postmaterialistischen Wertewandel traten nun bei e<strong>in</strong>em Teil vor allem der<br />

Jugend Werte von Arbeit und Leistung <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund, statt dessen<br />

dom<strong>in</strong>ieren Werte der <strong>in</strong>dividuellen Selbstverwirklichung - selbst unter<br />

Inkaufnahme e<strong>in</strong>es relativ niedrigen E<strong>in</strong>kommensniveaus, das allerd<strong>in</strong>gs<br />

durch <strong>die</strong> staatlichen, rechtlich verpflichtenden Stützungssysteme auch ohne<br />

Arbeitse<strong>in</strong>kommen gar nicht so tief s<strong>in</strong>ken kann. Stichwortartig kann man<br />

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<strong>die</strong>s mit dem Begriff der "alternativen/grünen Subkultur" umschreiben, wie<br />

sie vorrangig <strong>in</strong> Großstädten (mit Universitäten) anzutreffen ist. (Allerd<strong>in</strong>gs<br />

verb<strong>in</strong>det sich <strong>die</strong>se Art der Selbstverwirklichung zuweilen mit e<strong>in</strong>er<br />

modernen Form der Ausbeutung, der Selbstausbeutung, so wenn Öko-<br />

Bäcker <strong>die</strong>se von ihnen gewählte freie Tätigkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise ausüben, daß<br />

sie mehr als den üblichen Achtstundentag "werken", auch, um gegenüber<br />

der <strong>in</strong>dustriell und billiger produzierenden Konkurrenz wettbewerbsfähig<br />

zu bleiben. Der Wertewandel sche<strong>in</strong>t sich demnach nicht gänzlich vom<br />

Zentralwert der Arbeit abzuwenden, sondern ihn nur anders zu<br />

<strong>in</strong>terpretieren.) Im postkommunistischen Ostdeutschland gibt es <strong>in</strong> Teilen<br />

e<strong>in</strong>e Abart <strong>die</strong>ses postmaterialistischen Phänomens, allerd<strong>in</strong>gs paradoxer<br />

Weise unter materialistischen Vorzeichen: e<strong>in</strong> Teil der Bevölkerung lebt<br />

lieber von der Sozialhilfe, zumal Arbeit knapp ist, als sich mühsam um nur<br />

wenig mehr e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gende Beschäftigung zu kümmern, da <strong>die</strong><br />

Sozialhilfeleistungen immer noch mehr an Wohlstand ermöglichen als das<br />

se<strong>in</strong>erzeitige E<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> der DDR.<br />

Auch <strong>die</strong> <strong>in</strong>folge von Rationalisierungsprozessen (Schumann 1994: 405 ff.)<br />

wachsende Arbeitslosigkeit <strong>in</strong> westlichen Industriestaaten, derer <strong>die</strong><br />

Regierungen und <strong>die</strong> Wirtschaft wohl aus strukturellen Gründen auch<br />

langfristig nicht Herr zu werden vermögen, ist zunächst e<strong>in</strong>mal ke<strong>in</strong>e<br />

Abkehr von der Arbeitsgesellschaft, da <strong>die</strong> meisten Arbeitslosen <strong>die</strong>sen<br />

ihren Status (oder genauer: Nichtstatus) als Leid und soziale<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung und Ausgrenzung empf<strong>in</strong>den - trotz Sicherung e<strong>in</strong>es<br />

materiellen Grundstandards durch Arbeitslosengeld oder zum<strong>in</strong>dest<br />

Sozialhilfe. Oft führt Arbeitslosigkeit daher zu psychischen Dauerkrisen der<br />

betroffenen Individuen, <strong>die</strong> wirklich zu Individuen, zu vere<strong>in</strong>samten, oft<br />

depressiv gestimmten Menschen werden, <strong>die</strong> sich sozial geächtet fühlen<br />

und bald auch selbst nicht mehr <strong>in</strong> ihre Fähigkeiten vertrauen, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>er<br />

haben und <strong>in</strong> Anspruch nehmen will. Derartige Verunsicherungsprozesse<br />

wirken sich auf <strong>die</strong> gesamte Familie aus, bis zur Stigmatisierung der K<strong>in</strong>der<br />

<strong>in</strong> der Schule und selbst schon im K<strong>in</strong>dergarten.<br />

Da <strong>die</strong>ses Problem aus den verschiedensten Gründen (der Ersatz von<br />

Menschen durch Masch<strong>in</strong>en läßt sich angesichts der Weltmarktkonkurrenz<br />

und der weltweiten Rationalisierungsprozesse nicht rückgängig machen)<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht gelöst werden kann - Massenarbeitslosigkeit wird zum<br />

Dauerphänomen -, wird <strong>in</strong> der ero<strong>die</strong>renden Arbeitsgesellschaft von heute<br />

diskutiert, wie Alternativen zu schaffen s<strong>in</strong>d. Zu nennen s<strong>in</strong>d hier:<br />

Arbeitszeitverkürzung bis zur 30-Stunden-Woche, arbeitsfreie Jahre<br />

(Sabbath-Jahre), f<strong>in</strong>anzielle Grundsicherung auch ohne Arbeit usw.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs besteht hierbei das Problem, daß der Großteil der Gesellschaft<br />

bewußtse<strong>in</strong>smäßig noch auf den Zentralwert der Arbeit fixiert ist - und auch<br />

se<strong>in</strong> muß, da das durchschnittliche E<strong>in</strong>kommen nicht so hoch ist, um <strong>die</strong><br />

Wünsche erfüllen zu können, <strong>die</strong> man sich gesetzt hat. Man spricht daher<br />

auch von e<strong>in</strong>er Legitimationskrise des wirtschaftlichen und politischen<br />

Systems, das nicht mehr <strong>die</strong> Versprechungen zu erfüllen vermag, mit denen<br />

es - repräsentiert durch <strong>die</strong> Ideale des Liberalismus - angetreten ist. Jedoch<br />

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hat <strong>die</strong>se Legitimationskrise <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise zu e<strong>in</strong>er politischen<br />

Destabilisierung geführt, weil <strong>die</strong> materielle Grundsicherung gewährleistet<br />

ist, so daß es vielleicht <strong>in</strong>sgesamt fraglich ist, von e<strong>in</strong>er solchen<br />

Legitimationskrise zu sprechen.<br />

Diesem Obsoletwerden des Arbeiters (im engeren S<strong>in</strong>ne von Arbeitnehmer)<br />

entspricht e<strong>in</strong> Obsoletwerden der klassischen Unternehmerpersönlichkeit,<br />

<strong>die</strong> eigentlich nur noch <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>- und mittelständischen Unternehmen zu<br />

f<strong>in</strong>den ist. In den Großunternehmen verschw<strong>in</strong>det <strong>die</strong>ser<br />

Pionierunternehmer <strong>in</strong> der Anonymität von breit gelagerten<br />

Aktiengesellschaften, <strong>die</strong> von "Managern", angestellten Unternehmern,<br />

verwaltet werden. Das braucht nicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Schw<strong>in</strong>den der<br />

Innovationskraft zu bedeuten (das zeigen <strong>die</strong> japanischen Unternehmungen<br />

mit ihrem <strong>in</strong>tegrativen Kollektivgeist), aber der Verwalter als Teil e<strong>in</strong>es<br />

arbeitsteiligen Konzerns kann gar nicht mehr <strong>die</strong> persönliche Verantwortung<br />

tragen, wie das der traditionelle Unternehmer tat. Der Typ des<br />

Unternehmers wandelte sich eben zum Manager. Symptomatisch für <strong>die</strong>se<br />

Entwicklung ist, daß z.B. Unternehmer und Unternehmensgründer (Horten,<br />

Flick) ihre Betriebe verkaufen, um das derart gewonnene Vermögen sicher <strong>in</strong><br />

Drittkapitalien anzulegen. Man scheut das persönliche Risiko. Der<br />

Unternehmer wird zum Rentner, der von sicheren E<strong>in</strong>nahmen leben will -<br />

rent-seek<strong>in</strong>g ist das Stichwort. Insbesondere <strong>die</strong> Dritte Welt leidet unter<br />

<strong>die</strong>sem Rentner-Unternehmertum, das auf der Basis möglichst staatlich<br />

garantierter und vermittelter E<strong>in</strong>nahmen aus Rohstoffmonopolen -wie für<br />

<strong>die</strong> Länder typisch - Luxuskonsum betreibt.<br />

Damit kommen wir zum nächsten Typ des "Arbeiters", der sich allerd<strong>in</strong>gs<br />

von se<strong>in</strong>er Urform immer mehrt entfernt.<br />

Denn das Innovative des Kapitalismus hat sich von den Investitionen auf <strong>die</strong><br />

F<strong>in</strong>anzmärkte verlagert (vgl. Zeiss 1994: 414) - e<strong>in</strong>er pervertierten Form des<br />

Kapitalismus, der es nicht mehr um <strong>die</strong> Investition und um <strong>die</strong> Schaffung<br />

neuer Werte geht, sondern um <strong>die</strong> spekulative Vermehrung von<br />

Kapitalanlagen um se<strong>in</strong>er selbst Willen: Wegen Z<strong>in</strong>svorteile werden<br />

Vermögensmassen z.T. von London nach Tokio <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Woche h<strong>in</strong><br />

und her verlagert (Arbitrage genannt), und zwar <strong>in</strong> zig-Millarden-Größen, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em derartigen Umfang, daß selbst das Gegensteuern (Intervenieren)<br />

großer Nationalbanken angesichts der durch <strong>die</strong> Arbitrage bewirkten<br />

Fluktuationen von betroffenen Währungen (z.B. drohende Abwertung e<strong>in</strong>er<br />

Währung) kaum etwas nützt, da <strong>die</strong>se Banken nicht über genügend Devisen<br />

verfügen. Die <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzmärkte haben sich verselbständigt, sie<br />

übertreffen rd. um das Zehnfache den Umfang des <strong>in</strong>ternationalen<br />

Handelsvolumens. Am deutlichsten kommt das <strong>in</strong> den Euro-Dollar-Märkten<br />

zum Ausdruck, <strong>die</strong> nicht mehr nur auf Europa beschränkt s<strong>in</strong>d und vor<br />

allem von den nationalen Instanzen nicht mehr kontrolliert werden können.<br />

Hier wird unbeh<strong>in</strong>dert durch staatliche Kontrollen mit Dollars gehandelt,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>folge früherer <strong>in</strong>flationärer Tendenzen <strong>in</strong> den USA den Weltmarkt<br />

überschwemmen. Der Broker ist der, der <strong>die</strong>se Transaktionen über Börsen<br />

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managt - meist im Auftrag e<strong>in</strong>er Großbank. Jedoch haben sich <strong>die</strong>se Broker<br />

auch gegenüber ihren auftraggebenden Banken z.T. verselbständigt, wie e<strong>in</strong>e<br />

Reihe von F<strong>in</strong>anzskandalen der letzten Zeit zeigt.<br />

Der Broker ist der neue, aber unproduktive Abenteurer, da er <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Handel mit Devisen und Aktien und sonstigen Werten ("Derivatenhandel")<br />

auf den zukünftigen Wert e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit "wettet". Er kauft <strong>in</strong> der Hoffnung<br />

auf e<strong>in</strong>e Wertsteigerung (was natürlich auch scheitern oder sich als falscher<br />

Glaube erweisen kann, siehe <strong>die</strong> F<strong>in</strong>anzskandale oben), mit daraus dann<br />

folgenden Verlusten. (In e<strong>in</strong>er Nebenfunktion wirken <strong>die</strong> Broker aber auch<br />

funktional, wenn auch unbeabsichtigt, <strong>in</strong>dem nämlich durch ihr Wirken <strong>die</strong><br />

Z<strong>in</strong>sniveaus der großen Nationalstaaten angeglichen werden, denn ihre<br />

Anlage z.B. <strong>in</strong> Hochz<strong>in</strong>swährungen hat zur Konsequenz, daß <strong>die</strong>ses<br />

Z<strong>in</strong>sniveau s<strong>in</strong>kt bis auf das der anderen Staaten.)<br />

Insgesamt ist historisch gesehen e<strong>in</strong> Prozeß zunehmender Abstrahierung auf<br />

Sekundär- und Sekundär-Sekundär-, bzw. Tertiärmärkten festzustellen, <strong>in</strong><br />

dessen Verlauf sich das Wirtschaften immer mehr von der konkreten Arbeit<br />

entfernt, oder kritisch ausgedrückt <strong>in</strong> hegelianisch-marxistischer<br />

Term<strong>in</strong>ologie: entfremdet hat. Das begann schon mit der Notwendigkeit,<br />

daß seit Ende des letzten Jahrhunderts <strong>in</strong> großen Betrieben neben der<br />

Produktion e<strong>in</strong>e eigene Verwaltung zur Regulation der Produktion (Absatz,<br />

Market<strong>in</strong>g, Beschaffung usw.) aufgebaut wurde oder werden mußte<br />

(Phänomen der Angestelltenschaft), und das endete vorerst - wie gesagt -<br />

mit dem Broker. Dabei s<strong>in</strong>d seit den 70er Jahren nicht mehr <strong>die</strong> nationalen<br />

Märkte der Bezugsraum, sondern der Weltmarkt, für den e<strong>in</strong>heitlich<br />

und/oder auch spezifisch orientiert auf regionale/nationale Besonderheiten<br />

produziert wird - <strong>in</strong> immer komplexer arbeitsteiligen Großorganisationen -<br />

mit Niederlassungen über den gesamten Globus.<br />

Derart komplexe und damit auch labile und stets vom Kollaps bedrohte<br />

(Währungskrisen!) weltweite Wirtschaftsbeziehungen können nur dadurch<br />

e<strong>in</strong>igermaßen stabilisiert werden, daß nationale und <strong>in</strong>ternationale<br />

Regularien seitens der Politik statuiert werden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Unzahl ökonomischer<br />

Beziehungen <strong>in</strong> geregelte Bahnen zu leiten versuchen.<br />

Genannt seien hier nur der GATT-Vertrag, neuerd<strong>in</strong>gs als Welthandels-<br />

Organisation (WTO) mit weitergehenden Kompetenzen neu als<br />

<strong>in</strong>ternationale Organisation mit eigener Verwaltung gegründet, zur<br />

Sicherung <strong>in</strong>ternational unbeschränkten, nicht diskrim<strong>in</strong>ierten oder durch<br />

Zölle und Kont<strong>in</strong>gente beh<strong>in</strong>derten Handels; der Internationale<br />

Währungsfonds zur Stabilisierung von Währung und zur Meisterung der<br />

Verschuldung von Nationalstaaten durch Umschuldungen über <strong>die</strong> Pariser<br />

und Londoner "Clubs" (Umschuldungsorganisationen); sowie <strong>die</strong> Weltbank,<br />

<strong>die</strong> z<strong>in</strong>sgünstige Kredite an Entwicklungsländer zur Förderung des<br />

Wirtschaftswachstums vergibt.<br />

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Mit der stets latenten und zuweilen manifest werdenden Gefahr der<br />

allgeme<strong>in</strong>en Instabilität ist auch <strong>die</strong> Aufgabe von Wirtschaftsverfassungen<br />

angesprochen, mit denen sich im nächsten Kapitel beschäftigt werden soll.<br />

Wirtschaftsverfassungen (vgl. Veelken 1991: 463 ff.)<br />

Die heute weltweit dom<strong>in</strong>ierende Wirtschaftsverfassung ist - <strong>in</strong><br />

verschiedenen Varianten - <strong>die</strong> staats<strong>in</strong>terventionistische Marktwirtschaft.<br />

Das heißt: Die wirtschaftlichen Beziehungen werden im großen und ganzen<br />

über Marktprozesse gesteuert: es wird so viel produziert, wie der<br />

Unternehmer erwartet, daß vom Kunden nachgefragt wird; der Preis steigt,<br />

wenn es Knappheiten an Waren gibt, und er fällt, wenn es zu viel gibt (z.B.<br />

<strong>die</strong> Restbestände am Samstagsmarkt, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>er mehr haben will), usw. usf.<br />

Das ist uns bereits derart <strong>in</strong> Fleisch und Blut übergegangen, daß es<br />

selbstverständlich sche<strong>in</strong>t, obwohl der Markt e<strong>in</strong>e vom Menschen<br />

geschaffene und tra<strong>die</strong>rte, soziale Gesellungsform ist, <strong>die</strong> weder ewig noch<br />

natürlich ist, wie <strong>die</strong> Markt-Apologeten zuweilen behaupten. (Man kann<br />

eben auch alles staatlich durch Tausch organisieren oder über Mafia-<br />

Strukturen ...).<br />

Die exemplarisch geschilderten Marktprozesse verlaufen jedoch nur idealiter<br />

so, und wird nicht immer verwirklicht: z.B. gel<strong>in</strong>gt es zuweilen und<br />

zeitweise großen Konzernen - wenn sie alle<strong>in</strong>iger Anbieter s<strong>in</strong>d -, Preise auf<br />

Teilmärkten hoch zu halten, auch wenn <strong>die</strong> Nachfrage s<strong>in</strong>kt (es fehlt halt <strong>die</strong><br />

Konkurrenz, <strong>die</strong> zu Preissenkungen zw<strong>in</strong>gen würde, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>fach<br />

billiger anbietet); oder man wird durch Werbung zum Kauf von etwas<br />

verleitet, was über <strong>die</strong> eigene Kasse geht (obwohl <strong>die</strong><br />

Manipulationsmöglichkeiten nicht übertrieben werden sollten).<br />

Jeder "Marktwirtschaftler" gesteht jedoch darüber h<strong>in</strong>aus zu, daß nicht nur<br />

<strong>die</strong>se Mängel vorkommen (sie können ja ggf. z.B. durch staatliche<br />

Kartellkontrolle angegangen werden); sondern daß marktgesteuerte<br />

Prozesse nicht unbed<strong>in</strong>gt sozial s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Arbeitnehmer, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Unternehmen beschäftigt ist, das <strong>in</strong> Konkurs geht, mag noch so viel geleistet<br />

haben, er wird arbeitslos und erleidet große E<strong>in</strong>kommensverluste, was sozial<br />

ungerecht ist.<br />

Dem (und anderen Gefährdungen als Folge des Wirtschaftslebens) versucht<br />

der Staat durch e<strong>in</strong>e Reihe sozialpolitischer Maßnahmen entgegenzusteuern<br />

("Staats<strong>in</strong>terventionismus"): Arbeitslosenhilfe, Unfallvor- und fürsorge,<br />

f<strong>in</strong>anzielle Sicherung für Rentner, Gesundheitsversorgung, Umschulung <strong>in</strong><br />

neue Berufe, Arbeitsvermittlung durch <strong>die</strong> Arbeitsämter. Damit soll e<strong>in</strong>e<br />

soziale Grundsicherung gewährleistet werden - <strong>die</strong>s wurde am<br />

konsequentesten realisiert <strong>in</strong> den skand<strong>in</strong>avischen, lange Zeit<br />

sozialdemokratisch regierten Staaten und <strong>in</strong> der Bundesrepublik<br />

Deutschland schon seit der Ära Adenauer. Allerd<strong>in</strong>gs gerät <strong>die</strong>ses stark<br />

ausgebaute soziale Sicherungssystem seit den Wirtschaftskrisen der 70er<br />

und z.T. der 80er Jahre (Ölpreiskrisen, Rationalisierungskrisen,<br />

90


Strukturumbrüchen, Produktionsverlagerungen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Dritte Welt usw.)<br />

zunehmend <strong>in</strong> F<strong>in</strong>anzierungsschwierigkeiten, wegen Überbeanspruchung,<br />

wegen wachsender Arbeitslosigkeit und auch wegen der<br />

Bevölkerungsabnahme, so daß <strong>die</strong> Zahl der E<strong>in</strong>zahler z.B. <strong>in</strong>s Rentensystem<br />

immer kle<strong>in</strong>er, während gleichzeitig <strong>die</strong> Zahl der Rentner wegen der<br />

(technologischen)<br />

Fortschritte im Gesundheitssystem (was auch viel kostet) ständig wächst.<br />

Der Industriestaat mit dem wohl ger<strong>in</strong>gsten sozialpolitischem<br />

Sicherungsniveau seitens staatlicher Instanzen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten<br />

von Amerika, wo <strong>die</strong>se soziale Sicherung zu e<strong>in</strong>em großen Teil über private<br />

Träger erfolgt - oder gar nicht, so daß man notfalls von Suppenküchen und<br />

Obdachlosenheimen abhängig wird, wenn nicht gar von U-Bahn-Schächten.<br />

Hier besteht noch am ehestens das, was im 19. Jahrhundert als "laissezfaire"-Kapitalismus<br />

bezeichnet wurde, e<strong>in</strong>er staatlich weitgehend<br />

ungesteuerten Wirtschaft unter Vernachlässigung sozialer Belange.<br />

In anderen wirtschaftlichen Sektoren versucht der Staat weitaus mehr, <strong>die</strong><br />

ökonomischen Prozesse zu bee<strong>in</strong>flussen, um gesamtwirtschaftlich optimale<br />

Gleichgewichtszustände (z.B. Gleichgewicht zwischen Angebot und<br />

Nachfrage) zu erreichen. Hierzu gehören vor allem <strong>die</strong> Konjunktur- und <strong>die</strong><br />

Technologiepolitik, aber auch <strong>die</strong> Kartellpolitik, <strong>die</strong> übermäßige,<br />

marktgefährdende betriebliche Konzentrationen verh<strong>in</strong>dern will.<br />

Vor allem <strong>in</strong> den 70er Jahren griffen <strong>in</strong> fast allen westeuropäischen Staaten<br />

und <strong>in</strong> Nordamerika <strong>die</strong> öffentlichen Hände <strong>in</strong>direkt (nach der<br />

keynesianischen Lehre) dadurch bei krisenhaften Entwicklungen der<br />

Konjunkturen (entweder Überproduktion, Hausse, oder Arbeitslosigkeit,<br />

Baisse) e<strong>in</strong>, daß sie im Falle der Baisse öffentliche Gelder <strong>in</strong> den<br />

Wirtschaftsablauf "pumpten", um so <strong>die</strong> fehlende, private Nachfrage<br />

auszugleichen und um so den Wirtschaftsprozeß wieder "anzukurbeln".<br />

Bestes Beispiel hierfür war der staatliche Autobahnbau, mit dem Aufträge an<br />

<strong>die</strong> Bau<strong>in</strong>dustrie vergeben wurden, um Arbeitskräfte e<strong>in</strong>zustellen, <strong>die</strong> durch<br />

ihr E<strong>in</strong>kommen Nachfrage für andere Industriebereiche schufen usw. usf.<br />

In Zeiten überschäumender Konjunktur (Boom: ke<strong>in</strong>e Arbeitslosigkeit,<br />

vollkommene Auslastung des Produktionspotentials, aber evtl. Inflation, da<br />

<strong>die</strong> Nachfrage größer als das Angebot ist), <strong>in</strong> solchen Boom-Zeiten s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Regierungen, Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister und Nationalbanken bestrebt, das<br />

Umkippen des Booms <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konjunkturtief (es wird zu viel produziert, was<br />

zur Krise führt) zu verh<strong>in</strong>dern, vor allem dadurch, daß man der Inflation<br />

e<strong>in</strong>e Deflation entgegensetzt, <strong>in</strong>dem nach Möglichkeit durch hohe Z<strong>in</strong>sen<br />

und durch e<strong>in</strong>e Reduktion staatlicher Aufträge Geld aus der Wirtschaft<br />

"herausgezogen" und damit <strong>die</strong> Nachfrage e<strong>in</strong>gedämmt wird. (vgl. Waibel<br />

1995: 23 ff.)<br />

Diese keynesianische Wirtschaftspolitik ist jedoch spätestens Ende der 70er<br />

Jahre im OECD-Bereich gescheitert, da man zwar zum<strong>in</strong>dest zeitweise <strong>die</strong><br />

Konjunktur durch Staatsverschuldung ankurbeln konnte, aber dann <strong>in</strong><br />

91


Zeiten des Booms nicht mehr zu bremsen vermochte, da sich oft starke<br />

Verbände gegen das <strong>in</strong> solchen Phasen erforderliche Sparen wandten - und<br />

sich damit auch durchsetzten, was <strong>die</strong> Verschuldung des Staates nur weiter<br />

vorantrieb und der Staat <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Baisse angehäuften Schulden im Boom<br />

durch Sparen nicht mehr reduzieren konnte.<br />

Das führte zu e<strong>in</strong>em immer höher anwachsenden Schuldenberg, so daß<br />

keynesianische Konjunktursteuerung nicht mehr f<strong>in</strong>anzierbar war. Es<br />

bedurfte neuer Konzepte.<br />

Statt Krisen durch Nachfragestützung zu beheben, überließ man nun den<br />

konjunkturellen Verlauf weitgehend sich selbst und setzte alternativ auf der<br />

strukturellen Ebene an, nämlich <strong>in</strong> der technologischen<br />

Innovationsförderung von (betrieblichen) Investitionen, <strong>die</strong> mit Hilfe<br />

staatlicher Technologiepolitik auf high-tech-Niveau gebracht werden sollen,<br />

um deren Produkte auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu machen. Das<br />

bedeutet im e<strong>in</strong>zelnen: nicht wettbewerbsfähige Produktionsbereiche (Stahl,<br />

Textil, Kohle usw.) müssen möglichst sozialverträglich abgebaut und <strong>die</strong><br />

dort Beschäftigten zu zukunftsträchtigen Sektoren umgeschult werden. Die<br />

<strong>in</strong> den nördlichen Staaten nicht mehr überlebensfähigen Produktbereiche<br />

wandern <strong>in</strong> <strong>die</strong> 3. Welt ab, wo <strong>die</strong> Produktionsfaktoren (vor allem niedrige<br />

Löhne) derart s<strong>in</strong>d, daß dort <strong>die</strong> Produktion (noch) profitabel ist.<br />

Dieser dom<strong>in</strong>ante Typ staats<strong>in</strong>terventionistischer Marktwirtschaften ist nun<br />

nationalstaatlich je unterschiedlich realisiert:<br />

In Frankreich gibt es e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en umfangreichen Staatssektor<br />

(verstaatlichte Großbetriebe und Großbanken), über den mit Hilfe e<strong>in</strong>es<br />

<strong>in</strong>direkten, nicht verb<strong>in</strong>dlichen Planungssystems des Staates ("planification")<br />

<strong>die</strong> fehlende private Investitionstätigkeit partiell ersetzt werden soll (lange<br />

Zeit exportierten französische Unternehmer lieber ihr Kapital <strong>in</strong>s Ausland<br />

als <strong>in</strong> Frankreich selbst zu <strong>in</strong>vestieren).<br />

Diese Hypertrophie des Staates <strong>in</strong> Frankreich, was sich vor allem <strong>in</strong> der trotz<br />

aller Regionalisierung weiterh<strong>in</strong> bestehenden adm<strong>in</strong>istrativen und<br />

politischen und kulturellen Zentralisierung <strong>in</strong> Paris manifestiert, hat e<strong>in</strong>e<br />

ihrer Ursachen <strong>in</strong> der Staatsferne vieler Franzosen, was sich wiederum <strong>in</strong><br />

regelmäßig wiederkehrenden Revolten und Revolutionen sowie<br />

klassenkämpferischen Streiks zeigt (wobei nicht gesagt werden kann, was<br />

zuerst da war): <strong>die</strong> Staatsgigantonomie erzeugt Ablehnung ihr gegenüber,<br />

<strong>die</strong> Ablehnung stellt wiederum an den Staat quasi Aufgabe,<br />

kompensatorisch an Stelle des Bürgers tätig zu werden. Der Bürger ist<br />

tendenziell anarchistisch und <strong>in</strong>dividualistisch, was sich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

schwachen Verbands- und Parteiensystem, bzw. dessen extreme<br />

Zersplitterung zeigt. Diese <strong>in</strong>neren Gegensätze haben mit dazu beigetragen,<br />

daß Frankreich bis heute weniger <strong>in</strong>dustrialisiert ist als se<strong>in</strong>e nördlichen<br />

Nachbarn. Der Agrarsektor ist immer noch vergleichsweise größer (auch der<br />

Dienstleistungssektor <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>es aufgeblähten Distributionssystems),<br />

Frankreich außerhalb der Paris Metropole ist weith<strong>in</strong> ländlich geprägt, mit<br />

schroffen Übergängen von den/der Metropole(n) zum ländlich-bäuerlichen<br />

Raum.<br />

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(Ähnlich s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Verhältnisse <strong>in</strong> Italien, wo vor allem das Phänomen der<br />

Schattenwirtschaft hervorsticht.)<br />

In anderen Industriestaaten geht es "ordentlicher" zu: In Deutschland s<strong>in</strong>d<br />

<strong>die</strong> Bürger - vor allem <strong>in</strong> den neuen Bundesländern - immer noch trotz aller<br />

Demokratisierung staatstragender, loyaler. Hier schlägt bis heute <strong>die</strong> alte<br />

preußische Tradition durch. Man gruppiert sich um wenige, staatstragende<br />

Parteien; man ist unterstützt <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heitsgewerkschaft, <strong>die</strong> zentral mit den<br />

Arbeitgebern <strong>die</strong> Lohntarife aushandelt - meist sehr diszipl<strong>in</strong>iert und ohne<br />

Streiks. Und das wenige, was an Revolte stattf<strong>in</strong>det, bzw. stattfand<br />

(Studentenrevolte, Grüne, Bürger<strong>in</strong>itiativbewegung), wird relativ schnell <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> bestehenden Strukturen <strong>in</strong>tegriert. Auf bundesstaatlicher Ebene<br />

<strong>in</strong>teragieren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen (nicht <strong>in</strong> allen!) Politikbereichen Verbände, Parteien<br />

und Regierung(en) eng, um bestimmte gesetzliche Regelungen im Konsens<br />

zu realisieren, auch um sie dann später reibungslos, ohne auf größere<br />

Widerstände zu stoßen, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Praxis umsetzen zu können. Im<br />

wirtschaftspolitischen Bereich kommt es jedoch zuweilen zu erheblichen,<br />

sozial und parteipolitisch geprägten Konflikten, symptomatisch hierfür ist,<br />

daß <strong>die</strong> sog. Konzertierte Aktion - e<strong>in</strong>em Zusammenschluß von Verbänden<br />

und Bundesregierung - Mitte der 70er Jahre zusammenbrach.<br />

E<strong>in</strong> noch höheren Regulationsgrad weist z.B. Österreich auf, wo <strong>die</strong><br />

Zusammenarbeit von Regierung, Verbänden und Parteien formell <strong>in</strong> Form<br />

des sog. Korporatismus <strong>in</strong>stitutionalisiert ist (Große Koalition,<br />

Kammerwesen).<br />

In Japan besteht e<strong>in</strong> solcher enger Zusammenhang auf der Basis <strong>in</strong>formeller<br />

sozialer Zwänge, <strong>die</strong> gleichförmiges Verhalten auch über objektive<br />

Konfliktlagen h<strong>in</strong>weg bewirken. ("Japan AG")<br />

Die Zentralverwaltungswirtschaft<br />

Der Gegentyp zur dezentralen Marktwirtschaft ist <strong>die</strong> zentralistische<br />

Planwirtschaft, <strong>die</strong> <strong>in</strong> marxscher Tradition mit den Ungerechtigkeiten von<br />

Marktprozessen (Ausbeutung, ungleiche Vermögensverteilung,<br />

Arbeitslosigkeit usw.) begründet wird. Sie wurde <strong>in</strong> den kommunistischen<br />

Staaten des ehemaligen Ostblocks und <strong>in</strong> der UdSSR realisiert. In<br />

Nordkorea, Vietnam und Kuba besteht sie bis heute - wenn auch durch<br />

starke marktwirtschaftliche Elemente, u.a. Freihandelszonen, modifiziert.<br />

Auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Entwicklungsländern wurde der planwirtschaftliche Weg<br />

versucht, um e<strong>in</strong>e schwer- und leicht<strong>in</strong>dustrielle Entwicklung wie <strong>in</strong> der<br />

se<strong>in</strong>erzeitigen UdSSR zu verwirklichen. Lange Zeit galt das kommunistische<br />

Rußland als Vorbild <strong>in</strong> der Dritten Welt! Mit dem Scheitern <strong>die</strong>ses Modells<br />

und der zunehmenden Verschuldung <strong>in</strong>sbesondere von Schwellenländern <strong>in</strong><br />

Late<strong>in</strong>amerika (Mexiko, Brasilien) sowie unter dem Druck der<br />

<strong>in</strong>ternationalen Kreditgeber (Internationaler Währungsfonds) wurden und<br />

werden jedoch auch <strong>die</strong>se Wirtschaften liberalisiert.<br />

93


Konstitutives Merkmal <strong>die</strong>ser Planwirtschaften ist es, daß <strong>die</strong> politische<br />

Zentrale - sei sie nun demokratisch oder diktatorisch legitimiert - über e<strong>in</strong><br />

System von Kennziffern den Bedarf der Gesellschaft für e<strong>in</strong> oder mehrere<br />

Jahre festzulegen versucht - gemäß der von ihr vertretenen politischen und<br />

ideologischen Prioritäten - und e<strong>in</strong>en Plan aufstellt, mit dem <strong>die</strong> Ressourcen<br />

der Gesellschaft erfaßt werden, um auf <strong>die</strong>sen Bedarf bezogen zu werden.<br />

Die Abstimmung zwischen Bedarf und Angebot ist auch mit großen EDV-<br />

Anlagen nur schwer zu realisieren, wie <strong>die</strong> Erfahrungen mit<br />

kommunistischen Systemen gezeigt haben. Der Umfang der erforderlichen<br />

Informationen <strong>in</strong>sbesondere h<strong>in</strong>sichtlich des Bedarfs ist zu umfangreich,<br />

zumal Schattenwirtschaften und Schwarzmärkte entstanden, deren<br />

Kapazität nicht erfaßt wurde. Andererseits wurde natürlich der Bedarf von<br />

den befragten Stellen meist zu hoch angegeben.<br />

Schließlich bewirkte <strong>die</strong> strikte Planung e<strong>in</strong>e Strangulierung von<br />

Innovationsbereitschaft und technischem Erf<strong>in</strong>dergeist: Man machte nur<br />

noch das, was planmäßig vorgegeben war. Die Hauptenergien <strong>in</strong>vestierte<br />

man <strong>in</strong> <strong>die</strong> wenigen privaten Bereiche (H<strong>in</strong>terhofswirtschaft usw.), bzw.<br />

man begann zu horten, um für alle Fälle von Knappheiten gewappnet zu<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Nur <strong>in</strong> wenigen Sektoren konnte <strong>die</strong> Planwirtschaft ihre Ziele verwirklichen:<br />

<strong>die</strong> rasche Schwer<strong>in</strong>dustrialisierung z.B., oder niedrige Preise im<br />

Grundnahrungs- und Mietwohnungsbereich - allerd<strong>in</strong>gs erkaufte man <strong>die</strong>se<br />

Ziel mit erheblichen gesamtwirtschaftlichen Kosten: Vernachlässigung der<br />

Landwirtschaft und der Leicht<strong>in</strong>dustrie (z.B. Nahrungsmittel, Industrie),<br />

was dann systematisch zu e<strong>in</strong>er chronischen Unterversorgung der<br />

Bevölkerung führte und letztlich auch zum Untergang <strong>die</strong>ser Regime mit<br />

beitrug.<br />

Dies ist nun wohl welthistorisch passé. Was bleibt, ist e<strong>in</strong>e sich zunehmend<br />

globalisierende und alle Lebensbereiche durchdr<strong>in</strong>gende Weltwirtschaft, <strong>die</strong><br />

vorerst allerd<strong>in</strong>gs nur dem nord-atlantischen (Westeuropa, Nordamerika)<br />

und dem pazifischen Raum (Japan, Ch<strong>in</strong>a, Südostasien) durch hohe<br />

Wachstumsraten und dadurch bed<strong>in</strong>gter Wohlstandsmehrung zu Gute<br />

kommt.<br />

Es bleibt <strong>die</strong> Hoffnung, daß durch Verlagerung von Produktionen <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

unterentwickelten Länder aufgrund deren niedrigeren Löhne auch hier sich<br />

der Kapitalismus als sozialer erweisen wird. Es gibt bereits Tendenzen<br />

hierzu (Textilien, Stahl, Autos usw.), <strong>die</strong> allerd<strong>in</strong>gs nur dann erfolgreich<br />

weitergeführt werden können, wenn der Welthandel frei von Zöllen und<br />

sonstigen wirtschaftlichen Hemmnissen bleibt. Nur der Austausch von<br />

Produkten zwischen Nord und Süd kann beiden Seiten aus ihren Krisen<br />

helfen: den Norden von se<strong>in</strong>er Arbeitslosigkeit befreien, <strong>in</strong>dem high-tech-<br />

Produkte für den Süden hergestellt werden; den Süden von se<strong>in</strong>em Hunger<br />

und Elend, <strong>in</strong>dem er niedrigverarbeitete, lohn<strong>in</strong>tensive Güter - bei denen <strong>die</strong><br />

Lohnvorteile zu Buche schlagen - <strong>in</strong> den Norden<br />

94


exportiert.(Entwicklungshilfe kann hier wie <strong>die</strong> <strong>in</strong>nerstaatliche Sozialpolitik<br />

nur ergänzende Funktion haben. Arbeitslosigkeit z.B. kann man nicht durch<br />

Sozialhilfe beseitigen, sondern nur durch Wirtschaftswachstum, das<br />

allerd<strong>in</strong>gs ökologisch gesteuert werden muß - weltweite Beschränkung von<br />

umweltgefährenden Emissionen usw.)<br />

Das ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Hoffnung, <strong>die</strong> wir nach dem Scheitern der Utopien noch<br />

haben. (vgl. Schmidt 1994: 9 ff.)<br />

Literatur<br />

W. Bräuer 1990: Kameralismus und Merkantilismus, e<strong>in</strong> kritischer Vergleich,<br />

<strong>in</strong>: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1990, Nr. 3, S. 107<br />

P. Buhle 1990: Paul LaFargue, The Right to be Lazy, <strong>in</strong>: M<strong>in</strong>nesota Review<br />

1990, Nr. 34/35, S. 167<br />

Dandy Ideen, <strong>in</strong>: American squere dance, 1995, 50, Nr. 9, S. 14<br />

E. Häußler 1994: Staat, Wirtschaft, Information, <strong>in</strong>: Abi Technik 1994, Jg. 14,<br />

Nr. 3, S. 177 - 186<br />

H. Haupt 1989/90: Kammer-, hof- und hofbereites Handwerk, <strong>in</strong>: Jahrbuch<br />

der kunsthistorischen Sammlungen <strong>in</strong> Wien 1989/90, Bd. 85, S. 89 - 94<br />

G. Petrovic, Arbeit und Gelassenheit, <strong>in</strong>: synthesis philosophica 1992, Vol. 7,<br />

Fasc. 1, S. 103 - 124<br />

H. J. Rieseberg 1992: Über <strong>die</strong> Muße, <strong>in</strong>: Dialektik 1992, Nr. 3, S. 149 - 152<br />

A. Schmidt 1991: Freizeitgesellschaft und ihre Folgen, <strong>in</strong>: Lölf-Mitteilungen<br />

1991, Nr. 2, S. 8<br />

G. Schmidt 1994: Globalisierung, <strong>in</strong>: Vorgänge 1994, Jg. 33, Nr. 4, S. 9 - 20<br />

M. Schumann 1994: Rationalisierung im Übergang, <strong>in</strong>: WSI Mitteilungen, Jg.<br />

1994, 47, Nr. 7, S. 405 - 414<br />

H. Waibel 1995: Staatse<strong>in</strong>griffe oder Marktwirtschaft, <strong>in</strong>: Entwicklung und<br />

ländlicher Raum, 1995, Jg. 29, Nr, 1, S. 23 - 26<br />

W. Veelken 1991: Wiretschaftsverfassungen im Systemvergleich, <strong>in</strong>: Rabels<br />

Zeitschrift für ausländisches und <strong>in</strong>ternationales Privatrecht, 1991, Jg. 55, Nr.<br />

3, S. 463 - 503<br />

95


W. Wilczynski 1991: Der Übergang ost- und südosteuropäischer Länder von<br />

der Zentralverwaltungswirtschaft zur Marktwirtschaft am Beispiel Polens,<br />

<strong>in</strong>: Österreichische Osthefte 1991, Jg. 33, Nr. 3, S. 531 - 555<br />

M. Zeiss 1994: Derivate, <strong>in</strong>: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, 1994, Jg.<br />

47, Nr. 9, S. 414 - 416<br />

96


Geschichte als Grundlage menschlichen Handelns?<br />

E<strong>in</strong>ige Anmerkungen für Stu<strong>die</strong>nanfänger<br />

Cornelius Neutsch<br />

Die Frage nach der Bedeutung von Geschichte für das menschliche Denken<br />

und Handeln ist eng verknüpft mit der Frage nach der grundsätzlichen<br />

Relevanz von Geschichte überhaupt und damit e<strong>in</strong>es der Kernprobleme von<br />

Geschichtswissenschaft und vor allem von Geschichtsdidaktik. Historiker<br />

werden nicht müde, <strong>die</strong> Bedeutung der Geschichte für aktuelle und offene<br />

Fragen der Gegenwart herauszustellen und den wichtigen Beitrag ihrer<br />

Diszipl<strong>in</strong> für <strong>die</strong> Aufhellung der heutigen gesellschaftlichen und politischen<br />

Probleme hervorzuheben. 51 Um solche Probleme <strong>in</strong> ihrer vollen Komplexität<br />

zu analysieren und entsprechende Lösungsstrategien zu entwickeln, bedarf<br />

es der historischen Dimensionierung. Hierüber herrscht weitestgehendes<br />

E<strong>in</strong>vernehmen. 52 Da sich <strong>die</strong>ser Beitrag jedoch vornehmlich an<br />

Stu<strong>die</strong>nanfänger der Geistes- und <strong>Sozialwissenschaften</strong> richtet, möchte ich<br />

Mißverständnissen von vornhere<strong>in</strong> vorbeugen: Wer aus der Geschichte<br />

Anweisungen für aktuelles Handeln ableiten will, erleidet unweigerlich<br />

Schiffbruch. Die historische Dimensionierung aktueller Probleme kann aber<br />

dazu beitragen, "das zunächst nebelige Umfeld, <strong>in</strong> dem Lösungen<br />

gegenwärtiger und zukünftiger Problemlagen angesiedelt s<strong>in</strong>d, breiter und<br />

konturenreicher auszuleuchten." 53<br />

Aber werden <strong>in</strong> der Konsequenz aktuelle gesellschaftliche und politische<br />

Entscheidungen tatsächlich entscheidend von historischen Erkenntnissen<br />

mitbestimmt? Oder haben historische Erkenntnisse gar e<strong>in</strong>en mehr oder<br />

m<strong>in</strong>der bedeutenden E<strong>in</strong>fluß auf das Alltagsverhalten der Menschen? Oder<br />

<strong>die</strong>nt <strong>in</strong> Wahrheit <strong>die</strong> Geschichte nicht lediglich zur Ausschmückung von<br />

Sonntagsreden, da sie sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong> Hilfsmittel darstellt, das sich je nach<br />

Bedarf beliebig verwenden läßt? Diese sche<strong>in</strong>bare Beliebigkeit war und ist<br />

e<strong>in</strong>es der Kernprobleme des öffentlichen Umgangs mit Geschichte. Der<br />

51Dies belegt bereits e<strong>in</strong> flüchtiger Blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>schlägige <strong>E<strong>in</strong>führung</strong>sliteratur <strong>in</strong><br />

das Fach. Als Beispiel sei hier nur erwähnt: Peter Borowsky, Barbara Vogel, Heide<br />

Wunder: <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschichtswissenschaft I. Grundprobleme,<br />

Arbeitsorganisation, Hilfsmittel, Opladen (5. Aufl.) 1989.<br />

52 Insbesondere während der 60er und 70er Jahre fand e<strong>in</strong>e rege Diskussion über <strong>die</strong><br />

S<strong>in</strong>nfrage der Geschichte statt. Seit den 80er Jahren hat <strong>die</strong> Geschichte wieder<br />

"Konjunktur". So konnte der Historiker <strong>Jürgen</strong> Kocka bereits 1986 zu recht<br />

behaupten: "Der Nutzen der Historie braucht derzeit nicht eigens betont zu werden."<br />

(<strong>Jürgen</strong> Kocka: Kritik und Identität, <strong>in</strong>: Geschichte - Nutzen oder Nachteil für das<br />

Leben, hrsg. v. Ursula A.J. Becher und Klaus Bergmann, Düsseldorf 1986, S. 52).<br />

53 Reulecke, <strong>Jürgen</strong>: Der Historiker: Hoffnarr oder Wegweiser?, <strong>in</strong>: Geschichte -<br />

Nutzen oder Nachteil, a.a.O., S. 36.<br />

97


französische Schriftsteller Paul Valéry, 54 der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en kulturpolitischen<br />

Schriften durch e<strong>in</strong>e illusionslose Analyse der geistigen Lage Europas<br />

hervorgetreten ist, hat <strong>die</strong>s sehr po<strong>in</strong>tiert formuliert:<br />

"Die Geschichte ist das gefährlichste Erzeugnis aus der Chemie des Intellekts. Es<br />

macht träumen, es berauscht <strong>die</strong> Völker, verschafft ihnen unwahre Er<strong>in</strong>nerungen,<br />

läßt sie übertrieben reagieren, hält ihnen alte Wunden offen, jagt sie aus ihrer Ruhe<br />

auf, schlägt sie mit Größenwahn oder Verfolgungswahn und macht <strong>die</strong> Nationen<br />

bitter, hochmütig, unerträglich und eitel. Die Geschichte rechtfertigt, was man will.<br />

Sie lehrt uns, streng genommen, nichts, denn sie enthält alles und bietet Beispiele<br />

für alles." 55<br />

Folgen wir <strong>die</strong>ser Argumentation und be<strong>die</strong>nen wir uns der hier<br />

implizierten Methode, läßt sich <strong>die</strong>se Aussage leicht verifizieren: Man<br />

nehme (à la Kochbuchrezept) und benutze <strong>die</strong> Geschichte als e<strong>in</strong>e Art<br />

Ste<strong>in</strong>bruch, suche <strong>in</strong> ihr h<strong>in</strong>reichend viele Beispiele für ihren Mißbrauch zur<br />

Legitimation politischer Zielvorstellungen und komme zu dem oben<br />

genannten Ergebnis. Quod erat demonstrandum! (Offenbar s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> für<br />

Geschichtsstudenten verpflichtend vorgeschriebenen Late<strong>in</strong>kenntnisse doch<br />

zu etwas gut).<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle sollte ich <strong>die</strong>sen Beitrag schließen und - wenn ich denn auf<br />

<strong>die</strong> gesellschaftliche Relevanz des von mir betriebenen Faches Wert lege -<br />

unverzüglich me<strong>in</strong>en Beruf wechseln und mich wichtigeren D<strong>in</strong>gen<br />

zuwenden. Wäre da nicht wiederum jener Paul Valéry, der an anderer Stelle<br />

ausführt:<br />

"Die Idee der Vergangenheit gew<strong>in</strong>nt S<strong>in</strong>n nur <strong>in</strong> dem Menschen, der<br />

leidenschaftlich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Zukunft drängt. Die Zukunft als solche ist bildlos,<br />

unvorstellbar. Die Geschichte liefert <strong>die</strong> Mittel, nach denen sie gedacht werden<br />

kann." 56<br />

Herrn Valéry sei gedankt! Die Geschichtswissenschaft ist gerettet!<br />

Doch Scherz beiseite: Beide Textstellen aus der Feder e<strong>in</strong> und desselben<br />

Mannes eröffnen uns den Zugang sowohl zu den Möglichkeiten, als auch zu<br />

den Gefahren der Manipulation, <strong>die</strong> sich aus dem Umgang mit Geschichte<br />

ergeben können. Letztere möchte ich belegen anhand von zwei<br />

Fallbeispielen aus der Geschichte des Geschichtsunterrichts <strong>in</strong> Deutschland.<br />

54 Valéry, Ambroise-Paul-Toussa<strong>in</strong>t-Jules, geb. am 20.10.1871 <strong>in</strong> Sète, gest. am<br />

20.7.1945 <strong>in</strong> Paris gilt als e<strong>in</strong>er der bedeutensten Vertreter der modernen<br />

<strong>in</strong>tellektuellen Lyrik.<br />

55 Zit. nach: <strong>Jürgen</strong> Reulecke: Er<strong>in</strong>nern und Urteilen. Über Reiz und Schwierigkeit<br />

historischen Forschens, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, 1995.<br />

56 Ebda.<br />

98


Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>die</strong>ses Jahrhunderts, genau am 6. Juli des Jahres 1900, holte das<br />

preußische Unterrichtsm<strong>in</strong>isterium bei verschiedenen Schulfachleuten<br />

Gutachten darüber e<strong>in</strong>, was im Unterricht der höheren Lehranstalten<br />

geschehen könne, "daß den Schülern der Wert e<strong>in</strong>er starken Flotte und <strong>die</strong><br />

Beziehungen zwischen Seemacht und Wohlfahrt e<strong>in</strong>es Volkes auf dem<br />

Gebiete des Handels und Verkehrs zum klareren Bewußtse<strong>in</strong> kommen". 57<br />

Der aktuelle politische H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ser Maßnahme liegt auf der Hand. In<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts orientierten sich alle<br />

Industrienationen h<strong>in</strong> auf überseeische Märkte und Rohstoffquellen, auf<br />

Kolonien, auf <strong>die</strong> Steigerung des Seehandels, der Schiffahrt und des<br />

Schiffbaus sowie auf den Aufbau nationaler Seestreitkräfte. Insbesondere <strong>in</strong><br />

der Zeit zwischen 1890 und dem Ausbruch des 1. Weltkrieges wurde auch <strong>in</strong><br />

Deutschland <strong>die</strong>se Entwicklung forciert. 58 Folglich war es aus Sicht der<br />

Regierung nur konsequent, Maßnahmen zu ergreifen, <strong>die</strong> geeignet waren, <strong>in</strong><br />

der Bevölkerung für <strong>die</strong> sich vollziehenden Veränderungen e<strong>in</strong><br />

entsprechend positives Bewußtse<strong>in</strong> zu schaffen. Im Geschichtsunterricht<br />

kam es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang unter anderem darauf an, "<strong>in</strong> der<br />

deutschen Geschichte <strong>die</strong>jenigen Geschehnisse den Schülern aufzuweisen,<br />

<strong>die</strong> den Wert e<strong>in</strong>er Flotte und <strong>die</strong> Beziehungen zwischen Seemacht und<br />

Wohlfahrt unseres Volkes oder e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>er Teilstaaten lehren bzw. <strong>die</strong><br />

ungünstigen Folgen des Mangels e<strong>in</strong>es staatlichen Schutzes oder se<strong>in</strong>er<br />

Vernachlässigung vor Augen führen", wie e<strong>in</strong>er der Gutachter ausführte. Als<br />

Beispiele wurden neben der Hanse und ihrem Verfall, <strong>die</strong><br />

brandenburgischen Handelsniederlassungen <strong>in</strong> Westafrika zur Zeit des<br />

Großen Kurfürsten sowie <strong>die</strong> Flottenbegeisterung im Jahre 1848 genannt. 59<br />

Die Wertung e<strong>in</strong>es derartigen Geschichtsunterrichts ersche<strong>in</strong>t aus heutiger<br />

Sicht e<strong>in</strong>deutig: Geschichte wurde - wie der Geschichtsdidaktiker Klaus<br />

Bergmann schreibt - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mißverstandenen und mißbrauchten<br />

Gegenwartsbezug als Ste<strong>in</strong>bruch zur Bestätigung weltpolitischer<br />

imperialistischer Vore<strong>in</strong>stellungen benutzt. 60<br />

Noch ungenierter versuchten <strong>die</strong> Nationalsozialisten <strong>die</strong> Geschichte für ihre<br />

Zwecke zu <strong>in</strong>strumentalisieren. In den Jahren 1939-41 traten für <strong>die</strong><br />

deutschen Schulen neue Lehrpläne <strong>in</strong> Kraft. Insbesondere <strong>in</strong> den<br />

Volksschulen sollte der Geschichtsunterricht unmittelbar zur "politischen<br />

Erziehung" e<strong>in</strong>gesetzt werden, was durch e<strong>in</strong>e starke Betonung von Heldenund<br />

Führerkult erreicht werden sollte. Im Richtl<strong>in</strong>ienkommentar für <strong>die</strong><br />

Lehrer hieß es hierzu:<br />

57 Zit. nach: Klaus Bergmann: Imperialistische Tendenzen <strong>in</strong> Geschichtsdidaktik und<br />

Geschichtsunterricht ab 1890, <strong>in</strong>: Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge<br />

zu e<strong>in</strong>er Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500-<br />

1980, hrsg. v. Klaus Bergmann u. Gerhard Schneider, Düsseldorf 1982, S. 210.<br />

58 Vgl. hierzu: Übersee. Seefahrt und Seemacht im deutschen Kaiserreich, hrsg. v.<br />

Volker Plagemann, München 1988.<br />

59 Bergmann, Imperialistische Tendenzen, a.a.O., S. 210f.<br />

60 Ebda., S. 214.<br />

99


"Durch <strong>die</strong> Betrachtung der Führer und Helden der Vergangenheit stärken wir den<br />

Wehrwillen unserer Jugend. An ihnen erkennen unsere Schüler den S<strong>in</strong>n der<br />

kämpferischen und soldatischen Haltung. Wir sehen, wie sie <strong>in</strong> alter Treue ihre<br />

Fahne bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Schweigend ertragen sie Wunden<br />

und Schmerzen. Ihr Wehrwille ist an ke<strong>in</strong> Alter gebunden. In Mannen- und<br />

Führertreue s<strong>in</strong>d sie uns e<strong>in</strong> Vorbild. Sie halten treue Kameradschaft bis <strong>in</strong> den<br />

Tod." 61<br />

Sicherlich ist <strong>die</strong>s e<strong>in</strong> krasses Beispiel für <strong>die</strong> Ideologisierung des<br />

Geschichtsunterrichts durch e<strong>in</strong> totalitäres System mit der Zielsetzung<br />

unmittelbarer Kriegspropaganda. Auch dürfen <strong>die</strong> Auswirkungen solcher<br />

Kommentare auf <strong>die</strong> tatsächliche Unterrichtswirklichkeit nicht überschätzt<br />

werden. 62 Zur Illustration extremer manipulativer Möglichkeiten mittels<br />

Geschichte ersche<strong>in</strong>en <strong>die</strong> gewählten Fallbeispiele jedoch durchaus tauglich,<br />

wenngleich als E<strong>in</strong>wand vorgebracht werden kann, daß sowohl das durch<br />

den Imperialismus geprägte Geschichtsdenken des beg<strong>in</strong>nenden 20.<br />

Jahrhunderts als auch <strong>die</strong> Geschichtsverfälschungen der Nationalsozialisten<br />

selbst bereits Geschichte und damit für <strong>die</strong> Bedeutung von Geschichte <strong>in</strong><br />

unserer aktuellen Gesellschaft auf den ersten Blick wenig aussagekräftig<br />

s<strong>in</strong>d. Haben wir nicht <strong>in</strong> unserer demokratischen Gesellschaft, <strong>in</strong> der<br />

Me<strong>in</strong>ungsfreiheit und damit Me<strong>in</strong>ungspluralität hohe Güter darstellen,<br />

derartige Mißbräuche von Geschichte längst überwunden? Dieser erste Blick<br />

täuscht jedoch, da jede Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Vergangenheit <strong>die</strong><br />

Gefahr <strong>in</strong> sich birgt, <strong>die</strong> Geschichte zu wenig reflektiert als Legitimation für<br />

aktuelles Handeln zu gebrauchen bzw. zu mißbrauchen, was auch <strong>in</strong><br />

deutlich subtilerer Form geschehen kann. Wer kennt nicht <strong>die</strong> vielen<br />

"Sonntagsfestschriften" zu Jubiläen von Firmen oder Institutionen <strong>in</strong> denen<br />

etwas dunklere Punkte der Vergangenheit weggelassen oder zum<strong>in</strong>dest<br />

durch <strong>die</strong> Autoren "geglättet" s<strong>in</strong>d. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand.<br />

Wird e<strong>in</strong> Historiker mit e<strong>in</strong>er Arbeit beauftragt, für <strong>die</strong> er unter Umständen<br />

e<strong>in</strong> (gutes) Honorar erhält, auf das er womöglich noch zur Deckung se<strong>in</strong>es<br />

Lebensunterhaltes angewiesen ist, schreibt er nur allzu oft im S<strong>in</strong>ne se<strong>in</strong>es<br />

Auftraggebers. Aber auch ideelle B<strong>in</strong>dungen können das Auge des<br />

Historikers trüben. In allen <strong>die</strong>sen Fällen tut er sich schwer mit se<strong>in</strong>er<br />

sozialen Verantwortung. Dies betrifft jedoch nicht nur <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> bereits<br />

im Berufsleben stehen; <strong>die</strong> soziale Verantwortung (künftiger) Historiker<br />

beg<strong>in</strong>nt bereits im Prosem<strong>in</strong>ar. S<strong>in</strong>d nicht Stu<strong>die</strong>rende zu häufig bereit, e<strong>in</strong>e<br />

als richtig erkannte Me<strong>in</strong>ung nur allzu schnell über Bord zu werfen, weil sie<br />

sich nicht mit der Vorstellung des jeweiligen Dozenten deckt. Schließlich ist<br />

61 Zit. nach Helmut Genschel: Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht im<br />

nationalsozialistischen Deutschland, <strong>in</strong>: Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht,<br />

a.a.O., S. 281f.<br />

62 Ebda. S. 285f.<br />

100


der "Sche<strong>in</strong>" am Ende des Semesters für den weiteren Fortgang im Studium<br />

unerläßlich.<br />

Betrachtet man <strong>die</strong> genannten Beispiele, deren Liste sich beliebig erweitern<br />

ließe, <strong>in</strong> ihrer Summe, wird e<strong>in</strong>es deutlich: Jede Gesellschaft bzw. Teile<br />

<strong>die</strong>ser Gesellschaft und jeder Staat suchen <strong>in</strong> mehr oder weniger<br />

ausgeprägtem Maße Bestätigung durch historische Legitimierung, welche<br />

<strong>die</strong> Historiker als <strong>die</strong> zuständigen Fachleute liefern sollen. 63<br />

Geschichtswissenschaftler können sich niemals aus ihrer aktuellen<br />

Gegenwart lösen, selbst wenn sie es wollten; ihre Urteile s<strong>in</strong>d stets von der<br />

aktuellen Gegenwart durchdrungen. Historiker s<strong>in</strong>d, wie es der Althistoriker<br />

Christian Meier so treffend ausdrückte, verstrickt "<strong>in</strong> den unzähligen<br />

Fangarmen der Gegenwart." 64 Diese "Fangarme" s<strong>in</strong>d unterschiedlichster<br />

Natur. Hierzu gehören <strong>die</strong> vorherrschenden Wertvorstellungen und<br />

Verhaltensmuster <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft ebenso wie aktuelle politische<br />

Interessen oder e<strong>in</strong>fach nur <strong>in</strong>dividuelle oder kollektive Zwänge, <strong>in</strong> denen<br />

sich Produzenten von Geschichtsdarstellungen als Mitglieder <strong>die</strong>ser<br />

Gesellschaft bef<strong>in</strong>den.<br />

Ist somit Geschichte überhaupt beherrschbar? Oder lehrt uns <strong>die</strong> Geschichte<br />

doch nichts, und läßt sich mit ihr nahezu alles beweisen, wie der e<strong>in</strong>gangs<br />

zitierte Paul Valéry nicht ohne Ironie bemerkte? Die hier angestellten<br />

Überlegungen kreisen um e<strong>in</strong> weiteres Kernproblem der<br />

Geschichtswissenschaft, um das Problem der Objektivität. Wird objektiv<br />

def<strong>in</strong>iert als der Gegensatz zu subjektiv, ersche<strong>in</strong>t es zunächst naheliegend,<br />

e<strong>in</strong>er objektiven Geschichtsschreibung den Verzicht auf Beimischung der<br />

Subjektivität des <strong>die</strong> Geschichtsdarstellung erarbeitenden Historikers<br />

abzuverlangen. Ferner müßte der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben<br />

werden, d.h. es dürften nicht nur Ausschnitte oder Teile e<strong>in</strong>es<br />

Sachgegenstandes betrachtet werden. Beide Forderungen würden <strong>die</strong><br />

Geschichtswissenschaft jedoch ad absurdum führen. Die Leistung des<br />

Historikers liegt ja gerade <strong>in</strong> der Auswahl des historisch Bedeutsamen. Er<br />

soll urteilen und ke<strong>in</strong>e positivistische Tatsachenvermittlung betreiben. 65 In<br />

<strong>die</strong>se Urteile fließt, wie oben gezeigt, das Subjekt des erkennenden<br />

Historikers unweigerlich mit e<strong>in</strong>. Anders ausgedrückt: der gesellschaftliche<br />

Nutzen der Geschichtswissenschaft liegt gerade <strong>in</strong> der beständigen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung von Geschichte mit der jeweils aktuellen Gegenwart,<br />

vermittelt durch den erkennenden Historiker. Um hierbei der Willkür<br />

entgegenzuwirken, s<strong>in</strong>d demnach an e<strong>in</strong>en um Objektivität bemühten<br />

Historiker vor allem folgende Forderungen zu richten: Er darf ke<strong>in</strong>e bewußt<br />

falschen Aussagen treffen: Er darf nicht verzerren durch vorzeitige Wertung<br />

oder manipulierte Auswahl: Er muß verständlich se<strong>in</strong>. Dies ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

63 Reulecke, Er<strong>in</strong>nern und Urteilen, a.a.O.<br />

64 Meier, Christian: Die Wissenschaft des Historikers und <strong>die</strong> Verantwortung des<br />

Zeitgenossen (1968), <strong>in</strong>: Über das Studium der Geschichte, hrsg. v. Wolfgang<br />

Hardtwig, München 1990, S. 345.<br />

65 Sell<strong>in</strong>, Volker: <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschichtswissenschaft, Gött<strong>in</strong>gen 1995, S. 189f.<br />

101


dadurch zu erreichen, daß der Geschichtswissenschaftler se<strong>in</strong>e Arbeit für<br />

den Rezipienten nachvollziehbar macht, d.h. er muß angeben, was er mit<br />

welchen historischen Quellen tut und den Gang se<strong>in</strong>er Argumentation<br />

lückenlos offenlegen. Er muß, wie der Historiker Karl Brunner ausführt "sich<br />

auf <strong>die</strong> F<strong>in</strong>ger sehen lassen" und: "Das Ergebnis muß so aufbereitet werden,<br />

daß es uns <strong>in</strong> Freiheit zur Verfügung steht, für unseren Umgang mit<br />

Geschichte und unser Handeln." 66<br />

Nur e<strong>in</strong>e Geschichtswissenschaft, <strong>die</strong> mit e<strong>in</strong>em derart kritischen<br />

Selbstverständnis operiert, ersche<strong>in</strong>t geeignet, ihren gesellschaftlichen<br />

Auftrag <strong>in</strong> vollem Umfang zu erfüllen. Der Begriff e<strong>in</strong>er kritischen<br />

Geschichtswissenschaft darf jedoch nicht - wie <strong>in</strong> der jüngsten<br />

Vergangenheit leider häufiger geschehen - darauf reduziert werden, daß<br />

ausschließlich negative Aspekte der Vergangenheit aufgespürt und <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

breiteres öffentliches Bewußtse<strong>in</strong> gerückt werden. Der Historiker soll<br />

genauso wenig nur Mahner se<strong>in</strong>, der beständig "den F<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wunde<br />

legt", wie er der Versuchung erliegen darf, zu glorifizieren, sondern er ist<br />

vielmehr aufgefordert, abgewogen zu urteilen. Der <strong>in</strong> Staat und Gesellschaft<br />

weit verbreitete Wunsch nach Bestätigung durch historische Legitimierung<br />

ist dann ke<strong>in</strong>eswegs verwerflich, wenn sich <strong>die</strong>ser Wunsch dem<br />

abgewogenen Urteil unterordnet. Die Ergebnisse e<strong>in</strong>er so verstandenen<br />

kritischen Geschichtswissenschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong> breiteres öffentliches Bewußtse<strong>in</strong> zu<br />

rücken ist der Beitrag, den Fachhistoriker zu e<strong>in</strong>em differenzierteren<br />

öffentlichen Geschichtsbewußtse<strong>in</strong> leisten können und müssen, wobei<br />

Geschichtsbewußtse<strong>in</strong> nicht lediglich das re<strong>in</strong>e Wissen oder das bloße<br />

Interesse an Geschichte be<strong>in</strong>haltet, sondern als der Zusammenhang von<br />

Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive<br />

verstanden wird. 67<br />

Läßt sich der Historiker wirklich e<strong>in</strong> auf se<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Auftrag,<br />

bedeutet historisches Arbeiten e<strong>in</strong>e permanente Gradwanderung, da das<br />

sich <strong>in</strong> unserer dynamischen Gesellschaft laufend verändernde<br />

Wechselverhältnis zwischen Vergangenheitsdeutung,<br />

Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive der ständigen Reflexion<br />

bedarf. Gerade hier<strong>in</strong> aber liegt me<strong>in</strong>es Erachtens der Reiz <strong>die</strong>ser Diszipl<strong>in</strong>.<br />

Nur so läßt sich "das zunächst nebelige Umfeld, <strong>in</strong> dem Lösungen<br />

gegenwärtiger und zukünftiger Problemlagen angesiedelt s<strong>in</strong>d", <strong>in</strong> optimaler<br />

Weise "breiter und konturenreicher ausleuchten", d.h. Geschichte kann so<br />

tatsächlich zu e<strong>in</strong>er wesentlichen Grundlage menschlichen Handelns<br />

avancieren.<br />

Der homo politicus<br />

Erster, kursorischer Aufriß<br />

66 Brunner, Karl: <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> den Umgang mit Geschichte, Wien 1985, S. 66.<br />

67 Vgl. hierzu: Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtse<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Handbuch der<br />

Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Klaus Bergmann u.a., Düsseldorf (3. Aufl.) 1985, S. 40-<br />

43.<br />

102


von <strong>Jürgen</strong> <strong>Bellers</strong><br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

Jede größere soziale E<strong>in</strong>heit bedarf, um funktionsfähig se<strong>in</strong> zu können,<br />

geme<strong>in</strong>samer Regeln; und um solche geme<strong>in</strong>same Regeln vere<strong>in</strong>baren zu<br />

können und zur Wirksamkeit zu br<strong>in</strong>gen, bedarf es bestimmter Verfahren,<br />

<strong>die</strong> wiederum <strong>die</strong> Erstellung von Regeln regeln.<br />

Das Regeln und das Regelungsregeln ist Aufgabe und - wenn man so will -<br />

Wesen der Politik; allerd<strong>in</strong>gs nur dann, wenn es sich hierbei nicht um<br />

Regelungen zwischen Privaten handelt (das s<strong>in</strong>d "normale" soziale<br />

Regelungen), sondern nur dann, wenn es sich um allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dliche,<br />

autoritative, öffentliche (staatliche) Regelungen mit Geltungsanspruch für<br />

potentiell alle Mitglieder e<strong>in</strong>er Gesellschaft handelt (vgl. Patzelt 1993²).<br />

Der Prozeß der Entwicklung und Durchsetzung (Implementation) solcher<br />

öffentlicher Regelungen ( = Politik) soll im folgenden unter zwei Aspekten<br />

nachgezeichnet werden:<br />

a. Welche <strong>in</strong>dividuellen Typen von Politikern gibt es <strong>in</strong> der Geschichte quasi<br />

als anthropologisch-soziale Konstanten? (Charismatiker, Konservative,<br />

Hamilton, der Gelehrte, ebenso Seneca, der Pragmatiker, der Gewaltmensch,<br />

der Revolutionär usw.) (vgl. Berd<strong>in</strong>g et al 1994)?<br />

b. Welche Typen der Organisation von Politik gibt es? (Demokratie,<br />

Diktatur)<br />

Charakterologie der Politik<br />

Politik wird von Menschen gemacht, und nicht von "Systemen". Die Art von<br />

Mensch bestimmt also auch über <strong>die</strong> Art von Politik. Das heißt nicht, als<br />

seien <strong>die</strong> Menschen/Politiker nicht abhängig von den (sozialen und<br />

politischen) Systemen, <strong>in</strong> denen sie leben und wirken: sie s<strong>in</strong>d es! Man<br />

verhält sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Demokratie anders als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Diktatur. Aber <strong>in</strong> allen<br />

politischen Systemen agiert der "vorsichtige" Typ (so wollen wir ihn vorerst<br />

nennen) anders als der "Draufgänger", und dem gilt es hier nachzugehen.<br />

In normalen, weitgehend krisenfreien Zeiten ist der Normtyp von Politiker<br />

der "progressive Konservative". D.h., da sich <strong>die</strong> Verhältnisse, wie sie s<strong>in</strong>d,<br />

weitgehend bewährt haben, gilt es sie zu konservieren, zu bewahren,<br />

allerd<strong>in</strong>gs dem Wandel der Zeiten anzupassen, zu reformieren<br />

("progressiv"). Wenn <strong>die</strong> Menschen von solchen Politikern regiert werden,<br />

können sie sich glücklich schätzen, da <strong>die</strong>se Politikertypen sie weitgehend so<br />

leben lassen, wie sie es gewohnt s<strong>in</strong>d.<br />

103


Dieser Politikertyp kommt vor allem <strong>in</strong> Gesellschaften vor, <strong>die</strong> - um es kurz<br />

zu formulieren - mit sich selbst weitgehend im Re<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d - bei aller<br />

Reformbedürftigkeit, <strong>die</strong> stets gegeben ist.<br />

Vor allem <strong>die</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten von Amerika haben solche politischen<br />

Gestalten hervorgebracht, <strong>die</strong> - eher unsche<strong>in</strong>bar verwaltend tätig - <strong>die</strong>se<br />

lange Zeit fortschrittlichste Gesellschaftsform (<strong>die</strong> erste demokratische und<br />

später auch kapitalistische Republik!) pragmatisch lenkten - aber der Begriff<br />

des "Lenkens" greift hier schon zu weit, da <strong>die</strong>se Präsidenten, deren Namen<br />

man meist vergessen hat, lediglich Ausdruck e<strong>in</strong>er Gesellschaft waren, <strong>die</strong><br />

von sich behauptete, sich weitgehend liberal-privatwirtschaftlich selbst<br />

regulieren zu können - und das - so zum<strong>in</strong>dest <strong>die</strong> Ideologie - so gut wie<br />

optimal. (Nur amerikanische Präsidenten aus sozialen und außenpolitischen<br />

Krisenzeiten - <strong>die</strong> beiden Roosevelt, W. Wilson - s<strong>in</strong>d bis heute bekannt.)<br />

"Pragmatisch" (Pragmatismus hier verstanden als <strong>die</strong> wichtigste<br />

amerikanische Philosophie z.B. <strong>in</strong> der Tradition Deweys, vgl. Joas 1992, Kap.<br />

IV) bedeutet, daß der Politiker nur dort durch Gesetze oder sonstige<br />

Maßnahmen zu regulieren versucht, wo sich Probleme auftun, <strong>die</strong> es zum<br />

Nutzen möglichst aller zu lösen gelte (vgl. Putnam 1995). Politiker sollen<br />

demnach nicht gemäß e<strong>in</strong>es Parteiprogramms oder e<strong>in</strong>er Ideologie<br />

pr<strong>in</strong>zipiell handeln, sondern sich auf <strong>die</strong> gegebenen Notlagen konzentrieren,<br />

<strong>die</strong> behoben werden sollen. Das setzt natürlich voraus, daß <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

<strong>in</strong> ihren Grundlagen akzeptiert wird und nur e<strong>in</strong>zelne "Auswüchse" beseitigt<br />

werden müssen. Dieses Denken bestimmt bis heute <strong>die</strong> amerikanische<br />

Politik, so daß <strong>die</strong> beiden großen Parteien (und auch deren Präsidenten)<br />

ideologisch-programmatisch kaum zu unterscheiden s<strong>in</strong>d (vgl. Lösche 1989).<br />

Was entscheidend ist, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Persönlichkeit, deren (geglaubte) Integrität<br />

und Fähigkeit zum "decision mak<strong>in</strong>g".<br />

E<strong>in</strong>e differenzierte Haltung nimmt der politische Realist e<strong>in</strong>, der aus se<strong>in</strong>em<br />

Pragmatismus e<strong>in</strong>e Theorie gemacht hat und daher nicht zufällig weniger <strong>in</strong><br />

Amerika oder <strong>in</strong> England, sondern vor allem <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>entaleuropa präsent<br />

ist. (Warum Europa zur Theorielastigkeit neigt, wird im nächsten Kapitel<br />

erläutert.) Der Realist oder der Realismus, wie er <strong>in</strong> Deutschland vor allem<br />

<strong>in</strong> der Tradition Luthers entwickelt wurde, betrachtet Politik<br />

notwendigerweise als e<strong>in</strong>en Lebensbereich, <strong>in</strong> dem es um<br />

Interessengegensätze und <strong>in</strong>folgedessen um Machtkampf zwischen <strong>die</strong>sen<br />

Interessen geht (zum folgenden vgl. <strong>Bellers</strong> 1996). Das sei zwar nicht immer<br />

der optimale Zustand, aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt nach dem Sündenfall (Luther!) sei<br />

nicht mehr möglich, und alle Versuche, <strong>die</strong>se Interessenstrukturen<br />

zugunsten der harmonischen Gesellschaft aufzulösen, würden nur <strong>in</strong><br />

Terrorismus und Totalitarismus enden. Denn nur durch Gewalt lassen sich<br />

<strong>die</strong> diversen Interessen elim<strong>in</strong>ieren oder meist nur zeitweise unterdrücken.<br />

Politik ist nicht dazu da, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen (das<br />

Himmelreich kann nach Luther der Gläubige nur <strong>in</strong>dividuell, nicht politisch<br />

durch Glaube an und Gnade von Gott erlangen), sondern <strong>die</strong> irdischen<br />

D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrer Vorläufigkeit und auch schlechten Organisation e<strong>in</strong> wenig<br />

104


zum Besseren zu wenden, so weit es <strong>die</strong> unfriedliche, auf Interessenkampf<br />

ausgerichtete Natur des Menschen erlaubt. Wenn das e<strong>in</strong>igermaßen friedlich<br />

und demokratisch gel<strong>in</strong>gt, hat man - so der Realist - schon viel erreicht.<br />

Diese Kunst (nicht mechanische Technik nach Kochrezeptmanier) - e<strong>in</strong>e<br />

Kunst, <strong>die</strong> der Politiker durch Erfahrung und nach langer Praxis dann mit<br />

der daraus erwachsenden Weisheit erwirbt, wurde zu e<strong>in</strong>er gewissen<br />

Perfektion im Bereich der Außen- und <strong>in</strong>ternationalen Politik gebracht (vgl.<br />

Morgenthau 1963). Zentrale Figur und zentraler Repräsentant hierfür ist der<br />

Diplomat, dessen wichtige Aufgabe vor allem dar<strong>in</strong> besteht, <strong>die</strong><br />

unterschiedlichen Interessen der Staaten - bei partieller Beachtung aller<br />

Interessen - so zu vermitteln, daß größere Konflikte oder gar Kriege<br />

vermieden werden können. Wenn er hier nicht reüssiert, so hat er se<strong>in</strong>e<br />

Funktion verfehlt (vgl. Kiss<strong>in</strong>ger 1995).<br />

Aber auch der Diplomat bleibt wirkungslos, wenn nicht h<strong>in</strong>ter ihm <strong>die</strong><br />

Möglichkeit des E<strong>in</strong>satzes militärischer Macht steht. Ohne sie verliert er <strong>die</strong><br />

Durchsetzungsfähigkeit und auch Glaubwürdigkeit. Die Grenzen zwischen<br />

Diplomatie und Militärwesen s<strong>in</strong>d daher <strong>in</strong> ihrer letzten Konsequenz<br />

fließend (Clausewitz 1978, vgl. Aron 1980).<br />

Der Militär und das Militärische s<strong>in</strong>d daher bis heute das letzte Mittel der<br />

Außenpolitik, wenn sich Vermittlungsaktionen nicht realisieren lassen, der<br />

Verhandlungsgegner sich ihnen entzieht. Mit Hitler konnte man nicht mehr<br />

verhandeln (da er Kompromisse angesichts der rassistischen Radikalität<br />

se<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>entalimperialen Programms nicht wollte), gegen Hitler konnte<br />

man nur noch kämpfen, um Schlimmeres (z.B. das Fortbestehen und <strong>die</strong><br />

Expansion e<strong>in</strong>er totalitären Diktatur) zu vermeiden (vgl. Walzer 1974).<br />

Zeitweiliges Leid durch Krieg ist also <strong>in</strong> Kauf zu nehmen zur Verh<strong>in</strong>derung<br />

des Schlimmsten. Der Friede ist der höchste Wert nicht, höchste Werte s<strong>in</strong>d<br />

Freiheit und <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es ethischen konformen Lebens. Der Militär<br />

ist <strong>die</strong> konsequente Fortsetzung des Realismus, der Notwendigkeit von<br />

Krieg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er letztlich unfriedlichen Welt.<br />

Damit das Militärische aber nicht <strong>in</strong> Militarismus als e<strong>in</strong>er Verherrlichung<br />

des Wehrwesens umschlägt, muß es stets se<strong>in</strong>er Dienstfunktion gegenüber<br />

der Politik bewußt bleiben (und sich nicht verselbständigen zum Krieg um<br />

des Krieges willen, wie <strong>in</strong> der Endphase des Ersten Weltkrieges, als General<br />

Ludendorff letztlich <strong>die</strong> Politik bestimmte). Der Krieg ist nach v. Clausewitz<br />

<strong>die</strong> Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, das ist oft mißverstanden<br />

worden, bedeutet aber, daß der Krieg stets politischen Zielen untergeordnet<br />

bleiben muß (Clausewitz 1978). Ziel des Krieges muß seit der Kriegslehre<br />

des Th. v. Aqu<strong>in</strong> stets der Wiederherstellung des Friedens <strong>die</strong>nen (vgl.<br />

Norman 1995).<br />

Der Gegentyp des Pragmatikers und Realisten ist der idealistische Ideologe,<br />

wie er sich allem <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>entaleuropa geschichtswirksam entfalten konnte.<br />

Warum gerade <strong>in</strong> Europa? In Europa war es lange Zeit Aufgabe der Politik,<br />

105


als negativ betrachtete, politische Systeme zu bekämpfen und zu<br />

überw<strong>in</strong>den. Der absolutistische Feudalismus (vor allem <strong>in</strong> Frankreich) hatte<br />

im 17. und 18. Jahrhundert fast alle Opposition auszuschalten gewußt, so<br />

daß nur noch Fundamentalopposition möglich, und zwar kaum auf der<br />

Basis gesellschaftlicher Bewegungen, <strong>die</strong> (wie das Bürgertum) stark <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Möglichkeiten e<strong>in</strong>geschränkt wurde, sondern auf der Basis von<br />

Programmen, Ideologien, <strong>die</strong> der politischen Philosophie (z.B. Rousseaus)<br />

entnommen wurden. Diese wurden abstrakt der negativen politischen<br />

Realität gegenübergestellt (und <strong>die</strong>se Abstraktheit der Forderungen war e<strong>in</strong><br />

wesentlicher E<strong>in</strong>wand des konservativen Briten E. Burke gegen <strong>die</strong><br />

Französische Revolution von 1789; Burke 1971), quasi unvermittelt, ohne<br />

Verb<strong>in</strong>dung zur politischen Realität, als gänzliches Gegenprogramm zur<br />

Realität (was man normalerweise auch als Utopie bezeichnet), das zu<br />

realisieren dann <strong>die</strong> revolutionären Ideologen <strong>in</strong> der radikalen Phase der<br />

Revolution seit 1793 begannen - und da <strong>die</strong>se demokratisch-republikanische<br />

Ideologie mit der sozialen Wirklichkeit nicht vermittelt war, war sie auch<br />

nur durch radikale Methoden zu verwirklichen: Da <strong>die</strong> Wirklichkeit nicht<br />

der Ideologie entsprach, wurde <strong>die</strong> Wirklichkeit durch Massenmorden (la<br />

Terreur) elim<strong>in</strong>iert.<br />

Das ist natürlich nur e<strong>in</strong>e Extremform von ideologischer Politik, aber sie<br />

h<strong>in</strong>terläßt von <strong>die</strong>sem Ursprung <strong>in</strong> der französischen Revolution bis heute <strong>in</strong><br />

der Politik kont<strong>in</strong>entaleuropäischer Staaten e<strong>in</strong>en Geist des Rigorismus, des<br />

Streitens um der Pr<strong>in</strong>zipen willen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihrer Konflikt<strong>in</strong>tensität USamerikanischer<br />

Politik fremd ist. Um es vere<strong>in</strong>facht auszudrücken: Europäer<br />

gruppieren sich zunächst um geme<strong>in</strong>sam geglaubte Grundsätze<br />

(Sozialismus, Liberalismus, Christliche Demokratie), und danach richten sie<br />

ihre politischen Forderungen und Aktionen aus, während "Amerikaner"<br />

zunächst das Problem sehen, das es möglichst problemnah, unter Abwägung<br />

aller Gesichtspunkte und Folgen, anzugehen gilt (vgl. Lösche 1989).<br />

Aber Politik wird Politik im eigentlichen S<strong>in</strong>ne erst dann, wenn der Wandel<br />

erheblich an Geschw<strong>in</strong>digkeit gew<strong>in</strong>nt, wenn sich <strong>die</strong> Verhältnisse auflösen<br />

oder <strong>in</strong>s Schwimmen geraten und das Normale nicht mehr normal ist und<br />

<strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong>folgedessen normlos, verrückt zu reagieren drohen (vgl.<br />

Durkheim 1973). Hier besteht - wenn es hart auf hart geht - <strong>die</strong><br />

Bewährungsprobe von großer Politik, und zwar nicht im S<strong>in</strong>ne - das sei hier<br />

normativ festgehalten - e<strong>in</strong>es Genusses am Chaos - das war den Faschisten<br />

eigen -, sondern im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er humanitätsorientierten Überw<strong>in</strong>dung des<br />

Chaos <strong>in</strong> Richtung auf e<strong>in</strong>e neue Ordnung, <strong>in</strong> dem jeder nach den<br />

Menschenrechten (letztlich immer noch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit)<br />

leben kann.<br />

Und unter <strong>die</strong>sem Aspekt s<strong>in</strong>d nun auf der historischen Bühne e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von Politikertypen zu verzeichnen, <strong>die</strong> je unterschiedlich den Wandel zu<br />

bewältigen versuchen.<br />

106


Der Revolutionär steht <strong>in</strong> der Tradition des oben genannten Ideologen -<br />

ebenso der Charismatiker, beide s<strong>in</strong>d oft nur schwer vone<strong>in</strong>ander zu<br />

trennen.<br />

Der "Charismatiker" - um e<strong>in</strong>en Begriff von Max Weber aufzugreifen - ist<br />

wundermäßig beseelt durch e<strong>in</strong>e Art von Erleuchtung, durch <strong>die</strong> er das neue<br />

Bild von Politik und Gesellschaft erfahren hat. Solchermaßen erleuchtet<br />

durch göttlich E<strong>in</strong>gebung waren z.B. <strong>die</strong> Wiedertäufer <strong>in</strong> Münster während<br />

des Bauernkrieges des 16. Jahrhunderts, <strong>die</strong> das Reich Gottes auf Erden<br />

realisieren wollten. Charismatiker verfügen über e<strong>in</strong> derartiges "<strong>in</strong>neres<br />

Glühen", über e<strong>in</strong>e derartige Überzeugungskraft, daß sie große Massen zu<br />

mobilisieren vermögen, <strong>die</strong> sie von ihrer Vision überzeugen (vgl. Weber<br />

1980 5<br />

). Mao Tse Tung, Castro und Len<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d hier zu nennen. Sie gestalteten<br />

als Führer von Massen, <strong>die</strong> "h<strong>in</strong>ter ihm standen", Gesellschaften radikal um,<br />

<strong>in</strong> dem sie ihr Programm umzusetzen trachten - oft unter Inkaufnahme von<br />

viel Leid und Not.<br />

Es gibt aber auch - wenn auch selten - nicht-charismatische Revolutionäre, so<br />

z.B. Robbespierre, der - eher e<strong>in</strong> juristisch penibler Adm<strong>in</strong>istrator des<br />

Terrors - sich immer mehr klaustromanisch e<strong>in</strong>schloß, je schrecklicher se<strong>in</strong>e<br />

Herrschaft wurde.<br />

Solche Revolutionäre neigen zum Intellektualismus, als müsse sich <strong>die</strong> Welt<br />

ihren gedanklichen Konstruktionen anpassen.<br />

Sie scheitern daher auch schnell, siehe Robbespierre, der schließlich selbst<br />

unter der Guillot<strong>in</strong>e landete, siehe auch <strong>die</strong> gescheiterte "Münchner<br />

Revolution" von 1919, <strong>die</strong> vor allem von den Anarchisten Eisner und Toller<br />

getragen wurde (vgl. Dove 1993). Sie konnten zwar <strong>die</strong> Macht der<br />

zusammengebrochenen Monarchie kurzfristig erobern, aber nicht halten, da<br />

ihre Gedankengebilde den machtpolitischen Realitäten nicht standhielten.<br />

Wie irreal das gesamte Unterfangen war, zeigt das Beispiel, daß <strong>die</strong><br />

revolutionäre Regierung - um an Geld zu gelangen - e<strong>in</strong>e Bank überfiel,<br />

anstatt sie zu verstaatlichen.<br />

Auch das politische Leben Frankreichs neigt zum Intellektualismus, zum<br />

ständigen, revolutions-geschwängerten Diskutieren <strong>in</strong> irgendwelchen<br />

Pariser Clubs um <strong>die</strong> großen Fragen der Menschheit, ohne daß man zur<br />

Entscheidung und zur politischen Tat gelangt; und wenn man sich dazu<br />

aufrafft, dann als Stümper-Revolution, mit der Napoleon I. und III. und<br />

dann de Gaulle schnell fertig wurden.<br />

E<strong>in</strong> Charismatiker ohne revolutionäre Absichten war Mart<strong>in</strong> Luther K<strong>in</strong>g,<br />

der letztlich für <strong>die</strong> Schwarzen der USA nur das an Gleichberechtigung<br />

e<strong>in</strong>forderte, was <strong>in</strong> der amerikanischen Verfassung seit fast 200 Jahren<br />

festgeschrieben war (Lewis 1970). Aber auch schon dafür wurde er wie e<strong>in</strong><br />

Revolutionär bestraft: durch se<strong>in</strong>e Ermordung im Jahre 1968.<br />

107


Der Charismatiker und der Mystiker unterscheiden sich dadurch, daß der<br />

Charismatiker zum<strong>in</strong>dest glaubt, se<strong>in</strong>e gesellschaftliche Konzeption sei<br />

rational, e<strong>in</strong>e Geistesgeburt, während der Mystiker auf dem Irrationalen<br />

beharrt als der letzten Wurzel se<strong>in</strong>er Erkenntnismöglichkeiten. Es ist der urrussische<br />

Gegensatz zwischen Tolstoi und Dostojewski: Tolstoi hielt <strong>die</strong><br />

Gesellschaft für verbesserbar im S<strong>in</strong>ne der vollkommenen Realisierung der<br />

christlich-pazifistischen Gesellschaft, des "Reiches Gottes auf Erden", an das<br />

er glaubte; Dostojewski erachtete <strong>die</strong>sen aufklärerischen<br />

Vervollkommnungswillen als illusorisch angesichts der dämonischteuflischen<br />

Grundveranlagung des Menschen zum Bösen h<strong>in</strong>, was ihn stets<br />

<strong>in</strong> tragische Lagen wirft zwischen den Polen des Guten und Bösen, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

ihm gleichermaßen veranlagt s<strong>in</strong>d: Nicht Fortschritt, sondern allenfalls<br />

E<strong>in</strong>dämmung des Bösen, wenn überhaupt. Von Gesellschaftsreform ke<strong>in</strong>e<br />

Rede, e<strong>in</strong>ziger Bezugspunkt war der <strong>in</strong>nerliche Glaube an <strong>die</strong> russische<br />

Seele, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se beiden Elemente des Bösen und Guten vere<strong>in</strong>t und - so <strong>die</strong><br />

Hoffnung von Dostojewski - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art von panslawistischem Unitarismus<br />

zu überw<strong>in</strong>den hofft (vgl. Berl<strong>in</strong> 1981).<br />

Heilige und Schamanen als s<strong>in</strong>d vormoderne Vorgänger des Charismatikers,<br />

sie s<strong>in</strong>d typisch für eher primitivere, religiös bestimmte Gesellschaften (vgl.<br />

Kakar 1984). Sie haben politischen E<strong>in</strong>fluß, weil ihnen übernatürlichmystische<br />

Kräfte zugeschrieben werden, engste Beziehungen zum Göttlichen<br />

oder zu den Göttern, <strong>die</strong> ihnen außergewöhnliche - auch politischen -<br />

Fähigkeiten geben. Denn alles - auch <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge - werden als beseelt,<br />

gottdurchwirkt betrachtet, so daß über Kontakt zu ihnen seitens dafür<br />

Begabter der Bezug zum Göttlichen hergestellt werden kann. Wegen <strong>die</strong>ser<br />

Beziehungen des Schamanen zum Manta (zum Göttlichen) s<strong>in</strong>d sie<br />

Tabupersonen, quasi unangreifbar, über <strong>die</strong> Gesellschaft erhoben und daher<br />

zu politischen und sonstigen Entscheidungen sowie zur Streitvermittlung<br />

prädest<strong>in</strong>iert (vgl. F<strong>in</strong>deisen 1983). Das gilt auch für <strong>die</strong> Heiligen, <strong>die</strong> eher<br />

dem christlichen Kulturkreis entstammen. Heilige s<strong>in</strong>d daher auch nur vor<br />

dem H<strong>in</strong>tergrund der christlichen Kultur zu verstehen, als Nachfolger<br />

Christi, <strong>die</strong> sich wie <strong>die</strong>ser für <strong>die</strong> Menschheit opfern - z.B. <strong>in</strong> sozialem<br />

Engagement. Sie wirken daher nur <strong>in</strong>direkt politisch, aber durch <strong>die</strong>se<br />

Indirektheit vielleicht um so wirksamer, denn e<strong>in</strong> Franz von Assisi hatte<br />

langfristig geistes- und mentalitätsgeschichtlich mehr E<strong>in</strong>fluß als <strong>die</strong> Päpste,<br />

<strong>die</strong> ihn zu bekämpfen versuchten und deren Namen man heutzutage kaum<br />

noch kennt (vgl. Frank 1992).<br />

Heilige und Schamanen haben gleichermaßen Bezug zum Mantischen, der<br />

Schamane herrscht aber, während der Heilige sich asketisch opfert und<br />

damit letztlich unpolitisch ist.<br />

In Staaten und Völkern, <strong>die</strong> nicht wie im angelsächsischen und<br />

westeuropäischen Bereich <strong>die</strong> rationalistische Aufklärung des 17./18.<br />

Jahrhunderts voll erlebt haben, s<strong>in</strong>d solche mystische Politiker noch<br />

verbreitet. Man denke nur an Rußland, <strong>in</strong> dem zu Beg<strong>in</strong>n des Jahrhunderts<br />

noch e<strong>in</strong> Rasput<strong>in</strong> politischen E<strong>in</strong>fluß hatte, und auch der Glaube an das<br />

108


"Mütterchen Rußland" <strong>in</strong> konservativ-religiösen Kreisen ist von solchem<br />

Denken durchwirkt.<br />

Dar<strong>in</strong> unterscheiden sich auch - obwohl beide biblischen Ursprungs - der<br />

Heilige und der Prophet <strong>in</strong>sbesondere aus dem Alten Testament, am<br />

e<strong>in</strong>drucksvollsten Amos. Propheten wollen - auf Geheiß Gottes - politisch<br />

wirken, <strong>die</strong> von Gott abgefallene Gesellschaft wieder zu se<strong>in</strong>em Gebot<br />

zurückführen, sie klagen an, und werden daher auch oft verfolgt und<br />

vertrieben (vgl. Jeremias 1985).<br />

Politikertypen s<strong>in</strong>d jedoch nicht nur nach ihrem Verhältnis zum Wandel und<br />

zur Krise zu klassifizieren, sondern auch nach ihren moralischen Qualitäten.<br />

Platon und Aristoteles legten hier schon früh <strong>die</strong> Grundlage, der Politiker<br />

wurde jedoch als Teil der Verfassung betrachtet, <strong>die</strong> er prägte. Daher soll<br />

<strong>die</strong>s erst im zweiten Kapitel des näheren behandelt werden (Aristoteles<br />

1995).<br />

E<strong>in</strong>e verfassungsunabhängige Typologie von Politikermoral entwarf wohl<br />

zum ersten Mal Machiavelli, der dichotomisch zwischen den "Löwen" und<br />

den "Füchsen" unterschied - als zwei pr<strong>in</strong>zipiellen Ausformungen möglichen<br />

politischen Verhaltens und Handelns, das nun nicht mehr - im Gegensatz<br />

zur Antike und zum christlichen Mittelalter - nach der<br />

Geme<strong>in</strong>wohlorientiertheit von Politik fragt, sondern hauptsächlich nach der<br />

Fähigkeit, sich im politischen Kampf behaupten zu können (Machiavelli<br />

1974). Dabei zeichnet der "Fuchs" durch List, Intrige und Ranküne aus,<br />

während dem "Löwen" das kraftvolle Auftreten und Durchsetzen eigen ist.<br />

Politische Verfaßtheiten und Verfassungen<br />

Grundlegend ist hier immer noch <strong>die</strong> Begrifflichkeit von<br />

Aristoteles. Sie läßt sich übersichtlich <strong>in</strong> folgender Matrix wiedergegeben<br />

(Quelle: <strong>Bellers</strong>/Kipke 1996²):<br />

ERGÄNZEN AUS BELLERS/KIPKE<br />

Wie e<strong>in</strong> politisches System nun tatsächlich funktioniert, hängt zum<strong>in</strong>dest zu<br />

e<strong>in</strong>em Teil von den Verfassungen ab, <strong>die</strong> sich heutzutage <strong>die</strong> Völker für ihre<br />

Nationalstaaten gegeben haben.<br />

Deutschland<br />

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist <strong>in</strong> bewußter<br />

Abgrenzung von der Verfassung der Weimarer Republik geschaffen<br />

109


worden, <strong>die</strong> von den Verfassungsvätern auf Herrenchiemsee 1948 als<br />

fehlerhaft betrachtet wurde (vgl. Greiffenhagen 1979²). Insbesondere wurde<br />

an Weimar <strong>die</strong> staatliche Doppelspitze <strong>in</strong> Form des Reichspräsidenten auf<br />

der e<strong>in</strong>en Seite und des Reichskanzlers auf der anderen Seite kritisiert. Der<br />

direkt vom Volk gewählte Reichspräsident ernannte nicht nur formell den<br />

Reichskanzler - potentiell ohne Abstimmung mit dem Parlament, dem<br />

Reichstag, wie dann <strong>in</strong> der Zeit von 1930 - 1933, <strong>in</strong> der Reichskanzler<br />

Brün<strong>in</strong>g nur vom Vertrauen des Reichspräsidenten v. H<strong>in</strong>denburg getragen<br />

wurde, im Reichstag faktisch über ke<strong>in</strong>e Mehrheit verfügte und daher über<br />

exekutive Notverordnungen des Reichspräsidenten regierte. Das war <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>e fehlerhafte Entwicklung der Weimarer Verfassung, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihr angelegt<br />

war. Die andere fehlerhafte Entwicklung war - wenn sie sich aus nicht so<br />

ausprägte, daß es zu Konflikten zwischen beiden Institutionen kam, vor<br />

allem <strong>in</strong> der Zeit des sozialdemokratischen Reichskanzlers Müller (1928 -<br />

1930), der nur widerwillig vom erzkonservativen-monarchistischen<br />

Reichspräsidenten ernannt wurde und von dessen auf Entspannung<br />

ausgerichtete Außenpolitik man letztlich nicht wußte, ob sie auch vom<br />

Reichspräsidenten mitgetragen werden würde (was er dann allerd<strong>in</strong>gs trotz<br />

aller Vorbehalte tat) (vgl. Mommsen 1989).<br />

Diese Doppelspitze kommt im Grundgesetz nicht mehr vor. Hier liegt <strong>die</strong><br />

Prärogative, <strong>die</strong> zentrale Macht e<strong>in</strong>deutig beim Bundeskanzler, der meist<br />

e<strong>in</strong>e (ggf. aus mehreren Parteien/Fraktionen gebildete) Mehrheit von<br />

Abgeordneten des Bundestages h<strong>in</strong>ter sich hat, der faktisch <strong>die</strong> M<strong>in</strong>ister<br />

bestimmt (evtl. nur e<strong>in</strong>geschränkt durch Rücksichtnahmen auf<br />

Koalitionspartner) und der <strong>die</strong> Bundestagsmehrheit stets dadurch<br />

diszipl<strong>in</strong>ieren kann, daß er <strong>die</strong> Vertrauensfrage stellt, d.h. wenn <strong>die</strong><br />

Mehrheit den Kanzler nicht mehr stützt, dann kommt der Oppositionsführer<br />

an <strong>die</strong> Macht, was der (vormaligen) Regierungsmehrheit auch nicht Recht<br />

se<strong>in</strong> kann (vgl. Rudzio 1993³).<br />

Gegenüber der Bundestagsopposition schützt den e<strong>in</strong>mal gewählten Kanzler<br />

das starke Instrument des sog. "Konstruktiven Mißtrauensvotums", d.h. er<br />

kann nur abgewählt werden, wenn gleichzeitig mit se<strong>in</strong>er Abwahl der<br />

Bundestag mit absoluter Mehrheit se<strong>in</strong>er Mitglieder (nicht nur der<br />

Anwesenden) e<strong>in</strong>en neuen Kanzler wählt; man darf also nicht e<strong>in</strong>fach<br />

abwählen, ohne e<strong>in</strong>en neuen zu ernennen, wie das oft <strong>in</strong> der Weimarer<br />

Republik der Fall war und zu deren Instabiltät mit beitrug, <strong>in</strong> dem es nur<br />

"geschäftsführende Regierungen" ohne Mehrheit im Reichstag gab. Dadurch<br />

wurde natürlich damals der Gesetzgebungsprozeß sehr erschwert.<br />

In der Bonner und der Berl<strong>in</strong>er Republik geht demgegenüber alles sehr<br />

geregelt zu: E<strong>in</strong> Kanzler wurde nur e<strong>in</strong> Mal durch e<strong>in</strong> Konstruktives<br />

Mißtrauensvotum gestürzt, nämlich 1982 H. Schmidt durch H. Kohl. Die<br />

Kompetenzen zwischen Exekutive und Legislative s<strong>in</strong>d klar abgegrenzt, mit<br />

e<strong>in</strong>er Beschränkung des Parlaments im wesentlichen auf se<strong>in</strong>e<br />

Kontrollaufgabe gegenüber der Regierung, während <strong>die</strong>se zentral durch den<br />

Sachverstand der M<strong>in</strong>isterialbürokratie <strong>die</strong> Politik aktiv gestalten soll.<br />

110


Und auch <strong>die</strong> Letztentscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts bei<br />

der Frage der Verfassungskonformität von Gesetzen wird allgeme<strong>in</strong><br />

akzeptiert (von den Reaktionen auf das Kruzifixurteil 1995 e<strong>in</strong>mal<br />

abgesehen).<br />

Diese Ordnung entspricht dem letztlich bis heute dom<strong>in</strong>anten,<br />

sozialpsychologischen Streben der Deutschen nach Ordnung: Die Welt soll<br />

so geordnet se<strong>in</strong> wie e<strong>in</strong> Wald, und auch deshalb tut es den Deutschen<br />

besonders weh, wenn er zu sterben beg<strong>in</strong>nt. Damit geht nämlich auch e<strong>in</strong><br />

Weltbild zugrunde.<br />

Das s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unserem Nachbarland Frankreich ganz anders aus. Hier<br />

kommen nicht nur ab und zu e<strong>in</strong>mal Revolutionen vor (und zwar echte -<br />

nicht nur halbe wie <strong>in</strong> Deutschland), hier ist auch e<strong>in</strong>e gewisse Fasz<strong>in</strong>ation<br />

für das Anarchische virulent.<br />

Darauf soll im nächsten Abschnitt näher e<strong>in</strong>gegangen werden.<br />

Frankreich<br />

Seit der Großen Französischen Revolution gab und gibt es zwei große<br />

verfassungsrechtliche und politische Tendenzen <strong>in</strong> der Geschichte<br />

Frankreich: E<strong>in</strong>erseits das Streben nach voller Souveränität des Parlaments<br />

und e<strong>in</strong>er dadurch bed<strong>in</strong>gt ger<strong>in</strong>gen Rolle und Macht der Regierung, was oft<br />

zu Instabilitäten und häufigem Wechsel der Regierung und des<br />

Regierungschefs führte, da <strong>die</strong> Mehrheitsverhältnisse im Parlament wegen<br />

schwacher B<strong>in</strong>dung der Abgeordneten an Parteien sehr fluktuierend und<br />

wechselnd waren (vgl. Laserre 1997). In Gegentendenz zu <strong>die</strong>sen<br />

Instabilitäten kam es andererseits periodisch zu politischen Systemen, <strong>die</strong><br />

der Exekutive und <strong>in</strong>sbesondere dem Staatspräsidenten e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ierende<br />

Macht <strong>in</strong>sbesondere gegenüber der Legislative zuwies.<br />

Die Instabilität der parlamentarisch orientierten Verfassungen (<strong>in</strong>sbesondere<br />

der Dritten und Vierten Republik 1875 - 1958) hat ihren Grund <strong>in</strong> der<br />

mangelnden Stabilität oder gar des Fehlens <strong>in</strong>termediärer Instanzen wie<br />

Parteien und Verbänden, <strong>die</strong> - sieht man es historisch - letztendlich dem<br />

Absolutismus des Staates vor dreihundert Jahren zum Opfer fielen. Der<br />

Absolutustismus zentralisierte den Staatsapparat derart <strong>in</strong> der Spitze des<br />

Monarchen, daß <strong>die</strong> sonstigen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten<br />

(Stände, Korporationen usw.) weitgehend verschwanden.<br />

Was übrig blieb, war der e<strong>in</strong>zelne, der Waldgänger oder Anarch, um<br />

Begriffe von Ernst Jünger zu verwenden, der nicht zufällig <strong>in</strong> Frankreich bis<br />

zum Staatspräsidenten h<strong>in</strong>auf geschätzt wird. Und so fühlen sich viele<br />

Franzosen bis heute: als E<strong>in</strong>zelgänger gegen den Staat, der sich politischen<br />

Gesellungsformen nach Möglichkeit fern hält. Daher ist <strong>die</strong> Zahl der<br />

Parteimitglieder z.B. niedriger als <strong>in</strong> der Bundesrepublik (<strong>die</strong> großen<br />

Parteien rd. 200.000, wobei <strong>die</strong>se parteioffiziellen Daten wohl übertrieben<br />

s<strong>in</strong>d; <strong>die</strong> SPD hat demgegenüber rd. 900.000 Mitglieder - allerd<strong>in</strong>gs bei<br />

111


abnehmender Tendenz). Parteien zerfallen überhaupt sehr schnell, lösen sich<br />

auf, ganz zu schweigen davon, daß sie oft ihren Namen ändern.<br />

Wegen fehlender oder mangelhafter Kanäle zur politischen Artikulation<br />

kommt es daher dann um so öfter zu politischen Eruptionen: Streiks,<br />

Studentenrevolten, Militärrevolten, Revolutionen, <strong>die</strong> zuweilen zu<br />

Systemwechseln (1848, 1870, 1958) zu Systemwechseln überhaupt führen<br />

können. Zum<strong>in</strong>dest geben <strong>die</strong> jeweiligen Regierung solchen Protesten relativ<br />

schnell nach - man denke nur an <strong>die</strong> Proteste gegen <strong>die</strong> Gesetzgebung für<br />

Privatschulen und für <strong>die</strong> Universitäten Mitte/Ende der 80er Jahre des 20.<br />

Jahrhunderts.<br />

Dieser anarchistische Grundtrend zeigt sich auch <strong>in</strong> der grassierenden<br />

Schattenwirtschaft, <strong>in</strong> dem Maß an Steuerh<strong>in</strong>terziehung (so daß der Staat <strong>die</strong><br />

direkten Steuern auf Produkte bevorzugt) sowie <strong>in</strong> der für Frankreich<br />

typischen Art von "charmanter" Korruption - e<strong>in</strong>er Art des Gebens und<br />

Nehmens, nicht immer unbed<strong>in</strong>gt mit f<strong>in</strong>anziellen Zuweisungen verbunden,<br />

aber <strong>in</strong> der Form, daß man sich gegenseitig e<strong>in</strong>en Gefallen tut: Der Polizist<br />

verzichtet im Rahmen se<strong>in</strong>es Ermessens bei kle<strong>in</strong>eren Angelegenheiten auf<br />

e<strong>in</strong>e Anzeige, während der dadurch Bevorzugte den Privatwagen des<br />

Polizisten zu e<strong>in</strong>em sehr günstigen Preis repariert - <strong>die</strong> Familien s<strong>in</strong>d ja seit<br />

je her befreundet. Dabei muß bedacht werden, daß Frankreich trotz oder<br />

wegen der Weltstadt Paris noch zu e<strong>in</strong>em Großteil agrarisch-dörflich geprägt<br />

ist - was derart enge freundschaftliche Beziehungen erleichtert.<br />

Gegen <strong>die</strong>se Neigung zu e<strong>in</strong>em sympathischen Chaos reagierte und reagiert<br />

das Staatliche, <strong>die</strong> Nation mit oft autoritären und quasi-autoritären<br />

Maßnahmen, wie sie vor allem <strong>in</strong> der Form des "Bonapartismus" zum<br />

Ausdruck kommt. (Dieser Begriff wurde von Marx e<strong>in</strong>geführt, vgl. Marx<br />

1946) Hiermit ist geme<strong>in</strong>t, daß sich <strong>die</strong> staatlichen Instanzen über <strong>die</strong><br />

gesellschaftlichen Wirren erheben (oder erheben wollen), um derart -<br />

unabhängig von den partikularen und egoistischen Interessen - das<br />

Geme<strong>in</strong>wohl (oder was man jeweils darunter versteht) realisieren zu<br />

können. Diese Argumentationsfigur wurde vor allem von Staatspräsident<br />

General de Gaulle (1958 - 1969 Staatspräsident) hervorgehoben, der e<strong>in</strong>mal<br />

s<strong>in</strong>ngemäß sagte, daß man e<strong>in</strong> Volk, das 200 Käsesorte habe, nur autoritativ<br />

regieren könne (vgl. Debrays 1994).<br />

Zwar ließen <strong>die</strong>se autoritär-bonapartistischen Regierungsformen den<br />

E<strong>in</strong>druck von Geordnetheit aufkommen - ganz dem anarchischen<br />

französischen Wesen zuwider -, aber das war und ist nur Sche<strong>in</strong>: denn auch<br />

<strong>die</strong>se Regierungsformen waren vor den revolutionären Eruptionen nicht<br />

geschützt, de Gaulle mußte 1969 letztlich resigniert zurücktreten, und auch<br />

Napoleon III. war <strong>in</strong>nenpolitisch 1870 gescheitert, was nur durch <strong>die</strong><br />

außenpolitische Niederlage gegenüber Deutschland verdeckt wurde.<br />

112


Frankreich bleibt unregierbar - und das ist wohl auch das Sympathische an<br />

ihm. Um es auf e<strong>in</strong>e süffisant-ironische Formel von de Gaulle zu br<strong>in</strong>gen:<br />

"Wie soll man e<strong>in</strong> Volk regieren, das 200 Käsesorten hat!?"<br />

Vere<strong>in</strong>igten Staaten von Amerika<br />

Auch <strong>die</strong> USA haben etwas für deutsche Verhältnisse "Unordentliches" -<br />

allerd<strong>in</strong>gs auf e<strong>in</strong>e gänzlich andere Art und Weise als <strong>in</strong> Frankreich. Der<br />

Amerikaner an sich identifiziert sich voll und ganz mit der Politik, aber er ist<br />

allem Staatlichen und Bürokratischem gegenüber fremd und skeptisch<br />

e<strong>in</strong>gestellt. Amerika ist <strong>die</strong> urliberale Nation, nach deren Ideologie sich am<br />

besten alles selbst, durch bürgerliche Eigen<strong>in</strong>itiative, ohne Staat regeln läßt -<br />

<strong>die</strong> Gesellschaft als privatwirtschaftlicher Vere<strong>in</strong> (vgl. Vorländer 1995, S. 39-<br />

57). Der Staat hält sich auch daran - er überläßt z.B. große Bereiche der<br />

Sozialpolitik der privaten Initiative, und Versuche, z.B. von Roosevelt und<br />

erst kürzlich von Cl<strong>in</strong>ton, hier aktiv zu werden, stießen auf erhebliche<br />

Widerstände und scheiterten zu e<strong>in</strong>em großen Teil.<br />

Der E<strong>in</strong>dämmung des Staatlichen <strong>die</strong>nt auch <strong>die</strong> amerikanische<br />

Verfassungsstruktur. (vgl. Lösche 1989). Zentrales Element ist hier <strong>die</strong><br />

wechselseitige Kontrolle der Staatsorgane bis h<strong>in</strong> zur Blockade: Der<br />

Präsident kann gegen Gesetzesbeschlüsse des Kongresses se<strong>in</strong> Veto e<strong>in</strong>legen,<br />

was <strong>die</strong>ser wiederum nur mit zwei Drittel der Stimmen des Kongresses<br />

aufgehoben werden kann. Das Repräsentantenhaus kann Gesetze e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen<br />

und beschließen, <strong>die</strong> wiederum vom Senat (der Vertretungskörperschaft der<br />

Bundesländer) abgelehnt werden. Und im Repräsentantenhaus gibt es e<strong>in</strong>e<br />

Vielzahl von Ausschüssen, deren Vorsitzende sich wie kle<strong>in</strong>e Könige<br />

benehmen. Dazu kommt, daß <strong>die</strong> beiden großen Parteien nur schwach<br />

organisiert s<strong>in</strong>d, so daß <strong>die</strong> Abgeordneten nicht nach Parteidiszipl<strong>in</strong>,<br />

sondern oft <strong>in</strong>dividuell als „politische Kle<strong>in</strong>unternehmer“ (Lösche) je nach<br />

Wahlkreis<strong>in</strong>teressen abstimmen.<br />

Das Ganze wird vom Verfassungsgericht überprüft und ggf. bei<br />

Verfassungswidrigkeit verworfen. Diese Vielzahl von Hürden im<br />

Gesetzgebungsprozeß kann zuweilen den E<strong>in</strong>druck erwecken, als gäbe es<br />

ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche L<strong>in</strong>ie von Politik - und viele ausländische Regierungen<br />

beklagen daher auch, daß <strong>die</strong> amerikanische Außenpolitik nicht berechenbar<br />

ist.<br />

Vielleicht ist der ökonomische Erfolg der USA auch darauf zurückzuführen,<br />

daß es ke<strong>in</strong>en allgegenwärtig strangulierenden Staatsapparat gab und gibt.<br />

Politische Kulturen<br />

Politikertypen s<strong>in</strong>d nicht nur durch unterschiedliche Verfassungen<br />

mitbestimmt, da <strong>die</strong>se oft nur formell s<strong>in</strong>d und nur z.T. zur tatsächlich<br />

gelebten Verfassung gehören; sie s<strong>in</strong>d gleichermaßen, wenn nicht sogar<br />

113


mehr durch das bee<strong>in</strong>flußt, was <strong>die</strong> amerikanische Politikwissenschaft <strong>in</strong><br />

den 50er Jahren als "Politische Kultur" konzeptualisiert hat (vgl.<br />

Almond/Verba 1965). Hiermit s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> E<strong>in</strong>stellungen und Handlungsweisen<br />

der allgeme<strong>in</strong>en Bevölkerung e<strong>in</strong>es Staates (<strong>in</strong>kl. deren politischer,<br />

kultureller, wirtschaftlicher usw. Eliten) gegenüber politischen Prozessen<br />

geme<strong>in</strong>t, und <strong>die</strong> s<strong>in</strong>d oft weitaus wichtiger als <strong>die</strong> Regularien e<strong>in</strong>er<br />

Verfassung. Um es an e<strong>in</strong>em krassen Beispiel zu verdeutlichen: E<strong>in</strong>e<br />

Verfassung, <strong>die</strong> den Bürgern und Bürger<strong>in</strong>nen weitgehende<br />

Mitbestimmungsmöglichkeiten durch Volksbefragungen usw. garantiert,<br />

bleibt leer, wenn <strong>die</strong>se Möglichkeiten durch Wahlabst<strong>in</strong>enz im realen Alltag<br />

der Politik nicht genutzt werden (vgl. Berg-Schlosser 1987).<br />

Almond und Verba, <strong>die</strong> hier das grundlegende, <strong>in</strong>ternational vergleichende<br />

Werk auf der Basis empirischer Umfragedaten verfaßt haben, unterscheiden<br />

u.a. zwei begriffliche Pole, zwischen denen unterschiedliche Mischungen<br />

und Arten politischer Kultur anzusiedeln s<strong>in</strong>d: auf der e<strong>in</strong>en Seite <strong>die</strong><br />

autoritäre politische Kultur und auf der anderen Seite <strong>die</strong> "civic culture", wie<br />

sie es nennen, am besten übersetzbar mit bürgerlich-ziviler,<br />

partizipatorischer Kultur, <strong>die</strong> sie vor allem <strong>in</strong> den USA realisiert sehen oder<br />

glauben. Demnach identifiziert sich der Bürger mit dem politischen System<br />

und setzt sich durch zahlreiche Beteiligungsformen für dessen weitere<br />

Entwicklung e<strong>in</strong>, wobei Fehlentwicklungen aktiv bekämpft werden.<br />

Konflikte zwischen Parteien und Verbänden werden als notwendig<br />

akzeptiert (Almond/Verba 1965).<br />

Demgegenüber neigt <strong>die</strong> autoritäre politische Kultur zum Harmoniedenken,<br />

man identifiziert sich zwar auch mit dem bestehenden politischen System,<br />

engagiert sich aber nicht ggf. konfliktfreudig für <strong>die</strong>ses, sondern akzeptiert<br />

dessen Entscheidungen autoritätsfixiert als gut und richtig. Man vertraut <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Kompetenz der Obrigkeit und beugt sich deren Entscheidungen, <strong>die</strong><br />

ohne zu fragen durchgeführt werden. Lange Zeit wurden <strong>die</strong> Deutschen mit<br />

<strong>die</strong>sem Typus identifiziert, auch wenn es bei uns den Bauernkrieg und Kant<br />

und <strong>die</strong> Revolutionen von 1848 und 1918 gab. Aber trotz <strong>die</strong>ser Ereignisse<br />

obsiegte <strong>in</strong> Deutschland stets <strong>die</strong> Obrigkeit, seien es <strong>die</strong> Fürsten im<br />

Bauernkrieg, was dann Luther beredt theologisch rechtfertigte ("Obrigkeit<br />

als Sicherung vor dem Chaos"), sei es <strong>die</strong> Staatsmetaphysik Hegels<br />

gegenüber Kants Liberalismus, oder sei es das Militär, das 1919 <strong>in</strong><br />

Kooperation mit der Sozialdemokratie "<strong>die</strong> Ordnung" gegenüber der<br />

kommunistischen Gefahr sicherte. Erst <strong>die</strong> totale Niederlage von 1945<br />

diskreditierte <strong>die</strong> "Obrigkeit" derart, daß sich <strong>die</strong> politische Kultur zu ändern<br />

begann - erst <strong>in</strong> der Ohne-mich-Haltung der 50er Jahre (Ablehnung der<br />

Wiederaufrüstung unter Adenauer), dann <strong>in</strong> der Studentenrevolte Ende der<br />

60er Jahre und <strong>in</strong> deren Folge dann bis heute <strong>in</strong> der Form zahlloser<br />

Bürger<strong>in</strong>itiativen, <strong>die</strong> sich parlamentarisch im Aufkommen der Grünen<br />

niederschlug und niederschlägt (vgl. Sontheimer 1990).<br />

Im Vergleich zur politischen Kultur Frankreichs und Italiens s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Deutschen allerd<strong>in</strong>gs noch vergleichsweise staatsfromm: <strong>die</strong> Größe der<br />

Schattenwirtschaft, <strong>die</strong> nicht vom Staat erfaßt wird - auch und erst recht<br />

114


nicht steuerlich -, ist - wie bereits oben erwähnt - <strong>in</strong> den beiden romanischen<br />

Ländern weitaus größer (Schätzungen gehen bis zu 30% des<br />

Bruttosozialproduktes) als <strong>in</strong> Deutschland (vgl. Putnam 1994). Der<br />

Franzosen ist der Staat immer fern, letztlich noch absolutistisch fern <strong>in</strong> Paris,<br />

und <strong>die</strong> französischen Staatspräsidenten benehmen sich ja noch wie Könige<br />

von Gottes Gnaden. Auch ist <strong>in</strong> Frankreich <strong>die</strong> syndikalistische<br />

Gewerkschaftsbewegung noch stark, <strong>die</strong> - fern von Politik und Parteipolitik -<br />

auf dezentraler, betrieblicher Basis <strong>die</strong> Unternehmen <strong>in</strong> Selbstverwaltung<br />

der Arbeiter überführen und damit den Kapitalismus überw<strong>in</strong>den will (vgl.<br />

Jansen 1986). Das Vere<strong>in</strong>s- und Parteienwesen <strong>in</strong> Frankreich ist derart<br />

zersplittert und dezentral, daß sich ke<strong>in</strong>e "staatstragenden" Parteien (sieht<br />

man von den Gaullisten ab) herausbilden konnten.<br />

In Entwicklungsländern (auch denen Osteuropas) ist <strong>die</strong> politische Kultur<br />

ähnlich, wenn auch <strong>in</strong> weitaus größerem Umfang staatsfern wie <strong>in</strong> den<br />

romanischen Ländern (<strong>die</strong> ja auch erst im Vergleich zu England,<br />

Deutschland und den USA relativ spät <strong>in</strong>dustrialisiert wurden), und <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sen Ländern nicht-kapitalistischen Sektoren (Landwirtschaft,<br />

überdimensioniertes Handelssystem, wuchernder Staatsapparat) br<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong><br />

Geist mit sich, der staatsfern ist - selbst noch im Staatssektor. Denn <strong>die</strong>se<br />

Gesellschaften s<strong>in</strong>d familial oder clanbezogen organisiert - wie früher auf<br />

dem Land. Familie oder Clan s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heiten, <strong>die</strong> Sicherheit geben und<br />

auch tatsächlich zu geben vermögen, auf <strong>die</strong> man sich daher auch bezieht<br />

und <strong>die</strong> Mißtrauen gegen alle anderen und vor allem größeren E<strong>in</strong>heiten<br />

erzeugen (vgl. Nuscheler 1995). Dieses Mißtrauen gegen das Staatliche kann<br />

bis zu Mafia-Strukturen führen.<br />

Politisches Handeln <strong>in</strong> verschiedenen Politikbereichen<br />

Verschiedene Politikbereiche br<strong>in</strong>gen oder bed<strong>in</strong>gen unterschiedliche<br />

Politikertypen. Dem soll im folgenden e<strong>in</strong> wenig nachgegangen werden.<br />

Sozialpolitik - Fürsorge - Vorsorge<br />

Selbst bei Bismarck, der als Begründer der staatlichen Sozialpolitik <strong>in</strong><br />

Deutschland betrachtet werden kann, selbst bei <strong>die</strong>sem Machtpolitiker par<br />

excellence war zwar <strong>die</strong> Inaugurierung der Sozialpolitik machtpolitisch<br />

bed<strong>in</strong>gt und begründet, nämlich um derart der verhaßten, staatsfe<strong>in</strong>dlichen<br />

Sozialdemokratie das Wasser abzugraben; aber das war nicht das alle<strong>in</strong>ige<br />

Motiv: Bismarcks Handeln war auch geprägt von e<strong>in</strong>em junkerlichpaternalistischen,<br />

christlich-pietistischem Glauben an <strong>die</strong> Für- und<br />

Vorsorgepflicht des "Herrn" gegenüber se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>tersassen (vgl. Wehler<br />

1975²).<br />

In <strong>die</strong>sen Kategorien dachte noch der Junker Bismarck, und er war damit<br />

antiliberal <strong>in</strong> positivem S<strong>in</strong>ne (Gall 1980). Denn während der Laissez-faire-<br />

Liberalismus das Schicksal des Individuum nur <strong>in</strong> dessen eigene Hand legt<br />

115


und staatliche Hilfen quasi als Freiheitsberaubung begreift, sieht sich der<br />

feudale Patriachalismus zur sozialen Hilfe verpflichtet, und <strong>die</strong>ser feudale<br />

Motivstrang sollte sich bis heute als soziale Fürsorgepflicht im sozialen<br />

Sicherungssystem fortpflanzen. Deshalb vergleicht man heutzutage auch<br />

gerne <strong>die</strong> überbürokratisierte Macht der modernen Sicherungsssysteme mit<br />

e<strong>in</strong>em alle betreuenden feudalen Patriachalismus - Fürsorge und Sicherung<br />

statt Freiheit, so lautet <strong>die</strong> konservative Kritik (vgl. Bellermann 1995²).<br />

Gesundheitspolitik kann als e<strong>in</strong> Teil von Sozialpolitik begriffen werden - ist<br />

aber e<strong>in</strong> eigener Politikbereich. Sie manifestiert sich u.a. <strong>in</strong> den vielfältigen<br />

Krankenhäusern und Gesundheitsämtern vor Ort. Die Krankenhäuser s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> kommunaler oder privater (auch geme<strong>in</strong>nütziger) Trägerschaft, z.B. <strong>in</strong> der<br />

der Kirchen, werden von <strong>die</strong>sen auch z.T. f<strong>in</strong>anziert, was aber bei weitem<br />

nicht ausreicht. (Neu-)Investitionen werden daher vom Bund und Land<br />

bezahlt, während <strong>die</strong> laufenden Personal- und Sachkosten von den<br />

Krankenkassen getragen werden, <strong>die</strong> wiederum von den Beiträgen der<br />

Mitglieder und Beitragspflichtigen leben (vgl. Rosenbrock 1992).<br />

Die Gesundheitsämter der Bundesländer <strong>die</strong>nen der Kontrolle aller<br />

gesundheitsrelevanten Bereiche, von der Vorbeugung gegen Seuchen bis zur<br />

Erstellung amtsärztlicher Gesundheitszeugnisse (vgl. Schaefer 1984).<br />

Der Bereich des Gesundheitswesens, mit dem der Bürger aber am häufigsten<br />

und <strong>in</strong>tensivsten konfrontiert ist, ist <strong>die</strong> ambulante, ärztliche Versorgung<br />

durch privatwirtschaftlich arbeitende Ärzte. Hier geht der Kranke zunächst<br />

zum Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>er, der ihn ggf. an Fachärzte bei komplizierteren<br />

Leiden weiterleitet. Im Osten Deutschlands gibt es hierbei noch <strong>in</strong> Teilen <strong>die</strong><br />

s<strong>in</strong>nvolle E<strong>in</strong>richtung polytechnischer Ärztegeme<strong>in</strong>schaften, konzentriert an<br />

e<strong>in</strong>em Ort.<br />

E<strong>in</strong> zentrales Problem gegenwärtiger Gesundheitspolitik ist <strong>die</strong><br />

Kostenexplosion. Die Menschen werden immer älter und<br />

gesundheitsbewußter, so daß sie immer häufiger den Arzt aufsuchen<br />

(müssen). Zumal es immer mehr Ärzte gibt, <strong>die</strong> quasi sich selber <strong>die</strong><br />

Nachfrage schaffen: Je mehr Ärzte, um so mehr Kranke. Dem versuchen <strong>die</strong><br />

Bundesregierungen durch Kostendeckeungen entgegenzuwirken:<br />

E<strong>in</strong>schränkungen der Verschreibepraxis der Ärzte; Selbstbeteiligung von<br />

Patienten; gesundheitliche Aufklärung z.B. h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er<br />

gesundheitsfördernden Lebensweise; E<strong>in</strong>fluß auf <strong>die</strong> Arzneimittelpreise<br />

usw.<br />

Zollpolitik - Nationalismus/Protektionismus, Autarkie<br />

E<strong>in</strong>e Art von <strong>in</strong>ternationaler Sozialpolitik ist <strong>die</strong> Zoll- und Autarkiepolitik<br />

als Teil der Außenwirtschaftspolitik, vor allem für <strong>die</strong> Entwicklungsländer<br />

(wobei "Entwicklungspolitik" <strong>in</strong>sgesamt als <strong>in</strong>ternationale Sozialpolitik<br />

bezeichnet werden kann). Hier sollen b<strong>in</strong>nenwirtschaftliche<br />

116


Industriebereiche und <strong>die</strong> dort beschäftigten Arbeitnehmer vor der<br />

ausländischen, meist billigeren Konkurrenz geschützt werden, um<br />

Arbeitsplätze und Produktionsbereiche zu erhalten (vgl. Siebert 1994). Die<br />

soziale Sicherung der b<strong>in</strong>nenländischen Arbeitnehmer wird damit als<br />

höherwertige Aufgabe betrachtet als e<strong>in</strong>e Produktion an dem Ort, wo es<br />

weltweit am billigsten ist.<br />

Internationale Entwicklungspolitik ist - von e<strong>in</strong>em umfassenderen Konzept<br />

ausgehend - will durch f<strong>in</strong>anzielle Hilfen (Kredite, Zuschüsse) und durch<br />

Dienstleistungshilfen (Entsendung von Experten, Technologietransfer) zur<br />

Überw<strong>in</strong>dung von Armut <strong>in</strong> anderen Staaten und Weltgegenden beitragen -<br />

sei es nun im letzten Jahrhundert z.B. <strong>in</strong> der Form des Kapitalzuflusses von<br />

England <strong>in</strong> <strong>die</strong> USA zu deren Industrialisierung (<strong>in</strong>sbesondere zum<br />

Eisenbahnbau) oder sei heutzutage durch - ggf. staatlich gestützte -<br />

Direkt<strong>in</strong>vestitionen <strong>in</strong> Staaten der sog. Dritten und Vierten Welt, <strong>die</strong><br />

letzteren vor allem im ärmsten Kont<strong>in</strong>ent: Schwarzafrika.<br />

Wirtschaftspolitik - Balance im magischen Vier- und Mehr-Eck<br />

Wirtschaftspolitik hat <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong> (politischen, ökonomischen,<br />

rechtlichen und sozialen) Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zu schaffen, daß alle<br />

Bewohner e<strong>in</strong>es Gebietes (meist heutzutage e<strong>in</strong>es Nationalstaates) genügend<br />

zur Fristung des Dase<strong>in</strong>s erwirtschaften - und zwar auf dem<br />

Erwartungsniveau der Gesellschaft e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit (vgl. Gemper<br />

1994). (Bekanntermaßen steigen <strong>die</strong> Erwartungen mit der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung, so daß sich ke<strong>in</strong>er mehr mit dem Waschbrett zufriedengibt,<br />

falls <strong>die</strong> Jüngeren überhaupt noch heute wissen, was das ist!).<br />

In früheren Zeiten, z.B. im Westeuropa, wurde <strong>die</strong> Produktion über <strong>die</strong><br />

Zünfte geregelt, städtischen Zusammenschlüssen von Handwerkern, <strong>die</strong><br />

festlegten, was <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Mitglieder gemäß des (prognostizierten)<br />

Bedarfs herzustellen hatten. Um Überproduktionen zu verh<strong>in</strong>dern, konnte<br />

auch nicht jeder Mitglied der Zunft werden.<br />

In modernen Gesellschaften erfolgt - zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der Theorie der<br />

Ökonomen - <strong>die</strong> Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage über der<br />

Marktmechanismus: wenn Mangel an e<strong>in</strong>em Produkt herrscht, steigt der<br />

Preis, so daß der Produzent veranlaßt wird, mehr zu produzieren, bis <strong>die</strong><br />

Nachfrage befriedigt ist und der Preis wieder s<strong>in</strong>kt, so daß weniger<br />

hergestellt wird - entsprechend der ger<strong>in</strong>geren Nachfrage. Wenn zu viel<br />

produziert wird, s<strong>in</strong>ken <strong>die</strong> Preise, und der Fabrikant weiß, daß der Markt<br />

gesättigt ist.<br />

Soweit <strong>die</strong> Theorie (vgl. Ott 1989)! Oft kommt es aber zu Friktionen, so daß<br />

der ideale Mechanismus nicht funktioniert. Gibt es z.B. zu viel Geld <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Wirtschaft, z.B. weil <strong>die</strong> zentrale Notenbank zu viel Geld druckt, so steigt <strong>die</strong><br />

Nachfrage (es hat halt jeder viel Geld <strong>in</strong> der Hand), so steigt zwar kurzfristig<br />

<strong>die</strong> Produktion und <strong>die</strong> Wirtschaft wächst, aber langfristig verliert das Geld<br />

117


an Wert, was man dann Inflation nennt. Denn es ist mehr Geld vorhanden,<br />

als an Waren produziert werden kann. Die Menschen verlieren ihr<br />

Vertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Stabilität des Geldes.<br />

Um <strong>die</strong>se Gefahren zu vermeiden, geht <strong>die</strong> neuere Wirtschaftspolitik von<br />

folgenden vier Zielen aus, <strong>die</strong> sich allerd<strong>in</strong>gs z.T. widersprechen (daher<br />

"magisches" Viereck):<br />

Gemäß <strong>die</strong>sen Ziele wurden <strong>die</strong> staatlichen Ebenen zunehmend - im S<strong>in</strong>ne<br />

der Keynesianischen Theorie und unter wachsendem E<strong>in</strong>fluß der nun<br />

Regierungsverantwortung tragenden Sozialdemokratie - aktiv im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>er Bee<strong>in</strong>flussung der wirtschaftlichen Entwicklung, um Marktdefizienzen<br />

auszugleichen: In Zeiten wirtschaftlicher Depression und mangelnder<br />

unternehmerischer Tätigkeit griff der Staat mit vermehrten staatlichen<br />

Aufträgen e<strong>in</strong>, um <strong>die</strong> Konjunktur anzukurbeln; <strong>in</strong> Zeiten der<br />

Hochkunjunktur sollte der Staat sparen, da ja Steuere<strong>in</strong>nahmen ausreichten,<br />

um mit dem derart gesparten Geld dann <strong>in</strong> der Zeit der Rezession wieder<br />

wirtschaftsfördernd e<strong>in</strong>greifen zu können (Bombach 1976 sowie Moggridge<br />

1992). Nur das es nicht so funktionierte, war das große Manko. Denn <strong>in</strong><br />

pluralistischen Gesellschaften mit starken Verbänden (Gewerkschaften,<br />

Sozialverbände) läßt sich das Sparen nur schwer durchsetzen, so daß sich<br />

<strong>die</strong> staatlichen Instanzen immer mehr verschuldeten. Der Keynesianismus<br />

wurde daher spätestens <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 70er Jahre aufgegeben und<br />

ersetzt durch e<strong>in</strong>e monetaristische Politik, <strong>die</strong> vor allem auf e<strong>in</strong>e Begrenzung<br />

der Geldmenge Wert legte, um übermäßigen staatlichen Ausgaben und<br />

damit bed<strong>in</strong>gte Inflationen zu begegnen.<br />

Der Versuch der Planung von wirtschaftlichen Prozessen war damit<br />

gescheitert, und man überließ <strong>in</strong> der Folgezeit eher liberal-konservativer<br />

Regierung <strong>die</strong> wirtschaftliche Entwicklung den dezentralen, nichtstaatlichen<br />

Mechanismen marktwirtschaftlicher Selbststeuerung. Dadurch<br />

geriet der Planungsgedanke überhaupt <strong>in</strong> Mißkredit: Gesellschaft läßt sich<br />

nicht so planen, wie das von grünen staatlichen Tischen <strong>in</strong>itiiert wird. Die<br />

gesellschaftlichen Prozesse s<strong>in</strong>d oft stärker als staatliche Interventionen, <strong>die</strong><br />

leicht umgangen oder negiert werden können (vgl. Hartwich 1985 sowie<br />

W<strong>in</strong>dhoff-Héritier 1993). Subventionen werden z.B. von Unternehmern<br />

gerne <strong>in</strong> Anspruch genommen, aber nicht im S<strong>in</strong>ne der staatlichen Ziele<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, ohne daß <strong>die</strong>s illegal se<strong>in</strong> muß. So wurden beispielsweise<br />

Unternehmensansiedlungen <strong>in</strong> unterentwickelten Gebieten steuerlich<br />

gefördert. Wenn aber <strong>die</strong> steuerliche Unterstützung entfällt, werden <strong>die</strong><br />

Betriebe wieder abgezogen - der <strong>in</strong>ten<strong>die</strong>rte Effekt wird nicht erreicht.<br />

Planung bewirkt ohneh<strong>in</strong> das Gegenteil des Gewollten. Paradoxe Effekte<br />

<strong>die</strong>ser Art s<strong>in</strong>d z.B. <strong>in</strong> der Bildungspolitik festzustellen: Die Expansion des<br />

Bildungswesen und <strong>die</strong> Ermöglichung des Hochschulzugangs auch für<br />

Unterschichten - sicherlich e<strong>in</strong> durchaus erstrebenswertes Ziel im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

Mobilisierung aller Bildungsressourcen - führten zu e<strong>in</strong>er<br />

"Akademikerschwemme", <strong>die</strong> den Wert und das Prestige des<br />

Hochschulabschlusses im Wert s<strong>in</strong>ken ließen und damit das Ziel, e<strong>in</strong>e<br />

118


Statusanhebung der Unterschichten zu erreichen, desavouierten. Oder: Die<br />

Zusammenlegung von Pädagogischen Hochschulen und Universitäten mit<br />

der Absicht, <strong>die</strong> Lehrerausbildung zu verwissenschaftlichen, brachten e<strong>in</strong>e<br />

Ent-Wissenschaftlichung der Universitäten mit sich und e<strong>in</strong>e<br />

Entpädagogisierung des Lehrerstudiums, womit wohl allen Beteiligten nicht<br />

ge<strong>die</strong>nt war.<br />

Gesellschaft und auch Politik läßt sich halt nicht nach den abstrakten,<br />

rationalistischen und mechanistischen Vorstellungen von<br />

Planungstechnokraten gestalten, sie unterliegen eigenen Gesetzmäßigkeiten,<br />

<strong>die</strong> sich notfalls gegen staatliche Interventionen "wehren" und sabotieren. Es<br />

gibt Sachgesetzmäßigkeiten, <strong>die</strong> auch Politik nicht ignorieren sollte. Recht ist<br />

nur e<strong>in</strong> begrenzt wirksames Mittel der Steuerung sozialer und<br />

wirtschaftlicher Entwicklungen, wie nicht nur der erhebliche Umfang der<br />

Steuerh<strong>in</strong>terziehung und Steuerflucht zeigt (<strong>Bellers</strong> 1997).<br />

Außenpolitik<br />

Auch <strong>die</strong> <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen s<strong>in</strong>d von solchen<br />

Unberechenbarkeiten gekennzeichnet: Wer hätte 1979 mit dem Sturz des<br />

Schahs im Iran gerechnet? Se<strong>in</strong> westliches Modernisierungsmodell wurde<br />

von e<strong>in</strong>er fundamental-islamischen Gesellschaft nicht akzeptiert. Warum<br />

brachen <strong>die</strong> DDR und <strong>die</strong> UdSSR so schnell und unerwartet zusammen?<br />

Mythen <strong>in</strong> der Außenpolitik<br />

Die oft rational schwer erklärlichen Außenpolitiken von Nationalstaaten<br />

(und darum handelt es sich ja heutzutage im wesentlichen <strong>in</strong> der<br />

<strong>in</strong>ternationalen Politik) s<strong>in</strong>d zum<strong>in</strong>dest zu e<strong>in</strong>em Teil annäherungsweise<br />

kollektivpsychologisch im S<strong>in</strong>ne von C. G. Jung verständlich zu machen - als<br />

Hypothese, <strong>die</strong> ich hier vorschlagen möchte. Solche kollektiven Mentalitäten<br />

(früher sprach man von "Volksseelen" [Herder]) s<strong>in</strong>d unbestreitbar gegeben -<br />

sowohl <strong>in</strong> der Innen- und Außenpolitik -, wie haben sie ja bereits oben im<br />

Kontext der politischen Kulturen erwähnt, und sie lassen sich auch<br />

empirisch durch Umfragen nachweisen: Es s<strong>in</strong>d bestimmte geme<strong>in</strong>same<br />

Denk- und Verhaltensweisen unter der Bevölkerung e<strong>in</strong>es Nationalstaates<br />

festzustellen (vgl. Brumlick 1993).<br />

E<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser Ur-Mythen ist das kollektive Streben nach E<strong>in</strong>heit und<br />

Harmonie, nach E<strong>in</strong>igung des Gespaltenen, wie er <strong>in</strong> religiösen Zeitaltern<br />

letztlich <strong>in</strong> Gott repräsentiert wird. Der Kreis als Symbol solcher E<strong>in</strong>heit<br />

kommt daher <strong>in</strong> vielen von Jung analysierten Träumen vor und wird daher<br />

auch auf geme<strong>in</strong>same kollektive Grundstrukturen zurückgeführt (Jung<br />

1989).<br />

Und <strong>die</strong> Attraktivität von totalitären Ideologien liegt gerade dar<strong>in</strong>, daß sie<br />

solche E<strong>in</strong>heiten versprechen und anbieten: <strong>die</strong> familiäre Geme<strong>in</strong>samkeit im<br />

Nationalismus oder Rassismus der eigenen Gruppe, <strong>die</strong> soziale Harmonie im<br />

Kommunismus, das Para<strong>die</strong>s im Christentum (dessen Realisierung hier auf<br />

Erden allerd<strong>in</strong>gs nicht behauptet werden), der technokratische<br />

119


Fortschrittsoptimismus <strong>in</strong> der amerikanischen Ideologie, durch den nun<br />

doch zum<strong>in</strong>dest ökonomisch das Para<strong>die</strong>s des Überflusses schon hier auf<br />

Erden geschaffen werden soll.<br />

(Auch <strong>in</strong> anderer Form gibt es <strong>die</strong>se Sehnsucht nach E<strong>in</strong>heit, z.B. im Glaube<br />

der Naturwissenschaft an den "big bang", durch den <strong>die</strong> Welt aus e<strong>in</strong>em<br />

e<strong>in</strong>heitlich Ursprung entstanden se<strong>in</strong> soll.)<br />

Natürlich ist solcher E<strong>in</strong>heitsglauben seit der Erkenntniskritik von Kant eben<br />

nur e<strong>in</strong> Glaube - oft mit terroristischen Konsequenzen, <strong>in</strong>dem das Nicht-<br />

E<strong>in</strong>heitliche oder Nicht-an-<strong>die</strong>-E<strong>in</strong>heit-Angepaßte "ausgemerzt" wird. Kant<br />

hat gerade auf <strong>die</strong> Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, das konstitutionell bed<strong>in</strong>gt nur partikular wahrnehmen kann.<br />

Aber dennoch hat das E<strong>in</strong>heitsstreben stets politisch und<br />

kollektivpsychologisch gewirkt: Wie läßt sich der Stal<strong>in</strong>sche Nationalismus<br />

erklären, der im Pakt mit Hitler und dann nach 1945 Ost- und Mitteleuropa<br />

eroberte und sowjetisierte, allem Antifaschismus und Internationalismus<br />

zuwider? Die oft vorgebrachte Erklärung, er habe sich durch e<strong>in</strong>e<br />

territorialen Gürtel vor weiteren Angriffen aus dem Westen schützen wollen,<br />

zieht nicht ganz, denn zu <strong>die</strong>sem Zweck hätte ja auch das Modell<br />

"Österreich" und "F<strong>in</strong>nland" gereicht, <strong>die</strong> außenpolitisch der Sowjetunion<br />

angelehnt oder neutral gegenüber waren, <strong>in</strong>nenpolitisch aber frei und<br />

demokratisch agieren konnten.<br />

Wie läßt sich das Gemetzel des Vietnam-Krieges erklären, der auf der e<strong>in</strong>en<br />

Seite von e<strong>in</strong>er Nation geführt wurde, deren Bevölkerung tendenziell eher<br />

pazifistisch und isolationistisch denkt, d.h. nichts mit Außenpolitik zu tun<br />

haben will, weil ihr <strong>die</strong> "große Insel" USA genügt.<br />

Wie läßt es sich erklären? Rohstoff<strong>in</strong>teressen waren mangels Rohstoffen dort<br />

nicht maßgebend, <strong>die</strong> kommunistische Gefahr war auch nicht mehr so<br />

gefährlich, seitdem spätestens seit Beg<strong>in</strong>n der 60er Jahre klar geworden war,<br />

daß sich der kommunistische Block <strong>in</strong> Anhänger Ch<strong>in</strong>as und der UdSSR<br />

gespalten hatte.<br />

Wohl saßen <strong>die</strong> amerikanischen Entscheidungsträger der technokratischen<br />

Illusion auf, dem Streben, den Turm von Babel als welte<strong>in</strong>igendes Werk<br />

doch bauen zu können, <strong>in</strong>sbesondere so der Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<br />

McNamara, als könne man <strong>die</strong> kommunistische Guerilla <strong>in</strong> Vietnam so<br />

bekämpfen, wie man riesige Getreidefelder im mittleren Westen der<br />

Vere<strong>in</strong>igten Staaten anlegt oder wie man e<strong>in</strong>en Wolkenkratzer errichtet. Es<br />

ist <strong>die</strong> Machbarkeitsideologie, <strong>die</strong> den unkalkulierbaren Faktor "Mensch"<br />

vergißt und <strong>in</strong>folgedessen mit zunehmender Unkalkulierbarkeit immer<br />

technokratischer wird, um das Nicht-Berechenbare doch noch beherrschen<br />

und bekämpfen zu können, was natürlich auch fehlgehen muß und zur<br />

Niederlage der USA <strong>in</strong> Vietnam führten (vgl. Short 1989).<br />

Was muß der homo politicus beachten? E<strong>in</strong> kurzes Brevier zum<br />

Machterwerb, nicht ohne Ironie zu lesen<br />

120


Analysiere zunächst <strong>die</strong> politische und soziale Situation, wie sie ist. Hier<br />

helfen politik- und sozialwissenschaftliche Analyse sowie <strong>in</strong>sbesondere<br />

Statistiken der Ämter und Verbände.<br />

Untersuche vor allem auch <strong>die</strong> Machtpotentiale der Gegner - und deren<br />

Schwächen aus Vergangenheit und Gegenwart<br />

Sei mißtrauisch gegen alles, was politische Freunde und Fe<strong>in</strong>de sagen; frage<br />

danach, was sie wirklich wollen (ohne es womöglich zu sagen), suche ihre<br />

eigentlichen (nicht verbalisierten) Interessen aus ihren Handlungen und<br />

ihrem Verhalten abzuleiten. Das widerspricht oft ihren offiziellen und<br />

öffentlichen Äußerungen. Nicht nur <strong>in</strong> der Außen-, sondern auch <strong>in</strong> der<br />

Innenpolitik. Man denke nur an das Ritual zu Beg<strong>in</strong>n von<br />

Tarifverhandlungen, bei denen ja <strong>die</strong> Verhandlungs"partner" auch nicht das<br />

verlangen, was sie für durchsetzbar und für realistisch handeln.<br />

Suche <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Situation des allgeme<strong>in</strong>en Mißtrauens nach zum<strong>in</strong>dest<br />

zeitweiligen Verbündeten, <strong>in</strong>dem Du auf geme<strong>in</strong>same Interessen<br />

aufmerksam machst oder sie durch ökonomische und politische<br />

Versprechungen schaffst. Kreditgewährung an ausländische Regierungen,<br />

<strong>die</strong> man sich erhalten will, ist hier e<strong>in</strong>e beliebte Praxis. Dies ist auch e<strong>in</strong>e<br />

vielgeübte Praxis im US-amerikanischen Regierungssystem, <strong>in</strong> dem der<br />

Präsident sich se<strong>in</strong>e Mehrheiten im Kongreß erst auf <strong>die</strong>se Art und Weise<br />

schaffen muß - und sei es über E<strong>in</strong>ladungen e<strong>in</strong>es Abgeordneten des<br />

Repräsentantenhauses zu Frühstücken bei der Gatt<strong>in</strong> des Präsidenten, was<br />

dann bei den Wahlkampagnen des jeweiligen Abgeordneten behilflich se<strong>in</strong><br />

kann.<br />

Radikale Änderungen <strong>die</strong>ses Systems, das ja zum<strong>in</strong>dest den Bürgerkrieg<br />

verh<strong>in</strong>dert, zahlen sich nicht aus, da Revolutionen meist auch ihre Initiatoren<br />

mit vertilgen.<br />

Greife <strong>in</strong> der Außenpolitik aus <strong>die</strong>sem Grund nur dann zur Gewalt, wenn es<br />

sich gar nicht mehr vermeiden läßt und man Opfer e<strong>in</strong>er militärischen<br />

Aggression anderer zu werden droht. Diplomatie ist meist auch für <strong>die</strong><br />

Herrschenden billiger und für ihre Herrschaft stabilisierender.<br />

Trete als Herrschender lieber freiwillig und rechtzeitig zurück, ehe dich <strong>die</strong><br />

Meute zerreißt ("Honecker-Effekt"). Reformen helfen <strong>in</strong> solchen Situationen<br />

auch nicht mehr viel, da sie nur als Nachgiebigkeit ausgelegt werden und<br />

den Machthunger der Meute steigern.<br />

Das ist zwar alles zynisch formuliert und daher ethisch zu verwerfen, aber<br />

realistisch. Politik non olet. Auch Politikwissenschaft nicht.<br />

121


Das ist zwar e<strong>in</strong> effektvoller Schluß des Beitrages, aber das kann nicht alles<br />

se<strong>in</strong>. Zwar leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nihilistischen Zeitalter, <strong>in</strong> dem bis auf e<strong>in</strong><br />

ethisches M<strong>in</strong>imum geme<strong>in</strong>schaftliche Werte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft immer<br />

weniger gelten. Das wird heutzutage unter dem Stichwort "Wertezerfall"<br />

diskutiert, und man me<strong>in</strong>t damit, daß Werte aus früheren Gesellschaften wie<br />

wechselseitige Hilfe, Opfer, Solidarität an Bedeutung verlieren. Man<br />

kümmert sich nur noch um sich selbst und se<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Wohlergehen,<br />

<strong>die</strong> anderen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>en gleichgültig: Alte werden <strong>in</strong> anonyme Altersheime<br />

abgeschoben und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Pflegeversicherung, K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Horte oder Heime,<br />

Sterbende <strong>in</strong> Krankenhäuser (Wickert 1994)<br />

Aber das kann nicht alles se<strong>in</strong>! Denn unsere Gesellschaften stehen national<br />

und <strong>in</strong>ternational vor erheblichen Problemen (Massenarbeitslosigkeit <strong>in</strong> den<br />

Industriestaaten, Unterentwicklung <strong>in</strong> der Dritten Welt), <strong>die</strong> nur<br />

geme<strong>in</strong>schaftlich, durch e<strong>in</strong>e ethische Mitverantwortung gegenüber dem<br />

Mitmenschen und nicht <strong>in</strong>dividualistisch gelöst oder zum<strong>in</strong>dest gem<strong>in</strong>dert<br />

werden können. Die zentrale Frage ist nur: Wie kann man <strong>die</strong> Menschen<br />

dazu motivieren? Denn zw<strong>in</strong>gen kann man sie dazu <strong>in</strong> demokratischen<br />

Gesellschaften nicht. Das wissen auch Regierungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Probleme durch<br />

e<strong>in</strong>e steuerliche Vermögensumverteilung angehen wollen, da sie bei<br />

Nichtakzeptanz der Steuerzahler beim nächsten Mal abgewählt werden<br />

(oder es kommt sogar zum Steuerstreik oder vermehrter<br />

Steuerh<strong>in</strong>terziehung und Steuerflucht).<br />

Die Geschichte liefert uns mehrere Modelle, wie soziale Krisen überwunden<br />

wurden:<br />

Es ist hier <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividual- und <strong>die</strong> kollektivethische Ebene zu unterscheiden:<br />

Zur Individualethik (<strong>die</strong> natürlich immer auch kollektiv ist, da Ethik immer<br />

auf andere Menschen bezogen ist; es gibt hier nur graduelle Unterschiede):<br />

- Die traditionelle materiale Wertethik, wie sie <strong>in</strong> der griechischen und<br />

römischen Antike (Platon, Aristoteles) entwickelt wurden, geben recht<br />

spezifisch Verhaltens- und Handlungsweisen vor, <strong>die</strong> als ethisch gut<br />

betrachtet und begründet werden (Sparsamkeit, Freundschaft, Besonnenheit<br />

usw.). Nur im begrenzten Maße werden allgeme<strong>in</strong>ere ethische Regeln<br />

aufgestellt, z.B. bei Aristoteles das Pr<strong>in</strong>zip der Mitte: Wähle <strong>die</strong> Handlung<br />

zwischen den Extremen, also <strong>die</strong> Sparsamkeit als Mitte zwischen den<br />

Extremen "Geiz" und "Verschwendungssucht". Solche Vorgaben waren <strong>in</strong><br />

homogenen Gesellschaften noch praktikabel, weil sie tatsächlich<br />

nachvollzogen und befolgt wurden. In unseren heutigen, stark<br />

differenzierten Gesellschaften mit ihrer Vielzahl nebene<strong>in</strong>ander bestehenden<br />

Lebensstilen ist das aber kaum noch realistisch. Z.T. funktioniert ja unsere<br />

Wirtschaft ja auch nur gerade dann, wenn man viel ausgibt, d.h.<br />

verschwenderisch ist. Auch <strong>die</strong> zehn Gebote der Bibel gehören <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Kontext, mit Auswirkungen bis heute im Katholizismus (Enzykliken).<br />

Gleichermaßen konzipierte Max Scheler <strong>in</strong> den 20er Jahren <strong>die</strong>ses<br />

Jahrhunderts e<strong>in</strong>e materiale Wertethik (Scheler 1980 5<br />

). (In sozialistischmarxistischen<br />

Gesellschaften hat man e<strong>in</strong>e derartige Tugend-Moral zu<br />

122


evitalisieren versucht, man denke nur an <strong>die</strong> "Zehn Gebote der<br />

sozialistischen Moral" <strong>in</strong> der ehemaligen DDR, deren Durchsetzung aber nur<br />

zwanghaft oder gar nicht erfolgte. Diese Revitalisierung war nur vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund überhaupt <strong>in</strong> Angriff zu nehmen, daß mit dem Marxismus e<strong>in</strong>e<br />

kompakte, angeblich objektive gesellschaftliche Orientierung vorgegeben<br />

werden konnte, an <strong>die</strong> der sozialistische Bürger sich auszurichten habe.)<br />

- Angesichts <strong>die</strong>ser Probleme differenzierter Gesellschaften hat Kant als der<br />

bedeutendste Sozialphilosoph der liberal-bürgerlichen Gesellschaft <strong>die</strong> Ethik<br />

neu zu begründen versucht: Für ihn war das Handeln ethisch zu<br />

rechtfertigen, das auch e<strong>in</strong> Handeln se<strong>in</strong> könnte, wenn alle so handeln<br />

würden ("Kategorischer Imperativ"), ohne daß <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

zusammenbrechen würde. Also: Du darfst nicht morden, weil sich - wenn<br />

alle morden würden - <strong>die</strong> Gesellschaft als solche<br />

auflösen würde. Aber <strong>die</strong>ses Grundpr<strong>in</strong>zip ist auch mißbrauchbar: z.B.<br />

Handle so, daß de<strong>in</strong> Handeln immer dem deutschen Volk zugute kommt.<br />

Das ist auch generalisierbar, kann e<strong>in</strong> verallgeme<strong>in</strong>erungsfähiges Gesetz<br />

werden (wie es ja im "Dritten Reich" grausam auch praktiziert wurde), selbst<br />

e<strong>in</strong> Franzose könnte es übernehmen, wenn er <strong>die</strong> Konsequenzen für sich<br />

akzeptiert.<br />

- Die utilitaristische Ethik - vor allem im angelsächsischen Raum<br />

vorherrschend - sieht e<strong>in</strong>e ethische Handlung dann als gegeben an, wenn<br />

der größte Nutzen, das meiste Glück für <strong>die</strong> möglichst größte Zahl erreicht<br />

wird (Mill 1960). Und <strong>die</strong> anderen?<br />

- Die Diskursethik z.B. von Apel oder Habermas steht <strong>in</strong> der kantischen<br />

Tradition, will aber <strong>die</strong> verallgeme<strong>in</strong>erungsfähigen Normen nicht logisch,<br />

sondern durch <strong>die</strong> Diskussion, den Diskurs, <strong>die</strong> Übere<strong>in</strong>kunft der<br />

Problembetroffenen gew<strong>in</strong>nen (vgl. Apel 1988 sowie Habermas 1991). Aber<br />

wenn e<strong>in</strong>er nicht mitdiskutieren will? Und auch Diskussionen können irren!<br />

- Die existentialistische Ethik z.B. Sartres leugnet <strong>die</strong> Möglichkeit ethischer<br />

Generalregeln überhaupt. Jede Situation sei e<strong>in</strong>zeln und nur spezifisch vom<br />

E<strong>in</strong>zelnen freiheitlich zu bewältigen (vgl. Neudeck 1975). Freiheit, nicht<br />

Norm ist hier der zentrale Wert. Aber es könnte auch <strong>die</strong> Freiheit gegen <strong>die</strong><br />

anderen se<strong>in</strong>.<br />

Letztlich entscheidend ist nicht <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividualethische Begründung, <strong>die</strong> - wie<br />

aufgezeigt - alle irgendwie fraglich s<strong>in</strong>d; entscheidend ist der Wille zu<br />

Neuem, der Geist des Neuen, der <strong>die</strong> Menschen wie zu Pf<strong>in</strong>gsten begnadet.<br />

Damit befaßt sich <strong>die</strong> Kollektivethik.<br />

Die Kollektivethik<br />

Sie beruht oft auf oben genannten <strong>in</strong>dividualethischen Erwägungen und<br />

Verhaltensweisen, geht aber darüber h<strong>in</strong>aus, <strong>in</strong>dem vor allem<br />

gesamtgesellschaftliche Prozesse e<strong>in</strong>bezogen werden. Sie manifestiert sich <strong>in</strong><br />

folgenden Formen:<br />

- Es geht e<strong>in</strong> "Ruck" durch <strong>die</strong> Gesellschaft, um das etwas salopp<br />

auszudrücken, meist ausgelöst durch <strong>die</strong> Krise selbst (z.B. e<strong>in</strong>e<br />

123


Wirtschaftskrise, e<strong>in</strong> verlorener Krieg), <strong>die</strong> <strong>die</strong> Menschen erschüttert und zu<br />

Neuerungen bereit macht. Der amerikanische Präsident Roosevelt war <strong>in</strong><br />

den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Repräsentant e<strong>in</strong>er solchen, <strong>die</strong><br />

Gesellschaft verwandelnden, Armut überw<strong>in</strong>denden Bewegung - jenseits<br />

aller Parteipolitik -, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> richtigen Formeln zur Mobilisierung der<br />

Bevölkerung fand: "New Deal" und "Happy days are now aga<strong>in</strong>...". Das<br />

zündete!<br />

- E<strong>in</strong>e weitere Form der sozialen Erneuerung stellen (religiöse)<br />

Erweckungsbewegungen dar, wie z.B. gegenwärtig im islamischen Raum<br />

der Fundamentalismus (Meyer 1989). Hier werden Menschen <strong>in</strong>nerlich<br />

ergriffen - bis zur Bereitschaft zum Tode -, um für Ideale zu kämpfen -<br />

welches <strong>die</strong>se nun immer se<strong>in</strong> mögen.<br />

- Auch Bürgerbewegungen, z.B. zur Rettung der Umwelt, s<strong>in</strong>d oft religiös<br />

verkappte Erweckungsbewegungen (?).<br />

Aber was <strong>die</strong> Ursache dafür ist, daß <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en "bewegt" werden und <strong>die</strong><br />

anderen <strong>in</strong> Lethargie verfallen, ist letztlich unergründlich und irrational.<br />

Vielleicht ist es der Segen e<strong>in</strong>es gnadenreichen, großen Gottes, der uns aus<br />

dem Trott des Alltags herausreißt? Wohl s<strong>in</strong>d es auch mythische<br />

Grundstrukturen, "Archetypen" (C.G. Jung), <strong>die</strong> <strong>in</strong> unser Bewußtse<strong>in</strong><br />

kollektiv und historisch tra<strong>die</strong>rt e<strong>in</strong>gelagert s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> angesprochen und<br />

geweckt werden und unser Handeln leiten können, Grundstrukturen wie<br />

Scham und Ehrfurcht, Streben nach Harmonie und E<strong>in</strong>heit und<br />

Konfliktlosigkeit, wie sie <strong>in</strong> der biblischen Geschichte des Para<strong>die</strong>ses<br />

epochemachend geschildert wurde.<br />

Danach streben romantisch <strong>die</strong> Menschen - bewußt oder unbewußt: Man<br />

wehrt sich gegen <strong>die</strong> Zerstörung der E<strong>in</strong>heit der Welt - sei es durch Krieg<br />

oder sei es durch Umweltzerstörung. Man will Geme<strong>in</strong>schaft der Menschen<br />

mit e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>destmaß an Konflikt, man will <strong>die</strong> Gesellschaft als heimelige<br />

Familie am wärmenden Herd.<br />

Und das gilt es zu mobilisieren, oder besser: es mobilisiert sich von selbst.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs muß man darauf achten, daß <strong>die</strong>ses legitime emotionale<br />

Bestreben nicht von (faschistischen) Rattenfängern mißbraucht wird.<br />

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) Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden<br />

Soziologie. Tüb<strong>in</strong>gen: Mohr.<br />

Weber, Max (1994) Wissenschaft als Beruf [1917/1919]/Politik als Beruf<br />

[1919]. Stu<strong>die</strong>nausgabe der MWG, Band I/17, hg. von Wolfgang J.<br />

Mommsen und Wolfgang Schluchter. Tüb<strong>in</strong>gen: Mohr.<br />

Wehler, Hans-Ulrich (1975²) Das Deutsche Kaiserreich, 1871-1918. Gött<strong>in</strong>gen:<br />

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Wellmer, Albrecht (1986) Ethik und Dialog. Elemente des moralischen<br />

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Wickert, Ulrich (1994) Der Ehrliche ist der Dumme. Über den Verlust der<br />

Werte. Hamburg: Hoffmann & Campe.<br />

W<strong>in</strong>dhoff-Héritier, Adrienne (Hg.) (1993) Policy-Analyse. Kritik und<br />

Neuorientierung. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

128


Der Handlungsbegriff <strong>in</strong> der Soziologie<br />

Thomas Meyer<br />

1. E<strong>in</strong>leitung<br />

Seit ihren Anfängen hat <strong>die</strong> Soziologie <strong>die</strong> Bestimmungsgründe<br />

menschlichen Handelns <strong>in</strong>s Zentrum ihrer Überlegungen gerückt und<br />

hierbei das Verhalten von Individuen vor allem unter dem Aspekt ihrer<br />

sozio-kulturellen Bestimmtheit analysiert. Demnach s<strong>in</strong>d es <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihrer<br />

<strong>in</strong>haltlichen, zeitlichen und räumlichen Geltung und Reichweite<br />

verschiedenen kulturellen Ordnungen, <strong>die</strong> das Verhalten der <strong>in</strong> ihnen<br />

zusammengeschlossenen Individuen zue<strong>in</strong>ander regeln, und deren<br />

Handlungsentwürfe bee<strong>in</strong>flussen <strong>in</strong>dem sie Grenzen setzen aber auch<br />

Spielräume eröffnen. Die Gesellschaft - <strong>die</strong> sich selbst wiederum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

unablässige Kette von Handlungen und Gegenhandlungen auflösen läßt 68 -<br />

schafft <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen dafür, daß Menschen überhaupt handeln. Ohne<br />

e<strong>in</strong>e Form von Gesellschaft wäre ke<strong>in</strong> menschliches Handeln möglich. Kurz:<br />

Menschliche Handlungen s<strong>in</strong>d ihrem Wesen nach gesellschaftlich bed<strong>in</strong>gt.<br />

Diese, <strong>in</strong> der Soziologie weitgehend unstrittige Bestimmung darf allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht übersehen lassen, daß es an e<strong>in</strong>er konsistenten, allgeme<strong>in</strong> anerkannten<br />

Klärung des Handlungsbegriffs mangelt. "Die" Handlungstheorie als e<strong>in</strong><br />

festumrissenes Gefüge von allgeme<strong>in</strong> unumstrittenen wissenschaflichen<br />

Aussagen gibt es nicht. Wesentlich s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>die</strong> paradigmatisch<br />

begründeten Differenzen im Gebrauch und Verständnis des<br />

Handlungsbegriffs. Deshalb ersche<strong>in</strong>t es nachfolgend angeraten am Beispiel<br />

ausgewählter Paradigmen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen unübersichtlichen Problembereich<br />

e<strong>in</strong>zuführen.<br />

2. Ausgewählte Ansätze der Handlungstheorie<br />

Die Geschichte soziologischer Theoriebildung läßt sich als das<br />

Aufe<strong>in</strong>anderprallen zweier fundamental entgegengesetzter Sichtweisen der<br />

gesellschaftlichen Realität beschreiben. Dieser theoretische Dualismus<br />

spiegelt sich <strong>in</strong> den geläufigen Unterscheidungen zwischen Makro- und<br />

Mikrosoziologie, System- und Akteurtheorie, Struktur- und<br />

Handlungstheorie wider. Während <strong>die</strong> Soziologie über lange Zeit durch <strong>die</strong><br />

Vorherrschaft von Struktur- und Systemtheorien gekennzeichnet schien,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> seit geraumer Zeit zu verzeichnenden Geländegew<strong>in</strong>ne der<br />

Handlungssoziologie nicht mehr zu übersehen. Immer häufiger wird den<br />

kategorialen Abstraktionen der System-, Klassen- und Rollentheorien, <strong>die</strong><br />

68 Thomas Luckmann (1992, 4) formuliert: Handeln macht zwar "nicht immer<br />

Geschichte, aber es 'macht' Gesellschaft".<br />

129


den Handelnden zur Abstraktion sozialer "Systeme" verd<strong>in</strong>glichen, auf<br />

makrostrukturelle Abhängigkeitsbeziehungen reduzieren oder zum<br />

willenlosen Rollenträger verkürzen e<strong>in</strong>e Perspektive entgegengesetzt,<br />

welche <strong>die</strong> handelnden Menschen <strong>in</strong>s Zentrum ihrer Betrachtung stellt<br />

Dem vorliegenden Beitrag soll es genügen, anhand zentraler Ansätze und<br />

ihrer Repräsentanten <strong>die</strong> wichtigsten Grundannahmen<br />

handlungstheoretischer Betrachtungsweisen zu skizzieren und am Beispiel<br />

e<strong>in</strong>iger ihrer Grundprobleme <strong>die</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>er um<br />

makrotheoretische Aspekte ergänzten Handlungssoziologie zu<br />

verdeutlichen.<br />

2.1 Der anthropologische Ansatz<br />

Wesentliche Vorleistungen zum Verständnis des menschlichen Handelns<br />

verdankt <strong>die</strong> Soziologie der von Max Scheler (1874-1928), Helmut Plessner<br />

(1892-1985) und vor allem Arnold Gehlen (1904-1976) repräsentierten<br />

philosophischen Anthropologie. In Anknüpfung an <strong>die</strong> aristotelische<br />

Philosophie gilt hier das Angewiesense<strong>in</strong> auf das Soziale als<br />

Wesensbestimmung des Menschen, welches ihm gerade auch im Vergleich<br />

zur Tierwelt se<strong>in</strong>e Sonderstellung verleiht. Der Schlüsselbegriff, mit dem der<br />

Mensch gedeutet wird, ist der der Handlung. Gehlen formuliert im<br />

Anschluß an Johann Gottfried Herder se<strong>in</strong>e vielzitierte Grundthese, <strong>die</strong> besagt,<br />

daß der Mensch e<strong>in</strong> handelndes Wesen ist, das sich handelnd dem Leben<br />

stellen muß, weil es von Natur aus e<strong>in</strong> Mängelwesen sei:<br />

Er ist "im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel<br />

bestimmt, <strong>die</strong> jeweils im exakt biologischen S<strong>in</strong>n als Unangepaßtheiten,<br />

Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d.h. als unentwickeltes zu<br />

bezeichnen s<strong>in</strong>d: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit<br />

der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber<br />

auch e<strong>in</strong>e zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den<br />

meisten Tieren an Schärfe der S<strong>in</strong>ne übertroffen, er hat e<strong>in</strong>en geradezu<br />

lebensgefährlichen Mangel an echten Inst<strong>in</strong>kten und er unterliegt während<br />

der ganzen Säugl<strong>in</strong>gs- und K<strong>in</strong>derzeit e<strong>in</strong>er ganz unvergleichlich<br />

langfristigen Schutzbedürftigkeit" (Gehlen 1978, 33).<br />

Da <strong>die</strong> Verhaltensweisen des Menschen durch se<strong>in</strong>e biologische Konstitution<br />

nicht festgelegt s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>t ihm <strong>die</strong> Welt nach <strong>die</strong>ser Sichtweise als e<strong>in</strong>e<br />

unbestimmte Sphäre, <strong>die</strong> ihm von sich aus weder Orientierung noch<br />

Sicherheit und Vertrautheit vermittelt. Der naturgegebene Spielraum ist<br />

aufgrund der mangelnden verhaltenssteuernden Inst<strong>in</strong>ktausstattung so<br />

beträchtlich, daß <strong>die</strong> Gattung Mensch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ungebundenen Naturzustand<br />

überhaupt nicht existenzfähig wäre. Wenn der Mensch aber dennoch <strong>in</strong> der<br />

Lage ist, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Situation jeweils denkbaren<br />

Handlungsalternativen soweit zu reduzieren und unter Kontrolle zu<br />

br<strong>in</strong>gen, daß <strong>die</strong> Verhaltensweisen e<strong>in</strong>igermaßen voraussehbar werden, so<br />

deshalb weil an <strong>die</strong> Stelle von Inst<strong>in</strong>kten e<strong>in</strong>e andere Steuerungs<strong>in</strong>stanz tritt:<br />

<strong>die</strong> Kultur. Unter handlungstheoretischen Auspizien läßt sich damit sagen,<br />

daß unter Rekurs auf <strong>die</strong> <strong>in</strong>st<strong>in</strong>kthaften Elemente und genetische<br />

130


Dispositionen das Verhalten der Menschen nur höchst bruchstückhaft<br />

erklärt werden kann. Individuen reagieren eben nicht schlicht auf<br />

vorgegebene Reize, sie verhalten sich nicht bloß reaktiv, sie handeln nicht<br />

<strong>in</strong>dividualisiert und isoliert, sondern sie folgen handlungsleitenden<br />

Regelungen und <strong>in</strong>teragieren mittels geme<strong>in</strong>samer symbolischer<br />

Orientierungssysteme.<br />

Die durch ihre normativen Verhaltensordnungen (Institutionen) ermöglichte<br />

Handlungsselektion und der gleichzeitige Ausschluß anderer Möglichkeiten<br />

bildet der Philosophischen Anthropologie zufolge <strong>die</strong> entscheidende<br />

Kompensation für <strong>die</strong> fehlende Angepaßtheit an <strong>die</strong> Natur; sie steuert und<br />

kontrolliert den <strong>in</strong> der menschlichen Konstitution begründeten<br />

Beliebigkeitsspielraum und macht so e<strong>in</strong>e sichere Handlungsführung des<br />

Menschen und <strong>die</strong> für ihn existentielle Strukturierungsleistung möglich.<br />

Normative Ordnungen beschränken das Überangebot an<br />

Handlungskapazitäten und stellen e<strong>in</strong>e gewisse Regelmäßigkeit,<br />

Kalkulierbarkeit und Erwartbarkeit sicher, ohne <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Zusammenleben von<br />

Menschen nicht vorstellbar ist. Die Kultur wird so zur vorentscheidenden<br />

Intstanz, durch <strong>die</strong> den menschlichen Aktionen und Interaktionen e<strong>in</strong><br />

Großteil ihrer Unberechenbarkeit genommen wird. Die Kultur entlastet den<br />

Menschen von der ständigen Unterscheidung und Entscheidung zwischen<br />

e<strong>in</strong>er Unzahl von denkbaren Handlungsmöglichkeiten, <strong>in</strong>dem sie ihm<br />

jeweils e<strong>in</strong> begrenztes Kont<strong>in</strong>gent an Handlungsalternativen vorgibt. Anders<br />

formuliert: Verhaltensordnungen und Institutionen schaffen <strong>die</strong> für das<br />

Handeln des Menschen unerläßliche Orientierungsgewißheit, lassen <strong>die</strong><br />

Menschen <strong>in</strong> stabilen Gefügen leben und schaffen - so Gehlen - e<strong>in</strong>e<br />

"wohltuende Fraglosigkeit <strong>in</strong> den Elementardaten" und "e<strong>in</strong>e lebenswichtige<br />

Entlastung" (1973, 98). Durch <strong>die</strong> Ermöglichung aufe<strong>in</strong>ander abgestimmter<br />

zwischenmenschlicher Beziehungen wird <strong>die</strong> Kultur zur allgeme<strong>in</strong>sten<br />

Existenzbed<strong>in</strong>gung von Gesellschaft schlechth<strong>in</strong>. Bei <strong>die</strong>ser Argumentation<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Kultur angelegte gegenläufige Gleichzeitigkeit von<br />

Zwang und Entlastung immer im Auge zu behalten: Denn e<strong>in</strong>erseits<br />

reduziert sie <strong>die</strong> <strong>in</strong> der antropologischen Konstitution begründete<br />

Handlungsfreiheit, <strong>in</strong>dem sie <strong>die</strong>se bestimmten Zwängen unterwirft und <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Institutionengefüge e<strong>in</strong>gliedert. Andererseits befreit sie <strong>die</strong> Handelnden<br />

aber auch vor dem steten Zwang, voraussetzungslose Entscheidungungen<br />

treffen zu müssen.<br />

Die <strong>in</strong> der philosophischen Anthropologie unterstrichene als<br />

Wesensbestimmung des Menschen hervorgehobene Angewiesense<strong>in</strong> auf <strong>die</strong><br />

Kultur und das Soziale, welche <strong>die</strong>sem im Vergleich zur Tierwelt se<strong>in</strong>e<br />

Sonderstellung verleiht, bildet auch den Startpunkt für viele soziologische<br />

Systeme. So etwa für Theodor Geiger (1891-1952), der notiert, daß <strong>die</strong><br />

Menschen aufgrund ihrer "biologischen-So-Beschaffenheit" zusammenleben.<br />

Deren "gesellige Natur" be<strong>in</strong>halte, daß ihre Wesensstruktur das<br />

zwischenmenschliche Verhältnis mitumfaßt. (1964, 102): Das Individuum, so<br />

führt Geiger weiter aus, "würde <strong>in</strong> dauernder Absonderung außerstande<br />

se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> der Art zu führen, <strong>die</strong> wir menschlich nennen. Selbst wenn<br />

er nicht geradezu leiblich zugrunde g<strong>in</strong>ge, müßte er doch, um <strong>in</strong> Isoliertheit<br />

131


das Leben zu bewahren, so durchgreifende mentale, psychische und sogar<br />

physische Wandlungen durchmachen, daß er zu e<strong>in</strong>em Lebewesen ganz<br />

anderer Art würde, als wir es s<strong>in</strong>d 69 " (1964, 47).<br />

Das "Andershandelnkönnen" (Tyrell 1978, 60), sprich <strong>die</strong> Unkalkulierbarkeit<br />

der Handlungspotentiale autonomer Subjekte ist es auch, welche den<br />

Ausgangspunkt der Systemtheorie Niklas Luhmanns (geb. 1927) bildet. Dort<br />

werden soziale Systeme als durch e<strong>in</strong>e selektive Auswahl bestimmte<br />

S<strong>in</strong>nsysteme beschrieben, deren Funktion es ist, durch <strong>die</strong> Ausbildung von<br />

S<strong>in</strong>ngrenzen gegenüber der Umwelt und der Lizensierung e<strong>in</strong>es je<br />

spezfischen S<strong>in</strong>nausschnitts, <strong>die</strong> aus der Weltoffenheit herrührende<br />

Handlungsunsicherheit des Menschen zu bewältigen. Der S<strong>in</strong>n erfüllt <strong>die</strong><br />

Funktion, e<strong>in</strong>e zurechnende Verb<strong>in</strong>dung des auf vorangehender Ebene<br />

Unverbundenen zu gewährleisten. Indem er sich als Selektion aus<br />

ungezählten Möglichkeiten des Verstehens, auf etwas Bestimmtes fixiert,<br />

erfüllt er e<strong>in</strong>e unerläßliche Ordnungsleistung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> wechselseitige<br />

Anpassung und Anschlußfähigkeit verschiedener Akteure überhaupt erst<br />

ermöglicht. Luhmann schreibt:<br />

Soziale Systeme als S<strong>in</strong>nsysteme haben "<strong>die</strong> Funktion der<br />

Erfassung und Reduktion von Komplexität. Sie <strong>die</strong>nen der<br />

Vermittlung zwischen der äußeren Komplexität der Welt und<br />

der sehr ger<strong>in</strong>gen, aus anthropologischen Gründen kaum<br />

veränderbaren Fähigkeit des Menschen zu bewußer<br />

Erlebnisverarbeitung" (1970, 111).<br />

Damit ist deutlich, daß das Problem des Menschen das unendliche<br />

Möglichkeitsspektrum der komplexen Welt zu bewältigen <strong>in</strong> der<br />

philosophischen Anthropologie wie auch <strong>in</strong> der Systemtheorie den<br />

Hauptbezugspunkt bildet. Die Funktion sozialer Systeme ist nach Luhmann,<br />

durch <strong>in</strong>stitutionalisierte Erwartungsstrukturen <strong>die</strong> unübersehbare Vielzahl<br />

menschlicher Handlungsmöglichkeiten auf wenige kontrollierbare Optionen<br />

zu beschränken, und so <strong>die</strong> Lebensführung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er äußerst komplexen,<br />

kont<strong>in</strong>genten Welt möglich zu machen. 70<br />

2.2 Die verstehende Soziologie Max Webers<br />

69 H<strong>in</strong>zuzufügen ist allerd<strong>in</strong>gs, was <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Perspektive leicht aus dem Blick gerät,<br />

daß über <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Entlastungsleistungen verläßlicher, normativ bestimmter<br />

Verhaltensstrukturen nicht der den Institutionen gleichsam als Kehrseite immer<br />

eigene Zwangscharakter vergessen werden darf.<br />

70 Weite Teile der Luhmannschen Arbeit gelten dem Problem wie es sozialen<br />

Systemen gel<strong>in</strong>gt, über sog. b<strong>in</strong>äre Codes, symbolisch generalisierte<br />

Kommunikationsme<strong>die</strong>n und Spezialprogramme anschlußfähige Erwartungsstrukturen<br />

und Orientierungssicherheiten zu gewährleisten und - wie Uwe<br />

Schimank treffend schreibt - <strong>die</strong> "launenhafte Subjektivität" (1996, 170) der<br />

Individuen zu domestizieren<br />

132


In betonter Distanzierung zu den Sozialtheorien von Auguste Comte (1798-<br />

1857), Emile Durkheim (1858-1917) und Herbert Spencer (1820-1903), wo <strong>die</strong><br />

Überzeugung vorherrscht, daß soziale Tatsachen gleichsam unabhängig<br />

bestehen vom erfahrenden und erkennenden Subjekt, entwickelten sich<br />

zuerst <strong>in</strong> Deutschland und dann <strong>in</strong> Amerika theoretische Ansätze, <strong>die</strong> vor<br />

allem dem Aspekt des "Verstehens" e<strong>in</strong>e außerordentliche Bedeutung<br />

zumaßen. Auf deutscher Seite ist neben Georg Simmel (1858-1918) vor allem<br />

Max Weber (1964-1920) als herausragender Ahnherr der verstehenden<br />

Soziologie zu nennen. Die von letzterem vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em bekanntesten<br />

Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" niedergelegten Grundbegriffe gehören<br />

zu den klassischen Fundamenten der Handlungstheorie. Soziologie heißt es<br />

dort, ist<br />

"e<strong>in</strong>e Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und<br />

dadurch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ablauf und se<strong>in</strong>en Wirkungen ursächlich erklären will.<br />

"Handeln" soll dabei e<strong>in</strong> menschliches Verhalten (e<strong>in</strong>erlei ob äußeres oder<br />

<strong>in</strong>nerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und <strong>in</strong>sofern als<br />

der oder <strong>die</strong> Handelnden mit ihm e<strong>in</strong>en subjektiven S<strong>in</strong>n verb<strong>in</strong>den.<br />

'Soziales' Handeln aber soll e<strong>in</strong> solches Handeln heißen, welches se<strong>in</strong>em von<br />

dem oder den Handelnden geme<strong>in</strong>ten S<strong>in</strong>n nach auf das Verhalten anderer<br />

bezogen wird und daran <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ablauf orientiert ist" (Weber 1972, 1).<br />

Kernpunkt <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>tion ist das soziale Handeln der Menschen, wobei<br />

sich Weber auf den subjektiven S<strong>in</strong>n konzentriert, den es <strong>in</strong> der<br />

soziologischen Analyse aufzuspüren gilt. Anders als im Behaviorismus geht<br />

es somit nicht nur um das sichtbare Verhalten, sondern gerade und vor<br />

allem auch um <strong>die</strong> mit <strong>die</strong>sen verbundenen Bedeutungen. 71 Beim Vorgang<br />

des Verstehens unterstellt der Beobachter e<strong>in</strong>en sozialen S<strong>in</strong>n des<br />

Handlungsgeschehens, deren zugrundeliegende subjektive Motive <strong>die</strong>ser<br />

aus se<strong>in</strong>er Beobachtung, Erfahrung und se<strong>in</strong>em Vorwissen erschließen<br />

kann. 72 Um den Gefahren e<strong>in</strong>es psychologischen Reduktionismus zu<br />

71 Die sog. objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns (1979) geht ebenfalls davon aus,<br />

daß <strong>die</strong> kulturellen S<strong>in</strong>nsysteme das Handeln konstituieren - allerd<strong>in</strong>gs mit dem<br />

entscheidenden Zusatz, daß hier weniger <strong>die</strong> "Oberfläche" subjektiv s<strong>in</strong>nhaften und<br />

<strong>in</strong>tentionalen Handelns als <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Regel unbewußt bleibenden, latenten S<strong>in</strong>n- und<br />

Tiefenstrukturen als handlungsgenerierend angesehen werden. Im Anschluß an <strong>die</strong><br />

strukturalistische Tradition heißt es hier, daß sozialen Handlungen e<strong>in</strong>e tiefe Logik<br />

<strong>in</strong>newohnt, von der <strong>die</strong> Akteure gar nichts wissen. Aufgabe der objektiven<br />

Hermeneutik ist es, <strong>die</strong> "objektiven" Bedeutungsstrukturen als subjektiv unerkannte<br />

Handlungsbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> methodischen Prozeduren und Sprachanalysen<br />

freizulegen. Damit steht <strong>die</strong> soziologische Analyse vor der Aufgabe, sowohl <strong>die</strong><br />

manifesten Inhalte als auch <strong>die</strong> latenten Struktuen kultureller Phänomene zu<br />

erfassen.<br />

72 In der Nachfolge Webers ist es dann vor allem der phänomenologische Ansatz<br />

von Alfred Schütz, der bei der Begündung e<strong>in</strong>er handlungstheoretischen Soziologie<br />

se<strong>in</strong>e Hauptaufmerksamkeit auf das Problem des S<strong>in</strong>nverstehens legt, und sich <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Hauptwerk "Der s<strong>in</strong>nhafte Aufbau der Welt" (1932) um e<strong>in</strong>e Präzisierung des<br />

bei Weber vage gebliebenen S<strong>in</strong>nbegriffs bemüht.<br />

133


entgehen, bleibt Weber allerd<strong>in</strong>gs nicht an <strong>die</strong>sem Punkt stehen, sondern<br />

ergänzt das deutende Verstehen durch <strong>die</strong> Frage nach den Ursachen, <strong>die</strong> als<br />

Auslöser der Handlung fungieren. Ziel des erklärenden Verstehens ist es,<br />

jenseits der motiverschließenden Intuitionen <strong>die</strong> zugrundeliegenden<br />

historischen und sozialen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und Umstände zu<br />

analysieren, denn, <strong>die</strong>sen zumeist unbewußt bleibenden Sachverhalten,<br />

fallen zentrale handlungsverursachende Wirkungen zu. Erwähnen muß man<br />

auch, daß Weber se<strong>in</strong>en soziologischen Erkenntnis<strong>in</strong>teressen entsprechend<br />

sich weniger für e<strong>in</strong>zelne Handlungen, als für <strong>die</strong> sich wiederholenden<br />

Handlungsregelmäßigkeiten von Menschen, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gleichen<br />

Situation bef<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>tereressiert. Denn erst sie machen das Verhalten des<br />

e<strong>in</strong>zelnen berechenbar und damit gesellschaftliche Ordnung möglich.<br />

Folglich s<strong>in</strong>d es Gewohnheiten, Sitten, Rechtsnormen und Interessenlagen<br />

mit denen er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en grundbegrifflichen Überlegungen als<br />

ordnungsstiftenden Mechanismen immer wieder ause<strong>in</strong>andersetzt.<br />

Wichtig ist es für <strong>die</strong>se klassische handlungstheoretische Konzeption<br />

weiterh<strong>in</strong>, daß Institutionen, Organisationen und soziale Ersche<strong>in</strong>ungen wie<br />

etwa Familie, Partei, Bürokratie und Gesellschaft immer nur als<br />

Abstraktionen begriffen werden, <strong>die</strong> sich grundsätzlich <strong>in</strong> das Handeln von<br />

Individuen überführen lassen. Das menschliche Handeln und<br />

Zusammenwirken gilt auch hier vor allem durch verständliche S<strong>in</strong>ngehalte<br />

motiviert, welches heißt, daß <strong>die</strong> motivationalen Bestimmungsgründe des<br />

sozialen Geschehens auch hier zu berücksichtigen s<strong>in</strong>d und soziale<br />

Institutionen nicht als Realität sui generis zu begreifen.<br />

Ausgehend von dem Interesse der verstehenden Soziologie e<strong>in</strong> möglichst<br />

differenziertes begriffliches Fundament zu verschaffen, nimmt Weber e<strong>in</strong>e<br />

Unterteilung des Handelns nach der Art des subjektiv geme<strong>in</strong>ten S<strong>in</strong>ns <strong>in</strong><br />

vier Grundtypen vor, mit denen e<strong>in</strong>e zentrale Auswahl aus der komplexen<br />

Fülle möglicher Orientierungsarten des Handelns repräsentiert werden<br />

sollen (Weber 1972, 12):<br />

- traditionales Handeln orientiert sich an e<strong>in</strong>gelebten Traditionen und<br />

Gewohnheiten<br />

- affektuelles bzw. emotionales Handeln gründet auf Gefühlslagen. Die zumeist als<br />

irrational bezeichneten Faktoren wie Liebe, Haß und Leidenschaft gelten<br />

hier als <strong>die</strong> dem Handeln zugrunde liegenden Beweggründe. 73<br />

73 Gerade <strong>die</strong>ser Typus sche<strong>in</strong>t mir von besonderer Wichtigkeit, da <strong>die</strong><br />

gegenwärtige Renaissance rationalistischer Handlungstheorien dazu neigt, <strong>die</strong><br />

irrationale, leidenschaftliche und emotionale Grun<strong>die</strong>rung des Handelns zu<br />

unterschätzen und <strong>die</strong> Akteure auf ihre rational-kognitiven Kompetenzen verkürzt.<br />

In Gefolgschaft der Theorien von Pareto und Freud war zu Beg<strong>in</strong>n des Jahrhunderts<br />

<strong>die</strong> Betonung der <strong>in</strong> Triebstrukturen verankerten nicht-rationalen<br />

Handlungsmomente noch sehr verbreitet. Nach Pareto besteht das soziale Leben aus<br />

e<strong>in</strong>er Fülle nicht-logischer Handlungen, <strong>die</strong> auf <strong>in</strong>st<strong>in</strong>kthafte Residuen wie z.B.<br />

Bedürfnisse nach Sexualität, Soziabilität und Mitteilungen von Gefühlen basieren,<br />

welche aber so begründet werden, als wären sie rational geme<strong>in</strong>t.<br />

134


- wertrationales Handeln ist bestimmt durch "bewußten Glauben an den -<br />

ehtischen, ästhetischen, religiösen oder wie sonst zu deutenden -<br />

unbed<strong>in</strong>gten Eigenwert e<strong>in</strong>es bestimmten Sichverhaltens re<strong>in</strong> als solchen<br />

unabhängig vom Erfolg." Im Mittelpunkt steht hier <strong>die</strong> rationale Abwägung<br />

von Zweck und Mittel zur unbed<strong>in</strong>gten Erreichung nicht weiter zu<br />

h<strong>in</strong>terfragender Wertorientierungen.<br />

- zweck-rationales Handeln ist def<strong>in</strong>iert "durch Erwartungen des Verhaltens<br />

von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen unter<br />

Benutzung <strong>die</strong>ser Erwartungen als 'Bed<strong>in</strong>gungen' oder als 'Mittel' für<br />

rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke." Anders als<br />

im Fall der Wertrationalität stehen hier sowohl <strong>die</strong> Mittel als auch <strong>die</strong><br />

Zwecke zur Disposition e<strong>in</strong>er kalkulierenden Vernunft, was bedeutet, daß <strong>in</strong><br />

Anbetracht unverhältnismäßiger Nebenfolgen im Rahmen der<br />

Verwirklichung bestimmter Ziele <strong>die</strong>se selbst korrigiert werden.<br />

Diese vier idealtypischen Grundformen des Handelns, <strong>die</strong> Weber ohne<br />

Anspruch auf Vollständigkeit vorstellt, gelten als universale menschliche<br />

Vehaltensweisen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> jeder zeitgeschichtlichen Epoche und <strong>in</strong> jeder<br />

Kultur, wenn auch <strong>in</strong> der Regel nicht <strong>in</strong> Re<strong>in</strong>form sondern als Mischtypen<br />

auftreten. Auch wenn es Weber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en materialen Anlaysen <strong>in</strong>sbesondere<br />

daran gelegen war im Zuge des gesellschaftlichen<br />

Rationalisierungsprozesses <strong>die</strong> Zurückdrängung traditionaler zugunsten<br />

zweckrationaler Handlungsorientierungen aufzuzeigen, hat er nicht<br />

übersehen, daß sich <strong>die</strong> Wirklichkeit ke<strong>in</strong>esfalls <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Handlungsmodus<br />

erschöpft.<br />

Als Gew<strong>in</strong>n <strong>die</strong>ser Handlungstypologie bleibt aber festzuhalten, daß hier<br />

grundlegende Typen menschlicher Verhaltensssteuerung aufgezeigt werden,<br />

<strong>die</strong> es verbieten, das Handeln auf e<strong>in</strong>en Typus zu reduzieren. Menschliches<br />

Handeln ist somit immer, wenn auch zu veränderlichen Anteilen,<br />

gewohnheitsmäßig, emotional und rational bestimmt und sollte, so <strong>die</strong><br />

unh<strong>in</strong>tergehbare Erkenntnis, nie auf e<strong>in</strong>en Modus der Verhaltenssteuerung<br />

axiomatisch beschränkt werden.<br />

2.3 Der <strong>in</strong>teraktionistisch-<strong>in</strong>terpretative Ansatz<br />

In <strong>die</strong> Tradition der verstehenden Soziologie ordnet sich auch <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

Amerika von Alfred Schütz (1889-1959) entfaltete Phänomenologische<br />

Soziologie sowie vor allem <strong>die</strong> von George Herbert Mead (1863-1931) und<br />

Herbert Blumer (1900-1987) <strong>in</strong> der "Chicago-School" entwickelte Theorie des<br />

Symbolischen Interaktionismus. Diese will Gesellschafts- und Akteursebene<br />

mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>den, wobei das Hauptaugenmerk e<strong>in</strong>deutig bei den<br />

handelnden Individuen liegt, da ihren Grundsätzen zufolge e<strong>in</strong>e<br />

Gesellschaft ohne <strong>die</strong>se nicht gedacht werden kann. Absicht ist es, das<br />

Individuum als reflexiv-autonomes Subjekt, das aktiv und gestaltend auf<br />

se<strong>in</strong>e soziale Umwelt e<strong>in</strong>wirkt, <strong>in</strong>s Blickfeld zu rücken. E<strong>in</strong>e Kernannahme<br />

lautet auch hier, daß das soziale Handeln immer s<strong>in</strong>nbezogen geschieht und<br />

daß vor allem der S<strong>in</strong>n das Handeln bestimmt. Im H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ser<br />

135


Theorie steht vor allem <strong>die</strong> Kritik des mit dem Namen von Emile Durkheim<br />

(1858-1917) und Talcott Parsons (1902-1979) verbundenen normativen<br />

Paradigmas. Dieses beschreibt das soziale Handeln als normorientiertes<br />

Handeln und zeigt <strong>die</strong> aus den kulturellen Ordnungen und Normen des<br />

gesellschaftlichen Zusammenlebens erwachsende E<strong>in</strong>bettung des Handelns<br />

auf. 74 Das Handeln mite<strong>in</strong>ander vergesellschafteter Menschen unterliegt<br />

nach <strong>die</strong>ser Perspektive gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen mit<br />

Sollensqualität, deren Nichte<strong>in</strong>haltung negativ sanktioniert wird. Die<br />

kanalisierenden und musterbildenden Normen tragen dann dafür Sorge,<br />

dem menschlichen Handeln e<strong>in</strong>e gewisse Regelmäßigkeit zu geben, so daß<br />

es über weite Strecken <strong>in</strong> sich wiederholenden Formen abläuft. Durkheim<br />

beschreibt <strong>die</strong> Normen, übergreifende Werte und Institutionen als soziale<br />

Tatbestände (faits sociaux), <strong>die</strong> gleichsam mit e<strong>in</strong>er objektiven Eigenexistenz<br />

ausgestattet s<strong>in</strong>d und als kulturelle Vorgaben das Handeln der ihnen<br />

unterworfenen Menschen bestimmen. 75 Parsons schließt sich der<br />

Durkheim'schen Annahme an; auch er behauptet, daß <strong>die</strong> Selektion des<br />

Handelns vor allem Werten und kulturellen Mustern folgt, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der<br />

Gesellschaft als verb<strong>in</strong>dlich gelten. Hiernach handeln <strong>die</strong> Menschen so wie<br />

es <strong>die</strong> als Konkretisierung übergreifender kultureller Wertmuster<br />

anzusehenden sozialen Regeln vorschreiben, so daß - überspitzt formuliert -<br />

auch <strong>die</strong> handelnden Menschen weniger als <strong>in</strong>dividuelle Ganzheiten, denn<br />

als als Träger von kulturell <strong>in</strong>stitutionalisierten Rollen ersche<strong>in</strong>en. Die<br />

kollektiven Zwänge der Gesellschaft, ihre Sanktionsdrohungen und <strong>die</strong><br />

durch Sozialisation ver<strong>in</strong>nerlichten Zwänge s<strong>in</strong>d es dann auch, <strong>die</strong> als<br />

vorrangiger Garant für normkonformes Handeln fungieren.<br />

74 Das Phänomen des "Normativen" ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Optik <strong>die</strong> nachgerade erste "soziale<br />

Tatsache". E<strong>in</strong>e Soziologie, <strong>die</strong> auf das Konzept der Normen verzichtet, ersche<strong>in</strong>t<br />

auch gegenwärtig kaum denkbar.<br />

75 Parsons bemüht sich jedoch, den kollektivistischen Ansatz Durkheims mit der<br />

<strong>in</strong>dividualistischen Soziologie Webers zu verb<strong>in</strong>den, beide Elemente - das handelnde<br />

Indivdividuum und <strong>die</strong> kulturellen Objektivationen menschlichen Handelns - sollen<br />

gleichberechtigt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Soziologie e<strong>in</strong>geführt werden. Hierzu entwickelt er e<strong>in</strong><br />

dreigliedriges Handlungsmodell, welches <strong>die</strong> "Situation", den "Handelnden", und<br />

<strong>die</strong> "Orientierung des Handelnden an der Situation" als begrifflichen Bezugsrahmen<br />

unterscheidet. Die "Situation" setzt sich aus verschiedenen Bed<strong>in</strong>gungen zusammen,<br />

welche <strong>die</strong> Handlungsorientierung bestimmen: Erstens <strong>die</strong> physischen<br />

Umweltbed<strong>in</strong>gungen, welche <strong>die</strong> natürliche und kulturelle Umwelt, aber auch den<br />

biologischen Organismus, der an e<strong>in</strong>er Handlungssituation beteiligten Personen<br />

me<strong>in</strong>t. Zweitens <strong>die</strong> jeweils relevanten Werte, Institutionen und Normen, an denen<br />

sich <strong>die</strong> Handelnden orientieren. Drittens: <strong>die</strong> anderen direkt oder <strong>in</strong>direkt<br />

beteiligten Gruppen, <strong>die</strong> bestimmte Erwartungen gegenüber den Handelnden hegen.<br />

Unmittelbar komplementär zu <strong>die</strong>sen Handlungsbed<strong>in</strong>gungen des<br />

Situationskonzepts ist der Begriff des "Handelnden" zu sehen, der besagt, daß e<strong>in</strong><br />

handelndes Individuum stets e<strong>in</strong>er aus organisch-physischen, kulturellen und<br />

sozialen Elementen zusammgengesetzten Situation gegenübersteht.<br />

136


Es ist unter anderem <strong>die</strong> Korrektur <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>flußreichen Denkfiguren, <strong>die</strong><br />

dem symbolischen Interaktionismus se<strong>in</strong> Profil verleiht. Nach Mead<br />

begründet <strong>die</strong> Fähigkeit zur Symbol- und Sprachverwendung <strong>die</strong><br />

Sonderstellung des Menschen. Er nennt <strong>die</strong>sen auch das symbolverwendende<br />

Tier um zu unterstreichen, daß der Mensch nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er natürlichen<br />

sondern e<strong>in</strong>er symbolischen Umwelt lebt und daß er gegenüber se<strong>in</strong>er<br />

Umwelt aufgrund der Bedeutungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se für ihn haben, handelt.<br />

Mead will dem <strong>in</strong>dividualistischen Mißverständnis von Handlung 76<br />

widersprechen und schlägt e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tersubjektive Konzeption von Handlung vor,<br />

<strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Ausrichtung auf andere gekennzeichnet ist und dabei e<strong>in</strong>en<br />

Begriff von Interaktion zugrundelegt, der den symbolvermittelten Charakter<br />

sozialen Handelns akzentuiert. 77 Nicht <strong>die</strong> Motive e<strong>in</strong>zelner Akteure,<br />

sondern <strong>die</strong> durch Symbole vermittelten und aufe<strong>in</strong>ander bezogenen<br />

Handlungen zweier oder mehrerer Individuen stehen im Mittelpunkt.<br />

Dementsprechend beschäftigt sich Mead ausführlich mit den Zeichen<br />

(Mimik, Gestik, Sprache), <strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> den wechselseitig orientierten<br />

sozialen Handlungen verwenden, hervorbr<strong>in</strong>gen, lernen und abwandeln.<br />

E<strong>in</strong>en zentralen Ausgangspunkt bildet hierbei <strong>die</strong> Prämisse, daß das<br />

Individuum stets e<strong>in</strong> Gegenüber, d.h. andere Menschen braucht, um sich zu<br />

erkennen. Denn der Prozeß der Selbstwerdung ist fundamental gebunden an<br />

<strong>die</strong> Fähigkeit des Menschen, sich mit den Augen se<strong>in</strong>er Umgebung zu sehen.<br />

Das, was der e<strong>in</strong>zelne ist, so Mead, erfährt er wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spiegel zuerst<br />

durch <strong>die</strong> Reaktionen des sozialen Gegenübers auf se<strong>in</strong> Handeln. Anders<br />

ausgedrückt: der e<strong>in</strong>zelne gew<strong>in</strong>nt durch <strong>die</strong> Teilnahme am Prozeß<br />

symbolischer Interaktion se<strong>in</strong>e soziale und personale Identität.<br />

Die wichtigsten Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus<br />

werden von Herbert Blumer - e<strong>in</strong>em Schüler Meads - <strong>in</strong> drei Prämissen<br />

zusammengefaßt:<br />

Die erste "besagt, daß Menschen 'D<strong>in</strong>gen' gegenüber auf der<br />

Grundlage von Bedeutungen handeln, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se D<strong>in</strong>ge für sie<br />

besitzen. ... Die zweite Prämisse besagt, daß <strong>die</strong> Bedeutung<br />

solcher D<strong>in</strong>ge aus der sozialen Interaktion, <strong>die</strong> man mit se<strong>in</strong>en<br />

Mitmenschen e<strong>in</strong>geht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die<br />

dritte Prämisse besagt, daß <strong>die</strong>se Bedeutungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

<strong>in</strong>terpretativen Prozeß, den <strong>die</strong> Person <strong>in</strong> ihrer<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den ihr begegnenden D<strong>in</strong>gen benutzt,<br />

gehandhabt und abgeändert werden (1973, 81)."<br />

Die entsprechenden Forschungsmaximen lauten, daß der Forscher <strong>die</strong><br />

Situation so sehen muß, wie sie vom Handelnden gesehen wird und<br />

76 Bekanntlich wurde <strong>die</strong>ses Verständnis zur Grundlage se<strong>in</strong>er Identitäts- und<br />

Rollentheorie, welche <strong>die</strong> Genese von Selbstbewußtse<strong>in</strong> und Selbstidentität<br />

konsequent an <strong>die</strong> Interaktionen mit (signifikant) anderen ankoppelt.<br />

77 Ernst Cassirer bezeichnet den Menschen als e<strong>in</strong> animal symbolicum, als e<strong>in</strong> auf<br />

Symbole angewiesenes Lebewesen.<br />

137


eobachten muß, was der Handelnde berücksichtigt; er muß versuchen der<br />

Interpretation zu folgen, <strong>die</strong> zu der Auswahl und den Ausführungen der<br />

jeweiligen Handlungen führt; dabei muß er <strong>die</strong> <strong>in</strong> Interaktionen erlernten,<br />

vorgeschalteten Def<strong>in</strong>itionen und Bedeutungen der Akteure <strong>in</strong>terpretieren,<br />

um se<strong>in</strong>e Handlungen verstehen zu können. Denn <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

Interaktionsprozessen hervorgebrachten Bedeutungsverleihungen bilden <strong>die</strong><br />

Voraussetzung dafür, daß Zeichen überhaupt erst s<strong>in</strong>nhaft analysiert<br />

werden können.<br />

William Isaac Thomas (1863-1947) führte den Begriff der Situation <strong>in</strong> das<br />

symbolisch-<strong>in</strong>teraktionistische Programm e<strong>in</strong>. Damit möchte er betonen, daß<br />

<strong>die</strong> Akteure auf Grund der Art und Weise, wie sie <strong>die</strong> jeweilige Situation<br />

wahrnehmen <strong>in</strong> der sie sich bef<strong>in</strong>den, handeln. Der auf <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere<br />

Erfahrungswelt und <strong>die</strong> Interpretationsspielräume der Menschen bezogene<br />

Wirklichkeitsbegriff, kommt <strong>in</strong> dem berühmten Thomas-Theorem zum<br />

Ausdruck: Menschen handeln der Situation gegenüber aufgrund der<br />

Def<strong>in</strong>ition, <strong>die</strong> sie ihr geben, welches heißt, was von den Menschen als real<br />

def<strong>in</strong>iert wird, ist Realität. Damit ist aber auch gesagt, daß <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge der<br />

Außenwelt nicht unabhängig vom Individuum als sozial relevante D<strong>in</strong>ge<br />

betrachtet werden können. 78 Die Art und Weise, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Menschen ihre<br />

eigenen Handlungen, <strong>die</strong> Handlungen der anderen und ihre Umwelt sehen<br />

und <strong>in</strong>terpretieren, ist entscheidend für das menschliche Verhalten. Da alle<br />

sozialen Situationen immer erst <strong>in</strong>terpretiert werden müssen, ist zugleich<br />

auch gesagt, daß <strong>die</strong>se immer pr<strong>in</strong>zipiell mehrere Möglichkeiten des<br />

Sichverhaltens zulassen; nie s<strong>in</strong>d sie durch <strong>die</strong> Umstände restlos und<br />

e<strong>in</strong>deutig determ<strong>in</strong>iert, so daß der E<strong>in</strong>zelne immer <strong>die</strong> Autonomie hat,<br />

unterschiedlich auf e<strong>in</strong>e Situation zu reagieren.<br />

Für <strong>die</strong> Prozesse wechselseitig aufe<strong>in</strong>anderbezogenen Handelns me<strong>in</strong>t <strong>die</strong>s,<br />

daß <strong>die</strong> Akteure aufgefordert s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aushandlungsprozeß zu e<strong>in</strong>er<br />

geme<strong>in</strong>samen Def<strong>in</strong>ition der Situation zu gelangen. Es ist damit nicht <strong>die</strong> im<br />

normativen Paradigma unterstellte gelungene Synchronisation von<br />

Erwartungen und Dispositionen, sondern <strong>die</strong> aktiv herzustellende<br />

Konsensleistung der Beteiligten, welche der sozialen Interaktion ihre<br />

Grundlage verleiht. Der Normalfall ist <strong>die</strong> Strukturierung e<strong>in</strong>er ursprünglich<br />

vagen Interaktionssituation, durch beständige Interpretation und<br />

Re<strong>in</strong>terpretation der Handlungen durch <strong>die</strong> beteiligten Interaktionspartner.<br />

Hierbei nimmt der e<strong>in</strong>e Handelnde das Handeln des anderen als e<strong>in</strong><br />

bedeutungs- und s<strong>in</strong>nvolles Handeln wahr, <strong>in</strong> dem sich e<strong>in</strong>e Absicht oder<br />

e<strong>in</strong>e Handlung ausdrückt. Auf der Grundlage der Wahrnehmung davon, auf<br />

was der andere aus ist, entwirft der Handelnde dann Richtung und Ablauf<br />

se<strong>in</strong>es eigenen Handelns.<br />

2.4 Der <strong>in</strong>dividualistische Ansatz<br />

78 Damit wird e<strong>in</strong>e Existenz der Außenwelt nicht geleugnet, sie ist aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Perspektive nur <strong>in</strong> den Ausschnitten <strong>in</strong>teressant, wo ihnen e<strong>in</strong>e Bedeutung verliehen<br />

wird. Man kann sagen, "daß D<strong>in</strong>ge <strong>die</strong> nur da s<strong>in</strong>d, sozial Tod s<strong>in</strong>d" (Richter 1995,<br />

71).<br />

138


Das auf George C. Homans (1910-1989) den Begründer der soziologischen<br />

Verhaltenstheorie zurückgehende <strong>in</strong>dividualistische Paradigma orientiert<br />

sich am Modell des homo oeconomicus. Das soziale Handeln ersche<strong>in</strong>t als<br />

Tauschvorgang zweckrational agierender Individuen, <strong>die</strong> bestrebt s<strong>in</strong>d, ihre<br />

jeweiligen Interessen durchzusetzen und ihren persönlichen Nutzen zu<br />

mehren. 79<br />

Diese Position erfährt unter der Sammelbezeichung des rational choice<br />

Ansatzes - e<strong>in</strong> vielschichtiges Paradigma, daß sich nicht auf e<strong>in</strong>en<br />

Hauptvertreter zurückführen läßt - seit geraumer Zeit e<strong>in</strong>e theoretische<br />

Weiterentwicklung. 80 Auch wenn man sich dort vom naiven Modell des<br />

kostenbewußten homo-oeconomicus verabschiedet, so hält man doch am<br />

Bild des aktiven, rational-<strong>in</strong>teressenorientierten Akteurs grundsätzlich fest:<br />

"Menschen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Deppen, <strong>die</strong> bl<strong>in</strong>d den Normen, den<br />

Anreizen, den Zwängen der Gesellschaft folgen, sondern<br />

Absichten verfolgen, raff<strong>in</strong>iert und kreativ se<strong>in</strong> können, sich an<br />

ihren Erfahrungen und ihren Vorlieben orientieren und nicht<br />

ohne Not gegen ihre Interessen handeln" (Esser 1995, 179).<br />

Bei der Erklärung des Problems welche Kriterien das Handeln bestimmen,<br />

wird an der Regel der Maximierung des subjektiv erwarteten Nutzens<br />

festgehalten. Diese besagt, daß man subjektive Def<strong>in</strong>itionen der Situation<br />

nicht regellos trifft, sondern unter (materiellen und immateriellen) Kostenund<br />

Gew<strong>in</strong>naspekten Handlungsalternativen strategisch abwägt und se<strong>in</strong>e<br />

Entscheidungen so trifft, daß <strong>die</strong> subjektiven Erwartungen im Vergleich zu<br />

den nicht gewählten Optionen am höchsten s<strong>in</strong>d. Nach <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition,<br />

deren Nähe zur Ökonomie unübersehbar ist, gilt auch noch<br />

ges<strong>in</strong>nungsethisches, solidarisches, altruistisches oder aufoperungsvolles<br />

Handeln als Sonderform rationalen Verhaltens. 81 Und auch das<br />

79 Die Menschen s<strong>in</strong>d hiernach, wie Annette Treibel (1993, 104) treffend notiert, <strong>in</strong><br />

gewisser Weise "'höhere Tiere', <strong>die</strong> das tun, für was sie <strong>in</strong> der Vergangenheit belohnt<br />

worden s<strong>in</strong>d". Als klassischer Kritiker der utilitaristischen Denktradition ist an erster<br />

Stelle natürlich Talcott Parsons zu nennen, dessen überaus e<strong>in</strong>flußreiche<br />

Handlungstheorie sich <strong>die</strong> Aufgabe stellt, das subjektivistische Modell rationalen<br />

Wahlhandelns zu überw<strong>in</strong>den. Hiernach s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Ziele des Handelns nicht durch <strong>die</strong><br />

unmittelbare subjektive Nutzenmaximierung, sondern <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie durch <strong>die</strong> von<br />

allen Gesellschaftsmitgliedern geteilten situationsübergreifenden normativen<br />

Orientierungen geprägt. Handeln ist <strong>in</strong>sofern vornehmlich außen geleitetes<br />

Handeln. Ohne gesellschaftsweit etablierte normative Orientierungen, so führt<br />

Parsons weiter aus, läßt sich <strong>die</strong> erforderliche wechselseitige Erwartungssicherheit<br />

und damit auch soziale Ordnung nicht denken.<br />

80 Vgl hierzu zusammenfassend <strong>die</strong> nützlichen Überblicke von Annette Treibel<br />

(1993) sowie Hartmut Essers (1993) aus <strong>die</strong>ser Theorieperspektive formulierte<br />

<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Soziologie.<br />

81 Hartmut Esser, zentraler Repräsentant <strong>die</strong>ses Ansatzes <strong>in</strong> Deutschland, schreibt<br />

hierzu: "Geben ist eben manchmal seliger denn Nehmen! Und wenn <strong>die</strong> Situation<br />

139


abweichende Verhalten bleibt aus <strong>die</strong>ser Sicht den Pr<strong>in</strong>zipien der<br />

Nutzenmaximierung verhaftet, da es sich von den Zielen physischen<br />

Wohlbef<strong>in</strong>dens oder der Gew<strong>in</strong>nung von sozialer Wertschätzung geleitet<br />

zeigt.<br />

Neben dem Bemühen zu e<strong>in</strong>er Präzisierung der Regeln rationalen<br />

Entscheidungshandelns zu kommen, liegt der Hauptver<strong>die</strong>nst <strong>die</strong>ses<br />

Ansatzes dar<strong>in</strong>, dem bereits von der schottischen Moralphilosophie<br />

diskutierten soziologischen Zentralproblem der unbeabsichtigten Folgen<br />

absichtsgeleiteten Handelns <strong>in</strong> ihren theoretischen Modellen e<strong>in</strong>e besondere<br />

Aufmerksamkeit geschenkt zu haben und somit der handlungstheoretischen<br />

Erklärung von kollektiven Sachverhalten auf der Ebene von<br />

Systemzusammenhängen nachgegangen zu se<strong>in</strong>. Im Mittelpunkt steht der<br />

Sachverhalt, daß es soziale Ersche<strong>in</strong>ungen gibt, <strong>die</strong> sich zwar aus<br />

Handlungen zusammensetzen, <strong>die</strong> sich aber als ganze nicht aus dem "S<strong>in</strong>n"<br />

der E<strong>in</strong>zelhandlungen erklären lassen.<br />

Angeknüpft wird hierbei an <strong>die</strong> alte handlungstheoretische E<strong>in</strong>sicht Adam<br />

Fergusons (1723-1816), daß jede soziale Struktur zwar als das Resultat<br />

menschlichen Handelns, nicht aber als <strong>die</strong> Ausführung irgende<strong>in</strong>es<br />

menschlichen Plans verstanden werden dürfe. Neben der komplexen<br />

Konstellation des Zusammenwirkens e<strong>in</strong>er Pluralität von Akteuren, s<strong>in</strong>d es<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> der Regel unvere<strong>in</strong>baren, sich wechselseitig konterkarierenden<br />

Zielvorstellungen der Akteure, welche - um mit Uwe Schimank (1996, 211)<br />

zu sprechen - der "Logik des Mißl<strong>in</strong>gens" ihren Lauf nehmen läßt. Vor allem<br />

mit Blick auf <strong>die</strong> hochkomplexen modernen Gesellschaften gilt es somit<br />

festzuhalten, daß <strong>die</strong> Handlungsresultate als solche immer wieder nicht den<br />

von den Akteuren verfolgten Absichten entsprechen und unerwünschte,<br />

oftmals paradoxe kollektive Folgen hervorbr<strong>in</strong>gen, welche <strong>die</strong> Handelnden<br />

nicht unter Kontrolle haben und <strong>die</strong> wiederum als makrosoziologische<br />

Zusammenhänge prägend auf das Handeln zurückwirken. Das hier<br />

angesprochene Grundproblem der Wechselwirkung zwischen Individuen<br />

und kollektiver Ordnung hat bereits <strong>in</strong> der Figurationssoziologie von Norbert<br />

Elias (1897-1990) e<strong>in</strong>e klassische Fassung erhalten. Sie hebt hervor, daß <strong>die</strong><br />

Menschen niemals als isolierte Akteure handeln, sondern e<strong>in</strong>gebunden s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Umwelt und vor allem <strong>in</strong> <strong>die</strong> Zusammenhänge der Handlungen<br />

anderer Menschen; sie agieren immer als Angehörige von<br />

Interdependenzgeflechten bzw., wie Elias zu sagen pflegt, von Figurationen.<br />

Wiewohl <strong>die</strong> Verflechtungszusammenhänge aus nichts anderem als aus<br />

handelnden Menschen bestehen, nehmen <strong>die</strong>se dennoch e<strong>in</strong>en gleichsam<br />

über<strong>in</strong>dividuellen Charakter an, der <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Akteure drängt, <strong>in</strong> ganz<br />

spezfischer Weise zu handeln:<br />

140<br />

"Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen<br />

der e<strong>in</strong>zelnen Menschen greifen beständig freundlich oder<br />

fe<strong>in</strong>dlich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander. Diese fundamentale Verflechtung der<br />

entsprechend strukturiert ist, dann wird auch eher gegeben als genommen weil es<br />

sich 'lohnt'" (1995, 180).


e<strong>in</strong>zelnen menschlichen Pläne und Handlungen kann<br />

Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner<br />

Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der<br />

Interdepenz der Menschen, ergibt sich e<strong>in</strong>e Ordnung von ganz<br />

spezifischer Art, e<strong>in</strong>ee Ordnung <strong>die</strong> zw<strong>in</strong>gender und stärker ist,<br />

als Wille und Vernunft der e<strong>in</strong>zelnen Menschen, <strong>die</strong> sie bilden"<br />

(1976, 314).<br />

Die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Verflochtenheit menschlicher Handlungen haben James S.<br />

Coleman (1926-1995) bewogen, daß klassisch-<strong>in</strong>dividualistische Programm zu<br />

erweitern und sich verstärkt dem Brückenschlag von mikro- zu stärker<br />

makrotheoretischen Fragestellungen zu widmen. Auch für Coleman steht es<br />

fest, daß es auf der Systemebene als Folge von Interdependenzen und<br />

Aggregationen <strong>in</strong>dividueller Handlungen eigenständige soziale Phänomene<br />

gibt, <strong>die</strong> von Individuen weder beabsichtigt noch vorausgesagt wurden und<br />

somit auch nicht durch Rekurs auf <strong>die</strong> Ebene der Individuen erklärt werden<br />

können. Ausgehend von der strukturellen Interdependenz und<br />

Verflochtenheit menschlicher Handlungen, wird bei ihm das Modell<br />

nutzenmaximierender Wahlhandlungen zwar nicht aufgegeben, so doch<br />

relativiert und e<strong>in</strong> Perspektivenwechsel vom <strong>in</strong>dividuellen zum kollektiven<br />

Akteur vorgeschlagen, um so nicht nur <strong>die</strong> Gesetzmäßigkeit <strong>in</strong>dividueller<br />

Akteure, sondern auch <strong>die</strong> der Entstehung sozialer Systeme analysieren zu<br />

können.<br />

2.5 Die Dualität von Struktur und Handlung<br />

Seit e<strong>in</strong>igen Jahren liegt von dem britischen Soziologen Anthony Giddens<br />

(geb. 1938) e<strong>in</strong>e Konzeption vor, <strong>die</strong> versucht, <strong>die</strong> <strong>Sozialwissenschaften</strong> als<br />

Wissenschaft des menschlichen Verhaltens zu konstituieren. In se<strong>in</strong>er Theorie<br />

der Strukturierung strebt <strong>die</strong>ser, ähnlich wie Colemann, e<strong>in</strong>e Synthese<br />

zwischen Struktur- und Handlungstheorie an, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Frage nach der Art des<br />

Handelns der Menschen ohne Rückgriff auf <strong>die</strong> Dichotomie von<br />

Voluntarismus und Determ<strong>in</strong>ismus beantworten möchte. Unter dem<br />

Stichwort der Dualität von Handlung und Struktur soll <strong>die</strong> aus der Trennung<br />

von Individuum und Gesellschaft resultierende Polarisierung <strong>in</strong> theoretische<br />

Traditionen aufgehoben werden.<br />

Giddens betrachtet <strong>die</strong> Menschen als relativ autonome und kompetente<br />

Handlungsakteure, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihrem Handeln <strong>in</strong>terpretative Schemata, soziale<br />

Regeln und ungleich verteilte Hilfsquellen (Besitz, Wissen, Prestige)<br />

verwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn er <strong>die</strong> Rolle der Individuen als<br />

<strong>die</strong> treibenden Kräfte sozialer Beziehungen betont, gilt es aber nicht zu<br />

übersehen, daß er <strong>die</strong> menschliche Handlungspraxis über weite Strecken<br />

nicht durch Motivationen oder struktrelle Determ<strong>in</strong>ationen, sondern durch<br />

<strong>die</strong> immer wiederkehrenden Rout<strong>in</strong>en des gewöhnlichen Alltagslebens<br />

bestimmt sieht, welche <strong>die</strong>sem Stabilität verleihen.<br />

141


Zugleich aber will Giddens <strong>die</strong> Macht der Strukturen nicht unterschätzen. 82<br />

Se<strong>in</strong>es Erachtens verfehlen solche Theorien den Kern des Geschehens, <strong>die</strong><br />

soziale Strukturen als Phänomene betrachten, welche Akteuren ohne<br />

weiteres zur Verfügung stehen und nach Belieben verändert werden<br />

können. Die Strukturen materieller, normativer, geographischer und<br />

körperlicher Natur stellen sich vielmehr als Zwänge dar, <strong>die</strong> sich der<br />

unmittelbaren Kontrolle der Individuuen entziehen und als Restriktionen<br />

Handlungsspielräume beschränken. 83 Hierbei müssen <strong>die</strong> unbeabsichtigten -<br />

von den Individuen <strong>in</strong> der Regel nicht abzuschätzenden - Handlungsfolgen<br />

<strong>in</strong> ihren Rückkopplungseffekten als handlungskonstituierende<br />

Makrostrukturen berücksichtigt werden.<br />

Die Doppelseitigkeit der Strukturen berücksichtigend, legt Giddens aber Wert<br />

auf den Sachverhalt, daß <strong>die</strong>se das Handeln überhaupt erst möglich machen.<br />

Denn <strong>die</strong> <strong>in</strong> den sozialen Strukturen verkörperten <strong>in</strong>stitutionellen,<br />

dauerhaften Gegebenheiten tragen dazu bei, dem Handeln <strong>die</strong> notwendige<br />

Sicherheit und Kont<strong>in</strong>uität zu verleihen. Darüberh<strong>in</strong>aus warnt Giddens<br />

davor, <strong>die</strong> Strukturmomente sozialer Systeme mit Naturgewalten zu<br />

verwechseln, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Motivlagen der Akteure h<strong>in</strong>weg <strong>die</strong>sen bestimmte<br />

Verhaltensweisen aufzw<strong>in</strong>gen. Sie s<strong>in</strong>d "eher '<strong>in</strong>wendig'" als e<strong>in</strong> - im S<strong>in</strong>ne<br />

Durkheims - außerhalb praktischer Aktivitäten existierendes Phänomen<br />

(1992, 78):<br />

"Strukturzwänge f<strong>in</strong>den ihren Ausdruck nicht <strong>in</strong> jenen<br />

unbeugsamen kausalen Formen, an <strong>die</strong> strukturtheoretisch<br />

orientierte Soziologen denken, wenn sie <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung von<br />

'Struktur' und 'Zwang' so entschieden betonen. Strukturzwänge<br />

entfalten ihre Wirkung nicht unabhängig von den Motiven und<br />

Gründen, <strong>die</strong> Handelnde für das, was sie tun, haben. Man kann<br />

sie nicht mit den Wirkungen beispielsweise e<strong>in</strong>es Erdbebens<br />

vergleichen, das e<strong>in</strong>e Stadt und se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wohner vernichtet<br />

ohne daß <strong>die</strong>se imstande wären, daran etwas zu ändern" (1988,<br />

235).<br />

Es macht <strong>die</strong> Ko<strong>in</strong>zidenz von Struktur und Handeln aus, daß <strong>die</strong><br />

strukturellen Zwänge "ihre Wirkung immer durch <strong>die</strong> Motive und Gründe<br />

der Handelnden h<strong>in</strong>durch" (1992, 366) entfalten und nur <strong>in</strong> ihrer<br />

Realisierung <strong>in</strong> sozialen Praktiken existieren. Anders formuliert: Die<br />

Strukturen werden erst im Handeln real. Der zw<strong>in</strong>gende Charakter der<br />

Strukturen darf deshalb nicht als so bestimmend ersche<strong>in</strong>en, daß der eigene<br />

Beitrag der Subjekte an <strong>die</strong>sem Prozeß aus den Augen gerät. Giddens<br />

82 Ähnlichkeiten mit dem Struktur-Habitus-Praxis Modells von Pierre Bour<strong>die</strong>u s<strong>in</strong>d<br />

hier nicht zu übersehen.<br />

83 Grundlegend ist hier noch immer, <strong>die</strong> viel zitierte These von Karl Marx aus dem<br />

18. Brumaire des Louis Bonaparte: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte,<br />

aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern<br />

unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."<br />

142


ezeichnet das menschliche Verhalten <strong>in</strong>sofern auch als "rekursiv", da <strong>die</strong><br />

Handelnden <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>die</strong> ihr Handeln ermöglichen", <strong>in</strong> und durch<br />

ihre Handlungen reproduzieren (1992, 52). Kurz: Gesellschaft und<br />

Individuum setzen e<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortwährenden Wechselwirkung<br />

voraus.<br />

3. Schlußfolgerungen<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle bleibt natürlich ke<strong>in</strong> Raum <strong>die</strong> Möglichkeiten und Grenzen<br />

der Vere<strong>in</strong>barkeit der <strong>in</strong> aller Kürze vorgestellten Paradigmen auch nur <strong>in</strong><br />

Ansätzen zu diskutieren. Ebensowenig sollen hier nicht <strong>die</strong> Schwächen und<br />

Stärken der e<strong>in</strong>zelnen Ansätze behandelt und gegene<strong>in</strong>ander ausgespielt<br />

werden. S<strong>in</strong>nvoller ersche<strong>in</strong>t es mir, <strong>in</strong> Anerkennung der<br />

multiparadigmatischen Theoriestruktur der Soziologie zusammenfassend<br />

<strong>die</strong> wesentlichen E<strong>in</strong>sichten der referierten Positionen festzuhalten, und<br />

somit zu e<strong>in</strong>em Aussagentableau zu gelangen, das m.E. zum<br />

unh<strong>in</strong>tergehbaren Kernbestand jeder handlungstheoretisch <strong>in</strong>spirierten<br />

Soziologie gezählt werden muß:<br />

- Das menschliche Handeln erfolgt weder re<strong>in</strong> zufällig noch stellt es sich als<br />

Ergebnis psychobiologischer Prozesse oder e<strong>in</strong>es reflexartig verhaltenden<br />

Organismus dar. Den Ausgangspunkt müssen sozialisierte Menschen bilden,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> sozio-kulturelle Ordnungen e<strong>in</strong>gebunden, s<strong>in</strong>n- und zielorientiert<br />

handeln.<br />

- Die S<strong>in</strong>norientiertheit des menschlichen Verhaltens und se<strong>in</strong>e Ausrichtung<br />

an Werten und Normen geben der Soziologie ihr unh<strong>in</strong>tergehbar<br />

<strong>in</strong>terpretatives Gepräge. Hierbei muß allerd<strong>in</strong>gs <strong>die</strong> Analyse des subjektiven<br />

S<strong>in</strong>ns des Handelnden immer mit der Analyse des historisch-sozialen<br />

Bed<strong>in</strong>gungszusammenhangs verbunden werden. Beide Formen des<br />

Verstehens, Deutung und Erklärung s<strong>in</strong>d als gleichrangige Mittel des<br />

Erkenntnisprozesses zu begreifen.<br />

- E<strong>in</strong>e Soziologie, <strong>die</strong> soziale Gebilde zu über<strong>in</strong>dividuellen Wesenheiten<br />

hypostasiert, steht vor der Gefahr sich den Blick darauf zu verstellen, daß<br />

menschliche Kontstruktionen nicht nur durch menschliches Handeln<br />

hervorgebracht wurden, sondern auch durch <strong>die</strong>ses verändert werden<br />

können.<br />

- Da Menschen bedeutungsvolle Zeichen und Symbole <strong>in</strong> ihren Interaktionen<br />

verwenden, steht <strong>die</strong> Soziologie u.a. vor der Aufgabe nachzuvollziehen, wie<br />

es zu ihren Bedeutungen gekommen ist und wie Handelnde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft mit <strong>die</strong>sen umgehen. Sie muß <strong>die</strong> Situation so sehen, wie sie<br />

vom Handelnden gesehen wird und den Interpretationen folgen, <strong>die</strong> zur<br />

Ausführung e<strong>in</strong>er bestimmten Handlung führen.<br />

143


- Der Idealisierung des frei entscheidenden Individuums ist ebenso wie der<br />

Hypostasierung unüberw<strong>in</strong>dlicher Strukturzwänge entgegenzutreten.<br />

Struktur und Handeln s<strong>in</strong>d zwei Dimensionen der selben Sache. Dies führt<br />

zu der methodologischen Konsequenz, daß Struktur- und Handlungstheorie<br />

nicht als sich ausschließende, sondern nur als sich notwendig ergänzende,<br />

komplementäre Sichtweisen betrachtet werden müssen.<br />

- Obwohl sich auch komplexe soziale Zusammenhänge aus <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander<br />

verschränkten menschlichen Handlungen zusammensetzen, läßt sich nicht<br />

alles "Soziale" dadurch erklären, daß man den S<strong>in</strong>n des sozialen Handelns<br />

der e<strong>in</strong>zelen Subjekte zu verstehen versucht. Fragen nach Stabilität und<br />

Wandel sozialer Ordnungen müssen deshalb unter dem Gesichtspunkt des<br />

Verhältnisses von beabsichtigten und unbeabsichtigten Handlungsfolgen<br />

betrachtet werden, da es deren komplexe Verflechtungen s<strong>in</strong>d, welche <strong>die</strong><br />

Zusammenhänge des sozialen Lebens nachhaltig bee<strong>in</strong>flußen. D.h., <strong>die</strong><br />

Soziologie hat soziale Prozesse, Gebilde und Gesellschaften immer auch<br />

unter dem Gesichtspunkt nicht<strong>in</strong>ten<strong>die</strong>rter Resultate menschlicher<br />

Problemlösungsversuche zu betrachten, <strong>die</strong> wiederum prägende Folgen<br />

haben, <strong>die</strong> den Menschen "fremd" und unkontrolliert gegenüberstehen.<br />

144


Literatur:<br />

Blumer, Herbert 1973: Der methodologische Standort des Symbolischen<br />

Interaktionismus. In: Matthes u.a.: Alltagswissen, Interaktion und<br />

gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und<br />

Ethnomethodologie, Re<strong>in</strong>bek, 80-146<br />

Esser, Hartmut 1993: Soziologie. Frankfurt/New York<br />

Esser, Hartmut 1995: Erklärende Soziologie. In: Bernhard Schäfers (Hg.):<br />

Soziologie <strong>in</strong> Deutschland. Entwicklung, Institutionalisierung und<br />

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Homans, George C. 1968: Theorie der sozialen Gruppe, 3. Aufl.<br />

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Luhmann, Niklas 1970: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie<br />

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145


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Opladen<br />

Weber, Max 1972 : Wirtschaft und Gesellschaft, (Stu<strong>die</strong>nausgabe) Tüb<strong>in</strong>gen<br />

146


Geographie: Raum und Zeit<br />

von <strong>Jürgen</strong> <strong>Bellers</strong><br />

E<strong>in</strong>leitung und Fragestellung<br />

Seit Gott gemäß Beschreibung <strong>in</strong> der Genesis <strong>die</strong> Erde <strong>in</strong> Meer und Land<br />

teilte und das Land im wesentlichen dem Menschen zuwies, ist für <strong>die</strong><br />

abendländische Geistesgeschichte und Wissenschaftstradition e<strong>in</strong><br />

Gegensatzpaar grundgelegt worden, das bewußt oder unbewußt politisches<br />

und soziales Handeln leitete und leitet.<br />

Mit <strong>die</strong>ser fundamentalen Unterscheidung ist auch das Thema <strong>die</strong>ses<br />

Beitrages angerissen, der sich mit den E<strong>in</strong>flüssen natürlich-räumlicher<br />

Gegebenheiten auf Gesellschaft im allgeme<strong>in</strong>en und Politik im besonderen<br />

und mit der umgekehrten Beziehung befassen will.<br />

Unter <strong>die</strong>sem Aspekt soll hier <strong>die</strong> Geographie und vor allem deren<br />

Teildiszipl<strong>in</strong>: <strong>die</strong> Humangeographie im Mittelpunkt stehen.<br />

Natürlich ist mir bewußt, daß es politisch <strong>in</strong> Deutschland nicht<br />

unproblematisch ist, sich mit der hier angesprochenen Relation zu befassen,<br />

da <strong>die</strong>se Wissenschaft im Nationalsozialismus unter dem Stichwort<br />

"Politische Geographie" mißbraucht wurde. U.a. von hier her bezog Hitler<br />

se<strong>in</strong>e Argumentation für e<strong>in</strong>e unabd<strong>in</strong>gbare, imperialistische Expansion des<br />

Deutschen Reiches nach Osten, <strong>in</strong> den "slawischen Raum" h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Begründet<br />

wurde <strong>die</strong>s mit dem angeblich geographisch oder geopolitisch bed<strong>in</strong>gt zu<br />

ger<strong>in</strong>gen "Lebensraum" des deutschen Volkes, das territorial e<strong>in</strong>geengt und<br />

ressourcenmäßig knapp <strong>die</strong> eigene Bevölkerung von sich aus nicht ernähren<br />

könne. (vgl. Schöller 1957: 1 ff.)<br />

Der Mißbrauch sollte jedoch nicht dazu verleiten,<br />

nun Human-Geographie oder politische Geographie pauschal zu verwerfen,<br />

zumal sie <strong>in</strong> Frankreich und im angelsächsischen Raum e<strong>in</strong>e angesehene<br />

Wissenschaft ist und zumal sie nicht zu leugnende Selbstverständlichkeiten<br />

untersucht, wie <strong>die</strong> Tatsache, daß Gesellschaft und Politik abhängig s<strong>in</strong>d z.B.<br />

vom Umfang der auf oder unter e<strong>in</strong>em staatlichen Territorium vorhandenen<br />

Ressourcen (Kohle, Wasser, wertvolle Rohstoffe), bzw. daß der Mensch auf<br />

<strong>die</strong> ihn umgebende, natürliche Umwelt im Verlaufe der Geschichte<br />

zunehmend e<strong>in</strong>gewirkt hat, was <strong>in</strong> der gegenwärtigen "Klimakatastrophe"<br />

kulm<strong>in</strong>iert. Gleichermaßen s<strong>in</strong>d der Nord-Süd-Konflikt und vormals der<br />

Ost-West-Gegensatz - wie <strong>die</strong> Benennung deutlich macht - auch (!)<br />

raumgebundene und raumwirksame Phänomenen.<br />

Was uns der Mißbrauch lehren mag - und <strong>die</strong>s sei als Resümee schon<br />

vorweggenommen -, ist, daß der Raum sicherlich bedeutend ist, aber wie bei<br />

147


allen natürlichen und sozialen Fakten nur vermittels zahlreicher anderer<br />

sozialer und natürlicher Faktoren. "Raum" als solcher veranlaßt nur <strong>in</strong> den<br />

seltensten Fällen zum (politischen) Handeln. Dadurch, daß e<strong>in</strong>er auf e<strong>in</strong>er<br />

Insel lebt, wird er noch nicht zum Seemann, siehe Japan.<br />

Oder als weiteres Beispiel: Sicherlich war und ist Deutschland mit<br />

Ressourcen relativ ger<strong>in</strong>g ausgestattet, und sicherlich war es immer<br />

Agrarimporteur. Aber das gilt für viele andere Staaten auch, beispielsweise<br />

<strong>die</strong> Niederlande, <strong>die</strong> deshalb noch lange nicht außenpolitisch aggressiv<br />

wurde. Denn <strong>die</strong> Schlußfolgerung: Ressourcenarmut ---- territoriale<br />

Expansion ist monokausal und vernachlässigt zahlreiche Alternativen. Auch<br />

<strong>die</strong> Industrialisierung e<strong>in</strong>es Landes kann <strong>die</strong> Ressourcenknappheit e<strong>in</strong>es<br />

Landes kompensieren, <strong>in</strong>dem hochverarbeitete Produkte exportiert und mit<br />

derart ver<strong>die</strong>nten Geld Rohstoffe e<strong>in</strong>geführt werden.<br />

E<strong>in</strong>ige wissenschaftsgeschichtliche Anmerkungen zur "Politischen<br />

Geographie"<br />

Auch <strong>die</strong> Politische Geographie - um deren wissenschaftsgeschichtliche<br />

Genese hier kurz zu skizzieren - kann nicht pauschal e<strong>in</strong>em Verdikt<br />

unterlegt werden, wenn auch ihre Staatszentrierung <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>e<br />

leichte politische Instrumentalisierbarkeit ermöglichte: Dies ist bereits<br />

grundgelegt <strong>in</strong> der sog. Statistik des 17. Jahrhunderts und den<br />

Staatswissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. (vgl. Boesler 1983: 21 ff.)<br />

(Montesquieu, e<strong>in</strong> anderer großer Vorläufer, dachte da weniger<br />

staatsorientiert, wenn auch ähnlich naturdeterm<strong>in</strong>istisch.)<br />

Staatswissenschaften wurden schon deswegen im Plural verwandt, weil sie<br />

umfassend alle auf den Staat wirkenden Faktoren zu erfassen suchte, eben<br />

auch <strong>die</strong> geographischen. Zwar trennten sich im letzten Jahrhundert für<br />

e<strong>in</strong>ige Zeit Staatswissenschaften und Geographie, von Ratzel wurden sie<br />

dann jedoch wieder zusammengeführt. Für ihn bilden "Staat" und "Boden"<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nige, "organische" E<strong>in</strong>heit. (vgl. Ratzel 1897)<br />

In den USA wirkte A. T. Mahan (vgl. Mahan 1896), der der Herrschaft über<br />

<strong>die</strong> Meere e<strong>in</strong>e zentrale, weltgeschichtliche Bedeutung zumaß (mit direkten<br />

Auswirkungen auf <strong>die</strong> Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II.), während <strong>die</strong><br />

deutsche geopolitische Schule der 20er Jahre <strong>die</strong>ses Jahrhunderts <strong>die</strong><br />

Herrschaft über den eurasischen Landblock <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellte.<br />

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dann <strong>die</strong> endgültige,<br />

sozialwissenschaftliche Wende vollzogen: Anthropogeographie und erst<br />

recht <strong>die</strong> Geopolitik oder Politische Geographie betrachteten nun nicht mehr<br />

den Staat als Raumgebilde, sondern lediglich den Staat (oder sonstige soziale<br />

E<strong>in</strong>richtungen) und dessen (deren) Handlungen i m Raum. (vgl. Boesler<br />

1983: 28) Damit näherte sich <strong>die</strong> Politische Geographie der<br />

Politikwissenschaft und entfernte sich von der Physischen Geographie.<br />

Unbestritten ist heutzutage, daß sich <strong>die</strong> Politische Geographie nicht mehr<br />

148


nur auf den Staat konzentrieren darf, sondern auch Verbände, Parteien und<br />

andere Interessengruppen e<strong>in</strong>beziehen muß, auch regionale und<br />

lokale/kommunale E<strong>in</strong>flüsse.<br />

Den Geistes- und <strong>Sozialwissenschaften</strong>, <strong>in</strong>sbesondere der Politikwissenschaft<br />

und <strong>in</strong> Teilen der Soziologie, ist jedoch <strong>die</strong> Politische Geographie wegen<br />

ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit verdächtig, noch zunehmend<br />

seit der Studentenrebellion der 60er Jahre. Dazu trug mit bei, daß <strong>die</strong><br />

Politische Geographie e<strong>in</strong>igen neueren Trends <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Wissenschaften<br />

zuwider läuft, <strong>die</strong> sich unter dem Stichwort "Konstruktivismus"<br />

zusammenfassen lassen. Dieser geht davon aus, daß alle Institutionen und<br />

kulturelle E<strong>in</strong>richtungen mehr oder weniger verfestigte, subjektive<br />

Konstruktionen der Menschen seien, auch so etwas massiv Gegebenes wie<br />

e<strong>in</strong> Bismarck-Turm sei nur deshalb als solcher identifiziert, weil <strong>die</strong><br />

Betrachter ihn <strong>die</strong> Bedeutung "Symbol für <strong>die</strong> Reichse<strong>in</strong>heit" usw.<br />

unterlegen. Als Gebilde aus Ste<strong>in</strong> sei er zunächst e<strong>in</strong>mal bedeutungslos.<br />

Politische Geographie geht zum<strong>in</strong>dest gemäß der traditionellen<br />

Interpretation des Faches von gewissen nicht h<strong>in</strong>tergehbaren, objektiven<br />

Fakten aus, <strong>die</strong> vorerst auch ohne subjektive, <strong>in</strong>dividuelle Deutungen so<br />

s<strong>in</strong>d, wie sie s<strong>in</strong>d. Sie ist objektivistisch, der Konstruktivismus ist<br />

subjektivistisch.<br />

In den folgenden Darlegungen können <strong>die</strong> im E<strong>in</strong>leitungskapitel<br />

aufgezeigten Raum - Mensch -Beziehungen nur exemplarisch ausgelotet<br />

werden.<br />

E<strong>in</strong>zelne Aspekte<br />

In den folgenden Ausführungen wird besonderes Augenmerk gelegt auf das<br />

menschliche Handeln unter dem E<strong>in</strong>fluß geographischer<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen.<br />

Raum und Siedlung<br />

Grundlegend ist hier <strong>die</strong> Feststellung, daß Menschen nicht gleichmäßig<br />

verteilt im Raum leben, sondern sich an bestimmten, zentralen Orten Ballen,<br />

zwischen denen der Raum nur dünn besiedelt ist. Das hat se<strong>in</strong>e Gründe<br />

dar<strong>in</strong>, daß an <strong>die</strong>sen Orten arbeitsteilig gearbeitet werden kann und daß<br />

gewisse öffentliche E<strong>in</strong>richtungen (z.B. Schulen) nur dann s<strong>in</strong>nvoll<br />

ausgelastet s<strong>in</strong>d, wenn e<strong>in</strong>e bestimmte Bevölkerungsdichte besteht.<br />

149


Auch <strong>die</strong> zentralen Orten s<strong>in</strong>d nicht alle gleich, auch hier bildet sich e<strong>in</strong>e<br />

Hierarchie heraus: In den Städten bilden sich <strong>die</strong> Citys (meist mit Geschäften<br />

und Wohnungen für hoch Zahlungsfähige), Innenstadtrandgebiete (teilweise<br />

Wohngebiet, teilweise Gewerbe) Sattelitenstädte, Gewerbegebiete,<br />

ausgelagerte Villen- oder E<strong>in</strong>familienhausgebiete. Dabei s<strong>in</strong>d auch<br />

bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Verstädterung und Entstädterung zu<br />

verzeichnen: E<strong>in</strong>er hohen Wohndichte im Zentrum folgt oft der Trend, sich<br />

im Umland niederzulassen. Mit den dann nach e<strong>in</strong>iger Zeit auftretenden<br />

Verkehrsproblemen Umland - Zentrum (wo <strong>die</strong> Menschen meist weiterh<strong>in</strong><br />

arbeiten) br<strong>in</strong>gt es dann wieder mit sich, daß man zentralere Wohnlagen<br />

sucht.<br />

E<strong>in</strong>e andere Gesetzmäßigkeit ist durch soziale Segregation festzustellen: z.B.<br />

werden Ausländer <strong>in</strong> Stadtvierteln angesiedelt oder siedeln sich dort an, was<br />

zu e<strong>in</strong>em Wegzug der dort zuvor Ansässigen führt, so daß e<strong>in</strong> gesamtes<br />

Stadtviertel umstrukturiert wird und - so <strong>die</strong> Reaktion des<br />

Wohnungsmarktes - an Wohnwert führt. (Das ist ke<strong>in</strong> normatives Urteil,<br />

sondern e<strong>in</strong>e empirische Tatsache.)<br />

Das Verkehrssystem ist oft sternförmig auf das Zentrum ausgerichtet, z.B. ist<br />

<strong>in</strong> Erfurt oder <strong>in</strong> München der Platz im Stadtmittelpunkt der allgeme<strong>in</strong>e<br />

Knotenpunkt, über den man auch zum Umsteigen <strong>in</strong> alle Richtungen fahren<br />

muß. (Friedrichs 1995: 34 f.)<br />

Jeder zentrale Ort versorgt se<strong>in</strong> Umland <strong>in</strong> dem Maße, daß <strong>die</strong> Entfernung<br />

zum versorgten Ort noch betriebswirtschaftlich oder auch<br />

gesamtwirtschaftlich kostenmäßig zu tragen ist. Wir <strong>die</strong>s zu teuer, so spaltet<br />

sich e<strong>in</strong> Teilraum vom vorherigen Raum ab und bildet e<strong>in</strong>en neuen Raum<br />

mit e<strong>in</strong>em neuen Zentralort, der nun näher zu se<strong>in</strong>em Umland ist.<br />

Ähnliche Überlegungen e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>destgröße des Marktes gilt natürlich auch<br />

für Geschäfte des Dienstleistungsverkehrs, <strong>die</strong> ihre Kunde meist im näheren<br />

Umraum gew<strong>in</strong>nen. In e<strong>in</strong>em Ballungsgebiet ist daher auch e<strong>in</strong>e<br />

Spezialisierung der Produktion und des Handels möglich: Es lohnt nicht, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Dorf e<strong>in</strong> Geschäft für Knirpse aufzumachen; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Großstadt ist <strong>die</strong><br />

Nachfrage jedoch genügend groß.<br />

Die Stadtplanung unterscheidet folgenden Typen von Orten:<br />

Zentrale Orte<br />

????????????????????<br />

Wanderungs- und Pendlerbewegungen erfolgen meist von der Peripherie<br />

<strong>in</strong>s Zentrum, sei es nun von Brandenburg nach Berl<strong>in</strong> oder von Zimbabwe <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Republik Südafrika oder von Süd/Osteuropa nach Nord/Westeuropa.<br />

Weltweit s<strong>in</strong>d ähnliche Konzentrationsprozesse, bed<strong>in</strong>gt durch <strong>die</strong> gleichen<br />

Ursachen, festzustellen, so z.B. mit dem Kernraum <strong>in</strong> Nordwesteuropa mit<br />

se<strong>in</strong>en großen <strong>in</strong>dustriellen Kapazitäten. Solche Kernräume wandeln<br />

150


allerd<strong>in</strong>gs auch, <strong>in</strong> historischer Perspektive gesehen: Um 1400 war<br />

Norditalien mit se<strong>in</strong>en Handelsstädten Venedig und Genua und anderen der<br />

zentrale Knotenpunkt für gesamt Europa, bis dann <strong>die</strong> Handelsverb<strong>in</strong>dung<br />

<strong>in</strong> den Osten durch das Osmanische Reich gekappt wurden und sich der<br />

Handel <strong>in</strong> den atlantischen Raum verlagerte. (Wallerste<strong>in</strong>)<br />

Die zentralen Orte s<strong>in</strong>d durch Verkehrsachsen verbunden, da zum Unterhalt<br />

e<strong>in</strong>es Verkehrssystems e<strong>in</strong> bestimmtes Verkehrsvolumen vonnöten ist, das<br />

zwischen kle<strong>in</strong>eren Orten nicht gegeben ist.<br />

Raum und Wirtschaft: Wirtschaftsgeographie<br />

Die Wirtschaftsgeographie ist e<strong>in</strong>e erfreuliche Ersche<strong>in</strong>ung unter den<br />

wirtschaftswissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en, da sie menschliches Handeln<br />

nicht durch allgeme<strong>in</strong>e, an Orten gültige und daher auch mathematisierbare<br />

Gesetzmäßigkeiten (Angebot/Nachfrage-Gesetze) bestimmt sieht, sondern<br />

durch <strong>die</strong> konkreten und je unterschiedlichen Bed<strong>in</strong>gungen vor Ort.<br />

Auch hier gibt es zwei unterscheidbare Perspektiven:<br />

- <strong>die</strong> von der Geosphäre auf das menschliche Wirtschaften,<br />

- und <strong>die</strong> vom wirtschaftlichen Handeln auf <strong>die</strong> Natur. (vgl. Ritter 1993: 9 ff.)<br />

Pr<strong>in</strong>zipiell ist festzustellen, daß wirtschaftliches Handeln u.a. auch von<br />

geosphärischen Daten abhängig ist, was <strong>in</strong>sbesondere bei klimatischen<br />

E<strong>in</strong>flüssen und Bodenbeschaffenheiten auf <strong>die</strong> Agrarproduktion deutlich<br />

wird. Gemäßigten Zonen s<strong>in</strong>d hier bevorzugt, können optimaler<br />

landwirtschaftlich produzieren, was auch Vorteile für den Aufbau e<strong>in</strong>er<br />

Industrie mit sich br<strong>in</strong>gt. Versuche, <strong>die</strong>se Naturbed<strong>in</strong>gungen durch<br />

politische Maßnahmen zu überw<strong>in</strong>den, z.B. künstliche Bewässerung von<br />

Wüsten durch Umleitung von Flüssen, führte u.a. nur zum Austrocken des<br />

Aralsees, wie <strong>die</strong> sozialistischen Experimente <strong>in</strong> der ehemaligen UdSSR<br />

gezeigt haben.<br />

So wirkt das wirtschaftliche Handeln des Menschen auf <strong>die</strong> Natur zurück.<br />

Aber das ist <strong>die</strong> Ausnahme: Meist harmonieren Wirtschaft und Natur. So<br />

folgt <strong>die</strong> Wirtschaft den Rohstoffen und siedelt sich dort an, wo z.B. Kohle<br />

ist, um dort e<strong>in</strong>e eisenfördernde und eisenverarbeitende Industrie zu<br />

errichten. (Ruhrgebiet; Siegerland, wo <strong>die</strong> Kohle durch <strong>die</strong> Holzkohle ersetzt<br />

wurde.)<br />

Aber das ist ke<strong>in</strong> absolutes Naturgesetz! Es spielen auch andere Faktoren<br />

e<strong>in</strong>e Rolle, so der Standort großer Verbraucherzentren. Die amerikanische<br />

Automobilproduktion g<strong>in</strong>g daher nach Chicago, und Eisenerz sowie Kohle<br />

folgten dem aus Pennsylvania (Pittsburgh), was allerd<strong>in</strong>gs durch <strong>die</strong> guten<br />

Transportmöglichkeiten über <strong>die</strong> Großen Seen zwischen den USA und<br />

Kanada erleichtert wurde. (Schrettenbrunner 1992: 43 ff.)<br />

151


Im Zwischenfeld zwischen Natur und Mensch liegt das Phänomen der<br />

territorialen Grenze, <strong>die</strong> zwar vom Menschen oder genauer: von der Politik<br />

festgelegt wird, aber damit auch räumliche E<strong>in</strong>heiten vone<strong>in</strong>ander abgrenzt.<br />

(vgl. Bökemann 1982: 60 ff.) Die Grenzen bilden seit der Entstehung des<br />

Nationalstaates vor rd. 200 Jahren den Raum, <strong>in</strong> dem Wirtschaften zunächst<br />

vor allem stattfand. Deshalb nannte sich <strong>die</strong> hierzu gehörige Wissenschaft<br />

auch früher "Nationalökonomie".<br />

Die Grenze sollte sich <strong>in</strong> ihrer Geschichte sowohl als Schutz nationalen<br />

Wirtschaftens, aber auch als deren Hemmnis erweisen. Erst neuerd<strong>in</strong>gs hat<br />

sich <strong>die</strong> Wirtschaft im OECD-Bereich so <strong>in</strong>ternationalisiert, daß Grenzen<br />

bedeutungslos wurden.<br />

Erst auf der Basis solcher territorialen E<strong>in</strong>teilungen lassen sich<br />

wirtschaftliche Unterschiede, auch h<strong>in</strong>sichtlich von Unterentwickung und<br />

Benachteiligung bestimmter Räume, feststellen. Dabei s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> höher<br />

entwickelten Gebiete solcher verdichteter und häufigerer Kommunikationen<br />

der Wirtschaftssubjekte, während <strong>die</strong>s bei unterentwickelten Gebieten nicht<br />

der Fall ist. Zwischen beiden Typen von Gebieten gibt es auch Nullräume<br />

mit wenig wirtschaftlichen Aktivitäten.<br />

Am wirtschaftlichsten wird dann gehandelt, wenn Ort, Zeit und <strong>die</strong><br />

Handlung selbst wie <strong>in</strong> der alten Dramaturgie e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit bilden. (vgl.<br />

Ritter 1993: 18) Denn dann kann alles Notwendige zugleich erledigt werden,<br />

das Maß von Arbeitsteilung wird m<strong>in</strong>imiert, es gibt kaum zeitliche<br />

Disparitäten und Wartezeiten.<br />

Mit wachsender Arbeitsteilung wirkt sich <strong>die</strong>se auch räumlich aus, d.h.<br />

Betriebe <strong>in</strong> anderen Regionen werden Zulieferer des Hauptwerkes im<br />

Zentrum (und wenn e<strong>in</strong>e Region zu großen Teilen aus Zulieferbetrieben<br />

besteht, kann sie als unterentwickelt bezeichnet werden, da sie wegen der<br />

Abhängigkeit von Auftragslage der Hauptwerke über ke<strong>in</strong>e autonome<br />

Wirtschaftskraft verfügen und damit leicht Opfer konjunktureller und<br />

struktureller Änderungen werden.) Diese räumlichen Arbeitsteilungen s<strong>in</strong>d<br />

auch nur schwer durch neue elektronische Me<strong>die</strong>n rückgängig zu machen,<br />

da e<strong>in</strong>e Telephonkonferenz eben e<strong>in</strong>e tatsächliche Konferenz nicht ersetzt.<br />

Zentrale praktische Frage der Wirtschaftsgeographie ist <strong>die</strong> Frage (und <strong>die</strong><br />

Antwort darauf) nach dem optimalen Ort des unternehmerischen Handelns,<br />

e<strong>in</strong>es Unternehmens. Ist es am besten, daß sich e<strong>in</strong> zweiter Supermarkt <strong>in</strong><br />

der Nähe e<strong>in</strong>es bereits bestehenden ansiedelt, um dessen Kunden direkt<br />

abwerben zu können. Diese Überlegung führt zur Ballung (Agglomeration)<br />

von (Handels-)Betrieben, wie wir sie auch <strong>in</strong> den Citys unserer Städte<br />

beobachten können, wobei als weiterer Faktor <strong>die</strong> zentralörtliche Lage wirkt,<br />

<strong>die</strong> von vielen leicht mit öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln erreicht<br />

werden können. Die Citys s<strong>in</strong>d oft sowohl der räumliche als auch der soziale<br />

Mittelpunkt e<strong>in</strong>es bestimmten geographischen Kreises, <strong>in</strong> dem sie für e<strong>in</strong>e<br />

152


Mehrzahl der für <strong>die</strong>se Mehrzahl geme<strong>in</strong>same, zentrale und am leichtesten<br />

zu erreichende Ort ist - eben der Mittelpunkt. (vgl. <strong>in</strong>sgesamt Chamberl<strong>in</strong>)<br />

Das klassische Modell der Verteilung von Wirtschaftsaktivitäten hat der<br />

Nationalökonom Thünen entwickelt. Es ist idealtypisch zu verstehen, d.h. es<br />

läßt sich exakt empirisch nicht voll nachweisen, aber als geme<strong>in</strong>sames Raster<br />

für Verteilungsprozesse und deren hypothetische Erklärung ist es recht<br />

<strong>die</strong>nlich. (vgl. Lösch 1962: 26 ff; Thünen 1966.) Die Abstraktheit des<br />

Thünenschen Verfahrens, dessen Werk aus dem Jahr 1826 stammt, wird<br />

alle<strong>in</strong> daran deutlich, daß er se<strong>in</strong>e empirisch geleiteten Überlegungen<br />

anhand e<strong>in</strong>es "isolierten Staates" anstellte. Ihm waren also <strong>die</strong><br />

vere<strong>in</strong>fachenden Annahmen bewußt. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es durchaus realökonomische<br />

Prozesse, <strong>die</strong> dem Modell entsprechen, z.B. auf dem<br />

städtischen Grundstücksmarkt.<br />

Der Thünensche Raum - so <strong>die</strong> erste Hypothese - ist e<strong>in</strong>heitlich mit<br />

Ressourcen ausgestattet, <strong>in</strong> ihm gibt es e<strong>in</strong>en zentralen Ort, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Mitte.<br />

In der Stadt wird handwerkschaftlich produziert, auf dem Lande agrarisch.<br />

Das System funktioniert durch den Austausch zwischen Stadt und Land. Wo<br />

was <strong>in</strong>sbesondere agrarisch produziert wird, bestimmt sich im wesentlichen<br />

durch <strong>die</strong> Transportkosten.<br />

Ist nun zu entscheiden, ob man Viehzucht oder Getreideanbau betreibt, so ist<br />

zunächst zu fragen, was betragen <strong>die</strong> Transportkosten zur Stadt: Je<br />

transportkosten<strong>in</strong>tensiver e<strong>in</strong> Produkt ist, im Vergleich zum Erlös pro<br />

Flächene<strong>in</strong>heit, um so näher wird es <strong>in</strong> der Umgebung der Stadt angebaut<br />

oder betrieben. Nach <strong>die</strong>sem Kalkül erhält Thünen sieben Zonen um <strong>die</strong><br />

ideale Stadt herum: 1. freie Landwirtschaft, 2. Forstwirtschaft, 3.<br />

Fruchtwechselwirtschaft (Getreide, Hackfrüchte), 4. Koppelweidewirtschaft,<br />

5. Dreifelderwirtschaft, 6. Viehzucht, 7. unkultivierte Wildnis. Durch<br />

Änderungen <strong>in</strong> der Verkehrstechnologie können sich natürlich <strong>die</strong>se<br />

Relationen verändern, was schon von Thünen wußte. Auch <strong>die</strong> Produktivität<br />

je Fläche kann sich durch den E<strong>in</strong>satz neuer Masch<strong>in</strong>en ändern. Außerdem<br />

können Preisänderungen Änderungen der Zonene<strong>in</strong>teilung zur Folge haben.<br />

Auch können e<strong>in</strong>ige Zonen, vor allem <strong>die</strong> entfernteren, aus<br />

Rentabilitätsgründen gänzlich aufgegeben und auch zur "Wildnis" werden.<br />

Aber auch umgekehrt: Steigt <strong>die</strong> Nachfrage der Stadt, expan<strong>die</strong>ren auch <strong>die</strong><br />

R<strong>in</strong>ge und Zonen.<br />

Analog läßt sich das Modell - wenn auch modifiziert und ergänzt - auf<br />

nationale und weltweite Zonen übertragen: Bestimmte, dom<strong>in</strong>ierende<br />

Nationen und Kernregionen (Nordwesteuropa, USA) bewirken <strong>die</strong> Bildung<br />

solch zonaler E<strong>in</strong>teilungen um sich herum.<br />

Brechen allerd<strong>in</strong>gs <strong>die</strong> Marktbeziehungen zwischen Stadt und Land z.B.<br />

wegen Inflationierung des Geldes zusammen, da <strong>die</strong> Bauern nur noch<br />

entwertetes Geld für ihre Lieferungen erhalten, gelten <strong>die</strong> Thünenschen<br />

153


Gesetze nicht mehr. In e<strong>in</strong>er solchen Situation neigt der Bauer zur<br />

Subsistenzproduktion, d.h. er produziert nicht mehr für den Markt und nur<br />

noch für sich selbst. Das hat dann zur Folge, daß er e<strong>in</strong>e breite<br />

Produktpalette anbaut. Teilweise kommt es sogar zu e<strong>in</strong>er Brachlegung von<br />

Feldern, wenn <strong>die</strong> Eigenproduktion den Eigenbedarf übersteigt.<br />

Hungersnöte im heutigen Afrika können z.T. durch <strong>die</strong>se Prozesse erklärt<br />

werden. Insbesondere e<strong>in</strong>e niedrige Preisfestsetzung für agrarische Produkte<br />

seitens staatlicher Stellen und Eliten, <strong>die</strong> hier lediglich im Interesse und zur<br />

Beruhigung der städtischen Konsumenten und potentiell revolutionären<br />

Unterschichten handeln, führen zum Rückgang der Agrarproduktion.<br />

Auch der Faktor "Bodenqualität" spielte e<strong>in</strong>e bestimmte Rolle.<br />

Solche zusätzlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen können das Thünensche Modell<br />

mit se<strong>in</strong>en konzentrischen R<strong>in</strong>gen gänzlicher außer Kraft setzen, bis h<strong>in</strong> zur<br />

staatlich angeordneten Allokation agrarischer Produktion <strong>in</strong> bestimmten<br />

landwirtschaftlichen Gürteln durch das Planungssystem der ehemaligen<br />

UdSSR. Derartige Willkür wird allerd<strong>in</strong>gs durch ökologische Katastrophen<br />

bestraft.<br />

E<strong>in</strong> Landwirt kann sich auch überlegen, statt des transport<strong>in</strong>tensiven, weil<br />

massenwirksamen, und damit teuren<br />

Getreides solche Agrarprodukte anzubauen, <strong>die</strong> er direkt vor Ort<br />

verarbeitet, um so <strong>die</strong> Transportkosten zu reduzieren (Hopfen/Bier, We<strong>in</strong>,<br />

Getreide/Schnaps). Besteht e<strong>in</strong>e Landwirtschaft weitgehend aus<br />

Veredelungswirtschaft wie <strong>in</strong> Holland oder <strong>in</strong> Dänemark, dann ergibt sich<br />

e<strong>in</strong>e zonale E<strong>in</strong>teilung, <strong>die</strong> sich nach der Relation<br />

Transportkosten/Produktwert je kg <strong>die</strong>ser Produkte richtet. (vgl. Thünen<br />

1966: 275) Dabei s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Regionen mit <strong>in</strong>novativen Unternehmern, <strong>die</strong> neue<br />

Verarbeitungsformen e<strong>in</strong>führen, im Vorteil, da <strong>die</strong> Innovationen erst mit<br />

e<strong>in</strong>iger Zeitverzögerung nachgeahmt werden.<br />

Wenn e<strong>in</strong> Produkt nicht mehr <strong>in</strong>novativ ist, sondern <strong>in</strong> das Stadium der<br />

Serienfertigung übergegangen ist, so kann es zur Verlagerung der<br />

Produktion an den Ort der billigsten Arbeitskräfte kommen. Allerd<strong>in</strong>gs ist<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Persistenz von Standorten des Gewerbes oder der Industrie<br />

festzustellen:<br />

Wo Industrie bereits war, siedelt sich auch erneut Industrie an (wenn <strong>die</strong> alte<br />

wegen e<strong>in</strong>es wirtschaftlichen Strukturwandels untergeht: Kohle und Stahl<br />

im Ruhrgebiet). (Vgl. Graeber 1979)<br />

Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik<br />

Daß Politik und Verteilungen im Raum etwas mite<strong>in</strong>ander zu tun haben,<br />

wird zwar gern von "Politologen" geleugnet, ist aber dennoch oder gerade<br />

deshalb so. Schon der Blick <strong>in</strong>s Fernsehen anläßlich von Wahlen bestätigt<br />

das, denn hier wird - oft unterstrichen durch Farben - auf Karten <strong>die</strong><br />

unterschiedlichen Ballungen bestimmter Parteipräferenzen <strong>in</strong> bestimmten<br />

154


Räumen aufgezeigt: Oberbayern ist halt e<strong>in</strong>e unbezw<strong>in</strong>gbare Burg der CSU -<br />

sieht man von wenigen Ausnahmen ab. Umgekehrt weiß man, daß zwischen<br />

<strong>die</strong>sen Ballungen und er bevorzugten Vergabe staatlicher Gelder an <strong>die</strong><br />

Stimmballungsgebiete e<strong>in</strong> Zusammenhang besteht - e<strong>in</strong> böser Mensch, der<br />

Schlechtes dabei denkt! (vgl. Johnston 1981) E<strong>in</strong>e ähnliche Fragestellung ist<br />

auch auf <strong>die</strong> E<strong>in</strong>kommens- und Wohlfahrtsverteilung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat<br />

anzuwenden. (vgl. Boesler 1983: 34 ff.)<br />

Insbesondere für <strong>die</strong> politikwissenschaftliche Teildiszipl<strong>in</strong> der<br />

Internationalen Politik ist der Faktor "Geopotential" von Bedeutung, da er<br />

über <strong>die</strong> Macht und letztlich <strong>die</strong> Durchsetzungsfähigkeit e<strong>in</strong>es Staates <strong>in</strong> der<br />

<strong>in</strong>ternationalen Konkurrenz mitbestimmt: Ob e<strong>in</strong> Staat über Rohstoffe<br />

verfügt oder über e<strong>in</strong>e hohe Bevölkerungszahl, entscheidet mit darüber, ob<br />

er <strong>die</strong> letztendliche Machtprobe <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen Politik, nämlich den<br />

Krieg, erfolgreich zu bestehen vermag. Auch <strong>die</strong> geographische Lage ist hier<br />

von Bedeutung: E<strong>in</strong> Staat wie <strong>die</strong> USA - faktisch e<strong>in</strong>e Insel, von großen<br />

Ozeanen geschützt -, ist natürlich - sieht man von Raketen ab - faktisch nicht<br />

zu erobern und damit sehr stark, während Deutschland, von vielen<br />

Nachbarn umgeben, lange Zeit dazu prädest<strong>in</strong>iert schien, der militärische<br />

Austragungsort der Konflikte der Nachbarn zu se<strong>in</strong> (30-jährige Krieg). Aus<br />

<strong>die</strong>ser Opferstellung s<strong>in</strong>d z.T. <strong>die</strong> imperialistischen Bestrebungen deutscher<br />

Außenpolitik <strong>in</strong> der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären: Durch<br />

deutsche Dom<strong>in</strong>anz wollte man mögliche Aggressionen der anderen<br />

präventiv verh<strong>in</strong>dern (obwohl damit der Hitlersche Imperialismus nur z.T.<br />

und nicht im Kern erfaßt wird.) Und es ist für <strong>die</strong> Zukunft wohl auch nicht<br />

ausgemacht, daß das Diktum von Verteidigungsm<strong>in</strong>ister Rühe gilt: Wir s<strong>in</strong>d<br />

von Freunden umz<strong>in</strong>gelt.<br />

Denn Deutschland ist alle<strong>in</strong> geographisch so groß, daß es für <strong>die</strong> anderen<br />

Staaten stets e<strong>in</strong>e potentielle Gefahr darstellen kann. Kle<strong>in</strong>e Staaten haben es<br />

da besser. Größe ist ambivalent: Sie schafft e<strong>in</strong>erseits Reichtum (USA), aber<br />

kann auch erhebliche Probleme der Kontrolle, des Zusammenhalts, der<br />

ethnischen Diversität und der Verkehrserschließung mit sich br<strong>in</strong>gen<br />

(Rußland).<br />

Ohneh<strong>in</strong> ist bei der Verwendung geopolitischer Topoi <strong>in</strong> der Internationalen<br />

Politik <strong>die</strong> Gradwanderung zwischen legitimer wissenschaftlicher Analyse<br />

und illegitimem Geopolitismus (Feststellung nationalstaatlich-geopolitischer<br />

Schwäche -- Reduktion <strong>die</strong>ser Schwäche durch Aggression nach außen)<br />

schwer. Auf jeden Fall s<strong>in</strong>d sozialdarw<strong>in</strong>istische Kurzschlüsse (nur der<br />

Stärkere überlebt!) zu vermeiden.<br />

Aber unbestreitbar ist, das z.B. militärische Bündnisse Organisationen im<br />

Raum s<strong>in</strong>d und daß es gerade bei ihnen - wie überhaupt bei der<br />

militärischen Strategie - auf <strong>die</strong> jeweilig besonderen, geographischen<br />

Gegebenheiten ankommt.<br />

155


Siedlungsgeographie aus Wirtschaft<br />

Ökologie<br />

Seit Beg<strong>in</strong>n der 70er Jahre, <strong>in</strong>sbesondere mit der Veröffentlichung der Stu<strong>die</strong><br />

"Grenzen des Wachstums" des Club of Rome Meadows), ist den Menschen<br />

<strong>in</strong> den Industriestaaten bewußt geworden, daß ihr Se<strong>in</strong> naturgebunden ist.<br />

Bisher lebten sie im rationalistischen Wahn der Aufklärung und auch der<br />

Bibel, als sei der Mensch Herr der Natur, <strong>die</strong> er sich untertan machen müsse.<br />

Mit der wachsenden Verschmutzung von Gewässern und Luft - bis h<strong>in</strong> zum<br />

Absterben von Seen und Meeren - sowie <strong>in</strong> den 80er Jahren mit dem<br />

Absterben von Wäldern und mit der Erwärmung der Erdatmosphäre durch<br />

das "Ozonloch" muß Politik dah<strong>in</strong>gehend aktiv werden, daß sie <strong>die</strong><br />

menschlichen E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> <strong>die</strong> natürlichen Prozesse auf e<strong>in</strong> verträgliches Maß<br />

reduziert: Nun bestimmten nicht mehr Politik und Gesellschaft <strong>die</strong> Natur,<br />

sondern Naturprozesse bestimmten Politik und Gesellschaft. Ökologie ist <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong> Lehre e<strong>in</strong>es harmonischen Verhältnisses von Mensch und<br />

Natur, so daß beide nachhaltig und dauerhaft geme<strong>in</strong>schaftlich (über-)leben<br />

können.<br />

Dieses Ziel soll mit Ge- und Verboten, steuerlichen oder sonstigen<br />

f<strong>in</strong>anziellen Anreizen, Lizenzen usw. erreicht werden. (vgl. Hartkopf/Bohne<br />

1983: 86 ff.)<br />

Diese Problemlage ist aber nicht kurzfristig zu lösen, sondern wird noch das<br />

nächste Jahrhundert prägen.<br />

(vgl. Meadows 1972) Unter <strong>die</strong>ser Perspektive wird Humangeographie Teil<br />

e<strong>in</strong>er Jahrhundertaufgabe.<br />

Literatur:<br />

Bökemann, D. 1982: Theorie der Raumplanung. München.<br />

Boesler, K.-A. 1983: Politische Geographie. Stuttgart.<br />

Chamberl<strong>in</strong>, E.H. 1969: The theory of monopolistic competition. Cambridge<br />

Graeber, H. 1979: Die Persistenz von Industrieansiedlungen - theoretische<br />

Überlegungen und empirische Ergebnisse für <strong>die</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland. Bochum.<br />

Hartkopf, G./Bohne, E. 1983: Umweltpolitik, Opladen.<br />

Johnston, R.J. 1981: Political Geography, <strong>in</strong>: Bennett, R.J./Wrigley, N. (eds.),<br />

Quantitative Geography <strong>in</strong> Brita<strong>in</strong>: Review and Prospect. London.<br />

Lösch, A. 1962: Die räumliche Ordnung der Wirtschaft. Stuttgart (3. Aufl.).<br />

156


Mahan, A. T. 1896: Der E<strong>in</strong>fluß der Seemacht auf <strong>die</strong> Geschichte. Berl<strong>in</strong>.<br />

Meadows, D. 1972: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome<br />

zur Lage der Menschheit. Stuttgart.<br />

Maull, O. 1925: Politische Geographie. Berl<strong>in</strong>.<br />

Ratzel, F. 1897: Politische Geographie. München/Leipzig.<br />

Ritter, W. 1993: Allgeme<strong>in</strong>e Wirtschaftsgeographie. München/Wien.<br />

Schöller, P. 1957: Wege und Irrwege der Politischen Geographie und<br />

Geopolitik, <strong>in</strong>: Erdkunde S. 1 - 20<br />

Schrettenbrunner, H. 1992: Geographie. Frankfurt/M..<br />

Thünen, J.H. v. 1966: Der isolierte Handelsstaat <strong>in</strong> Bezug auf Landwirtschaft<br />

und Nationalökonomie. Stuutgart (4. Aufl.).<br />

157


Sozialwissenschaft als Wissenschaft vom und für den<br />

Menschen<br />

Handfestes und Philosophisches zu e<strong>in</strong>er «Wissenschaft der Praxis»<br />

Claudius R. Köster<br />

158<br />

«Sich selbst erkennen, heißt selbst<br />

se<strong>in</strong>, heißt Herr se<strong>in</strong>er selbst<br />

se<strong>in</strong>, sich unterscheiden, aus<br />

dem Chaos heraustreten, heißt<br />

e<strong>in</strong> Element der Ordnung se<strong>in</strong>,<br />

aber der eigenen Ordnung und<br />

der eigenen, e<strong>in</strong>em Ideal<br />

zugewandten Diszipl<strong>in</strong>.»<br />

(ANTONIO GRAMSCI, 1967a)<br />

Als Karl MARX im Frühjahr 1845 se<strong>in</strong>e «Thesen über Feuerbach» mit der<br />

sprichwörtlich gewordenen Aussage beendete «Die Philosophen haben <strong>die</strong><br />

Welt nur verschieden <strong>in</strong>terpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern»<br />

(MEW 3: 7), wußte er nicht, welche Bürde er den Stu<strong>die</strong>renden der<br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong> des 20. Jahrhunderts auflud. Unmittelbar nach der<br />

Aufnahme ihres Studiums werden sich <strong>die</strong>se fragen müssen: Ist der von<br />

MARX e<strong>in</strong>geforderte kritisch-pragmatische Geist angesichts des<br />

Zusammenbruchs des «Mythos vom unbestimmten Fortschritt» (GRAMSCI 1,<br />

§ 76, 144) überhaupt noch gefragt? Ist «kritisches Denken» im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es<br />

«Verändern-Wollens» noch erstrebenswert, wenn Veränderungen mehr der<br />

jeweiligen Logik e<strong>in</strong>e gesellschaftlichen Systems denn dem Willen des<br />

E<strong>in</strong>zelnen unterliegen, darüber h<strong>in</strong>aus systematisch geplant und durchgeführt<br />

werden? 84 Und schauen wir uns <strong>die</strong> Universitäten an: Schon längst s<strong>in</strong>d sie<br />

84 Die Frage zu stellen heißt, sie zu bejahen. Die Gründe dafür kann ich nur <strong>in</strong> Kürze anführen:<br />

Ich erachte es erstens als e<strong>in</strong>e der wesentlichen menschlichen Eigenschaften, Leben<br />

selbstbestimmt zu gestalten und sich nicht irgende<strong>in</strong>er Systemrationalität zu unterwerfen.<br />

Zu <strong>die</strong>ser Selbstbestimmung zählt auch Kreativität, zählt «wildes Denken», zählt<br />

alternatives Planen. Veränderung ist – wie sicherlich auch Bewahrung des Bestehenden –


nicht mehr der Ort, der sie nie waren; noch immer vermitteln sie nicht <strong>die</strong><br />

Befähigung zur verändernden gesellschaftlichen Praxis; schon wieder oder<br />

noch immer ‘fehlt im Lande e<strong>in</strong>e kulturelle Struktur, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong><br />

Universität stützt’. Wohl jedoch s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Hochschulen immer mehr zu Orten<br />

des Sammelns von Leistungsnachweisen und der be<strong>in</strong>ahe strategischen<br />

Prüfungsorganisation geworden; manchem <strong>die</strong>nen sie schlicht als Parkplatz<br />

für <strong>die</strong> Biographie (wenn auch meist nur, um Arbeitslosigkeit zu<br />

vermeiden).<br />

Sie haben nur noch selten e<strong>in</strong>e Funktion als Motor gesellschaftlicher<br />

Veränderung – das liegt zum e<strong>in</strong>en an den durchbürokratisierten<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, mit denen sich <strong>die</strong> motivierten Studiosi bereits im<br />

Vorfeld der Immatrikulation, dem Beitritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> studentische<br />

Solidargeme<strong>in</strong>schaft, konfrontiert sehen. Zum anderen s<strong>in</strong>d es <strong>die</strong> diffusen<br />

Vorstellungen selbst, <strong>die</strong> so manchen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Arme der Alma Mater getrieben<br />

haben: «Ich les’ regelmäßig Zeitung, deswegen will ich Politik stu<strong>die</strong>ren»,<br />

«Ich wußte nicht, was ich stu<strong>die</strong>ren sollte, also mach ich Soziologie», «In<br />

Geschi war ich noch nie schlecht» und «Ich immatrikulier mich für<br />

Philosophie – das macht sich besser im Lebenslauf als ‘arbeitslos’» –darf<br />

man erwarten, daß hieraus der notwendige kritische Geist erwächst, der den<br />

oben beschriebenen Zustand beseitigen hilft?<br />

Wer jetzt aber auf e<strong>in</strong>e großangelegte Nestbeschmutzung wartet, hofft<br />

vergebens. Nehmen wir statt dessen <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>renden <strong>in</strong> den Blick, <strong>die</strong> das<br />

skizzierte Szenario gleichermaßen unbefriedigend empf<strong>in</strong>den. Sie s<strong>in</strong>d der<br />

Adressat der folgenden Ausführungen, denn me<strong>in</strong>es Erachtens steht und<br />

fällt jede Veränderung (sowohl der gesellschaftlichen als auch der<br />

universitären Zustände) mit dem Selbstverständnis der<br />

SozialwissenschaftlerInnen – gerade der heranwachsenden. Deshalb sei <strong>die</strong><br />

Frage erlaubt: Was ist oder kann unsere Profession werden? Was kann man<br />

unter Sozialwissenschaft im Allgeme<strong>in</strong>en und Kritischer Sozialwissenschaft<br />

im Besonderen verstehen?<br />

Zahllose Bücher s<strong>in</strong>d zur Beantwortung <strong>die</strong>ser Fragen geschrieben worden<br />

und zahllose weitere werden <strong>die</strong> Regale der Bibliotheken noch auffüllen.<br />

Niemand wird deshalb hoffentlich erwarten, <strong>in</strong> wenigen Zeilen, schick <strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>en Def<strong>in</strong>itionspäckchen verpackt, hier <strong>die</strong> Antwort geliefert zu<br />

bekommen. Konzentriert man sich auf Wesentliches, so wird man sich aber<br />

wohl darauf e<strong>in</strong>igen können, daß der Gegenstand der <strong>Sozialwissenschaften</strong><br />

eben das «Soziale» ist. Das late<strong>in</strong>isch-französische Wort bezeichnet alle<br />

Bereiche, <strong>in</strong> denen Menschen sich mit anderen Menschen organisieren,<br />

nicht e<strong>in</strong> notwendiges, abzustellendes Übel, sondern e<strong>in</strong> dem Menschen <strong>in</strong>newohnendes<br />

Bedürfnis. Zweitens ist vom Menschen geplante Veränderung – und <strong>die</strong> setzt den Willen<br />

zum kritischen Denken voraus – aus Gründen des Systemerhalts notwendig. Statische<br />

Systeme s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dynamischen Umwelt nur begrenzt überlebensfähig. Zwar s<strong>in</strong>d<br />

Gesellschaften ke<strong>in</strong>e statischen Systeme; ihre Dynamik <strong>in</strong>des alle<strong>in</strong> Emergenzphänomenen<br />

zu überlassen, halte ich für ausgesprochen dysfunktional, ja schädlich und<br />

verantwortungslos.<br />

159


abf<strong>in</strong>den müssen, zusammenkommen, ause<strong>in</strong>andersetzen etc. Wenn wir als<br />

SozialwissenschaftlerInnen also – um nur e<strong>in</strong> Beispiel zu nennen – von<br />

«Gesellschaft» sprechen, dann reden wir nicht von e<strong>in</strong>em autonomen Wesen.<br />

«Gesellschaft» ist nicht etwas, was wir wie e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Körper<br />

beobachten können, dessen nächste Handlung wir mit e<strong>in</strong>er gewissen<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit «vorherzusagen» <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong> mögen. Sondern wir<br />

reden von den endlosen und unterschiedlichsten Beziehungen der Menschen<br />

zue<strong>in</strong>ander. Hannah ARENDT (1993) def<strong>in</strong>ierte Politik e<strong>in</strong>mal als das, was<br />

zwischen den Menschen stattf<strong>in</strong>det. Die SozialwissenschaftlerInnen<br />

betrachten genau <strong>die</strong>ses «zwischen». Das heißt nicht, daß sie stets nur auf<br />

der Ebene des Verhaltens Mensch-zu-Mensch verbleiben (Mikroebene).<br />

Selbstverständlich betrachten sie auch <strong>die</strong> «großen» Entwicklungsl<strong>in</strong>ien, den<br />

Lauf der Welt und der D<strong>in</strong>ge (Makroeben). In beiden Fällen aber s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong> Wissenschaften über <strong>die</strong> Menschen und ihr<br />

Zusammenleben.<br />

Wir wissen allerd<strong>in</strong>gs noch nicht, was Wissenschaft ist. Von der Schule<br />

kommend haben wir allenfalls <strong>die</strong> diffuse Vorstellung, daß Wissenschaft<br />

irgendwie wichtiger, wahrer, wirklicher als unsere eigene Alltags-Erfahrung<br />

ist. Wissenschaft ist differenzierter, reflektierter, komplizierter – und vor<br />

allem ist Wissenschaft alles das, was man nicht versteht ... weil es ja viel zu<br />

schwierig ausgedrückt ist: «Die kognitive Kompetenz des agrikulturellen<br />

Produzenten steht <strong>in</strong> reziproker Kongruenz zum Volumen der Solanum<br />

Tuberosum» ist Wissenschaft, weil schwierig. Daß <strong>die</strong> dümmsten Bauern <strong>die</strong><br />

dicksten Kartoffeln ernten, ist h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong>e B<strong>in</strong>senweisheit, deren<br />

wissenschaftlichen Gehalt wir am besten nicht überprüfen sollten.<br />

So erheiternd das se<strong>in</strong> mag: e<strong>in</strong> wenig Wahrheit ist schon dran. Wissenschaft<br />

be<strong>die</strong>nt sich oftmals e<strong>in</strong>er eigenen, kompliziert ersche<strong>in</strong>enden Sprache. Die<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pro-Sem<strong>in</strong>ar zu Karl POPPER gestellte Frage, was denn als<br />

besonders wichtig an der Lektüre gewesen sei, wurde bezeichnenderweise<br />

mit den Worten beantwortet: «Man konnte den Text verstehen!» Dem jungen<br />

Studenten schien das ungewöhnlich, und deshalb entwickelte er sogleich<br />

e<strong>in</strong>e ambivalente Skepsis gegenüber dem, was er me<strong>in</strong>te verstanden zu<br />

haben. Was so e<strong>in</strong>fach ist, kann doch ke<strong>in</strong>e Wissenschaft se<strong>in</strong> ...<br />

Kann es doch, ist <strong>die</strong> beruhigende Antwort; sicher: WissenschaftlerInnen<br />

produzieren oftmals <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen, manchmal nervenzerrenden Sprache.<br />

Und sie machen das nicht nur, um sich abzusondern, d.h. andere von ihren<br />

Gesprächen auszuschließen. Natürlich <strong>die</strong>nt sie auch dazu – aber das ist ke<strong>in</strong><br />

auf <strong>die</strong> Gelehrten, <strong>die</strong> Scholasten, beschränktes Phänomen: wir f<strong>in</strong>den es<br />

genauso im Fußballvere<strong>in</strong>, bei den Taubenzüchtern oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Partei. Der<br />

Philosoph Friedrich SCHLEIERMACHER beschrieb das mit der ihm eigenen<br />

Sprache des 19. Jahrhunderts, und wir werden sagen können, das se<strong>in</strong>e<br />

Beobachtung heute noch zutreffend ersche<strong>in</strong>t:<br />

160<br />

«Der Sprachkreis, den jeder sich selbst bildet, ist offenbar der<br />

Ausdruck se<strong>in</strong>er Person, das heißt se<strong>in</strong>er eigentümlichen Art, als<br />

Denkender zu se<strong>in</strong>. Je mehr er nun alles <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuziehen


strebt, um desto mehr betrachtet er se<strong>in</strong> Eigentümliches als das Maß<br />

und <strong>die</strong> Ordnung des Denkens überhaupt, oder auch umgekehrt»<br />

SCHLEIERMACHER hält auch nicht zurück mit der Bewertung e<strong>in</strong>es solchen<br />

Verhaltens:<br />

«(...); und <strong>die</strong>s ist das Zeichen e<strong>in</strong>es beschränkten S<strong>in</strong>nes für das<br />

abweichende und ihm fremde Denken.» (SCHLEIERMACHER 1988, S.<br />

132).<br />

Gerade der letzte Teil der profunden Erkenntis des großen Philosophen<br />

sollte uns Mut machen: Wer e<strong>in</strong>en komplexen Sachverhalt nicht allgeme<strong>in</strong><br />

verständlich darlegen kann und den anderen deshalb als <strong>in</strong>kompetent oder<br />

dumm betrachtet, der hat damit <strong>die</strong> Beschränktheit des eigenen Verstandes<br />

bestens unter Beweis gestellt. Ärgerlich wird es nur dann, wenn wir uns mit<br />

SCHLEIERMACHER zwar der Beschränktheit des Denkens unseres Gegenübers<br />

versichert haben, <strong>die</strong>ses Gegenüber aber über Noten und<br />

Leistungsnachweise zu entscheiden hat. Wir s<strong>in</strong>d demnach häufig<br />

gezwungen, «Eigentümliches als das Maß und <strong>die</strong> Ordnung des Denkens»<br />

zu akzeptieren. Gleichwohl sollte es e<strong>in</strong> maßgebliches Kriterium für<br />

Wissenschaftlichkeit se<strong>in</strong>, daß sie bei aller Fachsprache, verstehbar, d.h. lehrund<br />

lernbar, kurz: vermittelbar bleibt.<br />

Wenngleich Sprache <strong>die</strong>ser Forderung zum Trotz oftmals e<strong>in</strong> Dist<strong>in</strong>ktions-,<br />

d.h. Abgrenzungsmerkmal erster Ordnung ist, wollen wir – <strong>in</strong> naivem<br />

Glauben an <strong>die</strong> hehre Offenheit des Wissenschaftssystems – den Blick doch<br />

vorrangig auf e<strong>in</strong> Problem richten, das abseits von damit verbundenen<br />

herrschaftssoziologischen Fragen gleichermaßen <strong>in</strong>teressant ist: Denn<br />

Sprache ist ungenau – das stellen wir immer dann fest, wenn wir uns darüber<br />

streiten, wer wann was wo und wie gesagt oder nicht gesagt hat.<br />

Wissenschaft möchte solche Streitereien so weit wie möglich vermeiden –<br />

was nicht bedeutet, daß sie sich nur zu oft genau an ihnen <strong>die</strong> Zähne<br />

ausbeißt. Ja, es ist sogar so, daß e<strong>in</strong> Großteil der sozialwissenschaftlichen<br />

Dispute nur deshalb «funktioniert», weil dem Anderen permanent etwas<br />

unterstellt wird, was er oder sie tatsächlich aber nie so gesagt oder geme<strong>in</strong>t<br />

hat. Solche Unterstellungen erfüllen dann im günstigsten Fall <strong>die</strong> Funktion<br />

der Legitimation eigener Positionen, im schlechtesten Fall der<br />

Selbtstilisierung oder –aufwertung. Denn wenn man großen Denkern wie<br />

KANT, ROUSSEAU, MARX oder HEGEL nachweisen kann, daß sie sich hier oder<br />

da geirrt haben, dann muß <strong>die</strong> eigene Genialität ja außer Zweifel stehen ...<br />

Sieht man e<strong>in</strong>mal von <strong>die</strong>sen «niederen» Motiven ab, dann gibt es sicherlich<br />

auch Momente, <strong>in</strong> denen man sich ernsthaft darum bemüht, e<strong>in</strong>en<br />

Sachverhalt präzise und für jeden verständlich zu beschreiben. Deshalb<br />

werden für <strong>die</strong>se Sachverhalte Begriffe ersonnen und konventionalisiert, von<br />

denen anzunehmen ist, daß jedermann sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Bedeutung e<strong>in</strong>deutig<br />

verstehen und benutzen kann. In der Mathematik ist <strong>die</strong> Ziffer «1» e<strong>in</strong><br />

solchermaßen def<strong>in</strong>ierter Begriff: Sie bezeichnete lange Zeit e<strong>in</strong>e nicht mehr<br />

teilbare E<strong>in</strong>heit. Hat man sich darauf gee<strong>in</strong>igt, dann lassen sich weitere<br />

161


Aussagen auf dem Boden <strong>die</strong>ser Aussage machen, beispielsweise I + I = II ...<br />

oder auch e=mc 2<br />

. Diese abgeleiteten Aussagen können nun ihrerseits<br />

daraufh<strong>in</strong> überprüft werden, ob sie brauchbar, nützlich, verwertbar etc.<br />

s<strong>in</strong>d. Sie müssen, davon gehen WissenschaftlerInnen aus, stets mit den<br />

gesetzten Voraussetzungen übere<strong>in</strong>stimmen. So entwickelt sich das, was<br />

häufig negativ aufstößt und was <strong>in</strong> unserem Bekanntenkreis vielleicht den<br />

gar nicht so unberechtigt ersche<strong>in</strong>enden Vorwurf laut werden läßt, man rede<br />

doch nur «Fach-Ch<strong>in</strong>esisch». Man stelle sich jedoch vor, was <strong>in</strong> der Physik<br />

passieren würde, wenn statt «Akzelerator» oder «Teilchenbeschleuniger»<br />

gleich <strong>die</strong> ewig lange Def<strong>in</strong>ition «Bezeichnung für Geräte und Anlagen zur<br />

Beschleunigung elektrisch geladener Teilchen auf Energien, <strong>die</strong> m<strong>in</strong>destens 1<br />

MeV betragen, so daß sie Kern- und Elementarteilchenreaktionen auslösen<br />

können» sowie <strong>die</strong> zum Verständnis <strong>die</strong>ser Aussage weiteren notwendigen<br />

Def<strong>in</strong>itionen für «Beschleunigung», «Teilchen». «Elektrizität», «Energie»<br />

etc.pp. angeführt werden müßte. Nichts anderes gilt auch für <strong>die</strong><br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong>, wo der Begriff der «Macht» oder der «Herrschaft»<br />

ebenso voraussetzungsreich ist. 85 Um solche Komplexitäten s<strong>in</strong>nvoll zu<br />

reduzieren, um unsere Kommunikation zu rationalisieren, s<strong>in</strong>d wir folglich<br />

auf Fachbegriffe, auf e<strong>in</strong>e ganze Fachsprache angewiesen.<br />

Damit haben wir bereits zwei Kriterien von Wissenschaftlichkeit benannt,<br />

<strong>die</strong> sich leider oftmals ausschließen, <strong>die</strong> es aber beim eigenen<br />

Forschungsprozeß stets zu berücksichtigen gilt: Vermittelbarkeit und<br />

Fachsprache. Darüber h<strong>in</strong>aus deutete sich gerade e<strong>in</strong> weiteres Merkmal an.<br />

Wissenschaft läßt sich nämlich auch als jenes menschliche Handeln<br />

bezeichnen, das auf <strong>die</strong> Herstellung von brauchbaren, nützlichen,<br />

verwertbaren Aussagen abzielt. Die können allerd<strong>in</strong>gs recht trivial se<strong>in</strong>.<br />

Deshalb erhebt Wissenschaft den Anspruch, daß ihre Aussagen denjenigen<br />

an erfahrbarem und logischem Wahrheitsgehalt überlegen s<strong>in</strong>d, welche<br />

schon mit dem gesunden Menschenverstand formuliert werden könnten<br />

(vgl. PATZELT 1993: 49). Für den bereits genannten Sozialwissenschaftler Karl<br />

R. POPPER wie für e<strong>in</strong>ige Vertreter des Wiener Kreis’ besteht Wissenschaft<br />

darauf aufbauend dar<strong>in</strong>, Sätze oder Systeme von Sätzen/Aussagen<br />

aufzustellen und systematisch zu überprüfen. 86 Dabei dürften <strong>die</strong>se nicht so<br />

85 E<strong>in</strong> Unterschied zu den Naturwissenschaften besteht natürlich dar<strong>in</strong>, daß wir davon<br />

ausgehen, daß zu den Aspekten, <strong>die</strong> unser aller Leben berühren , auch jedeR etwas sagen<br />

kann, wir also allzu oft annehmen, wir könnten getrost auf den « Fachjargon » verzichten.<br />

86 Für M. SCHLICK zeitigt das <strong>die</strong> Konsequenz: «Die Aufgabe der Wissenschaft als Mittel,<br />

richtige Voraussagen zu machen, ist mit der tatsächlichen Beobachtung, <strong>die</strong> man macht,<br />

erledigt, und das ist das absolut Sichere, worauf sich <strong>die</strong> Frage nach nicht mehr<br />

Bezweifelbarem richten kann.» (1986: 126) – Wissenschaft besteht für Schlick also dar i n,<br />

« Protokollsätze » (protokollarisch bei Beobachtungen und Experimenten<br />

festgehaltene Sätze) aufzustellen, <strong>die</strong> empraktisch, d.h. durch Versuche, nicht mehr<br />

widerlegt werden können; auf <strong>die</strong> mit e<strong>in</strong>er solchen Position verbundenen Probleme<br />

werden wir noch zu sprechen kommen.<br />

162


aufgebaut se<strong>in</strong>, daß ihre Widerlegung formallogisch 87 unmöglich ist.<br />

Vielmehr lebe Wissenschaft dadurch, daß <strong>die</strong> von ihr produzierten<br />

Ergebnisse beständig verbessert oder widerlegt werden können<br />

(Fallibilitätstheorem). Die Methode der Wissenschaft besteht für POPPER dar<strong>in</strong>,<br />

daß man sich nach Tatsachen umsieht, <strong>die</strong> zur Widerlegung der Theorie<br />

<strong>die</strong>nen können (vgl. 1992: 305). Dadurch könne sie sich immer mehr an <strong>die</strong><br />

eigentlichen Wahrheiten annähern.<br />

Niklas LUHMANN, der <strong>in</strong> Deutschland wohl bekannteste lebende Soziologe,<br />

hat daran kritisiert, daß man, wenn man Wissenschaft schon <strong>die</strong> Aufgabe<br />

zuschreibe, sich an Wahrheit anzunähern, <strong>die</strong>s nicht (wie POPPER) im<br />

naturwissenschaftlichen S<strong>in</strong>ne als permanente und zielgerichtete<br />

Akkumulation, also Ansammlung von Wissen verstehen dürfe. LUHMANN<br />

wendet sich gegen e<strong>in</strong> solches Verständnis von Wissenschaft und<br />

Wissenschaftsdynamik, daß über trial-and-error-Verfahren Fortschritt<br />

begründet sehen will. Zwar könne man <strong>in</strong> der Physik stets auf den e<strong>in</strong>mal<br />

gemachten Erkenntnissen neue Erkenntnisse basieren, und e<strong>in</strong>mal als<br />

überholt Betrachtetes wird dort <strong>in</strong> aller Regel nicht wieder <strong>in</strong> den<br />

Forschungsprozess e<strong>in</strong>bezogen, doch verhält es sich <strong>in</strong> den<br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong> ganz anders. Niemand käme also auf den Gedanken,<br />

<strong>die</strong> Schwerkraft als physikalische Größe beim Hausbau grundsätzlich <strong>in</strong><br />

Frage zu stellen; allenfalls lassen sich <strong>die</strong>se Aussagen präzisieren und<br />

verfe<strong>in</strong>ern. Grundlegend redigiert werden sie <strong>in</strong> aller Regel nicht mehr<br />

(sehen wir e<strong>in</strong>mal vom GÖDEL’schen Unvollständigkeitspostulat ab). In den<br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong> sieht das anders aus; da kann auch e<strong>in</strong> antiker Denker<br />

oder mittelalterlicher Philosoph, Menschen also, deren <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Leistungen man lange als überholt angesehen hatte, noch Erkenntnisse bereit<br />

halten, <strong>die</strong> zur Lösung gegenwärtiger Probleme hilfreich s<strong>in</strong>d: <strong>die</strong> Lektüre<br />

e<strong>in</strong>es Nikolaus von CUES (1401-1464) kann beispielsweise als philosophische<br />

Ergänzung e<strong>in</strong>es neurophysiologisch begründeten Konstruktivimus sehr<br />

erhellend se<strong>in</strong>. LUHMANN folgert deshalb für <strong>die</strong> <strong>Sozialwissenschaften</strong> ganz<br />

richtig:<br />

«Jedenfalls geht es nicht um Wahrheitsgew<strong>in</strong>ne der Art, daß das,<br />

was vorher für wahr gehalten wurde, nunmehr als unwahr zu gelten<br />

hat. Die Evolution von Wissenschaft vollzieht sich kaum irgendwo <strong>in</strong><br />

der Form der e<strong>in</strong>fachen Substitution des positiven Wahrheitswertes<br />

für den negativen.» (LUHMANN 1995: 109)<br />

Die <strong>Sozialwissenschaften</strong> entwickelt sich demnach «evolutionär», nicht<br />

«akkumulativ».<br />

In den Augen derjenigen, <strong>die</strong> entgegen Karl R. POPPER glauben, daß<br />

Wissenschaft sich der Wahrheit nicht nur nähert, sondern sie ganz klar<br />

beschreiben und handfest machen kann, ist das allerd<strong>in</strong>gs Häresie. Hier<br />

87 Als formallogisch richtig bezeichnet man <strong>die</strong>jenigen Aussagen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige,<br />

notwendige und unter gleichen Bed<strong>in</strong>gungen wiederholbare, somit <strong>in</strong>tersubjketiv<br />

überprüfbare Schlußfolgerung darstellen.<br />

163


esteht man statt dessen darauf, daß sie das «sich ständig entwickelnde<br />

System der Erkenntnisse über <strong>die</strong> wesentlichen Eigenschaften, kausalen<br />

Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und<br />

des Denkens, das <strong>in</strong> der Form von Begriffen, Kategorien,<br />

Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert wird»<br />

(KLAUS/BUHR 1972: 1169), darstellt. Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist<br />

danach <strong>die</strong> Widerspiegelung und Übere<strong>in</strong>stimmung von Aussage und der<br />

beobachtbaren Wirklichkeit, dem sogenannten «positiv Gegebenen» (wie es<br />

der französische Philosoph Auguste COMTE formulierte). Es wird davon<br />

ausgegangen, daß alle natürlichen und kultürlichen Ereignisse kausal<br />

mite<strong>in</strong>ander verknüpft s<strong>in</strong>d und man nur <strong>die</strong>se Kausalität aufdecken müsse,<br />

um <strong>die</strong> Welt nicht nur erklären, sondern auch beherrschen zu können. 88 Als<br />

e<strong>in</strong>e Generation, <strong>die</strong> mit «Jurassic Park» sozialisiert worden ist, wissen wir<br />

spätestens seit der Darstellung der Chaos-Theorie anhand e<strong>in</strong>es <strong>die</strong> Hand <strong>in</strong><br />

immer unterschiedlicher Weise herunterr<strong>in</strong>nenden Wassertropfens, daß es<br />

mit solchen «Kausalitäten» nicht allzu weit her ist (vgl. dazu<br />

MATURANA/VARELA 1984: 119). Gar menschliches Verhalten nur <strong>in</strong> rational<br />

faßbaren «Ursächlichkeiten» verstehen zu wollen, muß uns bereits aufgrund<br />

unserer eigenen Alltagserfahrung unmöglich ersche<strong>in</strong>en: Immer wieder<br />

stellen wir fest, daß wir gefühlsmäßig, <strong>in</strong>tuitiv, im Affekt handeln – also<br />

überhaupt nicht rational und logisch oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutig kausalen<br />

Zusammenhängen. Und schließlich wird man sich fragen, was «kausal»<br />

heißen soll. Wenn darunter zu verstehen ist, daß alle Faktoren, <strong>die</strong> auf e<strong>in</strong><br />

Geschehen E<strong>in</strong>fluß haben, berücksichtigt werden müssen, dann stoßen wir<br />

damit ganz schnell an <strong>die</strong> Grenzen des Machbaren: Wir müßten nicht nur<br />

das gegenwärtig, sondern auch das <strong>in</strong> der Vergangenheit Beobachtbare zur<br />

Erklärung sozialen Handelns heranziehen. Und wer sich e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> der<br />

Physik, <strong>in</strong>sbesondere der Quantentheorie und der eng mit ihr verbundenen<br />

HEISENBERG’schen Unschärferelation, auskennt, der weiß, daß es Bereiche<br />

gibt, <strong>die</strong> der menschlichen Beobachtung unzugänglich s<strong>in</strong>d – und daß <strong>die</strong>se<br />

Bereiche den weitaus größeren und – und physikalisch wesentlicheren – Teil<br />

«der» Wirklichkeit ausmachen. Wie aber können wir das alles dann <strong>in</strong><br />

unsere Überlegungen e<strong>in</strong>beziehen? – Ganz zu schweigen von moralischen<br />

Problemen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e solche determ<strong>in</strong>istische Position mit sich br<strong>in</strong>gt: Wer<br />

wäre noch <strong>in</strong> der Lage, für se<strong>in</strong> Handeln <strong>die</strong> Verantwortung zu übernehmen,<br />

wenn alles kausal erklärbar und damit auch bestimmbar ist?<br />

Dennoch: Die Vertreter aller hier vorgestellten Zugangsweisen stimmen<br />

sicherlich und richtig dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, daß sie als Kriterium für<br />

Wissenschaftlichkeit <strong>die</strong> Möglichkeit zur Überprüfung der Aussagen durch<br />

andere benennen. Das heißt: E<strong>in</strong>e Aussage wird dann für wahr und bewährt<br />

88 Zur «Ehrenrettung» des (breit gefächerten) Positivismus sei jedoch angemerkt, daß<br />

<strong>in</strong>sbesondere im Wiener Kreis, der sich größtenteils als positivistisch verstand, <strong>die</strong>ses<br />

Problem differenzierter diskutiert wurde, und Moritz SCHLICK beispielsweise zu dem Schluß<br />

kommen konnte: «Wenn man <strong>die</strong> Wissenschaft als System auffaßt, das aus irgendwie<br />

fixierten Sätzen besteht, so f<strong>in</strong>det man <strong>in</strong>nerhalb <strong>die</strong>ser so gedachten Wissenschaft ke<strong>in</strong>e<br />

Sätze, deren Gültigkeit man absolut feststellen kann.» (SCHLICK 1986: 124)<br />

164


erachtet, wenn andere sie durch ihre Erfahrungswirklichkeit bestätigen<br />

können. Dieses Wissenschafts-Kriterium wird «Intersubjektivität» genannt.<br />

Das heiß zugleich, daß <strong>die</strong> Rückb<strong>in</strong>dung an <strong>die</strong> beobachtbare Wirklichkeit<br />

ebenso erforderlich ist wie <strong>die</strong> «logische Str<strong>in</strong>genz» der Beweisführung, <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>deutigkeit der Sprache, <strong>die</strong> Möglichkeit der Widerlegung durch Verweis<br />

auf andere Erfahrungen. Denn wer von uns würde e<strong>in</strong>e Aussage zustimmen,<br />

<strong>die</strong> den genannten Erfordernissen nicht entspräche? Wer würde also <strong>die</strong><br />

Existenz e<strong>in</strong>es Yetis für wissenschaftlich gesichert annehmen, wenn mir <strong>die</strong><br />

Möglichkeit verwehrt bleibt, mich mit eigenen Augen von <strong>die</strong>ser zu<br />

überzeugen? – WissenschaftlerInnen s<strong>in</strong>d folglich stets wie der «ungläubige<br />

Thomas» aus dem Johannesevangelium: Sie «glauben» nur, was sie sehen<br />

und erfahren können.<br />

Doch «Intersubjektivität» bedeutet mehr. Sie setzt – und das ist besonders<br />

wichtig – voraus, daß alles Wissen <strong>in</strong> der Wissenschaft methodengeleitet<br />

entstanden ist. Die WissenschaftlerInnen setzten sich also nicht an den<br />

Schreibtisch und denken sich irgend etwas weltbewegend Wichtiges (wie <strong>die</strong><br />

Existenz besagten Yetis) aus. Das mag es zwar geben und das mag auch im<br />

E<strong>in</strong>zelfall gute Ergebnisse zeitigen; gleichwohl ist es aber wohl eher <strong>die</strong><br />

Ausnahme. Statt dessen vertrauen WissenschaftlerInnen nicht alle<strong>in</strong> auf <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>gebung, sondern legen dar, wie, d.h. mit welchen Mitteln man bei der<br />

Bearbeitung e<strong>in</strong>es Problems vorzugehen gedenkt. Und normalerweise sollte<br />

man darüberh<strong>in</strong>aus begründen können, warum das bearbeitete Problem<br />

überhaupt e<strong>in</strong> Problem ist bzw. wor<strong>in</strong> <strong>die</strong> Notwendigkeit se<strong>in</strong>er Bearbeitung<br />

besteht. Siegfried J. Schmidt formulierte es so, daß<br />

«wissenschaftstheoretische Entscheidungen aus ihren<br />

gesellschaftspolitischen Zielvorgaben» (SCHMIDT 1987: 64) abgeleitet s<strong>in</strong>d.<br />

H<strong>in</strong>ter der Bearbeitung von Problemen stehen folglich stets bestimmte<br />

Interessen; sie gilt es deutlich zu machen. Es ist nämlich e<strong>in</strong> Leichtes,<br />

beispielsweise <strong>die</strong> Benutzerhäufigkeit e<strong>in</strong>er bestimmten Parkbank <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

e<strong>in</strong>ladenden Stadtpark zu untersuchen: Wir würden dazu unsere Methoden<br />

darlegen müssen, d.h.. aufschreiben, daß wir e<strong>in</strong>e oder mehrere Kameras<br />

postieren, <strong>die</strong> den gesamten Park bzw. alle Parkbänke überblicken; und<br />

dann erheben wir durch Zählung, wie oft jede von ihnen benutzt wird. Auf<br />

<strong>die</strong> Frage, wem denn bitte schön <strong>die</strong>se Untersuchung <strong>die</strong>nen soll, werden<br />

wir aber sehr schnell merken, daß wir unsere Frage zwar wissenschaftlich<br />

bearbeiten können, sie aber für Gesellschaft ziemlich un<strong>in</strong>teressant ist. Wir<br />

sollten bei unserer Arbeit als WissenschaftlerInnen deshalb stets <strong>die</strong><br />

folgenden Fragen berücksichtigen:<br />

«Wor<strong>in</strong> liegt nun aber der Nutzen e<strong>in</strong>er solchen Tätigkeit? Welchen<br />

Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten können wir durch ihre<br />

Ausführungen erwarten? Und vor allem: Welche ontologischen 89<br />

89 «Ontologie» heißt wörtlich <strong>die</strong> «Se<strong>in</strong>slehre». G. RUSCH me<strong>in</strong>t hier, daß Wissenschaft auch<br />

dem Bedürfnissen nachkommen kann, Aussagen über D<strong>in</strong>ge zu machen, <strong>die</strong> nicht<br />

unmittelbar beobachtbar s<strong>in</strong>d, z.B. Glück, Liebe oder Gerechtigkeit.<br />

165


166<br />

Vorstellungen und welches operationale Wissen 90 stellen <strong>die</strong> (...)<br />

Wissenschaftler der sozialen Geme<strong>in</strong>schaft, von der sie bezahlt<br />

werden, zur Verfügung?» (RUSCH 1987: 386)<br />

An unserem Beispiel läßt sich zugleich deutlich machen, daß bestimmte<br />

Fragestellungen bestimmte Methoden erfordern. Nicht jedes Problem läßt<br />

sich mit der gleichen Verfahrensweise bearbeiten. Die WissenschaftlerInnen<br />

müssen also stets darauf achten, daß <strong>die</strong> Art und Weise der Erhebung von<br />

Datenmaterial (Zählung, Interview, Lesen, Grübeln etc.) angemessen ist. Für<br />

<strong>die</strong> Parkbank-Frage e<strong>in</strong>en Berg von Büchern zu lesen, <strong>die</strong> sich mit der<br />

Geschichte des Ausruhens und Pausieren vom Mittelalter bis zur frühen<br />

Neuzeit befassen, wird wenig S<strong>in</strong>n machen. Gesetzt den Fall, wir haben den<br />

Auftrag, <strong>die</strong> Parkbank-Frage zu beantworten, um herauszuf<strong>in</strong>den, welche<br />

Sitzgelegenheit aufgrund erhöhten Gebrauchs wahrsche<strong>in</strong>lich als nächstes<br />

zu ersetzen ist, dann brauchen wir uns um <strong>die</strong> Relevanz der Frage zunächst<br />

nicht mehr zu kümmern; wir müssen aber unsere Methode verfe<strong>in</strong>ern. Denn<br />

jetzt ist nicht mehr nur <strong>die</strong> mittlere Benutzerhäufigkeit wichtig, sondern ...<br />

und hier wäre <strong>die</strong> Phantasie der Forschenden gefragt.<br />

Es ist nun unschwer vorstellbar, daß e<strong>in</strong> solches Wissenschaftsverständnis<br />

nur begrenzt dazu <strong>in</strong> der Lage ist, der e<strong>in</strong>gangs gestellten Forderung<br />

nachzukommen. Es entzaubert und entthront zwar zunächst e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong><br />

Institution «Wissenschaft», macht sie jedoch zu e<strong>in</strong>em «Taylorsystem»<br />

<strong>in</strong>tellektueller Masch<strong>in</strong>en. D.h.: Unabhängig von der gesellschaftlichen<br />

Bedeutung wird <strong>in</strong>tellektuelles Kapital fließbandartig e<strong>in</strong>gesetzt; der<br />

s<strong>in</strong>nhafte Bezug des Wissenschaftlers zu se<strong>in</strong>er Arbeit geht verloren. Mit<br />

e<strong>in</strong>em solchen Selbstverständnis unterscheiden sich WissenschaftlerInnen<br />

nur noch graduell von Otto-Normal-BürgerInnen und ihrem bewährten<br />

Common-Sense-Wissen: Sie s<strong>in</strong>d zwar methodisch versierter, <strong>in</strong> der<br />

Fähigkeit zur Reflexion oftmals kompetenter und bei der Generierung ihres<br />

Wissens professioneller. Doch <strong>die</strong>se graduellen Unterschiede lassen sich mit<br />

gar nicht so unberechtigten E<strong>in</strong>wänden wie den folgenden ganz schnell<br />

e<strong>in</strong>dampfen: «Erfahrungen machen wir alle und wer sich nur mit mir auf<br />

me<strong>in</strong>en Weg macht, d.h. me<strong>in</strong>e Methoden akzeptiert, wird doch e<strong>in</strong>sehen<br />

müssen, daß <strong>die</strong> Welt so und nicht anders ist», «Auf wessen Logik soll ich<br />

mich e<strong>in</strong>lassen, wessen Sprache sprechen? Außerdem gibt es doch etliche<br />

WissenschaftlerInnen, <strong>die</strong> sich gegenseitig widersprechen und vorwerfen,<br />

unwissenschaftlich zu se<strong>in</strong> – wem also soll man glauben?», «Die Probleme,<br />

<strong>die</strong> WissenschaftlerInnen zu solchen erklären, haben für mich überhaupt<br />

ke<strong>in</strong>e erkennbare Bedeutung.» usw. Gerade der letztgenannte E<strong>in</strong>wand kann<br />

e<strong>in</strong>en gewissen Realitätsbezug nicht leugnen; bei manchen Dissertationsund<br />

Habilitationsvorhaben – wir er<strong>in</strong>nern uns an LESSINGS «Jungen<br />

Gelehrten» und <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> «Monaden des Pythagoras <strong>die</strong> Atomi des<br />

Moschus gewesen» – runzelt man ob solcher «Problemesoterik» schon<br />

90 Mit der Forderung nach «operationalem Wissen» versucht der Autor sicherzustellen, daß<br />

bei der Erörterung ontologischer Vorstellungen nicht der Bezug zu den sozialen<br />

Wirklichkeiten verloren geht.


irritiert <strong>die</strong> Stirn: «Die Bedeutung des ostjüdischen Friseurswesen <strong>in</strong> West-<br />

Gallizien zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter besonderer<br />

Berücksichtigung des Herren-Fassonschnittes».<br />

Dieser Kritik möchte ich e<strong>in</strong>en wesentlichen Aspekt h<strong>in</strong>zufügen: Wer<br />

Wissenschaft so versteht wie <strong>die</strong> eben zitierten Männer (!), der trägt dazu<br />

bei, daß mit Wissenschaft <strong>die</strong> Wirklichkeiten – auf e<strong>in</strong>er sprachlich und<br />

methodisch vielleicht sehr anspruchsvollen Ebene – nur beschrieben<br />

werden. Wirklichkeiten werden, so e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong> erhobener Vorwurf,<br />

lediglich «verdoppelt». Ich halte <strong>die</strong>sen Vorwurf nicht für falsch und denke,<br />

daß Wissenschaften mehr se<strong>in</strong> sollten als e<strong>in</strong>e solche Verdoppelung. Stellen<br />

wir uns e<strong>in</strong>mal vor, Ingenieure und Elektrotechniker, Physiker und Biologen<br />

würden sich darauf beschränken, Wirklichkeiten zu beobachten. Gäbe es<br />

dann technischen Fortschritt? Was wären <strong>die</strong> Mediz<strong>in</strong>erInnen wert, <strong>die</strong><br />

Krankheiten nur beobachten und nicht <strong>die</strong> Absicht haben, sie zu bewältigen?<br />

Warum richten wir teuere Forschungszentren für Mikroelektronik e<strong>in</strong>, wenn<br />

wir nicht erwarten können, daß <strong>die</strong> dort arbeitenden WissenschaftlerInnen<br />

an e<strong>in</strong>er Optimierung unserer Personalcomputer-Technik arbeiten? Und<br />

warum sollte das nicht auch für <strong>die</strong> <strong>Sozialwissenschaften</strong> gelten?<br />

Wenn Wissenschaft also den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt,<br />

dann muß sie kritisch se<strong>in</strong>. D.h., daß <strong>die</strong> <strong>Sozialwissenschaften</strong> das<br />

Bestehende, <strong>die</strong> Gesellschaft, kritisieren müssen. «Kritisieren» heißt dabei<br />

zunächst e<strong>in</strong>mal nicht, daß sie <strong>die</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse für<br />

«schlecht» zu bef<strong>in</strong>den hat; gleichwohl müssen sie für verbesserungswürdig<br />

erachtet werden (und sei es, daß <strong>die</strong> Verbesserung im Zweifel auch e<strong>in</strong>mal<br />

dar<strong>in</strong> bestehen kann, das Bestehende zu stärken): Als Kritische<br />

WissenschaftlerInnen bedarf es folglich der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem<br />

Gegenstand der Beobachtung und mit sich selbst als Beobachtenden – im<br />

Bewußtse<strong>in</strong> und mit dem Willen, den Beobachtungsgegenstand und damit<br />

sich selbst zu verändern.<br />

«Der Verzicht der Soziologie auf e<strong>in</strong>e kritische Theorie der<br />

Gesellschaft ist resignativ, man wagt das Ganze nicht mehr zu<br />

denken, weil man daran verzweifeln muß, es zu verändern» (ADORNO<br />

1989: 142).<br />

Ganz zu recht hat P. JANICH darauf aufbauend selbst gegen EINSTEINS<br />

revolutionäre Relativitätstheorie (und damit gegen <strong>die</strong> Naturwissenschaften<br />

im Allgeme<strong>in</strong>en) e<strong>in</strong>gewandt:, daß EINSTEIN auf halbem Weg<br />

«steckengeblieben» sei; er habe e<strong>in</strong> «pragmatisches Defizit» gehabt, denn:<br />

«Se<strong>in</strong> 'Beobachter' besteht nur aus e<strong>in</strong>em Meßgerät, etwa e<strong>in</strong>er Uhr,<br />

und e<strong>in</strong>er Daten-Registrier- und -Speicher-Masch<strong>in</strong>e. Er ist nicht etwa<br />

e<strong>in</strong> Mensch, e<strong>in</strong> nach Zwecken handelnder Physiker. Insofern<br />

entgehen der relativistischen Physik <strong>die</strong> normativen<br />

Funktionskriterien für Konstruktionen und Verwendungen von<br />

Meßgeräten. Die sogenannte operationalistische Revolution der<br />

Physik durch A. E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> bleibt empiristisch naiv.» (1992: 36)<br />

167


Und so wie Wissenschaft sich selbst als Teil gesellschaftlicher Veränderung<br />

begreift, kann sie der Forderung Karl MARX’ entsprechen, Welt nicht nur zu<br />

<strong>in</strong>terpretieren, sondern zu gestalten. Und ich lasse zunächst bewußt offen,<br />

wie Welt gestaltet werden kann (oder soll).<br />

Wissenschaft kann darüber h<strong>in</strong>aus noch viel mehr: Sie kann dem –<br />

wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen – Menschen<br />

168<br />

«zu dem Bewußtse<strong>in</strong> verhelfen, daß alles Handeln und natürlich<br />

auch, je nach den Umständen, das Nicht-Handeln, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Konsequenzen e<strong>in</strong>e Parte<strong>in</strong>ahme zugunsten bestimmter Werte<br />

bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird –<br />

regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen, ist se<strong>in</strong>e Sache»<br />

(WEBER 1992: 188).<br />

Damit nehmen WissenschaftlerInnen Abstand von der Behauptung, daß sie<br />

<strong>die</strong> Probleme der Welt lösen können. Wenn das überhaupt jemand kann,<br />

dann nicht e<strong>in</strong>zelne Menschen, sondern nur <strong>die</strong> Menschen geme<strong>in</strong>sam. Wohl<br />

aber wird Wissenschaft darauf verpflichtet, nach Lösungsmöglichkeiten zu<br />

suchen. Am bedeutsamsten ist jedoch, daß <strong>die</strong> Kritischen<br />

SozialwissenschaftlerInnen davon ausgehen, daß <strong>die</strong> Veränderung der Welt<br />

<strong>in</strong> dem Maße und <strong>in</strong> der Weise geschehen muß, daß <strong>die</strong> E<strong>in</strong>zelnen zum<br />

selbständigen, aufgeklärten Handeln befähigt werden. Ganz zu recht hat S.J.<br />

SCHMIDT bemerkt:<br />

«Die Frage, welche Kriterien und Werte für wissenschaftliches<br />

Handeln man akzeptiert, kann nicht abgetrennt werden von der<br />

Frage, welche Werte man auch <strong>in</strong> anderen sozialen<br />

Handlungssystemen (Kunst, Politik, Ökonomie usw.) verfolgt. Erst<br />

aus <strong>die</strong>sen gesellschaftspolitischen Zielvorgaben lassen sich Kriterien<br />

für wissenschaftliches Handeln ableiten.»<br />

Und im Anschluß an <strong>die</strong>se grundlegende Feststellung präzisierte er, legte<br />

fest, welche Werte politisch anzustreben seien:<br />

«Angestrebt wird Aufklärung im S<strong>in</strong>ne der Fähigkeit von Kritik und<br />

Selbstkritik, Selbstverantwortlichkeit und Rationalität; Solidarität als<br />

Reduktion der Herrschaft von Menschen über Menschen, als<br />

Reduktion von Wissens- und Wahrheitsterrorismus; Kooperativität als<br />

konfliktreduzierendes Interagieren und geme<strong>in</strong>sames Problemlösen.»<br />

(SCHMIDT 1987: 64)<br />

Sozialwissenschaft soll demnach den Menschen befähigen und unterstützen,<br />

sich aus se<strong>in</strong>er selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien zu können, wie<br />

KANT es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em berühmten Aufsatz zur Frage «Was ist Aufklärung?»<br />

niederlegte. Diese Selbständigkeit ist dabei nicht Selbstzweck: Sie steht, wie<br />

Schmidt zu recht betont, unter dem Diktum der Solidarität. Individuelle<br />

Freiheit, <strong>die</strong> als bloße Realisierung des Eigennutzes gesehen wird, ist für <strong>die</strong><br />

Kritischen SozialwissenschaftlerInnen ke<strong>in</strong> anzustrebendes Ideal. Der<br />

selbstbestimmte und aufgeklärte Mensch bedarf <strong>in</strong> ihren Augen der


permanenten Rückb<strong>in</strong>dung an den anderen Menschen. Man mag dazu den<br />

Kategorischen Imperativ bemühen oder auf <strong>die</strong> griechische Philosophie<br />

verweisen, <strong>die</strong> den Menschen als zoon politicon, als gesellschaftliches Wesen<br />

verstand. Man kann auf <strong>die</strong> anarchistischen Traditionsl<strong>in</strong>ien oder auf das<br />

christliche Menschenbild zurückgreifen. Man mag im kontemplativen Zen,<br />

im Sozialkonservativismus, im wissenschaftlichen Sozialismus oder <strong>in</strong><br />

irgende<strong>in</strong>er anderen auf das selbstbestimmte Individuum ausgerichteten<br />

Weltanschauung <strong>die</strong> Grundlage für <strong>die</strong>se Form kritischer Sozialwissenschaft<br />

f<strong>in</strong>den.<br />

Man mag <strong>die</strong>sen Ansatz als «normativistisch», d.h. zu stark von<br />

<strong>in</strong>dividuellen Werten geleitet geißeln. Doch selbst e<strong>in</strong>e empirisch reflektierte<br />

Wissenschaft fordert mittlerweile «e<strong>in</strong>e zum<strong>in</strong>dest partielle Explikation<br />

wissenschaftspolitischer, gesellschaftspolitischer, moralischer, ästhetischer<br />

usw. Voraussetzungen» (SCHMIDT 1990: 24), weil sie darum weiß, daß sich<br />

auch <strong>die</strong> WissenschaftlerInnen – eben aufgrund der gerade benannten<br />

Wissenschaftskriterien – nicht von «der Gesellschaft» lösen können. Sie s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> den gleichen Prozeß e<strong>in</strong>gebunden wie <strong>die</strong> Individuen, <strong>die</strong> ihren<br />

Gegenstandsbereich ausmachen und müssen sich deshalb ihrem<br />

'Gegenstandsbereich' ugehörig z denken. (vgl. HEJL 1987: 304;<br />

MATURANA/VARELA 1984) Denkschulen und wissenschaftliche Strömungen,<br />

<strong>die</strong> mit <strong>die</strong>sem kritischen Wissenschaftsverständnis brechen, trifft deshalb<br />

dann zu recht das Verdikt des «positivistisch halbierten Rationalismus»<br />

(HABERMAS), der «<strong>in</strong>strumentellen Vernunft» (HORKHEIMER). M.a.W.: Gegen<br />

sie richtet sich der Vorwurf, Vernunft nur wie e<strong>in</strong> Werkzeug zu gebrauchen<br />

und sie nicht mit der Frage zu konfrontieren, wofür denn <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e an<br />

der man bastelt, tauglich ist oder welche Risiken ihr E<strong>in</strong>satz vielleicht birgt.<br />

Sicher: Auch bei <strong>die</strong>ser Tätigkeit f<strong>in</strong>den nach wie vor «wissenschaftliche<br />

Methoden» Anwendung und es ist bestimmt falsch, den Forschern<br />

<strong>die</strong>sbezüglich <strong>die</strong> Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Doch stellt es e<strong>in</strong>e<br />

Entfremdung der Diszipl<strong>in</strong> dar, wenn der Praxisbezug von Wissenschaft<br />

nicht gesehen werden will, man sich vor der Verantwortung für das<br />

Erarbeitete scheut, oder glaubt, man agiere als Wissenschaftler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

wertfreien Raum. Das heißt nicht, daß Wissenschaft zwangsläufig<br />

«Ideologie» ist oder se<strong>in</strong> muß. Ganz im Gegenteil: Mit A. GRAMSCI läßt sich<br />

formulieren, daß jedwede Instrumentalisierung von Theorie und<br />

Wissenschaft, d.h. deren Unterordnung unter pragmatisch-tagespolitische<br />

Zweckorientiertheit nicht als Kriterium von Wissenschaftlichkeit angesehen<br />

werden darf. Es kann nicht <strong>die</strong> Politik <strong>in</strong> Bonn se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> bestimmt, was<br />

wissenschaftlich ist (vgl. NEUBERT 1991: 9). Bereits Karl MARX polemisierte<br />

heftigst gegen e<strong>in</strong>e solche Form parteiischer Inanspruchnahme von<br />

Wissenschaft:<br />

«E<strong>in</strong>en Menschen aber, der <strong>die</strong> Wissenschaft e<strong>in</strong>em nicht aus ihr<br />

selbst (wie irrtümlich sie immer se<strong>in</strong> mag), sondern von außen, ihr<br />

fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu<br />

akkomo<strong>die</strong>ren sucht, nenne ich 'geme<strong>in</strong>'.» (MEW 26.2: 112)<br />

169


Indes: Die Welt und <strong>die</strong> Wissenschaft hat sich verändert. Wissenschaft ist im<br />

20. Jahrhundert nicht mehr auf der Suche nach Wahrheit, wie das im 19.<br />

Jahrhundert noch e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit war – auch für den sich se<strong>in</strong>er<br />

historischen Kont<strong>in</strong>genz bewußten Marx.<br />

Heute muß sich <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>die</strong> Zweckfrage gefallen lassen, ja muß sie<br />

sogar selber stellen und möglichst beantworten können. Gramsci hat das<br />

bereits <strong>in</strong> den 30er Jahren erkannt und problematisierte <strong>die</strong> Dialektik von<br />

Zweckgebundenheit und politischer Instrumentalisierung:<br />

170<br />

«Wenn es wahr ist, daß der Mensch nur als geschichtlich bestimmt<br />

begriffen werden kann, daß heißt, daß er sich unter gewissen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen entwickelt hat, und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

gesellschaftlichen Komplex oder Ensemble gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse lebt, ist dann Soziologie lediglich als Studium <strong>die</strong>ser<br />

Bed<strong>in</strong>gungen und der ihre Entwicklung regelnde Gesetze zu<br />

begreifen? Da vom Willen und der Inititiave der Menschen selbst<br />

nicht zu abstrahieren ist, kann <strong>die</strong>se Auffassung nur falsch se<strong>in</strong>. Ist <strong>die</strong><br />

Wissenschaft selbst nicht e<strong>in</strong>e 'politische Tätigkeit' und politisches<br />

Denken, weil sie <strong>die</strong> Menschen verändert, sie verschieden macht von<br />

dem, was sie zuvor waren? (...) Ist <strong>die</strong> Wissenschaft Entdeckung von<br />

zuvor unbekannter Wirklichkeit, wird sie dann nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

gewissen S<strong>in</strong>ne als transzendent begriffen? Und denkt man nicht, daß<br />

es noch etwas 'Unbekanntes' und demzufolge Transzendentes gibt?<br />

Bedeutet dann das Konzept der Wissenschaft als e<strong>in</strong>er 'Schöpfung'<br />

nicht soviel wie 'Politik'?» GRAMSCI ( 1967: 354f.)<br />

Wissenschaft ist damit also politisch <strong>in</strong>sofern, als sie Neues schafft, entdeckt,<br />

vorantreibt, verh<strong>in</strong>dert. Dar<strong>in</strong> kann sie ihre Legitimation erfahren. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus wird zum Ausdruck gebracht, daß es eben nicht fixe<br />

«Problemstellungen gibt, <strong>die</strong> für alle gesellschaftlichen Gruppen<br />

oder für alle Zeiten relevant wären. Vielmehr b<strong>in</strong> ich der Ansicht, daß<br />

solche Probleme nur relativ zu bestimmten gesellschaftlichen<br />

Gruppen und Gesellschaftszuständen als relevant plausibel gemacht<br />

werden können und ke<strong>in</strong>eswegs ‘naturwüchsig’ s<strong>in</strong>d.» (SCHMIDT 1990:<br />

21)<br />

In der heutigen Wissenschaftstheorie, d.h. der Wissenschaft darüber, was<br />

Wissenschaft ist, besteht über den Kern <strong>die</strong>ser Aussage weitgehend Konsens.<br />

Der französische Jesuit Michel de CERTEAU kann deshalb auch vorschlagen,<br />

<strong>die</strong> <strong>Sozialwissenschaften</strong> dadurch von den «exakten», d.h.<br />

Naturwissenschaften abzugrenzen, <strong>in</strong>dem man differenziert nach Möglichem<br />

und Grenze. Während der Ingenieur daran <strong>in</strong>teressiert ist, <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es<br />

gesetzten Rahmens zu arbeiten, muß der Sozialwissenschaftler enge<br />

Gegenstandsbereiche verlassen und versuchen, dem Möglichen Geltung zu<br />

verleihen. E<strong>in</strong>e sozialwissenschaftliche Arbeit kann demnach dann als<br />

«wissenschaftlich» bezeichnet werden, «wenn sie e<strong>in</strong>e Neuverteilung des<br />

Raumes vornimmt» (CERTEAU 1991: 96), neue Grenzen setzt und alte


überw<strong>in</strong>det, das heißt, wenn sie es sich «zur Aufgabe setzt, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Gegenwart e<strong>in</strong>e Vernunft zu konstruieren.» (ebd.: 16) Und wenn <strong>die</strong>se<br />

Vernunft am selbstbestimmten Individuum orientiert ist, dann wird man<br />

bestimmt nicht mehr so e<strong>in</strong>fach für <strong>die</strong> oben bestimmte Zielbestimmung von<br />

Sozialwissenschaft <strong>die</strong> pejorative Charakterisierung als «ideologisch»<br />

vornehmen.<br />

Nachdem wir solchermaßen grob klären konnten, was unter Wissenschaft<br />

(Verständlichkeit, Fachsprache, Überprüfbarkeit, methodengeleitetes<br />

Vorgehen, Reflektion der Relevanz von Wissenschaft) verstanden werden<br />

kann, wollen wir uns nun systematischer ansehen, wie WissenschaftlerInnen<br />

arbeiten. Was s<strong>in</strong>d also <strong>die</strong> notwendigen Schritte, <strong>die</strong> es zu machen gilt, ehe<br />

man sich und se<strong>in</strong>e Arbeit mit dem Titel «wissenschaftlich» adeln sollte.<br />

Oder anders: Was ist das grundlegende Handwerkszeug der<br />

WissenschaftlerInnen?<br />

Dazu wollen wir zunächst e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Konsequenzen des Vorangegangenen<br />

erörtern: Wir haben gesehen, daß e<strong>in</strong>e Sozialwissenschaft, <strong>die</strong> sich als<br />

«kritisch» versteht, nicht zu e<strong>in</strong>em beobachtenden Werkzeug machen lassen<br />

darf. Sozialwissenschaft ist nicht nur Wissenschaft vom Menschen, sie ist<br />

auch Wissenschaft für den Menschen. Dieser Anspruch ist jedoch<br />

unvermeidbarer- und notwendigerweise e<strong>in</strong> von außen an <strong>die</strong> Institution<br />

«Wissenschaft» herangetragener. Er ist es <strong>in</strong>sofern, als <strong>die</strong> Funktion des<br />

Wissenschaftssystem für e<strong>in</strong>deutig bestimmt erachtet wird und Wissenschaft<br />

sich <strong>die</strong>ser Funktionsbestimmung zu beugen hat. Sehr schnell unterliegt<br />

derjenige, der e<strong>in</strong>e solche Bestimmung vornimmt, deshalb dem Verdikt,<br />

«ideologisch» zu se<strong>in</strong>. Wissenschaft, so wird dann argumentiert, dürfe nicht<br />

festgelegt werden durch <strong>die</strong> Beantwortung der Frage, wozu sie <strong>die</strong>ne, weil<br />

eben damit ihre kritische Offenheit gefährdet werde. E<strong>in</strong>e solche Haltung ist<br />

angesichts der immer häufiger zu beobachtenden betriebswirtschaftlichen<br />

Bewertung auch von Bildungs<strong>in</strong>stitutionen als realitätsfremdes<br />

Elfenbe<strong>in</strong>turm-«Vazälleken» anzusehen. Wir können es uns zudem<br />

verantwortungsethisch nicht mehr leisten, e<strong>in</strong>fach «drauf los zu forschern»,<br />

ohne uns <strong>die</strong> Frage zu stellen, welche möglicherweise fatalen Folgen <strong>die</strong><br />

Ergebnisse unsere Forschung zeitigen mögen. Andererseits sollte<br />

Wissenschaft nicht unnötig und mit vielleicht fragwürdigen politischen<br />

171


Annahmen e<strong>in</strong>geschränkt werden; es bedarf also e<strong>in</strong>es Kompromisses<br />

zwischen e<strong>in</strong>em laisez-faire und anyth<strong>in</strong>g goes e<strong>in</strong>erseits, e<strong>in</strong>er ebenso<br />

verantwortungslosen Festschreibung von Wissenschaft auf bestimmte<br />

Inhalte andererseits. E<strong>in</strong> solcher Kompromiss ist das mit dem Kriterium der<br />

Relevanz bereits angedeutete, aus erkenntnistheoretischen Gründen<br />

zw<strong>in</strong>gend notwendige Befragen der eigenen Interessen im Prozeß<br />

Wissenschaft.<br />

<strong>Jürgen</strong> HABERMAS legte 1965 e<strong>in</strong>en Aufsatz unter dem Titel «Erkenntnis und<br />

Interesse» (vgl. HABERMAS 1969) vor und entwickelte <strong>die</strong> dar<strong>in</strong> enthaltenen<br />

Gedanken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em 1977 erschienen Fragment «Objektivismus <strong>in</strong> den<br />

<strong>Sozialwissenschaften</strong>» (HABERMAS 1985) weiter, um sie schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

großen «Theorie kommunikativen Handelns» (HABERMAS 1981)<br />

zusammenzufassen. Die Kernaussage <strong>die</strong>ser langen wissenschaftlichen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Problem, ob wir uns irgendwelchen<br />

Sachverhalten wertfrei nähern können, blieb dabei stets <strong>die</strong> gleiche.<br />

HABERMAS argumentiert, daß wir, wenn wir e<strong>in</strong>en Sachverhalt beobachten,<br />

beschreiben oder beurteilen, <strong>die</strong>s nie ohne den E<strong>in</strong>fluß unserer<br />

Vorannahmen und Interessen machen können. Diese Aussage ist<br />

e<strong>in</strong>leuchtend: Wer will schon von sich behaupten, irgende<strong>in</strong>er Beschäftigung<br />

nachzugehen, ohne <strong>die</strong>ser positiv oder negativ gegenüber e<strong>in</strong>gestellt zu<br />

se<strong>in</strong>? Und für <strong>die</strong>se positive oder negative E<strong>in</strong>stellung s<strong>in</strong>d Annahmen über<br />

<strong>die</strong> Art oder den Gegenstand der Beschäftigung grundlegend. Wenn wir<br />

beispielsweise über den millionenfachen Mord zur Zeit des<br />

Nationalsozialismus reden, dann machen wir das vor dem H<strong>in</strong>tergrund, daß<br />

wir <strong>die</strong>sen als grausam und menschenverachtend ansehen. Doch so klar<br />

<strong>die</strong>se Aussage ersche<strong>in</strong>t: Spätestens wenn wir uns auf e<strong>in</strong>em Gebiet zum<br />

Fachmann gemacht haben und Unmengen an Daten zusammengetragen<br />

haben, dann <strong>die</strong>nen uns <strong>die</strong>se letztlich doch als Indiz für Neutralität und<br />

Objektivität. Und grundsätzlich besteht – man mag das zu recht kritisieren –<br />

e<strong>in</strong> enger Zusammengang zwischen Quantität der Daten und dem Anspruch<br />

auf Qualität der Aussagen der Forschenden. Grundsätzlich müssen wir aber<br />

darüber im Klaren se<strong>in</strong>, daß unser Anspruch auf Neutralität und<br />

Objektivität, daß das Zusammentragen von Daten e<strong>in</strong>e notwendige und<br />

nützliche Fiktion ist, aber e<strong>in</strong>e Fiktion eben.<br />

Denn: Wir beschäftigen uns allerd<strong>in</strong>gs nicht ständig mit Ereignissen, <strong>die</strong><br />

moralisch so e<strong>in</strong>deutig beurteilt werden können wie der millionenfache<br />

Mord an den europäischen Juden. Die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den<br />

Theorien e<strong>in</strong>es großen Philosophen oder <strong>die</strong> Erstellung e<strong>in</strong>es Gutachtens<br />

über <strong>die</strong> Möglichkeiten der Demokratisierung von Wirtschaftsunternehmen<br />

lassen oftmals <strong>die</strong> klaren L<strong>in</strong>ien moralischer Bewertung verwischen.<br />

HABERMAS g<strong>in</strong>g es auch weniger um <strong>die</strong>se moralische Bewertung. Statt<br />

dessen sei es so, daß wir, wenn wir etwas «verstehen» wollen, dem<br />

Gesagten, dem Verhalten oder als Situation Gegebenen unsererseits stets<br />

e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n geben müssen. E<strong>in</strong> Text oder e<strong>in</strong> Sachverhalt hat ke<strong>in</strong>e klare,<br />

e<strong>in</strong>deutige Aussage – auch wenn unsere Deutschlehrer uns das bei den<br />

zahlreichen Interpretationen auf leidvolle Art und Weise immer wieder<br />

172


Glauben machen wollten. Vielmehr konstruieren wir S<strong>in</strong>n, <strong>in</strong>dem wir<br />

Aussagen oder Sachverhalten ihren S<strong>in</strong>n zuschreiben (vgl. dazu SCHMIDT<br />

1991; 1994). Wir reagieren auf sie so, wie es für uns «s<strong>in</strong>nvoll» ersche<strong>in</strong>t. Das<br />

ist auch der Grund, warum wir uns manchmal streiten: Dann stand nämlich<br />

unsere Wahrnehmung und S<strong>in</strong>nzuschreibung, unsere Interpretation e<strong>in</strong>es<br />

Sachverhaltes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Widerspruch zu der e<strong>in</strong>es anderen<br />

Menschen, daß <strong>die</strong>s zu e<strong>in</strong>em Konflikt führte.<br />

Und <strong>in</strong> der Wissenschaft verhält es sich ähnlich. Bereits beim Wahrnehmen<br />

des Gegenstandes, den wir untersuchen wollen, treten wir an <strong>die</strong>sen heran<br />

mit S<strong>in</strong>nzuschreibungen (vgl. HEJL 1987; MATURANA/VARELA 1984). Wir<br />

müssen ihm sogar e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zuschreiben, denn wenn er «s<strong>in</strong>nlos» wäre,<br />

was wollten wir dann mit ihm anfangen (vgl. WEBER 1988a)? Und eben <strong>die</strong>se<br />

S<strong>in</strong>nzuschreibung ist nicht wertfrei. Sie ist <strong>in</strong>teressengeleitet. Aufgabe<br />

seriöser WissenschaftlerInnen ist es deshalb, offenzulegen, welchen S<strong>in</strong>n sie<br />

e<strong>in</strong>em Sachverhalt zuschreiben und warum sie das machen. So wird<br />

vielleicht der aufklärerische Marxist e<strong>in</strong> Interesse an der Emanzipation des<br />

E<strong>in</strong>zelnen haben, der Christ an dessen Seelenheil oder moralischen<br />

Vervollkommnung und der Konservative an dem Erhalt von<br />

gesellschaftlichen Solidar-Hierarchien. Sie alle werden SCHILLERS «Räuber»<br />

oder MACHIVELLS «Il Pr<strong>in</strong>cipe» jeweils ganz anders lesen.<br />

Das heißt nicht, daß alles «Ideologie» im S<strong>in</strong>ne von Verfälschung von<br />

Wahrheit ist. Wohl aber heißt es, sich <strong>in</strong> hohem Maße bewußt zu se<strong>in</strong>, daß<br />

man selber nicht neutral und objektiv ist, daß man Interessen und<br />

Wertvorstellungen hat und daß es – wie der Kritische Rationalist Imre<br />

LAKATOS es e<strong>in</strong>mal ausdrückte – e<strong>in</strong> Ausweis <strong>in</strong>tellektueller Redlichkeit ist,<br />

<strong>die</strong>se Interessen und Wertvorstellungen auch offenzulegen. Beim Autokauf<br />

s<strong>in</strong>d wir doch auch froh darüber, wenn uns der Verkäufer zu verstehen gibt,<br />

daß er hier ke<strong>in</strong>en günstigen niegelnagelneuen Rolls Royce, sondern e<strong>in</strong>en<br />

fünfzehnjährigen VW Käfer mit 280.000 Kilometern schlicht und ergreifend<br />

schnell los werden möchte.<br />

Wissenschaft ist ke<strong>in</strong> Autoverkauf; allerd<strong>in</strong>gs haben wir auch hier – nicht<br />

zuletzt um glaubwürdig zu bleiben – <strong>die</strong> Verpflichtung, alles uns Bekannte<br />

(auch das, was vielleicht nicht so recht unseren Interessen entspricht) dem<br />

anderen mitzuteilen. Wir haben – wie gezeigt – zu erklären, was unser<br />

«erkenntnisleitendes Interesse» (HABERMAS 1969) ist, d.h. warum wir uns mit<br />

e<strong>in</strong>er Sache ause<strong>in</strong>andersetzen und mit welchen Vorannahmen wir das<br />

machen. Darüber h<strong>in</strong>aus haben wir deutlich zu machen, woher wir unsere<br />

Informationen haben. So hat der Autoverkäufer <strong>die</strong> Möglichkeit, auf den<br />

Vorbesitzer zu verweisen und zu erklären: «Der Wagen hatte e<strong>in</strong>en<br />

Unfallschaden.» In der Wissenschaft macht man auch Angaben über<br />

«Vorbesitzer», und zwar immer dann, wenn wir e<strong>in</strong>e Aussage verwenden,<br />

<strong>die</strong> nicht wir, sondern e<strong>in</strong> anderer heller Kopf ersonnen hat. Man nennt <strong>die</strong>se<br />

Angaben dann «Verweis» oder «Zitat». Sie werden <strong>in</strong> den Text e<strong>in</strong>gearbeitet,<br />

<strong>in</strong>dem man <strong>in</strong> Klammern den Namen des «Vorbesitzers» sowie Jahr und<br />

Verlagsort nennt, an denen er <strong>die</strong> Aussage gemacht hat (so sagte es<br />

173


zum<strong>in</strong>dest me<strong>in</strong> Freund I. KANT am 15.3.1997 <strong>in</strong> der Mensa der Uni Siegen).<br />

Es gibt endlos viele Möglichkeiten, <strong>die</strong>se Form des Verweisens zu<br />

praktizieren: Man kann sich auf e<strong>in</strong>e Kurzform, <strong>die</strong> sogenannte Harvard-<br />

Zitierweise beschränken (wie ich es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Text mache), man kann aber<br />

auch über e<strong>in</strong>e Fußnote ausführlich auf e<strong>in</strong>e Information oder Erkenntnis<br />

e<strong>in</strong>es anderen h<strong>in</strong>weisen. 91<br />

Entgegen der Situation beim Autoverkauf unternimmt der Wissenschaftler<br />

<strong>die</strong>se Verweise allerd<strong>in</strong>gs nicht, um nachher sagen zu können: «Da kann ich<br />

nichts dafür, daß me<strong>in</strong>e Ergebnisse nicht stimmen. Der PLATON hat nämlich<br />

gesagt ...» – Und weil PLATON ja bekanntlich nicht mehr so e<strong>in</strong>fach zur<br />

Rechenschaft gezogen werden kann, wäre man mit allen Fisimatenten fe<strong>in</strong><br />

raus. Die Gründe für <strong>die</strong>ses sogenannte «Zitieren» s<strong>in</strong>d andere: Erstens<br />

wollen wir Dritten ermöglichen, unsere Belesenheit zu würdigen. Zweitens<br />

wollen wir ihnen für bestimmte Aussagen nicht <strong>in</strong> epischer Breite erklären,<br />

warum und weshalb wir das so und nicht anders sehen und sagen deshalb:<br />

«Schau’ doch mal hier und dort re<strong>in</strong>. Da steht das ausführlicher.» Drittens<br />

schließlich wollen wir uns bei aller Intelligenz, <strong>die</strong> wir unter Beweis stellen<br />

möchten, nicht nachsagen lassen, das wir Ideen geklaut haben. So etwas<br />

nennt man im bereits kritisierten Fachjargon dann e<strong>in</strong> «Plagiat».<br />

Natürlich macht es sich ganz toll, wenn ich <strong>in</strong> großer Geste verkünde, daß<br />

der Mensch nach denjenigen Maximen handeln solle, von denen er<br />

annehmen kann, daß sie zugleich allgeme<strong>in</strong>es Gesetz werden. Es wird aber<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich nicht lange dauern, bis ich unsanft darauf h<strong>in</strong>gewiesen<br />

91 Hier unten steht dann also oftmals der ganz genaue «Fundort», also das Buch<br />

oder der Aufsatz besagten anderen klugen Kopfes (vgl.: ALEMANN, Ulrich von &<br />

Erich FORNDRAN 4 1990: Methodik der Politikwissenschaft. E<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong><br />

Arbeitstechnik und Forschungspraxis. Stuttgart et al.: Kohlhammer, S. 141f.f.).<br />

Man nennt <strong>die</strong>sen Bereich e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Arbeit auch «Fußnote».<br />

Logischerweise bef<strong>in</strong>det sich dann ganz oben am Beg<strong>in</strong>n der Seite <strong>die</strong> Kopfzeile.<br />

Dorth<strong>in</strong> kann man den Titel der Arbeit, <strong>die</strong> jeweilige Kapitelüberschrift, <strong>die</strong><br />

Initialien, <strong>die</strong> Seitenzahlen oder sonst irgendwelche nützlichen D<strong>in</strong>ge setzen. Und<br />

obwohl bei Büchern bekanntermaßen auch vom Buchrücken gesprochen wird,<br />

reden wir doch nur von «Seitenrändern» (und nicht Seitenarmen – <strong>die</strong> mäandern<br />

nur bei Flüssen). Diese sollten bei wissenschaftlichen Hausarbeiten etwas breiter<br />

se<strong>in</strong> (zwischen vier und sechs Zentimetern), weil es durchaus vorkommt, daß der<br />

korrekturlesende Dozent auch noch etwas weiß, und er das gerne dokumentieren<br />

möchte.<br />

174<br />

Zitieren wir aus dem selben Buch mehrmals h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander, möchten aber auf<br />

unterschiedliche Seiten verweisen, so brauchen wir nicht stets <strong>die</strong> gesamte<br />

bibliographische Angabe zu wiederholen. Es reicht, wenn wir mit der Abkürzung<br />

«a.a.O.» (am angegebenen Ort) und der Seitenangabe <strong>die</strong> referierte Stelle<br />

bezeichnen. Verweisen wir h<strong>in</strong>gegen auf exakt <strong>die</strong> gleiche Seite des gerade<br />

zitierten Buches, so verweisenwir unter Verwendung der Abkürzung «ebd.» oder<br />

«ibid.» (beides steht für «ebenda») darauf. Enthält e<strong>in</strong> Buch oder e<strong>in</strong> Aufsatz den<br />

gleichen Gedanken mehrfach oder wird mehrfach auf e<strong>in</strong>en ähnlichen<br />

Sachverhalt h<strong>in</strong>gewiesen, so muß nicht jede <strong>die</strong>ser Seiten zitiert werden. Es<br />

genügt der genaue Titel und der Zusatz «passim», d.h. «r<strong>in</strong>gsumher», also:<br />

überall im zitierten Buch oder Aufsatz.


werde, daß <strong>die</strong>se Weisheit weniger auf Sauerländer Mist, als vielmehr <strong>in</strong><br />

Königsberger Stu<strong>die</strong>rstuben ersonnen worden ist.<br />

Es wird sich doch aber – so möchten wir e<strong>in</strong>wenden – nicht immer<br />

vermeiden lassen, daß wir e<strong>in</strong>en Gedanken haben, von dem wir dann<br />

irgendwann feststellen, daß ihn – wie bei Hase und Igel – bereits jemand<br />

anderes gedacht hat. Das ist besonders ärgerlich; denn wenn wir das nicht<br />

durch Zufall entdeckt hätten, dann hätten wir ruhigen Gewissens den<br />

ganzen Sermon als Ausfluß der eigenen grauen Zellen verkaufen können;<br />

nun aber müssen wir – redlich wie wir s<strong>in</strong>d – niederlegen, daß jemand vor<br />

uns ... Man könnte deshalb ja schlicht darauf verzichten, irgend etwas zu<br />

lesen – dann würde man zwar vielleicht nicht der Weisheit letzten Schluß<br />

produzieren, hätte jedoch <strong>die</strong> (verme<strong>in</strong>tliche) Gewißheit, nur Ware aus erster<br />

Hand anzubieten. Solch e<strong>in</strong> Diogenes-Dase<strong>in</strong> ist aber langweilig – schließlich<br />

gibt es viel Interessantes und Wichtiges zu wissen. Außerdem versperren<br />

wir uns den Zugang zum klugen Blick anderer, <strong>die</strong> der Lösung e<strong>in</strong>es<br />

Problems vielleicht viel näher s<strong>in</strong>d als wir selber. Wie lösen wir dann aber<br />

das geschilderte Problem? Nun: In der Wissenschaft unterscheidet man<br />

zwischen dem direkten Zitat und der Paraphrase. Das direkte Zitat ist<br />

gekennzeichnet dadurch, daß wir es <strong>in</strong> Anführungszeichen setzen und<br />

wortwörtlich, ohne textliche Veränderungen übernehmen. Bei ganz<br />

zentralen Aussagen, <strong>die</strong> anders auch nur schlecht formuliert werden<br />

können, ist <strong>die</strong>se Form angebracht. Und wir verweisen – wie gesagt –<br />

natürlich darauf, woher wir <strong>die</strong>ses Zitat haben, damit Dritte es nachprüfen<br />

können. Darüber h<strong>in</strong>aus kennt <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>die</strong> sogenannte Paraphrase,<br />

das <strong>in</strong>direkte Zitieren. Wenn wir also auf e<strong>in</strong>en Gedanken stoßen, der uns<br />

bei der Beantwortung unserer Frage weiterhilft, aber nicht so bedeutsam ist,<br />

daß wir ihn 1:1 übernehmen müssen, dann drücken wir den Sachverhalt <strong>in</strong><br />

eigenen Worten aus. Die Anführungszeichen können wir uns dann sparen,<br />

nicht jedoch den genauen Verweis auf das Buch oder den Aufsatz, dem wir<br />

<strong>die</strong>sen Gedanken entnommen haben. Und weil wir annehmen, daß unsere<br />

Formulierung das ausdrückt, was wir mit ihr sagen wollen, braucht der<br />

Leser sich eigentlich nicht mehr <strong>die</strong> Mühe zu machen, <strong>die</strong> Quelle der<br />

Aussage aufzustöbern. Dennoch sollten wir ihm <strong>die</strong> Möglichkeit dazu geben.<br />

Deshalb kennzeichnen wir das <strong>in</strong>direkte Zitat mit dem Zusatz «vgl.» oder<br />

«cf.» vor der Fußnote oder dem Literaturh<strong>in</strong>weis – beides bedeutet: Diesen<br />

Gedankengang kann man so oder so ähnlich auch bei Peter, Paul oder Mary<br />

lesen.<br />

Unser oben beschriebenes Problem mit Hase und Igel lösen wir auf <strong>die</strong><br />

gleiche Art und Weise. Wenn der Herr Kant halt schon vor zweihundert<br />

Jahren im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens ersonnen hat, was ich mir <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

vierundzwanzigjährigen Erdendase<strong>in</strong> mühsam erarbeitet habe, dann<br />

verweise ich ebenfalls mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en «vgl.» auf <strong>die</strong>sen großen Menschen.<br />

Zitieren ist jedoch nur e<strong>in</strong>e Möglichkeit unter vielen, <strong>die</strong> Überprüfbarkeit für<br />

Dritte, <strong>die</strong> sogenannte «Intersubjektivität», herzustellen. E<strong>in</strong>e weitere besteht<br />

dar<strong>in</strong>, <strong>die</strong> zugrundegelegte Methode und ihren Erklärungsgehalt deutlich zu<br />

175


machen. Das heißt umgekehrt, daß e<strong>in</strong>e Methode im e<strong>in</strong>en Fall e<strong>in</strong>en hohen,<br />

im anderen nur e<strong>in</strong>en sehr ger<strong>in</strong>gen Erklärungsgehalt hat. Rufen wir uns <strong>die</strong><br />

Parkbank-Frage <strong>in</strong>s Gedächtnis zurück, so kann das bedeuten: Da Lesen<br />

vieler Bücher und das Zusammentragen von Informationen über den<br />

kulturellen Bedeutungswandel des Pausierens mag e<strong>in</strong>e gute Methode ...<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht für <strong>die</strong> Lösung des Problems, welche Parkbank aufgrund<br />

der Benutzerfrequenz als nächstes ausgetauscht werden muß.<br />

E<strong>in</strong>e Methode und ihren Erklärungsgehlt deutlich zu machen heißt darüber<br />

h<strong>in</strong>aus, daß jede Methode auf ihre Schlüssigkeit h<strong>in</strong> überprüft werden muß.<br />

Die Wissenschaft hat dafür e<strong>in</strong>e eigene Diszipl<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Lehre von den<br />

Methoden («Methodologie»), entwickelt. Will ich also etwas über <strong>die</strong><br />

antisemtische E<strong>in</strong>stellung <strong>in</strong> der Bevölkerung erfahren, so kann ich<br />

stichprobenartige Befragungen durchführen. Ich gehe also <strong>in</strong> den nächsten<br />

Hörsaal und frage vor Beg<strong>in</strong>n der Veranstaltung: «Wer von den hier<br />

anwesenden 400 Stu<strong>die</strong>renden ist Anti-Semit?» – Me<strong>in</strong> Ergebnis, daß<br />

aufgrund <strong>die</strong>ser Stichprobe man davon ausgehen kann, daß es <strong>in</strong><br />

Deutschland 0% Anti-Semiten gibt, wird aber von kaum e<strong>in</strong>em<br />

Wissenschaftler, Politiker oder <strong>in</strong>formiertem Zeitungsleser ernst genommen<br />

werden. E<strong>in</strong>e angewandte Methode, <strong>in</strong> der das Instrument der Befragung<br />

zum E<strong>in</strong>satz kommt, muß also erstens den Gebrauch des Instrumentes<br />

umfassend reflektieren. Und sie muß zweitens <strong>die</strong> Schlüsse, <strong>die</strong> aus dem<br />

Gebrauch <strong>die</strong>ses Instrumentes resultieren, kritisch würdigen. Habe ich mich<br />

solchermaßen gegen mögliche E<strong>in</strong>wände abgesichert, dann darf ich darauf<br />

hoffen, daß mir <strong>die</strong> Kollegen der Zunft Anerkennung und Respekt zollen,<br />

me<strong>in</strong>e Ergebnisse also ernst genommen werden.<br />

Bei Beobachtungen menschlicher Verhaltensweisen fällt es allerd<strong>in</strong>gs oftmals<br />

schwer, überhaupt bis zu <strong>die</strong>sem Punkt zu kommen. Die komplexen und<br />

zum Teil widersprüchlichen Wirklichkeiten lassen sich nicht <strong>in</strong> irgendwelche<br />

e<strong>in</strong>fachen Denkmuster verpacken. Max WEBER hat deshalb den sogenannten<br />

«Idealtypus» entwickelt, von dem er sagt, daß <strong>die</strong>ser nicht Realitäten<br />

widerspiegelt, sondern nur e<strong>in</strong>e Annäherung an <strong>die</strong>se se<strong>in</strong> soll. WEBER<br />

schreibt:<br />

176<br />

«Er ist e<strong>in</strong> Gedankenbild, welches nicht <strong>die</strong> historische Wirklichkeit<br />

oder gar <strong>die</strong> ‘eigentliche’ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger<br />

dazu da ist, als e<strong>in</strong> Schema zu <strong>die</strong>nen, <strong>in</strong> welches <strong>die</strong> Wirklichkeit als<br />

Exemplar e<strong>in</strong>geordnet werden sollte, sondern welches <strong>die</strong> Bedeutung<br />

e<strong>in</strong>es re<strong>in</strong> idealen Grenzbegriffs hat, an welchem <strong>die</strong> Wirklichkeit zur<br />

Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres<br />

empirischen Gehalts gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche<br />

Begriffe s<strong>in</strong>d Gebilde, <strong>in</strong> welchen wir Zusammenhänge unter<br />

Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren,<br />

<strong>die</strong> unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als<br />

Adäquat beurteilt» (WEBER 1988: 194).<br />

Damit berücksichtigt der Soziologe <strong>die</strong> Tatsache, daß es etliche Fälle geben<br />

wird, <strong>in</strong> denen <strong>die</strong> Realität mit <strong>die</strong>sem Idealtypus nicht übere<strong>in</strong>stimmt.


Dennoch macht es S<strong>in</strong>n, zur Erklärung des weitaus größten Teils der<br />

beobachtbaren Wirklichkeit solche Idealtypen zu entwickeln. Dazu müssen<br />

<strong>die</strong> Idealtypen «operationalisierbar» se<strong>in</strong>. Das heißt, sie müssen Merkmale<br />

enthalten, <strong>die</strong> wir beobachten können und <strong>die</strong> <strong>in</strong>tersubjektiv überprüfbar<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Was kann das für <strong>die</strong> wissenschaftliche Praxis bedeuten? Wendet man das<br />

Gesagte an und versucht Idealtypen zu bilden, so könnte das beispielsweise<br />

wie folgt aussehen:<br />

1. Merkmal: Wissenschaft zeichnet sich u.a. dadurch aus, daß sie, um<br />

Intersubjektivität herzustellen, ihre Ergebnisse veröffentlicht. Die Anzahl<br />

der Veröffentlichungen muß erhoben werden, um Typen von<br />

«WissenschaftlerInnen» zu entwickeln.<br />

2. Prämisse: Die Ergebnisse guter WissenschaftlerInnen werden oft zitiert.<br />

Die Häufigkeit des Zitierens von WissenschaftlerInnen muß erhoben<br />

werden, um Aussagen über <strong>die</strong> Qualität der WissenschaftlerInnen zu<br />

machen.<br />

Wir kommen vor <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergrund dann vielleicht zu e<strong>in</strong>em Ergebnis,<br />

das sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Matrix darstellen läßt (Wissenschaftler stellen gerne etwas<br />

<strong>in</strong> Matrizen dar; das erhöht <strong>die</strong> Überprüfbarkeit und verleiht dem Werk<br />

e<strong>in</strong>en naturwissenschaftlichen Touch):<br />

Oft zitiert<br />

Wenig zitiert<br />

Große Anzahl von<br />

Veröffentlichungen<br />

(A) DER VIELZITIERTE<br />

(«Guru», «Weiser», Marx, Weber,<br />

Nietzsche, Köster (vielleicht))<br />

Hoher Bekanntheitsgrad/Hohe<br />

Reputation<br />

(B) DER TINTENLASSER<br />

(«Seicher», «Vielschreiber»,<br />

«Wichtigtuer», ...)<br />

Hoher Bekanntheitsgrad/Ke<strong>in</strong>e<br />

Reputation<br />

Ger<strong>in</strong>ge Anzahl von<br />

Veröffentlichungen<br />

(C) DAS PHÄNOMEN<br />

(«Exot», «E<strong>in</strong>tagsfliege», «Genie»,<br />

Wittgenste<strong>in</strong>, Jesus)<br />

Hoher Bekanntheitsgrad/Ger<strong>in</strong>gere<br />

Reputation<br />

(D) DER NORMALFALL<br />

(«Rest»)<br />

Ger<strong>in</strong>ger Bekanntheitsgrad/Ger<strong>in</strong>ge<br />

Reputation<br />

Für <strong>die</strong>se vor dem H<strong>in</strong>tergrund festgelegter Merkmale und der Darlegung<br />

unserer Interessen gebildeten Typen können wir dann weitere, verfe<strong>in</strong>erte<br />

Typen ers<strong>in</strong>nen oder wir machen uns Gedanken darüber, wie wir bestimmte<br />

Typen für ihre Arbeitsweise mehr oder weniger belobigen wollen: Viel Geld<br />

für den Typus (A), etwas weniger für (B), noch weniger für (C) und das<br />

177


Existenzm<strong>in</strong>imum für (D)... Genau darüber s<strong>in</strong>nieren ja gerade <strong>die</strong><br />

Hochschulrektorenkonferenz und <strong>die</strong> BildungspolitikerInnen; sie haben als<br />

weiteren Typen den sich um se<strong>in</strong>e StudentInnen kümmernden und <strong>die</strong>se<br />

vernachlässigenden WissenschaftlerInnen, den Drittmittel akquirierenden,<br />

den viele und den wenige Examensarbeiten betreuenden, den auf se<strong>in</strong>e<br />

Veranstaltungen gut oder schlecht vorbereiteten, den mäßig oder häufig<br />

besuchten, den männlichen oder weiblichen etc.pp. Wissenschaftler. – Alle<br />

<strong>die</strong>se Typen haben geme<strong>in</strong>, daß sie nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Teil der zahlreichen<br />

Wirklichkeiten zu erfassen versuchen. Und sie haben geme<strong>in</strong>, daß sie noch<br />

das vermissen lassen, was wir zu Beg<strong>in</strong>n als grundlegendes Prüfkriterium<br />

für Wissenschaft bezeichnet haben: Das kritische Moment. Denn bislang<br />

haben wir lediglich auf der Grundlage e<strong>in</strong>er Wertung e<strong>in</strong>e Beobachtung<br />

angestellt. Natürlich kann bereits <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Wertung schon das e<strong>in</strong>geforderte<br />

kritische Moment liegen. Doch würde damit übersehen, daß zwischen<br />

Werthaltung und erhobenen Daten bislang e<strong>in</strong> sehr e<strong>in</strong>seitiges Verhältnis<br />

liegt. Mit anderen Worten: Me<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung zu e<strong>in</strong>em Sachverhalt läßt<br />

mich zu e<strong>in</strong>em bestimmten Ergebnis kommen. Wenn ich aber Rückschlüsse<br />

von <strong>die</strong>sen Ergebnissen auf den Sachverhalt erwarte, wenn mir <strong>die</strong><br />

Ergebnisse also sagen sollen, ob <strong>die</strong>ser oder jener Mißstand im Sachverhalt<br />

abgestellt, <strong>die</strong>ses oder jenes positive Moment verstärkt werden kann, wenn<br />

ich also von me<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Sache etwas «haben»<br />

möchte (und <strong>die</strong>ses «etwas» auch anderen gerne zur Verfügung stellen will,<br />

vielleicht sogar <strong>die</strong> Verpflichtung dazu habe, denn der e<strong>in</strong>e oder andere<br />

kann mit me<strong>in</strong>en Daten ja vielleicht überhaupt nichts anfangen), dann muß<br />

ich <strong>die</strong> Daten <strong>in</strong>terpretieren. Ich muß sie ordnen und kategorisieren, muß<br />

Zusammenhänge erstellen und erklären. Kurz: Ich muß den Daten e<strong>in</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n geben.<br />

Die Art des zugeschriebenen S<strong>in</strong>nes jedoch ist es, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kritischen<br />

SozialwissenschaftlerInnen vom gros ihrer KollegInnen unterscheidet.<br />

Natürlich muß sich Wissenschaft, <strong>die</strong> versucht, <strong>die</strong>sen S<strong>in</strong>n zu<br />

konkretisieren, den Vorwurf gefallen lassen, den wissenschaftlichen und<br />

politischen Pluralismus e<strong>in</strong>schränken zu wollen. Das wäre jedoch nur dann<br />

der Fall, wenn a) umgekehrt denjenigen, <strong>die</strong> nicht «kritisch» im def<strong>in</strong>ierten<br />

S<strong>in</strong>ne wären, ihre wissenschaftliche Existensberechtigung abgesprochen<br />

178


wird, und b) <strong>die</strong> Konkretisierung selbst bereits als zu verteufelnde Ideologie<br />

abgetan wird. Beides soll sie aber – wie bereits gezeigt – mitnichten.<br />

Vielmehr möchte ich hier nur e<strong>in</strong>en mögliche Anhaltspunkt für<br />

S<strong>in</strong>nzuschreibungen präsentieren. Darüber h<strong>in</strong>aus mag es und muß es viele<br />

andere solcher Anhaltspunkte geben, unter denen der folgende nur e<strong>in</strong><br />

Angebot se<strong>in</strong> möchte, das sich jedeR zunutze machen kann.<br />

Me<strong>in</strong> Angebot heißt auf ke<strong>in</strong>en Fall, wie Rudolf HILFERDING es e<strong>in</strong>mal<br />

ausdrückte, daß sie Sozialwissenschaft nichts anderes tun könne,<br />

«als Strukturveränderungen erklären und Entwicklungstendenzen<br />

aufzeigen, darunter solche, <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen der Möglichkeit e<strong>in</strong>es<br />

'Sozialismus' hervorbr<strong>in</strong>gen. Ob man solche 'sozialistischen'<br />

Tendenzen nun bekämpfen oder unterstützen, sie nutzen oder<br />

abweisen wolle, das müsse jeder für sich entscheiden.» (zit. nach<br />

KRÄTKE 1996: 74f.; vgl. MEW 20: 264)<br />

Wohl aber bedeutet es, daß der oder <strong>die</strong> Kritische SozialwissenschaftlerIn<br />

nach den Bed<strong>in</strong>gungen menschlicher Freiheit fragt, <strong>die</strong> Umstände analysiert,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>se verh<strong>in</strong>dern und auf Sachverhalte h<strong>in</strong>weist, <strong>in</strong> denen<br />

Unterdrückung und Ausbeutung zu beobachten s<strong>in</strong>d. Kritische<br />

SozialwissenschaftlerInnen werden nicht müde, das Bestehende mit dem<br />

Besseren zu konfrontieren, das Mögliche zu denken und <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen<br />

se<strong>in</strong>er Unmöglichkeit zur Sprache zu br<strong>in</strong>gen. Kritische<br />

SozialwissenschaftlerInnen verstehen sich als Teil der Gesellschaft; sie haben<br />

ihren elitären Status aufgegeben und wollen als «organische Intellektuelle»<br />

bewußt an ihr teilnehmen. Kritische SozialwissenschaftlerInnen begreifen<br />

sich nicht als verme<strong>in</strong>tlich objektive 92 Daten-aggregierende Apparate, <strong>die</strong><br />

Wissen und damit Macht für alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen<br />

zur Verfügung stellen; vielmehr wissen sie darum, daß sie als Menschen<br />

beständig werten, daß ihr Wissen kont<strong>in</strong>gent ist (es könnte also auch anders<br />

se<strong>in</strong>) und sie begreifen das nicht als zu überw<strong>in</strong>dendes Handicap, sondern<br />

als Chance, sich und ihre Position <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung um<br />

«Kulturelle Hegemonie» als e<strong>in</strong>e Alternative unter vielen darzustellen.<br />

Kritische SozialwissenschaftlerInnen wissen schließlich, daß sie für e<strong>in</strong>e<br />

Gesellschaft nur dann e<strong>in</strong>e Existenzberechtigung haben, wenn sie ‘der Welt<br />

aus den Pr<strong>in</strong>zipien der Welt neue Pr<strong>in</strong>zipien’ entwickeln, wenn sie zur<br />

s<strong>in</strong>nvollen (Weiter-)Existenz eben <strong>die</strong>ser Gesellschaft beitragen – und <strong>in</strong> der<br />

Frage, was «s<strong>in</strong>nvoll» ist, stehen sie nicht abwartend abseits, sondern bieten<br />

ihre Vorstellung e<strong>in</strong>er gerechten und solidarischen Gesellschaft an, <strong>die</strong> von<br />

emanzipierten Menschen getragen wird. Und man muß ke<strong>in</strong> Marxist se<strong>in</strong>,<br />

um mit Karl Marx <strong>die</strong>ses Programm auf <strong>die</strong> liberal zu verstehende<br />

Kurzformel zu br<strong>in</strong>gen: Kritische SozialwissenschaftlerInnen versuchen,<br />

«alle Verhältnisse umzuwerfen, <strong>in</strong> denen der Mensch e<strong>in</strong> erniedrigtes, e<strong>in</strong><br />

geknechtetes, e<strong>in</strong> verlassenes, e<strong>in</strong> verächtliches Wesen ist» (MEW 1: 365).<br />

92 Mit H. v. FOERSTER ließe sich Objektivität def<strong>in</strong>ieren als Irrglaube daran, daß<br />

Beobachtung ohne Beobachter stattf<strong>in</strong>den könne.<br />

179


Damit wird dann auch <strong>die</strong> Frage beantwortet, was «<strong>die</strong> Gesellschaft» mit<br />

(Kritischen) SozialwissenschaftlerInnen anfängt: Wenn nämlich Interesse an<br />

der Weiterentwicklung des «unvollendeten Projekts der Moderne»<br />

(HABERMAS 1990) besteht, wenn <strong>die</strong> Ideen von 1789 weiterentwickelt und<br />

realisiert werden sollen, wenn e<strong>in</strong>e Gesellschaft mit gerechter verteiltem<br />

E<strong>in</strong>kommen für s<strong>in</strong>nvoll und möglich gehalten wird, wenn <strong>die</strong> Erkenntnis<br />

der derzeitigen Unterdrückung von vier Fünfteln der Weltbevölkerung, von<br />

Frauen, von M<strong>in</strong>derheiten ... nicht als verbrämte Ideologie, sondern als<br />

veränderungswürdig begriffen werden, dann bedarf es methodisch<br />

professionalisierter Personen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen zur Verwirklichung<br />

<strong>die</strong>ser Ziele und zur Überw<strong>in</strong>dung der derzeitigen Zustände stu<strong>die</strong>ren und<br />

zur Diskussion stellen. Wenn jedoch Wissenschaft glaubt, es bestünde – so<br />

ganz von selbst – e<strong>in</strong> gesellschaftliches Interesse am frühmittelalterlichen<br />

Wechselwesen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em südbayerischen Dorf oder an der 11.375<br />

Interpretation von EICHENDORFFS «Marmorbild», dann darf man sich nicht<br />

wundern, wenn «<strong>die</strong> Gesellschaft» betriebswirtschaftlich <strong>in</strong>spiriert mangels<br />

besseren Wissens irgendwann den Rotstift zückt. 93 Das heißt – um es<br />

nochmals zu wiederholen – auf gar ke<strong>in</strong>en Fall, daß Wissenschaft unter<br />

e<strong>in</strong>seitigen, tagespolitischen Verwertungs<strong>in</strong>teressen betrachtet werden darf.<br />

J. HABERMAS hat vielmehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Bedeutung<br />

künstlerischer Produktion klar und richtig hervorgehoben, <strong>die</strong>se müsse<br />

«semantisch verkümmern, wenn sie nicht als spezialisierte Bearbeitung von<br />

eigens<strong>in</strong>nigen Problemen als Angelegenheit der Experten ohne Rücksicht auf<br />

exoterische Bedürfnisse betrieben wird.» (HABERMAS 1994: 49) Wie auch bei<br />

KANT, der Kunst durch «<strong>in</strong>teressenloses Wohlgefallen» als frei von fremden<br />

Zwecken def<strong>in</strong>iert wissen wollte, gilt HABERMAS’ Wort sicherlich zum Teil<br />

auch für <strong>die</strong> Wissenschaft. Doch eben nur zum Teil; neben <strong>die</strong><br />

Schrankenlosigkeit e<strong>in</strong>erseits muß andererseits <strong>die</strong> Erkenntnis treten, daß<br />

jedwede spezialisierte Bearbeitung von eigens<strong>in</strong>nigen Problemen<br />

zielgerichtet im just beschriebenen S<strong>in</strong>ne se<strong>in</strong> sollte, also nicht zum<br />

Selbstzweck werden darf, folglich: der metaphysischen Versuchung nicht<br />

unterliegen, <strong>die</strong> <strong>Sozialwissenschaften</strong> als nicht zweckgebunden, gar der<br />

Gesellschaft enthoben zu konzeptualisieren. Und um mit e<strong>in</strong>em vielleicht zu<br />

scharf geratenen, grundsätzlich aber zutreffenden Ausspruch Peter JANICHS<br />

abzuschließen: «Wissenschaften müssen als Wahl und Ergreifung von<br />

Mitteln für von Menschen gesetzte Zwecke begriffen werden.» (1992: 38) 94<br />

93 Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang dann von «Zumutungen aus<br />

dem Rotstiftmilieu» (BOLLENBECK 1997) zu sprechen, denn Bollenbeck muß selber –<br />

zwischen Spagat und Scharnier – von e<strong>in</strong>er «nutzbr<strong>in</strong>genden Autonomie der<br />

Wissenschaften» [Herv. CRK] reden.<br />

94 Was im übrigen selbst vom bereits zitierten M. SCHLICK gar nicht geleugnet wird, vgl. 1986:<br />

126.<br />

180


Literatur<br />

ADORNO, Theodor W. 1989: Zur Logik der Sozialwissenschaft. In: Der<br />

Positivismusstreit <strong>in</strong> der deutschen Soziologie. Hrsg. v. Theodor W.<br />

Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, <strong>Jürgen</strong> Habermas, Harald<br />

Pilot & Karl R. Popper. München: dtv.<br />

ARENDT, Hannah 1993: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Hrsg.<br />

v. U. Ludz. München, Zürich: Piper.<br />

BOLLENBECK, Georg 1997: Die Kulturwissenschaften – mehr als e<strong>in</strong><br />

modisches Label? In: Merkur. Nr 3/1997.<br />

CERTEAU, Michel de 1991: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt/M., New<br />

York: Campus.<br />

GRAMSCI, Antonio 1967: Philosophie der Praxis. E<strong>in</strong>e Auswahl. Hrgs. v.<br />

Christian Riechers. Frankfurt/M.: Fischer.<br />

GRAMSCI, Antonio 1967a: Sozialismus und Kultur. In: idem., Philosophie der<br />

Praxis. E<strong>in</strong>e Auswahl. Hrsg. v. Christian Riechers. Frankfurt/M.:<br />

Fischer. S. 20–23.<br />

GRAMSCI, Antonio 1991ff.: Gefängnishefte. Bd. 1-7. Berl<strong>in</strong>: Argument. (zit.:<br />

Gramsci [Heft], § [Paragraphennummer], [Seite])<br />

HABERMAS, <strong>Jürgen</strong> 1969: Erkenntnis und Interesse. In: Technik und<br />

Wissenschaft als ‘Ideologie’. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. S. 146–168.<br />

HABERMAS, <strong>Jürgen</strong> 1969: Technik und Wissenschaft als «Ideologie».<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

HABERMAS, <strong>Jürgen</strong> 1981: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

HABERMAS, <strong>Jürgen</strong> 1985: Zur Logik der <strong>Sozialwissenschaften</strong>. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp.<br />

3<br />

HABERMAS, <strong>Jürgen</strong> 1994: Die Moderne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt.<br />

Philosophisch-politische Aufsätze. Stuttgart: Reclam.<br />

HEJL, Peter M. 1987: Konstruktion der sozialen Konstruktion. Grundl<strong>in</strong>ien<br />

e<strong>in</strong>er konstruktivistischen Sozialtheorie. In: S.J. Schmidt (Hrsg.). Der<br />

Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S.<br />

303–339.<br />

JANICH, Peter 1992: Die methodische Ordnung von Konstruktionen. Der<br />

Radikale Konstruktivismus aus der Sicht des Erlanger<br />

Konstruktivismus. In: Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des<br />

Radikalen Konstruktivismus 2. Hrsg. v. S.J. Schmidt. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp. S. 24–41.<br />

KLAUS, Georg & Manfred Buhr 8<br />

1972 (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch.<br />

Bd. 2: Konflikt bis Zyklentheorie. Berl<strong>in</strong>: das europäisch buch.<br />

181


KRÄTKE, Michael 1996: Marxismus als Sozialwissenschaft. In: Materialien<br />

zum Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus. Für Wolfgang<br />

Fritz Haug zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Frigga Haug & Michael<br />

Krätke. Hamburg: Argument. S. 69–122.<br />

LUHMANN, Niklas 1995: Das Gedächtnis der Politik. In: Zeitschrift für Politik<br />

(ZfP). Jg. 42. Nr. 2/1995. S. 109–121.<br />

MARX, Karl & Friedrich Engels 1972: Werke. Hrsg. v. Institut für Marxismus-<br />

Len<strong>in</strong>ismus beim ZK der SED. Berl<strong>in</strong>: Dietz. (zit.: MEW [Bd.]:[Seite])<br />

MATURANA, Humberto R. & Francisco J. Varela 1984: Der Baum der<br />

Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens.<br />

Bern, München: Scherz.<br />

NEUBERT, Harald 1991: Vorwort. In: idem., Antonio Gramsci. Vergessener<br />

Humanist? E<strong>in</strong>e Anthologie. Berl<strong>in</strong>: Dietz. S. 7–30.<br />

POPPER, Karl R. 7<br />

1992: Die offene Gesellschaft und ihre Fe<strong>in</strong>de. Bd. II: Falsche<br />

Propheten. Hegel, Marx und <strong>die</strong> Folgen. Tüb<strong>in</strong>gen: Mohr/Siebeck.<br />

RUSCH, Gebhard 1987: Autopiesis, Literatur, Wissenschaft. Was <strong>die</strong><br />

Kognitionstheorie für <strong>die</strong> Literaturwissenschaft besagt. In: S.J. Schmidt<br />

(Hrsg.). Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp. S. 374–400.<br />

SCHLEIERMACHER, Friedrich: 1988: Dialektik (1814/15). E<strong>in</strong>leitung zur<br />

Dialektik (1833). Hamburg: Me<strong>in</strong>er.<br />

SCHLICK, Moritz 1986: Die Probleme der Philosophie <strong>in</strong> ihrem<br />

Zusammenhang. Vorlesungen aus dem W<strong>in</strong>tersemester 1933/34.<br />

Hrsg. v. Henk L. Mulder. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

SCHMIDT, Siegfried J. 1987: Der Radikale Konstruktivismus. E<strong>in</strong> neues<br />

Paradigma im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Diskurs. In: S.J. Schmidt (Hrsg.). Der<br />

Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S.<br />

11– 88.<br />

SCHMIDT, Siegfried J. 1991: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

SCHMIDT, Siegfried J. 1994: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung.<br />

Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von<br />

Kognition, Kommunikation, Me<strong>die</strong>n und Kultur. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp.<br />

WEBER, Max 1988: Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. In:<br />

idem. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. J.<br />

W<strong>in</strong>ckelmann. Tüb<strong>in</strong>gen: Mohr/Siebeck. S.146–214.<br />

WEBER, Max 1988a: Soziologische Grundbegriffe. In: idem. Gesammelte<br />

Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. J. W<strong>in</strong>ckelmann. Tüb<strong>in</strong>gen:<br />

Mohr/Siebeck. S. 541–581.<br />

WEBER, Max 1988b: Der S<strong>in</strong>n der «Wertfreiheit» der soziologischen und<br />

öokonomischen Wissenschaften. In: idem. Gesammelte Aufsätze zur<br />

Wissenschaftslehre. Hrsg. v. J. W<strong>in</strong>ckelmann. Tüb<strong>in</strong>gen:<br />

Mohr/Siebeck. S. 489–580.<br />

182


Die Konferenz <strong>in</strong><br />

St. Scildamente, Mex.<br />

E<strong>in</strong> Roman der Wissenschaften -<br />

e<strong>in</strong>e romantische Wissenschaft<br />

Vertrauliche Niederschrift der Verhandlungen e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />

Tagung zur heutigen Weltpolitik und <strong>in</strong>ternationalen Politik vom 7.10.-<br />

14.10.1994, miterlebt und aufgezeichnet von Friedensreich Unruh aus<br />

Wernigheim, geordnet und herausgegeben von Felix Wis, Ma<strong>in</strong>e-surPlair/F.<br />

Weißrosen/Karp 1897<br />

(Raubdruck)<br />

183


I N H A L T S V E R Z E I C H N I S<br />

Vorsatz<br />

Irrationalistischer Ausflug<br />

Empfang<br />

E<strong>in</strong> nicht gehaltener Vortrag<br />

Polemologisches Theater<br />

E<strong>in</strong> therapeutisch-equilibristisches Intermezzo<br />

Das große Experiment<br />

kuk-Platonisches<br />

Grenzübergang<br />

184


Notwendige Erklärung des Herausgebers<br />

Nur nach langem Überlegen und Bedenkentragen hat der Herausgeber <strong>die</strong><br />

vorliegenden, ihm auf Irrwegen zugespielten, zunächst ungeordneten, nicht<br />

numerierten, z.T. sehr schwer zu entziffernden handschriftlichen Notizen<br />

e<strong>in</strong>es ihm Unbekannten dem Verlage zur Veröffentlichung überlassen, denn<br />

<strong>die</strong> Papiere könnten durchaus zu manchem Mißverständnis zu führen <strong>in</strong> der<br />

Lage se<strong>in</strong>. Deshalb <strong>die</strong>ses Vorwort und <strong>die</strong> mit ihm gegebene<br />

Richtigstellung, da der Autor es verabsäumt hat, se<strong>in</strong> an manchen Stellen<br />

dunkles Werk selbst zu kommentieren, wie es z.B. Thomas Mann so<br />

bravourös mit dem se<strong>in</strong>en geleistet hat. Friedensreich Unruh sche<strong>in</strong>t - wie<br />

man auch im folgenden feststellen können wird - e<strong>in</strong> von Selbstzweifel und<br />

Schüchternheit geplagter, im Kern uneitler Mensch gewesen zu se<strong>in</strong>. Aber<br />

damit droht <strong>die</strong>ses <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Art e<strong>in</strong>zigartige Oeuvre der Häme der Kritik<br />

und vor allem der Fehl<strong>in</strong>terpretation seitens des flüchtigen Lesers ausgesetzt<br />

zu werden (und wer ist nicht im Me<strong>die</strong>nzeitalter von heute zum Schnell-<br />

Leser und auch FastScience-Genießer geworden!?).<br />

Was es hier nach gründlichem Studium des Manuskriptes auch im Interesse<br />

des Verfassers klarzustellen gilt, ist, daß es sich hier nicht um e<strong>in</strong> Gericht<br />

über <strong>die</strong> Wissenschaft handelt - denn Verfasser und Herausgeber waren und<br />

s<strong>in</strong>d passionierte Wissenschaftler - es geht nicht um das In-den-Dreck-<br />

Ziehen von Universitäten und Hochschulen, wie es vielleicht auf den ersten<br />

Blick zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t. Es geht hier vielmehr um das irrende Suchen e<strong>in</strong>er<br />

verzweifelten Seele nach dem, was Wahrheit ist und nach dem, was<br />

Wissenschaft auch suchen sollte - und auch sucht und z.T. zu f<strong>in</strong>den oder<br />

genauer: sich anzunähern <strong>in</strong> der Lage ist. Daß dabei so mancher kritische<br />

Blick auf den Wissenschaftsbetrieb fällt, ist nicht zu verkennen, aber im<br />

Dienste und zum Heile der Wissenschaft geäußert, wie <strong>in</strong>sbesondere der<br />

Schluß der Aufzeichnungen beweist. Dabei schlägt Kritik oft <strong>in</strong> Ironie um,<br />

e<strong>in</strong>er abgeklärten Ironie, <strong>die</strong> von e<strong>in</strong>em entfernten Stern <strong>die</strong>se Erde zu<br />

betrachten sche<strong>in</strong>t.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sollte nicht verschwiegen werden, daß <strong>die</strong> Aufzeichnungen unter<br />

e<strong>in</strong>em großen Vorbehalt stehen und nicht ganz zweifelsfrei h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />

Ernsthaftigkeit und wissenschaftlichen Würde s<strong>in</strong>d. Denn es wird<br />

gerüchteweise berichtet, daß Friedensreich Unruh <strong>in</strong> der Garderobe e<strong>in</strong>er<br />

späteren Konferenz zu Berl<strong>in</strong> - den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn-<br />

Bartholdy summend und <strong>die</strong> Grenzen der Verrücktheit streifend - e<strong>in</strong>em<br />

plötzlichen Hirnschlag erlag.<br />

185


Vorsatz<br />

Die "Internationale Gesellschaft zur Erforschung weltpolitischer Trends und<br />

Entwicklungen" (GmbH) hat es zur Gewohnheit werden lassen, daß sie alle<br />

zehn Jahre - unter Beachtung der erstaunten Weltöffentlichkeit und unter<br />

E<strong>in</strong>schluß der mittlerweile 77 nationalen Unterorganisationen - an e<strong>in</strong>em<br />

repräsentativen Ort (nun schon zum 33sten Mal) zusammenkommt, um der<br />

Welt und der Wissenschaft politische und wissenschaftliche Wegweisung zu<br />

geben.<br />

1994 - <strong>die</strong> Konferenzen fanden immer ungefähr <strong>in</strong> der Mitte des jeweiligen<br />

Jahrzehnts statt (1) - versammelten sich <strong>die</strong> Wissenschaftler der Welt <strong>in</strong><br />

Scildamente, e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Ort an der nordmexikanischen Steilküste vis-àvis<br />

des pazifischen Ozeans, nicht weit von der Grenze zu den Vere<strong>in</strong>igten<br />

Staaten von Amerika. Der vorbereitende Programmausschuß hatte das weit<br />

ausladende Kongreßzentrum für e<strong>in</strong>e Woche angemietet, von ihm hatte man<br />

e<strong>in</strong>en mit bloßem Auge nur schwer erträglichen Blick auf <strong>die</strong> gleißende<br />

Weite des Ozeans, sowie überhaupt <strong>die</strong> Hitze Meer und umgebende<br />

Landschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vibrierenden, alles verschwimmenden Äther hüllte. Erst<br />

gegen Abend wurden <strong>die</strong> Konturen deutlicher, wenn <strong>die</strong> Eulen der<br />

Wissenschaft und Philosophie erwachten.<br />

Das Gleißend-Schimmernde von Meer und neu-<strong>in</strong>discher Luft wurde<br />

dadurch <strong>in</strong>tensiviert, daß das Konferenzgebäude e<strong>in</strong> weiß gekalkter,<br />

rechteckig sich <strong>in</strong> der Landschaft erstreckender Klotz im Le Corbusier-Stil<br />

war: alles auf 45 Grad reduziert, alles quadratisch im Zuschnitt, alles schlicht<br />

und w<strong>in</strong>kelig, alles gerade, ohne Schnörkel, alles das Gegenteil von Barock,<br />

alles e<strong>in</strong>zeln und nur durch <strong>die</strong> logische Strenge der gerade L<strong>in</strong>ien<br />

verbunden, wobei <strong>die</strong>se L<strong>in</strong>ie aus Inf<strong>in</strong>itesimalem bestand, eher geahnt als<br />

gewußt. (Zwei Seiten des Gebäudes waren gänzlich ohne Fenster.)<br />

Durch den ebenso geradl<strong>in</strong>igen Schattenwurf suchte das Gebäude auch <strong>die</strong><br />

umgebende Landschaft zu encadrieren -jedoch vergeblich. Der Architekt<br />

hatte sich viel auf das raff<strong>in</strong>ierte Spiel von Licht und Schatten bei<br />

bestimmten Sonnenkonstellationen zugute gehalten, wodurch das Ganze<br />

aber auch nicht angenehmer und gemütlicher wurde.<br />

Der h<strong>in</strong>tere Teil des Gebäudes war - von der Vorderseite nicht ersichtlich -<br />

noch nicht fertig, obwohl man mit dem Bau schon vor 12 Jahren begonnen<br />

hatte. Hier ragte e<strong>in</strong> stählernes Gerüst erratisch <strong>in</strong> den Himmel, selbst <strong>die</strong><br />

Zwischendecken fehlten noch. Wenn der W<strong>in</strong>d durchzog, gab es e<strong>in</strong> lang<br />

nachzitterndes, kaltes Geräusch, als würde e<strong>in</strong>e verfluchte Seele ihrem Leib<br />

nachtrauern.<br />

1 Dieses Mal traf man sich e<strong>in</strong> Jahr vor der Jahrzehntmitte, <strong>die</strong>se nicht zur<br />

Gesellschaft passende Unregelmäßigkeit wurde mit der Besonderheit der<br />

Ereignisse begründet, <strong>die</strong> <strong>die</strong> <strong>in</strong>ternationale Politik seit Untergang großer<br />

Weltreiche zu Beg<strong>in</strong>n der 90er Jahre kennzeichnete.<br />

Zur Anordnung und Art der Berichterstattung<br />

186


Dieser Kongreßband will nur berichten, <strong>in</strong> der schlichten, an Faktizität<br />

orientierten Sprache der Wissenschaft, der sich auch <strong>die</strong> dort versammelten<br />

Gelehrten befleißigten, analog zur herben Poesie der wüstenartigen<br />

Umgebung, <strong>die</strong> nur zuweilen von Grün durchbrochen wurde. Wissenschaft<br />

soll hier selbst zum Ausdruck kommen, der hoffentlich auch<br />

außerwissenschaftliche Leser möge selber über S<strong>in</strong>n und Uns<strong>in</strong>n<br />

entscheiden.<br />

Es wird hier auch als unwissenschaftlich abgelehnt, e<strong>in</strong> großes Gebäude, den<br />

großen Entwurf vorzustellen, der vorgibt, alles erklären und motivieren zu<br />

können. Was leistbar ist, ist e<strong>in</strong>e Kompilation von Partikeln, <strong>die</strong> sich vorerst<br />

nicht, wenn überhaupt je zu e<strong>in</strong>em Ganzen zu fügen vermögen.<br />

Nach dem großen Zusammenbruch ist Po<strong>in</strong>tilismus angesagt, <strong>die</strong> Wollust<br />

des Details, das Vertiefen im E<strong>in</strong>zelnen, der Auflösung von Welt. Alles wird<br />

letztlich nur durch <strong>die</strong> Subjektivität des Autors zusammengehalten, so wie<br />

Gott <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schlechten Metaphysik begründet wird.<br />

E<strong>in</strong> Grundpr<strong>in</strong>zip liegt der Berichterstattung und jeder Art von Konferenz<br />

überhaupt aber zugrunde, e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zip, das <strong>die</strong> Relativität überw<strong>in</strong>det, <strong>in</strong>dem<br />

sie sie anerkennt und <strong>in</strong>korporiert: es ist das Pr<strong>in</strong>zip, daß Erkenntnis nur im<br />

Akt des Erlebens von Welt möglich ist. Das hat zur Folge, daß im<br />

Konferenzbericht neben den Vorträgen auch <strong>die</strong> Genese von Wissen<br />

geschildert wird: Wissen ist mitbed<strong>in</strong>gt durch den Typ von<br />

wissenschaftlicher Persönlichkeit, <strong>die</strong> alltäglich und auch außeralltäglich lebt<br />

und leibt und so das Wissen schafft; was das bedeutet, soll <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Buch<br />

deutlich werden.<br />

187


1. Akt: Irrationalistischer Ausflug<br />

Jede Konferenz beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>em Trompetenschall, genannt "call for<br />

papers", der <strong>in</strong> den renommierten wissenschaftlichen' Zeitschriften ("Irratio",<br />

"PKZ", "Aeneis", "Odyssee", "Irreneus") erschallt. Die Wissenschaftler des<br />

jeweiligen Gebietes legen darauf h<strong>in</strong> Papiere, Aufsätze vor, <strong>die</strong> quasi <strong>die</strong><br />

Legitimation zur Teilnahme s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> kritisches Gremium hatte zuvor <strong>die</strong><br />

papers auf ihre Qualität (Seitenumfang, Schriftbild, natürlich war Englisch<br />

obligatorisch usw.) geprüft, denn e<strong>in</strong>e möglichst kle<strong>in</strong>e Zahl von<br />

Teilnehmern ist e<strong>in</strong> Zeichen für Niveau (obwohl <strong>die</strong>s natürlich mit dem<br />

anderen großen wissenschaftlichen Ziel konfligiert, durch große Zahl, sei es<br />

von Teilnehmern oder von Buchseiten, Repräsentanz von Wahrheit oder<br />

dergleichem wissenschaftlichen Acceecoires zu dokumentieren.)<br />

Die Konferenz, von der es hier zu berichten gilt, hatte allerd<strong>in</strong>gs den Voroder<br />

Nachteil, daß deren Thematik so breit angelegt war, daß nahezu jeder<br />

Geisteswissenschaftler zur Teilnahme angesprochen wurde (<strong>die</strong> Veranstalter<br />

wollten <strong>die</strong> Breite und Tiefe und Höhe der Welt <strong>in</strong> ihrer vollen Fülle<br />

erfassen), und viele fühlten sich auch angeregt, zumal ferne und unbekannte<br />

Landschaft lockte. Die obligaten papers waren schnell gefertigt (zumeist aus<br />

früheren papern zusammengeschnitten), <strong>die</strong> Flugreise auf Kosten des<br />

neu<strong>in</strong>dischen Veranstalters gebucht, und nun befand man sich - nach bereits<br />

erfolgter E<strong>in</strong>quartierung <strong>in</strong> den Hotelburgen des auch touristisch genutzten<br />

Ortes - schon <strong>in</strong> der großen Empfangshalle des Tagungsortes, im Halbkreis<br />

angeordnet <strong>in</strong> verschiedensten Gruppen und Grüppchen, <strong>die</strong> heftig unter-,<br />

nicht mite<strong>in</strong>ander diskutierten.<br />

Von besonderem Interesse s<strong>in</strong>d für den deutschen Leserkreis, an <strong>die</strong> sich<br />

<strong>die</strong>se Veröffentlichung vor allem wendet, <strong>die</strong> deutschen Teilnehmer. Denn<br />

wir Deutschen wissen uns auf <strong>in</strong>ternationalen Konferenzen immer noch<br />

nicht so recht zu verhalten - kurz vor Ende des Jahrhunderts, <strong>in</strong> dessen<br />

erstem Teil sie zum Entstehen e<strong>in</strong>es Weltkrieges zum<strong>in</strong>dest erheblich mit<br />

beigetragen und zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en weiteren Weltkrieg mutwillig vom Zaum<br />

gebrochen hatten. Die drei deutschen Professoren waren zusammen<br />

angereist und standen nun eher zurückgezogen unter sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er entfernten<br />

Ecke der großen Halle. Weniger, um <strong>die</strong> Umstehenden zu beobachten, fühlte<br />

man <strong>die</strong> Blicke der anderen auf sich gerichtet. Vielleicht auch nur deshalb,<br />

weil man als e<strong>in</strong>zige nationale' Gruppe korporativ im dunklen Anzug mit<br />

farbloser Krawatte erschienen war. Insgesamt bot der Empfang das Bild<br />

e<strong>in</strong>es freundlich-bunten Getummels und Getuschels und gelegentlichens<br />

Lächelns und Lachens, das durchaus sympathisch und anheimelnd war.<br />

Im Gegensatz zu den anderen nationalen Grüppchen kamen <strong>die</strong> Deutschen<br />

kaum mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>s Gespräch. Das lag nicht daran, daß sie ggf.<br />

unterschiedliche Fächer vertraten und das Gespräch über <strong>die</strong> Fachgrenze<br />

Schwierigkeiten bereitet hätte. Wohl eher umgekehrt ist das Gespräch unter<br />

Fachkollegen mühselig, weil man sich von x Tagungen her kennt und so viel<br />

Neues ja <strong>in</strong> der Wissenschaftsgeschichte e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> sich nicht zu<br />

188


ereignen pflegt (unser Held hatte an der Universität München ohneh<strong>in</strong><br />

gelernt, daß seit Platon nichts mehr geschehen sei - und das wurde nur den<br />

Doktoranden der Philosophie, nicht den Lehramtskandidaten verkündet,<br />

von denen man annahm, daß sie es ohneh<strong>in</strong> nicht verstehen würden.)<br />

Besonders Friedensreich Unruh - unser Held - waren <strong>die</strong>se Art von<br />

Konferenz e<strong>in</strong> Greuel; <strong>die</strong> Vielzahl von Anzüglichkeiten und<br />

Selbstdarstellungen (wie sie allen menschlichen Gruppierungen eigen ist)<br />

erregten <strong>in</strong> ihm immer wieder und wachsenden Widerwillen. Und er hatte<br />

sich auch nur zu <strong>die</strong>ser Reise aufgerafft, weil se<strong>in</strong>e reiselustige Frau (<strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er tourismus-fe<strong>in</strong>dlichen Diktatur aufgewachsen war) ihn dazu<br />

überredet, wenn nicht gar gezwungen hatte. Sie haßte zwar gleichermaßen<br />

das Konferenzliche (sieht man von den Empfängen ab), nutzte aber das<br />

Reisen zur geistigen Welteroberung, so wie es noch <strong>in</strong> der Zeit der<br />

Aufklärung üblich war.<br />

Unruh war auf der Konferenz unbestritten (auch von ihm selbst nicht) fehl<br />

am Platz (was wohl aber an Unruh und nicht an der Konferenz lag). Er<br />

gehörte zu den eigenbrötlerischen und schon e<strong>in</strong> wenig skurrilen, wenn<br />

nicht verrückten Schreibtisch-Wissenschaftlern, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em möglichst<br />

kle<strong>in</strong>en, mit Regalen und Büchern vollgestelltem Arbeitszimmer vermittels<br />

der Kraft von Buchstabenkomb<strong>in</strong>ationen e<strong>in</strong>e Welt konstruierten, <strong>in</strong> der'<br />

Hoffnung und wenn es gut geht und sie optimistisch s<strong>in</strong>d: <strong>in</strong> dem Glauben,<br />

daß <strong>die</strong>s auch <strong>die</strong> Welt realiter - um e<strong>in</strong> gerade gängiges wissenschaftliches<br />

Modewort zu gebrauchen - sei. Und das ist hier nicht nur e<strong>in</strong><br />

grammatikalisch notwendiger Konjunktiv, der übrigens leider immer mehr<br />

auch <strong>in</strong> der Sprache der Wissenschaft außer Gebrauch geraten, vergessen<br />

worden ist - <strong>die</strong> Wissenschaft ist sich ihrer Sache wohl zu sicher!<br />

Ihrer war sich Unruh nun <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise sicher. Er wußte um <strong>die</strong><br />

Beschränkheit se<strong>in</strong>er Welt, <strong>die</strong> ihm genügte, oder besser: <strong>die</strong> große, andere<br />

Welt hätte ihn nur aus dem <strong>in</strong>neren Gleichgewicht gebracht. Er hegte se<strong>in</strong>e<br />

Schreibtischwelt - kaufte für sie Schachteln, <strong>in</strong> denen er eigentümlichen<br />

Krimskrams und unendlich viele Notizzettel aufbewahrte, dachte sich stets<br />

neue Anordnungen se<strong>in</strong>er Schreibutensilien aus, zu denen mittlerweile auch<br />

nach e<strong>in</strong>igem Zögern und Bedenken e<strong>in</strong> EDV-Gerät der e<strong>in</strong>fachen Art<br />

gehörte, und las und schrieb - oder auch umgekehrt - mit oft zu schneller<br />

Feder, wie se<strong>in</strong>e verehrten Kollegen ihm nicht vorzuwerfen aufhörten.<br />

Wissenschaft ist ja <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise Erfassung der Welt, wie sie ist - manche<br />

sagen zur Unterstreichung: Erfassung der Wirklichkeit, wie sie wirklich ist.<br />

Erst kürzlich hatte e<strong>in</strong> Wissenschaftstheoretiker <strong>in</strong> der außerwissenschaftlichen<br />

Welt Erfolge dadurch gefeiert, daß er behauptete und<br />

auch plausibel zu machen wußte, daß <strong>in</strong> der Wissenschaft alles möglich sei,<br />

alles bewiesen werden könne, und auch alles bereits e<strong>in</strong>mal bewiesen wurde<br />

-und sei es das Abstruseste und Gegensätzlichste - bis zu Gestirnen, <strong>die</strong> sich<br />

nicht kreisförmig um <strong>die</strong> Erde, sondern spiralförmig rück- oder seitwärts auf<br />

189


<strong>die</strong> Erde zu und von ihr wieder fortbewegten. All is possible - und wenn<br />

<strong>die</strong>se Theorie durch den offensichtlichen Augensche<strong>in</strong> bezweifelt wird, wird<br />

eben <strong>die</strong> Realität für verrückt erklärt.<br />

Was <strong>in</strong> der Wissenschaft herauskommt, hängt von dem ab, der Wissenschaft<br />

betreibt. Was man als Voraussetzung der Lektüre e<strong>in</strong>es Buches oder e<strong>in</strong>es<br />

sonstigen "wissenschaftlichen" Produktes stets bräuchte, ist e<strong>in</strong> Bild oder<br />

Foto des jeweiligen Verfassers. Was ist se<strong>in</strong> Gesichtsausdruck? Se<strong>in</strong>e<br />

allgeme<strong>in</strong>e Physiognomie? Wie wirkt er? Was assoziiert man bei se<strong>in</strong>em<br />

Anblick? Was wir brauchen, ist e<strong>in</strong> Äsop oder Lavater der Wissenschaft.<br />

Hier war nun der zweite deutsche Kollege der charakterologische Gegentyp<br />

zu Prof. Unruh. Er hatte sich wohl mit e<strong>in</strong>er der Völkerwanderungen der<br />

letzten fünf Tausend Jahre aus dem mongolisch-asiatischen Raum - anstatt<br />

dem kultivierten Ch<strong>in</strong>a zuzuwenden - zum damals noch barbarischen<br />

Osteuropa gewandt und <strong>die</strong> Sitten und Gewohnheiten genetisch<br />

ver<strong>in</strong>nerlicht - allerd<strong>in</strong>gs auf e<strong>in</strong>e subtile Art und Weise, <strong>die</strong> auf den ersten<br />

Blick den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er gelungenen westlich-zivilisatorischen Sozialisation<br />

erweckten, zumal er des Deutschen und leidlich auch des Englischen<br />

mächtig war (was er durch ständiges E<strong>in</strong>flechten anglomorpher Floskeln <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> deutsche Konversation unter Beweis zu stellen glauben mußte.)<br />

Der Dritte <strong>in</strong> der Runde tat so, als hörte er der mageren Unterhaltung zu,<br />

war aber jedoch mit Gedanken und Augen längst bei der Nachbargruppe, <strong>in</strong><br />

der zwei Inder standen, mit denen er Kontakt anzuknüpfen beabsichtigte.<br />

Denn er wußte, daß se<strong>in</strong>e Werke nur dann populär werden würden, wenn<br />

man sie selbst wie <strong>in</strong> der Betriebswirtschaft üblich vermarktete. Obwohl er<br />

me<strong>in</strong>te, daß es nicht mehr notwendig sei: Se<strong>in</strong> Oeuvre erschien <strong>in</strong><br />

renommierten, teuren Verlagen, wurde übersetzt und von der "scientific<br />

society", wie Podsancz gesagt hätte, geschätzt.<br />

Der Dritte war hager gewachsen, legte auf se<strong>in</strong> elegantes Äußeres Wert und<br />

hatte se<strong>in</strong>er Umwelt gegenüber etwas Komman<strong>die</strong>rend-Beherrschendes an<br />

sich, was sich u.a. dar<strong>in</strong> kundtat, daß er sofort nach Zusammentreffen der<br />

drei Deutschen Unruh ernsthaft darum bat, sich rechts von ihm zu plazieren,<br />

ohne es zu begründen (was wohl auch nicht möglich war), zumal es Unruh -<br />

gleichgültig gegenüber solchen Kle<strong>in</strong>igkeiten - umgehend vollzog. Se<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>tellektuelles Markenzeichen, was er sich am liebsten bei e<strong>in</strong>em geistigen<br />

Patentamt hätte sichern lassen, war se<strong>in</strong> ihn ständig kleidendes Mao-Jacket<br />

aus den 68ern, <strong>die</strong> mittlerweile durch ihr Alter bereits recht unansehnlich<br />

aussah. Selbst der Mythos von Sche<strong>in</strong>revolutionen (wollen wir 'mal<br />

wohlwollend <strong>die</strong> Studentenrevolte von 1968 so bezeichnen) sche<strong>in</strong>t der<br />

Vergänglichkeit nicht entgehen zu können, zumal das Revolutionäre nun<br />

nicht mehr zum<strong>in</strong>dest ernsthaft geglaubte Absicht, sondern zum Dekor<br />

degeneriert war.)<br />

190


Dieses Weltbürgertum, wie es <strong>in</strong> Deutschland nach 1945 e<strong>in</strong>geführt worden<br />

war, veranlaßte ihn daher auch schnell, sich unter dem Vorwand, e<strong>in</strong>en alten<br />

Kollegen <strong>in</strong> der Nachbargruppe begrüßen zu müssen, mit weitausladenden,<br />

aber gemessenen, wenn nicht würdigen Schritten zu entfernen. Podsancz<br />

merkte es kaum, da er se<strong>in</strong>e Rede noch nicht beendet hatte, aber als selbst<br />

ihm <strong>die</strong> Worte ausg<strong>in</strong>gen, standen <strong>die</strong> beiden Verbleibenden schweigsam<br />

e<strong>in</strong>ander gegenüber, wobei das Gegenüber dom<strong>in</strong>ierte. Unruh dachte<br />

erleichtert an Wittgenste<strong>in</strong>: Über das, was man nicht weiß, soll man<br />

schweigen - oder so ähnlich. (Im Zitieren war er stets immer e<strong>in</strong> wenig<br />

schlampig, auch war er vergeßlich). Er genoß <strong>die</strong> Ruhe vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

des vielsprachig <strong>in</strong> <strong>die</strong> Halle emporschallenden Geredes, das den Vorteil<br />

hatte, daß man <strong>in</strong>folge der diffusen Vieltönigkeit nichts verstand. Es war wie<br />

e<strong>in</strong>e Musik moderner Art, <strong>die</strong> ihm immer ferner wurde, so wie draußen und<br />

damit im Saal selbst auch <strong>die</strong> Dunkelheit zunahm. Tief <strong>in</strong> Gedanken über<br />

S<strong>in</strong>n und Uns<strong>in</strong>n von Konferenzen und <strong>die</strong> Mißhelligkeiten, <strong>die</strong> mit ihnen<br />

verbunden waren, wollte er sich gerade auf se<strong>in</strong> Zimmer begeben, das im<br />

Hause selbst lag, als ihn - aus e<strong>in</strong>er Nische kommend - e<strong>in</strong> braun gebrannter,<br />

e<strong>in</strong>heimisch aussehender, schwarzhaariger, noch jugendhaft wirkender, aber<br />

doch wohl schon 50jähriger Herr ansprach, der e<strong>in</strong>en Umhang trug wie<br />

Priester im katholischen Hochamt.<br />

Vorsichtig herantastend, fragte er nach Herkunft, Anreise und S<strong>in</strong>n und<br />

Zweck des Aufenthaltes (was den verträumten Deutschen verwunderte, da<br />

doch zum<strong>in</strong>dest pro forma der Zweck, der Konferenz beizuwohnen, bekannt<br />

se<strong>in</strong> müßte.)<br />

Weiterh<strong>in</strong> verwunderlich war, daß der Unbekannte fast akzentlos Deutsch<br />

sprach, was sich aber dadurch alsbald klärte, daß sich im Verlaufe der<br />

weiteren Unterhaltung, <strong>die</strong> sich zunächst um Belanglosigkeiten drehte, se<strong>in</strong>e<br />

slowenische Herkunft herausstellte, er aber nach Großbritannien verschlagen<br />

worden sei und dort lehren müsse, obwohl er doch noch im Stillen und unter<br />

Freunden auch offen der alten habsburgischen Monarchie nachtrauere, im<br />

Vergleich dazu der atlantische Raum doch nur plattes Plagiat und<br />

Verflachung sei.<br />

Er schwärmte von der deutschen Vorkriegsliteratur und erwähnte immer<br />

wieder F. Rosenberg, der ihm schon von se<strong>in</strong>em Vater nahe gebracht worden<br />

sei - und zwar im Orig<strong>in</strong>al, wie er betonte.<br />

Unruh erwachte aus se<strong>in</strong>er lethargischen Dämmerung, alle<strong>in</strong> deshalb, weil<br />

hier unbefangen über e<strong>in</strong>en Autor gesprochen wurde, der <strong>in</strong> Deutschland<br />

mehr oder weniger - sieht man von. äußersten rechten Kreisen ab - tabu war<br />

(und das zu Recht - so <strong>in</strong>sistierte er -, denn immerh<strong>in</strong> war er unheilvoll <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt.)<br />

Der Unbekannte lächelte: "Es gibt mehr als Menschenrechte und Leben und<br />

Freiheit. Zum Leben gehört auch der Tod, wie im Tierreich." Unruh<br />

erschütterte es <strong>in</strong>nerlich, und er wollte sich empört abwenden, denn hier war<br />

Wesentliches se<strong>in</strong>er Grundüberzeugung getroffen, oder genauer: das<br />

e<strong>in</strong>zige, an das er noch zu glauben im Stande war, wurde hier <strong>in</strong> Frage<br />

gestellt.<br />

191


Aber der Mann wirkte auf ihn wie e<strong>in</strong> Fessel, <strong>die</strong> ihn an- und abstieß, so wie<br />

er <strong>in</strong> K<strong>in</strong>ofilmen nicht nur abgestoßen, sondern auch auf unheimliche Art<br />

und Weise ergriffen wurde von Massenaufmärschen, erfaßt vom<br />

Dynamischen, geschüttelt von der ewigen Bewegung, <strong>die</strong> selbst noch über<br />

<strong>die</strong> Le<strong>in</strong>wand zu vermitteln war. Was war das, was ihm hier nun wieder<br />

begegnete?<br />

Der unbekannte Slowene spürte <strong>die</strong> Gedanken se<strong>in</strong>es Partners, entschuldigte<br />

sich für <strong>die</strong> Verherrlichung des Faschismus (was aber nicht echt geme<strong>in</strong>t<br />

war) und flüsterte nahezu Worte, <strong>die</strong> Unruh zwar hörte, aber nicht verstand:<br />

"Bewegung ist alles; wir müssen <strong>die</strong> alles bewegenden Lebenskräfte erfassen;<br />

das steht nicht <strong>in</strong> Büchern. Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>!<br />

Laß uns beide gehen, sie zu f<strong>in</strong>den, zu entdecken, sie aufzudecken, sie<br />

fruchtbar zu machen!" Hier sei doch alles "hodenlos", wie er wohl <strong>in</strong><br />

fälschlicher Übersetzung von "leblos" me<strong>in</strong>te.<br />

Und da Unruh ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Scheu vor dem morgigen Tag verspürte, an<br />

dem <strong>die</strong> Konferenz offiziell beg<strong>in</strong>nen sollte - mit endlosen Begrüßungsreden,<br />

Lobhudeleien, D<strong>in</strong>ners und Empfängen, und da ihm Konferenzen überhaupt<br />

zuwider waren, ließ er sich auf <strong>die</strong>ses gehe<strong>in</strong>misvoll-verführerische<br />

Abenteuer e<strong>in</strong>, befangen von der Außeralltäglichkeit des Unbekannten, denn<br />

ansonsten neigte er eher zu ständiger Vorsicht und Schüchternheit, und das<br />

verlassen se<strong>in</strong>es Schreibtisches schien ihm stets gefährlich, da jenseits des<br />

Möbels das Chaos begann. Aber es zog ihn h<strong>in</strong>, so wie der See <strong>in</strong> Fontanes<br />

"Stechl<strong>in</strong>" - se<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gsroman - <strong>in</strong> unruhigen Zeiten nach unten <strong>in</strong>s<br />

Erd<strong>in</strong>nere zog und drang.<br />

Sie verließen unbemerkt den Saal durch e<strong>in</strong>e Gartentür zum Balkon h<strong>in</strong>aus<br />

und fuhren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em älteren amerikanischen Cadillac mit unbekanntem Ziel<br />

fort. Unruh hatte Angst.<br />

Es dunkelte zwar schon, aber gleitend, nicht auf <strong>die</strong> abrupte Art und Weise<br />

wie <strong>in</strong> vielen südlichen Ländern, wo der Übergang zwischen Tageshelle und<br />

Nachtschwarz nahezu <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itesimal ist.<br />

"Auch e<strong>in</strong>es Forschungsprojektes würdig, <strong>die</strong>ses hier typische Phänomen<br />

'mal zu untersuchen", me<strong>in</strong>te der Unbekannte süffisant. Se<strong>in</strong> Begleiter<br />

reagierte nicht darauf, da er sich ganz auf <strong>die</strong> umgebende Landschaft<br />

konzentrierte. Zunächst durchfuhr man e<strong>in</strong>ige der wie h<strong>in</strong>geworfen<br />

wirkenden, kle<strong>in</strong>en, struktur- und gesichtslosen Ortschaften, <strong>die</strong> oft nur aus<br />

e<strong>in</strong>er Tankstelle bestanden - locker e<strong>in</strong>gerahmt von e<strong>in</strong>er Reihe von<br />

niedrigen Holzhäusern. Um <strong>die</strong> Ortschaften waren - wie um sie<br />

zusammenzuhalten - e<strong>in</strong>e Vielzahl von oft w<strong>in</strong>dschiefen Telegraphenmasten<br />

gruppiert, <strong>die</strong> wiederum unter sich, mit den Gebäuden und<br />

mit fernen, nicht mehr sichtbaren Transferstellen durch e<strong>in</strong> Gewimmel von<br />

Fernleitungen verflochten waren. Ihre Modernität stand <strong>in</strong> verwirrendem<br />

192


Gegensatz zur Baufälligkeit der Gebäude, der Schuppen, oft nur Garagen<br />

mit großer Rolltür, <strong>in</strong> denen man tagsüber Handwerkliches erarbeitete und<br />

nachts auf Matten schlief, soweit es der Lärm der großen Durchgangsstraße<br />

und das auf und ab flackernde Licht der vielfältig bunten Lichtreklamen<br />

erlaubten.<br />

Bald ließ man auch <strong>die</strong>se Ansiedlungen h<strong>in</strong>ter sich und drang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e weite<br />

Ebene e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich bis zum Horizont als e<strong>in</strong>e rotbraune, von wenigem<br />

Gestrüpp unterbrochene, wüstenartige Fläche h<strong>in</strong>zog - nur hier und da<br />

verkrüppelte, laublose Bäume, <strong>die</strong> sich bizarr, wie unter Schmerzen stehend,<br />

mit e<strong>in</strong>er Unzahl kreuz und quer verwachsener Äste und Verästelungen <strong>in</strong><br />

den Himmel verrenkten.<br />

Die beiden Insassen des Wagens hatten bisher geschwiegen, nun versuchte<br />

der geselligere Slowene, e<strong>in</strong> Gespräch mit dem <strong>in</strong>s Schweigen verliebten<br />

Unruh zu beg<strong>in</strong>nen, worauf <strong>die</strong>ser sich aus Gründen der Höflichkeit, wie sie<br />

e<strong>in</strong>em Gast geboten s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>ließ. Unruh erzählte von se<strong>in</strong>er gewöhnlichen<br />

Universitäts- und Lebenskarriere, <strong>die</strong> nach außen h<strong>in</strong> sehr erfolgreich<br />

erschien: erfolgreiches Doktorat, mehrere zeitlich befristete Verträge an<br />

diversen Hochschulen und nun schließlich <strong>die</strong> sichere Verbeamtung als<br />

Professor. Von privater Seite her kamen Hochzeit und <strong>die</strong> Geburt von zwei<br />

gesunden K<strong>in</strong>dern. Aber das war der äußere Glanz: Innerlich fühlte sich<br />

Unruh leer, verfolgt von irgend etwas, ziellos: wozu sollte er <strong>die</strong> vielen<br />

politikwissenschaftlichen Stu<strong>die</strong>renden überhaupt ausbilden? Was sollten<br />

sie werden? Wozu überhaupt <strong>die</strong>se Spät- und Nachgeburt e<strong>in</strong>er<br />

Wissenschaft, <strong>die</strong> doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg <strong>in</strong> der<br />

Bundesrepublik Deutschland e<strong>in</strong>geführt worden war, u.a. auf empfehlendes<br />

Drängen der amerikanischen Besatzungsmacht, <strong>die</strong> den Deutschen endlich<br />

Demokratie <strong>in</strong>s Hirn blasen wollte. Es war e<strong>in</strong> Leben, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stehen<br />

geendigt hatte - bei aller nach außen gezeigten Geschäftigkeit.<br />

Das Leben des Slowenen - nennen wir ihn Ustach - war Bewegung <strong>in</strong> jeder<br />

H<strong>in</strong>sicht: "Me<strong>in</strong> Vater, der <strong>in</strong> hoher Stellung der Regierung der 40er Jahre<br />

angehörte, zeigte mir <strong>die</strong> Welt der Bücher - und das Land, dem ich<br />

entstamme. Nach dem Sieg der kommunistischen Verbrecher unter Tito 1945<br />

war ich gezwungen, das Land zu verlassen. Me<strong>in</strong> Vater wurde h<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Ich g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> das noch englische In<strong>die</strong>n, weil mir dort das, was man<br />

Demokratie nennt, noch am erträglichsten schien. Kolonialherren s<strong>in</strong>d eben<br />

noch Herren (Unruh lachte e<strong>in</strong> wenig verächtlich) - und meistens haben sie<br />

ja auch viel Gutes bewirkt: Gesundheits-, Schul-, Universitäts-, Straßenusw.-<br />

Wesen. Man soll sich davon nicht durch <strong>die</strong> heute modische Kritik irre<br />

machen lassen. Nach dem Sieg der Aufständischen mußte ich wieder fliehen,<br />

<strong>die</strong>ses Mal über Australien nach Südafrika, weil ich mir dort am ehesten<br />

Arbeit erhoffte. Und sie nun auch bereits seit zehn Jahren habe - Professor.<br />

Aber mich drängt es weg. Südafrika ist ke<strong>in</strong> Land, ke<strong>in</strong>e gefestigte Nation,<br />

nur e<strong>in</strong> Sammelsurium von Ethnien, <strong>die</strong> sich nicht f<strong>in</strong>den, gegene<strong>in</strong>ander<br />

kämpfen und letztlich das wenige. Geme<strong>in</strong>same, was noch da ist, durch<br />

193


Wertzerfall zum Verschw<strong>in</strong>den br<strong>in</strong>gen. Das hält hier nicht mehr lange - und<br />

der Puritanismus ist nur das verzweifelte letzte Aufbäumen e<strong>in</strong>es<br />

zerfallenden, im Sterben liegenden Körpers, ähnlich, wie das Römische<br />

Reich noch Siege an se<strong>in</strong>en Grenzen errang, als se<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>de - <strong>die</strong> Christen<br />

und Germanen - schon selbst Römer geworden waren. Rom gab sich selbst<br />

auf. Ich sage nur: lesen Sie Dostojewski. Es gibt Kräfte, von denen <strong>die</strong><br />

Wissenschaft nichts weiß! Wissenschaft lügt!", schloß er apodiktisch,<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht ohne provozierend-ironischen Unterton.<br />

Unruh antwortete darauf nicht, obwohl es ihn eigentümlich ang<strong>in</strong>g, <strong>die</strong><br />

Ablehnung überwog jedoch.<br />

Er wußte nicht, wo er war und woh<strong>in</strong> der Weg g<strong>in</strong>g. Nur e<strong>in</strong>es spürte er<br />

<strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv: er me<strong>in</strong>te es sogar schon an der Haut, <strong>in</strong> der Poren, <strong>in</strong> der Nase<br />

spüren zu können. Und richtig: Nach rund dreistündiger, kurvenreicher<br />

Fahrt über schottrige, lochdurchsetzte Pisten kamen sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hafenstadt<br />

an, auf deren Ortse<strong>in</strong>gangschild der Name "St. Katharania" stand. Zwischen<br />

den Häuserreihen h<strong>in</strong>durch sah man bereits das weite Meer, <strong>in</strong> dem sich <strong>die</strong><br />

Lichter der Stadt spiegelten.<br />

Sie stellten den Wagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Seitengasse ab, von der sie direkt zur<br />

Hauptgeschäftsstraße kamen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>em kulturellen Gemisch von Elementen<br />

aus nahezu allen Kulturen glich - man war eben im mexikanischkatholischen<br />

Neu-In<strong>die</strong>n an der Grenze zu den USA - zugegebenermaßen<br />

e<strong>in</strong>e fiktive, jedoch repräsentative Lokalisation, <strong>die</strong> jedoch der Gemütswelt<br />

der beiden entsprach oder: immer mehr zu entsprechen begann. Sie formten<br />

ihre Umwelt, <strong>die</strong> sie formte.<br />

Die Geschäftsstraße stieg leicht e<strong>in</strong>en Berg an, dessen Gipfel man noch nicht<br />

erkennen konnte.<br />

Es war schon neun Uhr abends, es herrschte aber noch e<strong>in</strong> für den Europäer<br />

Unruh geschäftiges Treiben: Die Läden, kle<strong>in</strong>e basarähnliche<br />

Schachtelhäuschen, nur nach vorne offen, nur aus e<strong>in</strong>em Raum bestehend,<br />

dicht an dicht, manchmal auch übere<strong>in</strong>andergeschichtet, wobei <strong>die</strong> obere<br />

Schachtel durch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, seitliche Treppe zu erreichen war - <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Läden wurden alle Waren <strong>die</strong>ser Welt angeboten und nach kräftigem<br />

Feilschen an <strong>die</strong> <strong>in</strong>teressierten Kunden verkauft, wodurch <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong><br />

höllischer Lärm entstand. Der enge Weg, der sich aus den Schachteln bildete<br />

und durch e<strong>in</strong>e Reihe von aufwärts führenden Stufen und Treppen<br />

unterbrochen wurde, war überfüllt mit sich ane<strong>in</strong>ander reibenden, <strong>in</strong> der<br />

Hitze schwitzenden und durch <strong>die</strong> dichte Enge dampfenden Leibern, <strong>die</strong> als<br />

e<strong>in</strong>zelne kaum noch wahrzunehmen waren, sondern e<strong>in</strong>e lang sich<br />

h<strong>in</strong>wälzende Schlange bildeten. Nur <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sich dem entrangen und vor<br />

dem e<strong>in</strong>en oder anderen Geschäft stehen blieben, waren wieder als solche zu<br />

erkennen, um sofort nach erledigtem Geschäft <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong>igen Leib wieder<br />

aufzugehen. Ustasch g<strong>in</strong>g dar<strong>in</strong> auf, er badete dar<strong>in</strong>, er genoß es, obwohl<br />

das Dampfen und Walzen ihn abstieß. Aber er me<strong>in</strong>te - wie er später<br />

erläuterte -, daß der Intellektuelle - er bevorzugte <strong>die</strong>sen Begriff gegenüber<br />

194


der ihm zu trivialen Berufsbezeichnung "Wissenschaftler" - im Volke leben<br />

müsse, aber als Aristokrat, für das Volk, aber nicht immer unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> allzu<br />

naher Hautfühlung mit dessen arbeitsgegerbter Haut und der oft<br />

schmutzigen Kleidung - meist <strong>die</strong>sen scheußlichen Jeans. "Aber das Volk<br />

lebt, es hat se<strong>in</strong>e Sitte, und <strong>die</strong> Wissenschaft hat eigentlich nur <strong>die</strong> Aufgabe,<br />

<strong>die</strong>se Sitte zu bewahren - aber nicht zu reflektieren (er nannte das Verb mit<br />

e<strong>in</strong>em Degout um <strong>die</strong> Lippen), denn Reflexion ist der Tod aller Sittlichkeit."<br />

Unruh wollte an dem e<strong>in</strong>en oder anderen Geschäft stehen bleiben, wo ihm<br />

ästhetisch besonders gelungene, bunt ziselierte Vasen aus atztekischer<br />

Tradition aufgefallen waren - aber Ustasch drängte weiter: "Wir müssen uns<br />

beeilen, wenn wir das Ziel noch rechtzeitig erreichen wollen. Wissen Sie<br />

übrigens, daß hier alles untertunnelt ist - nicht nur zur Kanalisation, <strong>die</strong> hier<br />

nebenbei gesagt auch meist direkt <strong>in</strong>s Meer geht -, ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, das<br />

Tunnelsystem, das noch aus vorspanischer Zeit stammt, <strong>die</strong>nt kultischen<br />

Zwecken, vor allem dazu, das Ziel des menschlichen Dase<strong>in</strong>s jenseits des<br />

geschäftlichen Getümmels zu erreichen. Aber das kann man erst vom Ziel<br />

her erkennen."<br />

Je weiter sie nach oben kamen, um so mehr drang aus den Geschäften der<br />

Geruch von Weihrauchkerzen, <strong>die</strong> von älteren Frauen <strong>in</strong> weißen Gewändern<br />

gehalten wurden. Denn langsam näherte man sich dem katholischen<br />

Heiligtum der Stadt, das ihr den Namen gegeben hatte. Die heilige<br />

Kathar<strong>in</strong>a hatte vor 525 Jahren e<strong>in</strong>en dem Suff verfallenen spanischen<br />

Bischof auf bis heute unerklärliche Weise von <strong>die</strong>ser Sünde befreit und<br />

wurde darauf schon von Papst Alexander II. heilig gesprochen.<br />

Die stolze Barockkirche, <strong>die</strong> sich nun vor den beiden erhob, stellte <strong>in</strong> ihrem<br />

Grundriß e<strong>in</strong> Kreuz dar, das jedoch an beiden Längsseiten durch im<br />

Halbkreis angeordnete Kreuzgänge ergänzt oder vervollständigt wurde.<br />

Kreuz und Kreis bildeten e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, sowie <strong>in</strong> den Fresken des Inneren<br />

christliche Motive mit <strong>in</strong>dianischen Schlangenmustern verwoben waren<br />

(was Unruh im Gegensatz zu Ustasch gefiel).<br />

Ansonsten Barock, Barock, Barock, Muscheln, Schnörkel, Ecken und W<strong>in</strong>kel,<br />

goldene Ränder und Borden, Frohse<strong>in</strong> verstrahlende Engel und e<strong>in</strong> Priester<br />

auf der noch erhöhten Kanzel (<strong>in</strong> Westeuropa trauen sich das Pfarrer schon<br />

gar nicht mehr), der wie der Prophet Ezechiel gegen alle Sünden der Welt<br />

zugleich mit der Keule von Bibel und Wort ang<strong>in</strong>g - mit groß ausladenden<br />

gestikulierenden Gebärden, se<strong>in</strong>e schwarzen dicken Augenbrauen im<br />

rechten Moment immer spitz nach unten und <strong>in</strong>nen zusammenziehend, <strong>die</strong><br />

Brille zu <strong>die</strong>sem Zweck abnehmend, um mit ihr auf den ihm vorliegenden<br />

Text zu klopfen, was deutlich bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> letzten Reihen vernehmbar war. Hier<br />

war Ethik und Moral angesagt - und da das unseren beiden Wissenschaftlern<br />

wegen der <strong>in</strong> Jahrhunderten bewiesenen Ineffizienz <strong>die</strong>ses<br />

Verfahrens nicht so recht gefiel, g<strong>in</strong>gen sie im Kirchenkreuz weiter, um am<br />

Ende des Raumes <strong>in</strong> <strong>die</strong> Krypta abzusteigen, durch <strong>die</strong> sie <strong>in</strong> das bereits<br />

angedeutete Tunnelsystem gerieten.<br />

195


Hier war <strong>die</strong> Dichte der Menschenmassen noch weit aus größer, <strong>die</strong> Hitze<br />

und der Gestank waren nahezu unerträglich, was jedoch, je länger man sich<br />

dem Strom e<strong>in</strong>ordnete, verschwand. Am Ende des Ganges eröffnete sich<br />

ihnen e<strong>in</strong> großer, fackelbeleuchteter Saal, e<strong>in</strong>e Grotte mit Stalagmiten, mit<br />

e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en quadratischen See im Zentrum, <strong>in</strong> dessen Mitte e<strong>in</strong><br />

Tempelschiff schwamm. Um <strong>die</strong>ses Zentrum drängte sich e<strong>in</strong>e Unmasse<br />

Menschen, e<strong>in</strong> verschmolzenes Konglomerat, kniend, <strong>in</strong>brünstig wie aus<br />

e<strong>in</strong>er Kehle s<strong>in</strong>gend, e<strong>in</strong> Meer von Rücken, das auf- und abwogte, <strong>die</strong> Flut<br />

brachte immer neue Gläubige e<strong>in</strong>, während irgendwo im H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong><br />

Ebbe <strong>die</strong> derart Begläubigten wieder abzog und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Oberwelt des<br />

katholischen Gottes<strong>die</strong>nstes entließ, wo sie dann <strong>die</strong> Rituale des Vaterunsers<br />

usw. ableisteten - allerd<strong>in</strong>gs nun durchglüht vom Untergründigen der Tiefe<br />

von Welt und Seele - von Kräften und Bewegungen, <strong>die</strong> man <strong>in</strong> Westeuropa<br />

noch im Mittelalter kannte, nun aber vergessen und <strong>in</strong>s Animalische des<br />

eigenen Leibes verdrängt hatte - mit all' den Folgen von Ausbrüchen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>se Kräfte an nicht gewollten und meist auch nicht zivilisierten Stellen<br />

f<strong>in</strong>den und auch f<strong>in</strong>den müssen - "denn das ist wirklich!" - sagte Ustasch zu<br />

Unruh emphatisch und mitgerissen vom Gewoge.<br />

Auf dem vergoldeten kle<strong>in</strong>en Tempel, der sich auf dem dunklen Wasser<br />

stets leicht schwankend wiegte, stand der mit e<strong>in</strong>em adidas-Emblem<br />

werbende Hohe Priester <strong>die</strong>ser mystisch submentalen Religion, der <strong>die</strong><br />

jungen und auch älteren, männlichen und weiblichen Anwärter auf e<strong>in</strong><br />

Priesteramt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em genau seit Jahrhunderten feststehenden Ritus e<strong>in</strong>weihte,<br />

<strong>in</strong>itiierte, mit dem Geheimwissen des Kultus' salbte. Ihr nahezu<br />

nackter Körper wurde mit dem Blut e<strong>in</strong>er seitwärts geköpften Ziege<br />

e<strong>in</strong>gerieben, es wurde aus besonders präparierten Bechern Essenzen aus<br />

spezifischen Mischungen magischer pflanzlicher und tierischer Säfte<br />

getrunken, <strong>die</strong> Beteiligten gerieten <strong>in</strong> halbbewußte Trance und begannen<br />

tiefgründig-unverständliche Sprüche zu stammeln, <strong>die</strong> <strong>in</strong> charismatischer<br />

Übertragungskraft auf <strong>die</strong> Menge übergriffen und e<strong>in</strong> melodischdisharmonisches,<br />

jauchzend-jammerndes Geschrei erzeugten, <strong>in</strong> dem jeder<br />

e<strong>in</strong>stimmte - auch unsere beiden Freunde, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Moment auch<br />

körperlich sehr nahe gekommen waren. Welt und Ich wurden hier e<strong>in</strong>s, <strong>die</strong><br />

Unsitte, sich geistig stets über sich selbst zu beugen, verschwand,<br />

Gegensätze zwischen Ständen und Schichten lösten sich auf, und <strong>die</strong> Kräfte,<br />

<strong>die</strong> vom Seezentrum ausg<strong>in</strong>gen, vermochten selbst Krankheiten und<br />

Gebrechlichkeiten zu heilen oder so zu l<strong>in</strong>dern, daß Erleichterung spürbar<br />

wurde. Innerlich verspürte man e<strong>in</strong> Frieden br<strong>in</strong>gendes Gleichgewicht, das<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>ander widerstrebenden Strebungen im Menschen auf e<strong>in</strong>er höheren<br />

Ebene zusammenführte.<br />

Benommen ließen sie sich von der durchziehenden Menge nach vorne<br />

reißen, sie flossen am See vorbei und wurden h<strong>in</strong>ten an der Mündung<br />

wieder <strong>in</strong>s Kirchhaus des Katholizismus ausgespült, wo sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der<br />

hochragenden Holzbänke h<strong>in</strong>ter Altar und Kanzel setzten, <strong>die</strong> ansonsten den<br />

Mönchen und Würdenträgern der Hochkirche vorbehalten waren. Der<br />

196


Gottes<strong>die</strong>nst war gerade bei der Wandlung angekommen, an der sie auf ihre<br />

Art teilgenommen hatten, und nachdem der große Schlußchoral gesungen<br />

worden war und <strong>die</strong> Kirche sich weitgehend geleert hatte und nachdem <strong>die</strong><br />

Freunde noch e<strong>in</strong>e Zeit lang im Angesicht e<strong>in</strong>er Statue der Mutter Gottes<br />

geschwiegen hatten, kamen sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> zunächst zögerliches, fast flüsternd<br />

geführtes Gespräch: "Die frühen Christen kannten das noch", vermerkte<br />

unser Friedensreich, <strong>in</strong>dem er das Erlebte religions-soziologisch zu<br />

rationalisieren hoffte, "es gab <strong>die</strong> charismatischen Pf<strong>in</strong>gstgeme<strong>in</strong>den, und<br />

heutzutage sche<strong>in</strong>en sie wieder hier und da <strong>in</strong> Europa zu entstehen, aber<br />

wohl eher als Mode <strong>in</strong> der Folge der vielen Moden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zivilisierten aus<br />

Langeweile erf<strong>in</strong>den, um sie dann schnell wieder - nach entsprechender<br />

Verarbeitung <strong>in</strong> den Me<strong>die</strong>n - zu vergessen, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Archive zu verbannen,<br />

vielleicht deren verbliebene Anhänger auch verrückt zu erklären und <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

dafür vorgesehenen Anstalten abzuschieben. Wir haben viel verloren,<br />

hoffentlich nicht unwiederbr<strong>in</strong>glich."<br />

Der untergründige und h<strong>in</strong>ters<strong>in</strong>nige Ustasch hatte se<strong>in</strong>en Kollegen nun<br />

dort, woh<strong>in</strong> er wollte - er von <strong>in</strong>tellektueller Warte her -, denn er me<strong>in</strong>te, nur<br />

solche mystischen Kräfte könnten <strong>die</strong> Menschheit erwecken, retten, befreien,<br />

zusammenführen: "Was s<strong>in</strong>d Leben und Tod und geschweige erst recht<br />

Entwicklungshilfeprojekte und westlicher Humanismus, der den Menschen<br />

auf Vernunft reduziert, im Angesicht <strong>die</strong>ser Kräfte. Der Untergrund, den wir<br />

hier erlebt haben, ist der für <strong>die</strong> hiesigen Menschen alles bestimmende<br />

Mittelpunkt, <strong>die</strong> Welt ist vergleichsweise nur relativ und vorübergehend."<br />

Ustasch erläuterte weiter, daß nur e<strong>in</strong>e Mobilisierung <strong>die</strong>ser vitalen Kräfte<br />

den Unterschied von Reich und Arm <strong>in</strong> und zwischen den Gesellschaften zu<br />

überw<strong>in</strong>den vermöge und <strong>die</strong> Menschen auch geistig glücklicher mache und<br />

überhaupt <strong>die</strong> ganze Probleme, um <strong>die</strong> <strong>die</strong> politische Philosophie seit Platon<br />

folgen- und lösungslos kreist, h<strong>in</strong>ter sich lassen, wie nichts ersche<strong>in</strong>en lassen<br />

werde.<br />

Ustasch sagte das nicht ohne Absicht, denn er wollte Unruh auch<br />

<strong>in</strong>tellektuell und politisch überzeugen - nur <strong>die</strong> Intellektuellen als den<br />

wesentlichen Motoren gesellschaftlicher Entwicklung waren ja se<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach der Überzeugungsarbeit Wert -aber Unruh, so ergriffen er<br />

war, spürte das Gewollte und das Falsche, letztlich Menschenverachtende,<br />

Ustasch schien e<strong>in</strong>e Bewegung schaffen zu wollen, <strong>die</strong> ihn an unheilvolle<br />

Zeiten <strong>in</strong> der jüngsten europäischen Geschichte er<strong>in</strong>nerte.<br />

Der Empfang<br />

Als <strong>die</strong> beiden <strong>in</strong> das Tagungsgebäude zurückgekehrt waren, hatte<br />

mittlerweile Podsdanz e<strong>in</strong>en Gesprächspartner gefunden, der abgeklärt<br />

genug war, sich se<strong>in</strong>e wissenschaftliche Anschauungen anzuhören. Der<br />

Dritte stand bereits <strong>in</strong> der Mitte der Gruppe, <strong>die</strong> er angesteuert hatte, bei der<br />

er allerd<strong>in</strong>gs denen den Rücken zukehrte, <strong>die</strong> er für den weniger wichtigen<br />

Teil der Gruppe hielt. Er sprach am meisten mit dem Dekan der<br />

Philosophischen Fakultät der Universität von Pamplona.<br />

197


In der entgegengesetzten Ecke des Saales hatten sich schon recht früh - kurz<br />

nach Eröffnung der Séance - zwei amerikanische Wissenschaftler<br />

zusammengetan, sobald sie ihrer wahr geworden waren, e<strong>in</strong><br />

wissenschaftliches Zwill<strong>in</strong>gspärchen begonnen, beide hoch angesehen <strong>in</strong> der<br />

Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>de, weil sehr e<strong>in</strong>flußreich. Diesen E<strong>in</strong>druck<br />

unterstrichen sie durch ihr geheimnisvolles Getuschel unter vier Augen <strong>in</strong><br />

der h<strong>in</strong>teren Ecke, <strong>die</strong> trotz ihrer Abgelegenheit von allen e<strong>in</strong>zusehen war.<br />

Nur zuweilen konnte man e<strong>in</strong>zelne Begriffe aus dem Gespräch<br />

wahrnehmen, es waren meist <strong>die</strong> Namen von Städten und Universitäten. Es<br />

wurden Informationen, Gerüchte, wissenschaftliche Ergebnisse, Stellen und<br />

sonstig Wissenswertes, zuweilen auch Familiäres ausgetauscht, Hände und<br />

Arme dabei <strong>in</strong>tensiv gestikulierend h<strong>in</strong> und her bewegend.<br />

Jenseits von <strong>die</strong>sem nicht seltenen Treiben saß <strong>in</strong> sich zusammengesackt der<br />

Doyen der Politikwissenschaft, <strong>in</strong>sbesondere der Teildiszipl<strong>in</strong> der<br />

Internationalen Beziehungen, Prof. Dr.' Morgenvelli aus Chicago, allerd<strong>in</strong>gs<br />

gebürtig <strong>in</strong> Florenz. Er hatte e<strong>in</strong>e der Schulen der Internationalen Politik<br />

begründet, <strong>die</strong> großen E<strong>in</strong>fluß hatte und hat, und es war ihm gelungen,<br />

überall se<strong>in</strong>e Schüler h<strong>in</strong> zu plazieren, bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Außenm<strong>in</strong>isterien. Se<strong>in</strong><br />

größter Kummer war es, daß es ihm im Gegensatz zu e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er alerten<br />

Schüler nie gegönnt war, amerikanischer Außenm<strong>in</strong>ister zu werden. Er war<br />

dazu zu unkonventionell, er hatte sich sogar schon Mitte der 60er Jahre<br />

gegen den Vietnam-Krieg ausgesprochen, weil er gar nicht e<strong>in</strong>sehen konnte,<br />

was <strong>die</strong> USA dort im rohstofflosen Urwald zu suchen hätten.<br />

Die Grundessenz se<strong>in</strong>er Philosophie war nicht neu, daß nämlich der Mensch,<br />

<strong>in</strong>sbesondere der Politiker und am meisten der <strong>in</strong> der Außenpolitik Tätige,<br />

von Grund auf oder zum<strong>in</strong>dest potentiell (darüber stritt noch se<strong>in</strong>e<br />

Geme<strong>in</strong>de) unholdisch sei. Er begründete <strong>die</strong>s meistens mit der Frage an<br />

Zweifelnde, ob sie noch nie als Fußgänger bei rot über <strong>die</strong> Ampel gegangen<br />

seien. Er hielt sich auch selbst für böse, stets von Schuldgefühlen verfolgt,<br />

das nahm solche Ausmaße an, daß er ungern Prüfl<strong>in</strong>ge durchs Examen<br />

fallen ließ, weil er sich das als Schuld mangelnder Lehrtätigkeit und<br />

didaktischer Fähigkeiten zugeschrieben hätte.<br />

Letztlich gründete <strong>die</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abgrundtiefen Selbstunsicherheit und <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Nichtvertrauenkönnen auf <strong>die</strong> anderen, so daß er stets jede<br />

Sitzgelegenheit, auf <strong>die</strong> er sich niederzulassen beabsichtigte, umsichtig,<br />

möglichst unauffällig, aber doch sehr gründlich mit dem Drücken der Hände<br />

auf <strong>die</strong> Sitzfläche daraufh<strong>in</strong> prüfte, ob sie auch stabil sei und er nicht<br />

e<strong>in</strong>zubrechen drohe. Je älter er wurde, um so exzessiver wurde <strong>die</strong>ser<br />

Zwang, es erfolgten immer mehr gleichzeitige Prüfungen beim gleichen<br />

Stuhl oder Sessel. Angst war ihm allgegenwärtig - im Alltag und <strong>in</strong> der<br />

Politik, so daß se<strong>in</strong> Leben stets mit e<strong>in</strong>em angenehmen Gläschen Portwe<strong>in</strong><br />

begleitet war - wobei <strong>die</strong> Verkle<strong>in</strong>erungsform nicht wörtlich zu nehmen ist.<br />

Se<strong>in</strong>e Depression - das war ihr e<strong>in</strong>ziger Vorteil - vergeistigte se<strong>in</strong> bläßliches<br />

Gesicht oder man ist fast geneigt, vom Antlitz zu sprechen, derart, daß es<br />

se<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Karriere nur zu befördern <strong>in</strong> der Lage war.<br />

198


Die Grüppchen und E<strong>in</strong>zelnen waren wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Amphitheater im<br />

Halbkreis angeordnet, bed<strong>in</strong>gt durch Zufall und durch <strong>die</strong> Architektur des<br />

Saales.<br />

Als nun das Konferenzbüro mitteilen ließ, daß rund zwei Drittel der<br />

Konferenzteilnehmer e<strong>in</strong>getroffen seien und daß mit mehr nicht zu rechnen<br />

sei (denn viele meldeten sich üblicherweise nur an, um auf den vor Beg<strong>in</strong>n<br />

verteilten Teilnehmerlisten zu ersche<strong>in</strong>en), und als der nahe Flughafen<br />

meldete, daß der lang erwartete erste und Eröffnungsreferent, Prof. Dr.<br />

Leibenrat, bereits gelandet sei, betrat der amerikanische Tagungsleiter und<br />

-organisator den durch Sche<strong>in</strong>werfer erhellten Mittelpunkt des Kreises,<br />

dessen e<strong>in</strong>e Hälfte aus den Wissenschaftlergrüppchen bestand und <strong>in</strong> dessen<br />

anderer Hälfte kontrastiv und völlig unpassend imitierte antike Statuen<br />

postiert worden waren. Von den Statuen hoben sich <strong>die</strong> wenigen<br />

Wissenschaftler<strong>in</strong>nen kaum ab, nicht weil sie ähnlich marmor-weiß und<br />

unbekleidet gewesen wären, sondern wegen der Ähnlichkeit <strong>in</strong> Statur und<br />

Haltung, <strong>die</strong> <strong>in</strong>sgesamt das Bild e<strong>in</strong>es sich grazil biegenden, knöchrigen<br />

Fragezeichens ohne Punkt ergab. Die Präsident<strong>in</strong> der politikwissenschaftlichen<br />

Vere<strong>in</strong>igung Frankreichs, Madame du Soleil, hatte sogar e<strong>in</strong>e<br />

Brille, deren oberer Teil sich <strong>in</strong> sonnenähnlichen Strahlen über <strong>die</strong> Stirn zog -<br />

von ihrem Hut, der denen der zwanziger Jahre glich, ganz zu schweigen.<br />

Der im Mittelpunkt war der Leiter des Unternehmens (ohne daß er für den<br />

Inhalt der Konferenz verantwortlich gemacht werden kann); er hatte es<br />

durch Geschick, vermittelnd-verb<strong>in</strong>dliches Wesen und gute Beziehungen<br />

erreicht, <strong>die</strong>se Konferenz mit ihrem F<strong>in</strong>anzaufwand überhaupt zustande zu<br />

br<strong>in</strong>gen (für deren Inhalt er aber nicht verantwortlich gemacht werden<br />

kann).<br />

Da es schon etwas dunkel geworden war, hielt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand e<strong>in</strong>e Kerze,<br />

um das mit der anderen Hand gehaltene Manuskript der <strong>E<strong>in</strong>führung</strong>srede<br />

lesen zu können. Er verstand es dabei, mit beiden Händen auch noch se<strong>in</strong>e<br />

Rede gestikulierend zu begleiten.<br />

Die Rede g<strong>in</strong>g weniger auf den Inhalt der Konferenz e<strong>in</strong>, sondern pflegte <strong>die</strong><br />

üblichen Freundlichkeiten, Begrüßungen und Danksagungen - wie sie<br />

gewünscht waren -, um dann abschließend mit e<strong>in</strong>em freundlichen Lächeln<br />

<strong>die</strong> Gesellschaft aufzufordern, den Vorlesungssaal selbst aufzusuchen, dort<br />

zunächst das kalte Buffet e<strong>in</strong>zunehmen und sich dann - ggf. aus Zeitgründen<br />

noch mit dem ethnic-food-Teller niederzulassen, um dem Gastredner durch<br />

Präsenz <strong>die</strong> ihm gebührende Ehre zu erweisen.<br />

E<strong>in</strong> nicht gehaltener Vortrag<br />

Das Präsidium der Konferenz hatte auf e<strong>in</strong>er bühnenähnlichen Erhöhung an<br />

der Vorderseite des Saales, der auch als Theater benutzt wurde, bereits Platz<br />

199


genommen, über sich <strong>in</strong> großen phosphoreszierenden Lettern an den<br />

Vorhang geheftet das Tagungsmotto "Für e<strong>in</strong>e neue Weltpolitik", das aus<br />

Respekt vor dem Tagungsort <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nicht ganz gelungenen Spanisch<br />

geschrieben war.<br />

Der Saal füllte sich langsam, wenn auch nicht <strong>in</strong> dem erhofften Maße, <strong>die</strong><br />

h<strong>in</strong>teren Reihen blieben leer, und vorne waren vom Präsidium aus Lücken<br />

zu erkennen. Aber es war nicht so leer, daß es den Veranstaltern hätte<br />

pe<strong>in</strong>lich se<strong>in</strong> müssen - und damit war der Erfolg der Veranstaltung zu e<strong>in</strong>em<br />

großen Teil schon gesichert.<br />

Schon hörte man über dem Konferenzgebäude Hubschrauberlärm, der<br />

Referent schien zu kommen, zunächst wurde aber dem Tagungsleiter nur<br />

e<strong>in</strong> Zettel, den der Hubschrauber statt des Referenten gebracht hatte,<br />

e<strong>in</strong>gereicht, daß sich <strong>die</strong>sbezüglich e<strong>in</strong>e Verzögerung ereignet hätte, womit<br />

sich das Trauma jedes Veranstaltungsleiters: "Nicht nur <strong>die</strong> Gäste, sondern<br />

auch der Referent fehlen!" zu realisieren drohte.<br />

Das sprach sich schnell herum, und der Saal begann sich <strong>in</strong> Richtung<br />

Gastronomie zu leeren. Nur wenige blieben, unter ihnen unser<br />

nimmermüder Unruh, der noch <strong>in</strong> Denken und Fühlen dem gerade erlebten<br />

Ausflug anh<strong>in</strong>g. E<strong>in</strong>e Welt hatte sich ihm geöffnet, <strong>die</strong> ihm unbekannt<br />

gewesen war, se<strong>in</strong>en Augen waren noch weit geöffnet, wie durch<br />

Rauschgifte im Blickfeld erweitert. Erweitert <strong>in</strong> Zeit und Raum, als Seher <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Zukunft durch Rückschau <strong>in</strong> <strong>die</strong> Vergangenheit, fernen Kräften folgend,<br />

wie das K<strong>in</strong>d, das <strong>in</strong> der Muschel das Meer deutlich rauschen hören kann.<br />

Zu <strong>die</strong>sen gesegneten K<strong>in</strong>dern gehörte auch Unruh, der trotz allen Strebens<br />

nach Beamtensicherheit den Sensus für das Irrationale bewahrt hatte und<br />

nun <strong>in</strong> der Stille des fast leeren' Festsaales aus der Souffleur-Muschel vor<br />

dem Präsidiumstisch e<strong>in</strong>e Art von metaphysischem Rauschen vernahm,<br />

Sphärenklänge, wie sie wohl von den alten Griechen gehört wurden, wenn<br />

sich <strong>die</strong> Bahnen der im Kreise laufenden Gestirne rieben, um aus dem<br />

Vielklang der Töne e<strong>in</strong>e ganze Melo<strong>die</strong> durch göttliche Fügung komponiert<br />

zu fühlen.<br />

Die Muschel öffnete sich aufgrund des melodischen Drängens, legte ihre als<br />

Haube zusammengefügten Teile ause<strong>in</strong>ander auf den Boden, wie e<strong>in</strong>e Blume<br />

<strong>die</strong> Knospe öffnet und e<strong>in</strong>en Stern aus Blättern und Blüten um sich legt. Aus<br />

<strong>die</strong>sem Strahlenkranz erstieg nun - von e<strong>in</strong>er Theatermasch<strong>in</strong>erie<br />

hochgedreht - e<strong>in</strong> älterer Herr mit Lockenperücke (er me<strong>in</strong>te ihn schon <strong>in</strong><br />

der Krypta gesehen zu haben) und rot glänzender Bekleidung, <strong>die</strong> an allen<br />

nur möglichen Enden und Ecken mit Rüschen besetzt war.<br />

Mit prophetischem Donnern <strong>in</strong> der Stimme - begleitet von e<strong>in</strong>em fulm<strong>in</strong>ant<br />

brillierenden Feuerwerk - rief er teilweise französisch, teilweise late<strong>in</strong>isch<br />

und auch teilweise hannoversch-deutsch sprechend - nicht <strong>in</strong> den fast leeren<br />

Saal - welche <strong>in</strong>tellektuelle Verschwendung wäre es gewesen -, sondern an<br />

<strong>die</strong> Menschheit der Weltgeschichte, vor allem <strong>die</strong> der Moderne, <strong>die</strong> er aus<br />

se<strong>in</strong>er metaphysischen Position vor se<strong>in</strong>em Augen erstehen sah und<br />

200


erbärmlich empfand: Nicht Harmonie, sondern Chaos; nicht kräftiger W<strong>in</strong>d,<br />

sondern stehendes Gewässer bestimme <strong>die</strong>ses Agglomerat ohne Geist.<br />

"Ich br<strong>in</strong>ge Euch Tauben und Bl<strong>in</strong>den - auch Dir, Unruh - e<strong>in</strong>e Botschaft,<br />

auch wenn Ihr sie bis auf wenige wie vor Sodom nicht hören könnt oder<br />

wollt," rief er, Zarathustra, Christus und Nietzsche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kopierend, beim<br />

Donnern se<strong>in</strong>er Stimme <strong>die</strong> Nasenflügel aufblähend und arrogant <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Backen schiebend, um gleichzeitig den Brustkorb dabei wie e<strong>in</strong> stolzer Puter<br />

gegen das Rednerpult anschwellen zu lassen, <strong>die</strong> Knöpfe e<strong>in</strong>er starken<br />

Zerreißprobe aussetzend. "Ich werde von Kräften und Bewegungen<br />

sprechen, <strong>die</strong> Eure Wissenschaft vergessen hat - und zwar nicht Kräfte und<br />

Bewegungen, wie sie vom Messmerismus oder<br />

hypnothischen Theorien oder Magnetiseuren mehr oder weniger spekulativ<br />

angenommen werden, sondern Kräfte und Bewegungen, <strong>die</strong> der Rationalität<br />

entstammen und <strong>die</strong> rational erfaßt werden können.<br />

Was ich Euch als Fehler oder besser: als Fehlentwicklung vorwerfe? Ich<br />

werfe Euch Nachgeborenen der 300 Jahre nach mir vor, daß Ihr <strong>die</strong>se<br />

Bewegung <strong>in</strong> der Welt zwar irgendwie zugesteht, aber doch nicht voll erfaßt,<br />

als sei alles <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kästchen Eurer Kategorien statisch-statistisch<br />

e<strong>in</strong>zuordnen; Ihr tut so, als sei der Mensch e<strong>in</strong> sitzendes oder stehendes<br />

Wesen, obwohl er doch wohl seit Jahrhunderttausenden gegangen ist,<br />

gewandert und gejagt hat, auch gejagt worden ist und fliehen mußte. Er<br />

mußte sich alle<strong>in</strong> schon durch <strong>die</strong>se örtlichen Bed<strong>in</strong>gungen immer ändern,<br />

und <strong>die</strong>ses Ändern bewirkte Lernen und Weiterentwicklung. Ihr aber<br />

erschreckt Euch, wenn Menschen migrieren, anstatt <strong>die</strong>s als den<br />

Normalzustand zu betrachten.<br />

Und <strong>die</strong> Weltgeschichte war und ist Bewegung? Was machten <strong>die</strong> ersten und<br />

frühen Händler, <strong>die</strong> von Kreta nach Ägypten zogen, um dort ihre Waren zu<br />

verkaufen und neue e<strong>in</strong>zukaufen? Sie brachten nicht nur Güter über <strong>die</strong><br />

Entfernungen h<strong>in</strong>, sie transportierten - um es despektierlich auszudrücken -<br />

auch kulturelle Muster, über <strong>die</strong> Bilder auf Vasen und Teppichen, über das<br />

Hafenkneipengerede, auch über aufgebaute verwandtschaftliche<br />

Beziehungen, über den Verkauf fremdländischer Sklaven. Was taten <strong>die</strong><br />

Missionare? Sie mordeten nicht nur, Missionarismus gab es immer und wird<br />

es immer geben: So kam es zur Indisierung Ostasiens, zur Arabisierung des<br />

Mittelmeerraumes, zur Ausbreitung des Konfuzianismus - durch konkret<br />

wandernde Prediger wie Paulus, und wie Buddha und wie Franz von Assisi,<br />

durch sonst nichts, nicht durch den frei schwebenden Geist, sondern durch<br />

<strong>die</strong> Tat der Menschen. In <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht s<strong>in</strong>d auch <strong>die</strong> Kreuzzüge als<br />

Kulturkontakt positiv zu werten - und letztlich ja auch <strong>die</strong> Christianisierung<br />

Amerikas! Auch <strong>die</strong> Ritter und Helden der Sagen und Mythen s<strong>in</strong>d<br />

Kulturträger, so wie überhaupt auch Krieg Menschen mit anderen Kulturen<br />

bekannt macht. Krieg war bis <strong>in</strong>s 20. Jahrhundert h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Form<br />

von Tourismus. Und wenn es nicht zum Krieg kam, leistete <strong>die</strong>sbezüglich<br />

der Diplomat viel, der alle<strong>in</strong> durch se<strong>in</strong>e Vielsprachigkeit Kulturen<br />

bewegend vermitteln konnte.<br />

Selbst <strong>die</strong> Insel Kreta wandert jedes Jahr um e<strong>in</strong>en Meter nach Osten!<br />

201


Was ich Euch weiterh<strong>in</strong> vorwerfe? daß Ihr <strong>die</strong>se Kräfte <strong>in</strong> <strong>die</strong> Irrationalität<br />

und <strong>in</strong> den außerwissenschaftlichen Raum entlassen, verdrängt habt, anstatt<br />

sie als Teil der wissenschaftlichen Rationalität - und zwar <strong>in</strong> ihrer<br />

irrationalen Eigenart - zu begreifen. Selbst der große Freud me<strong>in</strong>te <strong>die</strong>ses<br />

Irrationale nur rational ans Tageslicht der Wissenschaft br<strong>in</strong>gen zu können.<br />

Er me<strong>in</strong>te sogar - <strong>die</strong>ser Tor -, das Irrationale <strong>in</strong> der Psyche letztlich auf<br />

physiochemische Prozesse zurückführen zu können. Das ist fürwahr e<strong>in</strong>e<br />

große Schuld der modernen oder angeblich modernen Wissenschaft! Man<br />

hat <strong>die</strong>se Kräfte bösen Mächten überlassen, <strong>die</strong> sie zum <strong>in</strong>neren<br />

Schwe<strong>in</strong>ehund pervertierten und <strong>die</strong> es so für sich brillant zu mobilisieren<br />

und zu <strong>in</strong>szenieren wußten: mit Fackelsche<strong>in</strong>, Geme<strong>in</strong>schaftsgefühl,<br />

rhythmisch-melodischer Bewegung und der großmächtig-raunenden,<br />

wagnerianisch-wallhallischen Bewegung überhaupt - und man merkte es<br />

erst zu spät, als man nämlich schon nach '33 <strong>in</strong> der Emigration war, denn<br />

man hatte ke<strong>in</strong>en Begriff mehr vom Bösen, das es selbst <strong>in</strong> der besten aller<br />

Welten nach Gottes Fügung geben muß. Selbst <strong>die</strong> Auswanderung lehrte sie<br />

nicht!<br />

Was für e<strong>in</strong> Verfall! Verfall <strong>in</strong> Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft! Aber<br />

nicht im katholisch-romantisch-mittelalterlichen S<strong>in</strong>ne, im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es<br />

Franco oder Dollfuß, <strong>die</strong> seit der Aufklärung und durch <strong>die</strong> Moderne<br />

überhaupt und durch den Atheismus, auch wenn er sich als Deismus<br />

verkleidet, den Zerfall von Sitte, Tugend und Wahrheit verursacht sehen.<br />

Ne<strong>in</strong>! Dah<strong>in</strong> wollen und dürfen wir nicht zurück! Das führt auch nur wieder<br />

zur Garotte und millionenfachem Leid!<br />

Es br<strong>in</strong>gt auch nichts - das laßt Euch gesagt se<strong>in</strong> -, (denn der Blick aus der<br />

Ferne macht weitsichtig), wehleidig zu klagen, <strong>die</strong> Aufklärung habe sich<br />

selbst durch <strong>die</strong> ihr eigenen Pr<strong>in</strong>zipien pervertiert, <strong>in</strong>s Gegenteil verkehrt,<br />

sich ad absurdum geführt,<br />

dialektisch negiert, um dann nur noch zu hoffen, daß irgend etwas dessen,<br />

was nicht von <strong>die</strong>ser Aufklärung ergriffen worden sei, als e<strong>in</strong>zig<br />

verbleibende Rettungs<strong>in</strong>sel im Meer des Nichts genutzt werden könne. Was<br />

soll das se<strong>in</strong>? Selbst <strong>die</strong> schmutzigsten und löchrigsten Jeans e<strong>in</strong>es<br />

rebellierenden '68er-Studenten bleiben Produkt e<strong>in</strong>es kapitalistischen<br />

Betriebes. Auch <strong>die</strong> schiefeste Zwölftonmusik wird vor verfettetem<br />

Bürgertum gespielt! Das führt nicht viel weiter!<br />

Höret me<strong>in</strong>e Botschaft! Wir im Barock waren schon weiter, auch wenn das<br />

buntfarbig-Geschnörkelte eher auf etwas anderes schließen läßt. Aber bei<br />

uns g<strong>in</strong>gen Buntheit und Vernunft noch zusammen, waren <strong>die</strong> beiden Seiten<br />

e<strong>in</strong>er Sache. Die Schlösser waren (und man kann es ja bis heute bewundern)<br />

lebensfroh, beschw<strong>in</strong>gt, voll Kraft der Melo<strong>die</strong> und des Klanges, und<br />

zugleich rational durchkonstruiert, nach den Proportionen von Zahl und<br />

Maß durchrechnet, so wie auch unser Newton <strong>die</strong> Proportionen der<br />

202


Gestirnenbewegung errechnet hat, ohne an der Schönheit des<br />

sternenübersäten und gottgeschaffenen Himmels über uns je auch nur zu<br />

zweifeln. Selbst noch Darw<strong>in</strong> war gläubiger Christ, wenn auch der<br />

englischen Art!<br />

Was entdeckte Newton? Er entdeckte Gravitationskräfte, <strong>die</strong> unsichtbar das<br />

Weltall zusammenhalten - Kräfte der Ratio, <strong>die</strong> aber für uns unfaßbarirrational<br />

zu wirken vermögen, was natürlich nicht sagen soll, daß sie aus<br />

höherer Perspektive Rationalität haben. Ich habe <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Untersuchungen<br />

<strong>die</strong>se Kräfte bis auf <strong>die</strong> molekulare Ebene ausgedehnt. Was hält <strong>die</strong> Atome<br />

zusammen, <strong>in</strong> bestimmten Körpern - groß oder kle<strong>in</strong>, physisch oder sozial?<br />

Was s<strong>in</strong>d hier <strong>die</strong> Gravitationskräfte? Daß sich das alles so harmonisch<br />

zusammentut, ist letztlich nur rational mit dem Wirken Gottes zu erklären,<br />

e<strong>in</strong>es göttlichen Pr<strong>in</strong>zips, um es allgeme<strong>in</strong>er und für alle vielleicht<br />

akzeptabler auszudrücken.<br />

Die Griechen der Antike hatten noch e<strong>in</strong>en Begriff davon, was <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge der<br />

Welt bewegt und begründet: Es waren <strong>die</strong> Ideen, oder wie immer man es<br />

nennen will, was aus der modernen Wissenschaft zu e<strong>in</strong>em großen Teil, vor<br />

allem im amerikanisch bee<strong>in</strong>flußten Teil der Welt, verschwunden ist, getilgt<br />

wurde. Was nur noch zählt, ist das e<strong>in</strong>zelne isolierte Faktum. Man nennt sich<br />

"empirisch", und begreift <strong>die</strong>s als Ehrenbezeichnung. Ist etwas nicht<br />

empirisch, dann ist es verwerflich und wird verworfen. Und <strong>die</strong>se Fakten<br />

bekommt man ja auch gut <strong>in</strong> den Griff: <strong>die</strong> Zahl der Waffen des Schah von<br />

Persiens <strong>in</strong> den 70er Jahren z.B., und das schnelle Wachstum des<br />

Bruttosozialproduktes usw.<br />

Aber daß dann der Schah 1979 gestürzt wurde - von e<strong>in</strong>em unbekannten<br />

schiitischen Geistlichen - das konnte man nicht vorhersagen, man me<strong>in</strong>te<br />

sogar, daß man es überhaupt nicht hätte wissen können, denn es war<br />

empirisch nicht "da". Aber wie kann etwas, das angeblich gar nicht da ist, so<br />

etwas bewirken?<br />

Es gibt Kräfte, <strong>die</strong> Ihr vergessen habt, weil <strong>die</strong> Gesellschaften, <strong>in</strong> denen Ihr<br />

lebt, sie verloren haben. Letztlich bestehen aber alle Körper aus solchen<br />

Kräften, <strong>die</strong> Unterschiede zwischen ihnen s<strong>in</strong>d nur Verdünnungen <strong>die</strong>ser<br />

Kräfte bis <strong>in</strong> <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itesimale E<strong>in</strong>heiten, bis sich <strong>die</strong>se wieder zu neuen<br />

körperlichen, sozialen oder geistigen Instanzen verdichten.<br />

Es gibt mehr als Wohlstand, Wirtschaft und Eigennutz, <strong>die</strong>sen Erf<strong>in</strong>dungen<br />

aus dem Westeuropa vor vierhundert Jahren, was sich dann via Holland,<br />

England und USA über <strong>die</strong> nördliche Welthalbkugel ausgebreitet hat. Aber<br />

das ist nicht alles!<br />

Was uns Menschen zusammenb<strong>in</strong>det, selbst dann, wenn wir es nicht wahr<br />

haben wollen oder als Wissenschaftler negieren, ist das ganz tief gelagerte<br />

und daher irrational ersche<strong>in</strong>ende Gefühl, das Bewußtse<strong>in</strong>, das <strong>die</strong>, <strong>die</strong> auf<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten, umgrenzten Stück Erde leben, zusammengehören - an<br />

<strong>die</strong> gleichen Götter glauben, und sei es der Gott des Kapitalismus. Soziale<br />

Gebilde s<strong>in</strong>d so eher kulturelle Potentiale, <strong>die</strong> mit ihren Kräften aufe<strong>in</strong>ander<br />

203


wirken, so wie sich <strong>die</strong> Sterne anziehen und abstoßen. In <strong>die</strong>sen Potentialen<br />

ist deren ganze Vergangenheit und Zukunft geborgen."<br />

Mittlerweile war Podsdanz eher zufällig wieder <strong>in</strong> den Vortragssaal<br />

gekommen, und da er <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Leere sah und Unruh - den e<strong>in</strong>zig<br />

Verbliebenen - nicht so recht mochte, tat er so, als würde er ihn nicht sehen,<br />

und stellte mit e<strong>in</strong>em Hebeldruck am<br />

E<strong>in</strong>gang - etwas von "Ordnung <strong>in</strong> der Dritten Welt schaffen" vor sich her<br />

brummelnd, durchaus vernehmlich aber - <strong>die</strong> Beleuchtungsanlage ab, so daß<br />

das <strong>in</strong>tellektuelle Feuerwerk so schnell <strong>in</strong> tiefer Nacht erlosch, wie es<br />

plötzlich am geistigen Himmel erstanden war. Den Sche<strong>in</strong> holte <strong>die</strong><br />

Wirklichkeit e<strong>in</strong>. Man hörte von außen nur noch schon angeheiterte<br />

Gelächter und Schenkelschlagen.<br />

Man kann nicht sagen, daß Unruh über das Verschw<strong>in</strong>den der Ersche<strong>in</strong>ung<br />

und <strong>die</strong> ihn nun e<strong>in</strong>hüllende Dunkelheit traurig gewesen wäre. Denn war es<br />

das, was er suchte, was ihm da von e<strong>in</strong>er unsichtbaren Hand präsentiert<br />

worden war? War es nicht zu e<strong>in</strong>fach und formelhaft? Was es nicht wieder<br />

e<strong>in</strong> großer, alles erklärender Nenner, der durch ke<strong>in</strong>en Zähler gedeckt war?<br />

War es nicht wieder <strong>die</strong> alte Arroganz des absoluten Wissens, das <strong>die</strong><br />

Wissenschaft - Gott sei gelobt - nun endlich überwunden hatte? Aber es muß<br />

doch etwas von <strong>die</strong>ser Luft anderer Sterne jenseits des Totalitarismus der<br />

Gegenwärtigkeit hier auf Erden schon geben?!<br />

Polemologisches Theater<br />

Die Konferenz neigte sich bereits mit Beg<strong>in</strong>n des vierten Tages ihrem Ende<br />

zu, e<strong>in</strong> Teil der Wissenschaftler war bereits wieder nach Hause gereist oder<br />

hatte sich auf e<strong>in</strong>e touristische Erkundung des Landes begeben (was<br />

zuweilen - wie wir bereits wissen - durchaus lehrreicher se<strong>in</strong> kann.)<br />

Das wichtigste Thema der Konferenz hatte man jedoch erst zu streifen<br />

begonnen, so daß sich früh morgens, <strong>die</strong> ersten Teilnehmer hatten sich<br />

bereits im großen Saal niedergelassen, Prof. Immanuel Kuncorow, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

USA ausgewanderter, im früheren Königsberg aufgewachsener Russe,<br />

energisch gegenüber dem Präsidium meldete und Tolstois "Krieg und<br />

Frieden" mahnend schw<strong>in</strong>gend, e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich forderte, doch nun endlich zu<br />

<strong>die</strong>sem wichtigen Thema zu kommen, was er sich als Bürger der USA um so<br />

eher erlauben könne, weil <strong>die</strong>se Nation doch unbestritten aufgrund ihrer<br />

demokratischen Tradition <strong>die</strong> friedliebendste der Welt sei -sehe man von<br />

e<strong>in</strong>igen "Ausrutschern" ab, wie er es nannte.<br />

Das Präsidium beriet e<strong>in</strong>e kurz Zeit tuschelnd, und da es dazu neigte, stets<br />

auch nur dem Ansche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Konfliktes durch noch so gewagte<br />

Kompromisse abzuwehren und <strong>die</strong> Welt nach Möglichkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

allgegenwärtige und wohltuende Wolle zu hüllen, gab man dem Vorschlag<br />

statt und bat Kuncorow zum Rednerpult, um se<strong>in</strong>e Vorstellungen zu<br />

204


erläutern und dem Publikum <strong>die</strong> Programmänderung zu erklären und zu<br />

begründen (<strong>die</strong> übrigens nur den wenigsten überhaupt aufgefallen war).<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Rede verwies Prof. Kuncorow darauf, daß er ja allgeme<strong>in</strong><br />

als konstruktivistischer Spieltheoretiker der semiquantitativ-qualitativen<br />

Schule Havardscher Provenienz allgeme<strong>in</strong> bekannt sei und er <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Kreise darauf nicht weiter e<strong>in</strong>zugehen verpflichtet sei. "Worauf es mir<br />

ankommt, ist, <strong>die</strong> Ursachen und Motive für den Ausbruch von Kriegen und<br />

das Entstehen <strong>in</strong>ternationaler friedlicher Strukturen zu erforschen, um so<br />

langfristig <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen für zwischenstaatlichen<br />

Frieden zu sichern.<br />

Da ich schon als kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d mit me<strong>in</strong>en Eltern durch den Ural gezogen b<strong>in</strong><br />

- sie gehörten e<strong>in</strong>er Schauspieler- und Vagantentruppe an -, liegt es mir<br />

quasi im Blut, daß ich mich schon früh methodolokologisch, wie er sich<br />

ausdrückte, der sogenannten Spieltheorie der <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen<br />

verpflichtete, um über <strong>die</strong>ses Instrument mittels e<strong>in</strong>er Variation historischer<br />

Situation <strong>die</strong> paci- und bellilogenen Faktoren zu eruieren." An der Unruhe<br />

(oder war es Gelächter?) im Publikum spürend, daß das wohl e<strong>in</strong> wenig<br />

unverständlich, wenn nicht gar abstrus gewesen war (e<strong>in</strong>er hatte gar<br />

"Ionescu" gerufen), setzte er e<strong>in</strong> wenig e<strong>in</strong>geschüchtert h<strong>in</strong>zu:<br />

"Kurz und gut: wir spielen Theater, aber wissenschaftlich und z.T.<br />

mathematisiert, aber auch fiktional, um <strong>die</strong> Welt als kakanischen<br />

Möglichkeitsraum zu erfassen, <strong>die</strong> sie ja ist. Natürlich werden <strong>die</strong><br />

Schauspieler von bekannten Historikern genau geprüft und ausgewählt,<br />

meist s<strong>in</strong>d es daher Wissenschaftler oder zum<strong>in</strong>dest Studenten, <strong>die</strong> eigens<br />

für ihre Rollen ausgebildet werden und sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> wichtigsten historischen<br />

Dokumente e<strong>in</strong>lesen, e<strong>in</strong>arbeiten müssen. Als wichtigstes Dokument galt<br />

dabei "Leonce und Lena".<br />

Das ist der erste Schritt.<br />

Der zweite Schritt besteht dar<strong>in</strong>, daß man verschiedene Menschentypen,<br />

Charaktere aussucht, um sie <strong>in</strong> den gleichen historischen Situationen<br />

e<strong>in</strong>zusetzen, mit dem Ziel, zu sehen, wie sich unterschiedliche Typen auf das<br />

Ergebnis der historischen Situation (konkret: ob Krieg oder Frieden)<br />

auswirken. Die Charaktere s<strong>in</strong>d übrigens mit s<strong>in</strong>us-Funktionen zu messen.<br />

Das historische Experiment ist jedoch nicht nur <strong>in</strong>dividualpsychologisch<br />

ausgerichtet, es versucht auch, soziale und gesamtgesellschaftliche Variablen<br />

zu erfassen, z.B. <strong>in</strong>ternationale Bündniskonstellationen, <strong>die</strong> zu Krieg oder<br />

Frieden führen können.<br />

Kommen wir also zum Spielen selbst. Öffnet den Vorhang und laßt <strong>die</strong><br />

Geschichte sprechen!", verkündigte er mit Emphase, se<strong>in</strong>er Sache ganz<br />

gewiß und mit der Rechten auf <strong>die</strong> nun hell erleuchtete Bühne weisend, auf<br />

der <strong>in</strong> modern-kärglicher Ausstattung vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er barockrosa-farbigen<br />

205


Wand <strong>die</strong> Attrappe e<strong>in</strong>es Thrones stand, auf dem Lachmachs -wie<br />

geschaffen für <strong>die</strong> Rolle e<strong>in</strong>es Monarchen - huldvoll umgeben von der Schar<br />

se<strong>in</strong>er Berater graziös saß, gnädig <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schar lächelnd. (Kuncorov stellte<br />

sich an den Rand der Bühne, um dann stets - wenn es geboten ersche<strong>in</strong>en<br />

sollte - kommentierend e<strong>in</strong>zugreifen. Er hatte se<strong>in</strong>en Brecht stu<strong>die</strong>rt.)<br />

"1. Akt", rief Kuncorov noch aus, und schon begann der Kaiser, e<strong>in</strong>e voll <strong>in</strong><br />

sich gefestigte Persönlichkeit, deshalb wurde sie von Lachmachs gespielt, <strong>in</strong><br />

der Form e<strong>in</strong>er Regierungserklärung zu deklamieren: "E<strong>in</strong>e neue Zeit hat mit<br />

me<strong>in</strong>er Inthronisation begonnen, das Alte, Morsche ist untergegangen, es<br />

lebe das Neue. Es ist wie nach dem Tode Mazar<strong>in</strong>s, wir müssen zu neuen<br />

Ufern. Me<strong>in</strong> Vater hat das politische Gefüge erstarren lassen, <strong>die</strong> Menschen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Opposition gedrängt, vor allem <strong>die</strong> Armen und Katholiken; das hat<br />

nur e<strong>in</strong>e Spaltung der Nation bewirkt, schwächt uns <strong>in</strong>nen- und<br />

außenpolitisch. Ich habe viel von me<strong>in</strong>er Schwiegermutter gelernt, der<br />

britischen König<strong>in</strong>, wie man e<strong>in</strong> Land durch Liberalität stärkt, zur<br />

Weltmacht führt - zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>sgesamt doch recht friedlichen und humanen<br />

Kolonialmacht, wie ja auch rechte Kreise unserer Sozialdemokratie durchaus<br />

anerkennen". (Diese Bemerkung schien Herrn Bernste<strong>in</strong> von <strong>die</strong>ser SPD<br />

etwas pe<strong>in</strong>lich zu se<strong>in</strong>.)<br />

Der Kaiser fuhr <strong>die</strong>s ignorierend fort: "Ich habe mich daher -ich gebe es zu:<br />

unter anderem auch als Folge <strong>die</strong>ser verwandschaftlichen Lehren -<br />

entschlossen, auch Deutschland durch Liberalität <strong>die</strong> Weltmachtstellung zu<br />

geben, <strong>die</strong> ihm gebührt!"<br />

"Majestät", wandte Innenm<strong>in</strong>ister von der Marwitz e<strong>in</strong>, "ich würde Ihnen<br />

gerne zuzustimmen bereit se<strong>in</strong>, da ich Ihre Motive durchaus verstehe und<br />

nachzuvollziehen <strong>in</strong> der Lage b<strong>in</strong>, auch mir geht es um <strong>die</strong> Weltstellung<br />

Deutschlands, ich spreche lieber von den deutschen Landen, aber <strong>die</strong><br />

Weltgeltung muß vor allem geistig fun<strong>die</strong>rt se<strong>in</strong>, durch <strong>die</strong> Sitte und <strong>die</strong><br />

Tradition und das Hergebrachte unserer Väter und Vatersväter, durch <strong>die</strong><br />

Volkstümlichkeit des Volkes und <strong>die</strong> Kultur des hergestammten Adels. Da<br />

brauchen wir ke<strong>in</strong>e Welt, da reichen <strong>die</strong> deutschen Lande, wir s<strong>in</strong>d uns<br />

selbst genug, vielleicht sogar besser als <strong>die</strong> anderen. Und Kolonien kosten<br />

nur.<br />

Ich sehe daher für <strong>die</strong> monarchischen Grundlagen des Staates, <strong>die</strong> sich ja seit<br />

Karl dem Großen bewährt haben, große Gefahren, wenn man im Zeichen<br />

e<strong>in</strong>er falsch verstandenen anglophilen Liberalität das Land der Stadt und der<br />

Industrie, <strong>in</strong>sbesondere dem Export allüberallh<strong>in</strong>, opfert und damit<br />

Sittlichkeit und Brauchtum aufgibt und <strong>die</strong> Leute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Nichts von<br />

Normen h<strong>in</strong>terläßt. Denn was <strong>die</strong> ebenso wie <strong>die</strong> Export<strong>in</strong>dustrie gefährliche<br />

Sozialdemokratie an Ethik zu bieten hat, ist ja auch nichts als e<strong>in</strong>e Art von<br />

l<strong>in</strong>ks gewendetem Sozialdarw<strong>in</strong>ismus. Ich habe Genosse Kautsky durchaus<br />

stu<strong>die</strong>rt. Die stärkere Klasse wird sich durchsetzen. Marx wollte se<strong>in</strong> Kapital<br />

ja sogar Darw<strong>in</strong> widmen, was <strong>die</strong>ser überzeugte Christ wohl nicht ohne<br />

Grund ablehnte.<br />

206


Kurzum: Ich b<strong>in</strong> dagegen, und ich werde es bekämpfen. Ich b<strong>in</strong> mir dar<strong>in</strong><br />

voll mit me<strong>in</strong>en Freunden des Landadels und mit der Industrie des<br />

Ruhrgebietes e<strong>in</strong>ig, <strong>die</strong> auch nicht weiß, was sie auf den Weltmärkten mit<br />

ihrem Eisen soll. Den braucht <strong>die</strong> deutsche Industrie - und sonst ke<strong>in</strong>er!"<br />

Auf <strong>die</strong>se Rede, <strong>die</strong> alle bee<strong>in</strong>druckt hatte, zum<strong>in</strong>dest vom Rhetorischen her,<br />

trat Herr von Rathenau, der Gründer und Präsident der Elektrofirma AEG,<br />

hervor, e<strong>in</strong> soignierter, würdiger, älterer Herr, der ohne Adelstitel adlig<br />

wirkte und wohl auch war:<br />

"Herr von der Marwitz, ich verehre Sie sehr, alle<strong>in</strong> deshalb, weil sie wie das<br />

Bürgertum Mut vor Fürstenthronen erwiesen haben und erweisen. Ich<br />

schätze auch <strong>die</strong> Sittlichkeit, <strong>die</strong> durch Ihren Stand repräsentiert wird, und<br />

hoffe, daß wir sie <strong>in</strong> <strong>die</strong> Zukunft retten können."<br />

Hier tritt unser epischer Kuncorow hervor und verweist <strong>in</strong>sbesondere auf<br />

<strong>die</strong> große Rolle, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se ständische Gesittung im Widerstandskampf gegen<br />

Hitler spielen wird.<br />

Rathenau fährt fort, als sei er nicht unterbrochen worden:<br />

"Aber wir müssen doch realistisch se<strong>in</strong>, wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e sich immer schneller<br />

<strong>in</strong>dustrialisierende Nation, <strong>die</strong> auf Weltmärkte angewiesen ist und se<strong>in</strong><br />

wird, denn wenn ich me<strong>in</strong>e Glühbirnen kostenoptimal und damit<br />

konkurrenzfähig herstellen will, kann ich nicht nur für den deutschen Markt<br />

produzieren, ich brauche <strong>die</strong> Massennachfrage des Weltmarktes, und daher<br />

sage ich: Export, Export und nochmals Export. Das sei unsere Weltgeltung,<br />

<strong>die</strong> wir durch Handelsverträge wie im britischen Freihandelssystem<br />

abdecken müssen. Nur so können wir uns <strong>die</strong> Märkte der anderen sichern<br />

oder zum<strong>in</strong>dest öffnen, wenn wir auch unseren eigenen Markt öffnen.<br />

Weltgeltung ist nicht Imperialismus, sondern Ausfuhr und E<strong>in</strong>fuhr,<br />

ökonomische Durchdr<strong>in</strong>gung zu wechselseitigem Nutzen. Die Amerikaner<br />

nennen es - glaub' ich - open door policy. Und wer ökonomisch so<br />

verbunden ist, der will auch den Frieden. Denn wer will schon se<strong>in</strong>en<br />

potentiellen Kunden umbr<strong>in</strong>gen."<br />

Das Argument war zwar platt vorgetragen, aber richtig, und so nickte der<br />

Kaiser auch verständig.<br />

E. Barnste<strong>in</strong> von der rechten Sozialdemokratie, der eigentümlicherweise und<br />

als Neuheit <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem zuvor nur gegen <strong>die</strong> SPD gewandten Staatswesen<br />

auch e<strong>in</strong>geladen war, warf e<strong>in</strong>: "Auch ich habe lange Zeit als Sekretär des<br />

sicherlich hier verpönten Friedrich Engels <strong>in</strong> England gearbeitet, und<br />

britische Lebensart lieben und schätzen gelernt. Die Toleranz ist national<br />

und <strong>in</strong>ternational. Und Handelsverb<strong>in</strong>dungen werden ganz groß<br />

geschrieben. Allüberall. Und das Empire wollen viele britische Unternehmer<br />

auch nicht so recht, es kostet so viel."<br />

Der Kaiser stand auf: "Es sei nun so. Laßt uns Frieden suchen im Innern mit<br />

den Liberalen und L<strong>in</strong>ken und im Äußeren mit dem liberalen England - weg<br />

207


vom autokratischen Rußland. Das wird den Frieden zu aller Vorteil br<strong>in</strong>gen.<br />

Ausnahmsweise sei der Schwiegermutter 'mal Dank ausgerichtet."<br />

In der Folgezeit kam es zu e<strong>in</strong>er Reihe von Handelsverträgen mit vielen<br />

Nachbarstaaten und sogar zum territorialen Verzicht auf e<strong>in</strong>e deutsche<br />

Kolonie, <strong>die</strong> England erhielt - im Tausch gegen das zuvor britische<br />

Helgoland - <strong>die</strong>ses bloße karge Eiland, was <strong>in</strong> der Rechten großen Zorn<br />

verursachte; aber über allem stand der Ausgleich mit England, nach dem<br />

Motto: In der Kooperation mit dem Westen liegt der Frieden der Welt!<br />

Der Erzähler Kuncorov, der stets auf didaktische Verständlichkeit Wert legt<br />

und am liebsten alles zusätzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unendliche Folge bunter overheadprojector-Folien<br />

aufgelöst hätte, tritt hervor und erläutert den weiteren<br />

Verlauf der Ereignisse:<br />

Der k<strong>in</strong>derlose Kaiser starb drei Monate später überraschend während e<strong>in</strong>er<br />

Jagd, und Nachfolger wurde se<strong>in</strong> Neffe, der für <strong>die</strong> Verantwortung weder<br />

vorbereitet war noch vorbereitet se<strong>in</strong> wollte. Denn se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Bestreben<br />

war es, durch ständigen Fechtunterricht <strong>die</strong> angeborene Verkrüppelung<br />

se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Hand vorerst zu überspielen lernen und langfristig zu<br />

überw<strong>in</strong>den. Denn er fühlte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er militärischen Umgebung nur als<br />

halber Mensch. An <strong>die</strong>ser Stelle wird nun das Drama fortgesetzt.<br />

2. Akt<br />

Die Saal<strong>die</strong>ner br<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>ige, zierlich zu Ballen geschnittene Kunstbäume<br />

aus der Vorhalle auf <strong>die</strong> Bühne, und zwei Herren <strong>in</strong> militärischen Uniformen<br />

lassen es sich <strong>in</strong> den folgenden zehn M<strong>in</strong>uten angelegen se<strong>in</strong>, zwischen<br />

<strong>die</strong>sen im Gespräch versunken h<strong>in</strong> und her zu wandeln. Kuncorow wirft e<strong>in</strong>,<br />

man müsse sich den Naturpark e<strong>in</strong>es mecklenburgischen Gutshofes<br />

vorstellen. Als Akteure treten auf: Ustasch als der e<strong>in</strong>flußreiche General von<br />

Scheichach, e<strong>in</strong> unbekannter Professor als von H<strong>in</strong>denstadt, <strong>die</strong> Sorte von<br />

(meist erst kürzlich durch Kauf emporgestiegenem) ostelbischem<br />

Großgrundbesitzer, <strong>die</strong> ihr Parvenuese<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong> hervorstechendes<br />

militärisches Aufgetrumpfe zu kompensieren versuchen müssen. Der<br />

Unbekannte trug e<strong>in</strong>e großes Schild mit e<strong>in</strong>em X auf der Brust, damit den<br />

unberechenbaren Faktor <strong>in</strong> der Geschichte symbolisierend.<br />

Ustasch: "Nun haben sie schon <strong>die</strong> Berl<strong>in</strong>er e<strong>in</strong> Stück Deutschland den Briten<br />

verscherbelt, und was mag da noch kommen. Die denken doch nur an den<br />

Handel, als könne man sich mit Waren gegen außenpolitische Fe<strong>in</strong>de<br />

verteidigen. Der Russe und der Franzose ist immer unkalkulierbar, und erst<br />

recht <strong>die</strong> Insel. Das Militärische, das Wehrhafte, das Charaktervolle, das dem<br />

Tod-<strong>in</strong>-<strong>die</strong>-Augen-sehen-Wollende, kurz: <strong>die</strong> Härte-Schule der Nation<br />

verliert immer mehr an Bedeutung, <strong>die</strong> Leute wollen nur noch Vergnügen,<br />

an dem <strong>die</strong> Industrie wiederum ver<strong>die</strong>nt. Krieg ist aber e<strong>in</strong> moralischer<br />

Jungbrunnen."<br />

208


Der Unbekannte pflichtete ergeben und ständig nickend - wie von e<strong>in</strong>em<br />

Zwang befallen - bei: "Dagegen müssen wir kämpfen. Regimenter auf<br />

Berl<strong>in</strong>? Revolution von rechts? Abbau der Industrie! Zurück zur Tugend des<br />

Landes! Laßt unsere Frauen wieder K<strong>in</strong>der gebären!"<br />

Dem <strong>in</strong>tellektuellen v. Scheichach war bei <strong>die</strong>sen Wortkaskaden unbehaglich<br />

und pe<strong>in</strong>lich, da er sich der Qualität se<strong>in</strong>es Mitkämpfers bewußt wurde:<br />

"Nur nicht so ungestüm. So erreichen wir nichts. Wir müssen psychologisch<br />

vorgehen - und zwar den Kaiser an se<strong>in</strong>er schwachen Stelle packen. Sie<br />

wissen schon, was ich me<strong>in</strong>e - se<strong>in</strong>e verkrüppelte Hand, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>en Degen<br />

tragen kann. Wir müssen ihn beraten. Z.B. habe ich da gerade das<br />

<strong>in</strong>teressante Werk von McMahan gelesen: Wer <strong>die</strong> Meere beherrscht,<br />

beherrscht <strong>die</strong> Welt. Wir brauchen e<strong>in</strong>e Flotte, um e<strong>in</strong> Kolonialimperium<br />

aufzubauen. Das drängt <strong>die</strong> Export<strong>in</strong>dustrie zurück und stärkt <strong>die</strong> uns nahe<br />

Eisen- und Kohle<strong>in</strong>dustrie. Auch unter den Sozialdemokraten - ich darf sie<br />

hier doch erwähnen - gibt es ja Anhänger der Kolonialpolitik. Dann treiben<br />

wir nur noch Handel mit unseren Kolonien, <strong>die</strong> hoffentlich an Umfang stetig<br />

wachsen werden, und können endlich von Gleich zu Gleich mit England und<br />

Rußland verhandeln. Das s<strong>in</strong>d wir dem deutschen Namen schuldig und<br />

auch Bismarck, der ja immerh<strong>in</strong> mit dem Kolonialerwerb begonnen hat,<br />

wenn auch leider viel zu zögerlich."<br />

H<strong>in</strong>denstadt: "Glänzend! Glänzend! Dazu kommt zum Glück auch noch e<strong>in</strong><br />

wirtschaftlicher Rückgang im Export, der uns Rückenw<strong>in</strong>d verschafft. Im<br />

Wirtschaftlichen kenne ich mich aus! Das ist e<strong>in</strong> Plan! Gut! Ja ich sage: sehr<br />

gut! Er könnte von mir stammen. Ich habe ähnliches übrigens bereits schon<br />

e<strong>in</strong>mal gegenüber General von Tappritz erwähnt."<br />

v. Scheichach: "Wir müssen dabei sehr psychologisch vorgehen, z.B. mit dem<br />

Kaiser e<strong>in</strong> romantisches Turnier veranstalten, und ihn natürlich gew<strong>in</strong>nen<br />

lassen. Und <strong>die</strong> Massen müssen wir für ihn gew<strong>in</strong>nen: E<strong>in</strong> Volk für <strong>die</strong><br />

Flotte. K<strong>in</strong>der müssen geradezu ihre Väter, auch im proletarischen Bereich,<br />

dazu drängen, Matrosenanzüge anziehen zu dürfen. Das sei das Signum der<br />

Nation."<br />

v. H<strong>in</strong>denstadt: "Aber doch Gefahr, daß das Land von der See verdrängt<br />

wird. In der Mar<strong>in</strong>e sehr viele Bürgerliche, weil technisch besser<br />

ausgebildet."<br />

v. Scheichach: "Der Zweck heiligt <strong>die</strong> Mittel! Der Zweck ist <strong>die</strong> Weltgeltung<br />

Deutschlands, <strong>die</strong> deutsche Mission für <strong>die</strong> Welt gegen den westlichen<br />

Kulturverfall. Und geben wir es uns doch zu: vom alten Adel werden wir ja<br />

auch nicht so recht anerkannt! Das Mittelalter ist nur noch e<strong>in</strong>e Sache der<br />

Romantik! Laßt sie untergehen."<br />

v. H<strong>in</strong>denstadt: "Uns gehört <strong>die</strong> Zukunft."<br />

Der Plan war geschmiedet, und es gelang, durch e<strong>in</strong>e günstige Konstellation<br />

von Umständen (u.a. hatte sich der verstorbene Kaiser durch se<strong>in</strong>e großbritische<br />

Frau sehr unbeliebt gemacht) <strong>die</strong> deutsche Politik und<br />

Außenpolitik <strong>in</strong> konservativ-autarkimperialistisches Wasser zu drängen -<br />

wobei "Wasser" <strong>die</strong>ses Mal ke<strong>in</strong>e Metapher ist.<br />

209


3. Akt: Der Weg zum Großen Krieg<br />

E<strong>in</strong> schlichter Raum, <strong>in</strong> der Mitte der Bühne e<strong>in</strong> Tisch, an dem sich e<strong>in</strong><br />

russischer und britischer Diplomat gegenübersaßen.<br />

A begann <strong>die</strong> Verhandlungen (denn hier kommt es nicht darauf an, daß es<br />

<strong>die</strong>se oder jene Nation war, es kommt nur auf das nationaltypische<br />

Verhalten überhaupt an, wie Kuncorow belehrend e<strong>in</strong>fügte):<br />

"So wie wir haben sicherlich auch Sie über ihre Geheim<strong>die</strong>nste (aber es ist ja<br />

wie das meiste auch offensichtlich) festgestellt, daß sich <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>nen- und außenpolitischer Richtungswechsel unter dem neuen Kaiser<br />

vollzogen hat. Es ist zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>nen- und außenpolitischen Revirement<br />

gekommen, durch den <strong>die</strong> <strong>in</strong>nen- und außenpolitische Lage revi<strong>die</strong>rt<br />

werden soll. Deutschland will expan<strong>die</strong>ren auf unsere Kosten. Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />

deutsch-russische Freundschaft mehr, trotz aller verwandtschaftlichen<br />

Tändeleien"<br />

B, Verwunderung vortäuschend: "Ich f<strong>in</strong>de Ihre Offenheit eigentümlich.<br />

Immerh<strong>in</strong> bekämpfen sich unsere Imperien <strong>in</strong> Afghanistan und sonstigen<br />

Lokalitäten, <strong>die</strong> ich hier nicht alle aufzählen will."<br />

A, der Schwäche se<strong>in</strong>es Landes bewußt, e<strong>in</strong>lenkend und entgegenkommend:<br />

"Das ist Vergangenheit! Die Lage hat sich geändert! Alle territorialen<br />

Konflikte kann man durch Teilung der Länder lösen. Und auch <strong>die</strong><br />

wirtschaftlichen, <strong>in</strong>dem man <strong>die</strong> Märkte aufteilt. Vor allem Großbritannien<br />

müßte daran <strong>in</strong>teressiert se<strong>in</strong>, denn <strong>die</strong> deutsche Flotte zielt gegen <strong>die</strong><br />

britisch-maritime Vormachtstellung."<br />

Die Herren verhandelten noch e<strong>in</strong>e Weile, das Gespräch wurde jedoch<br />

immer leiser und glitt letztlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Tuscheln über. Zum Schluß hörte man<br />

nur noch e<strong>in</strong> "E<strong>in</strong>verstanden!", <strong>die</strong> beiden standen auf, verneigten sich<br />

vore<strong>in</strong>ander und verließen <strong>in</strong> dem Augenblick zu je e<strong>in</strong>er der beiden Seiten<br />

<strong>die</strong> Bühne, als Kuncorov aus se<strong>in</strong>er Ecke trat und mit ernster Miene<br />

verkündete: "Das ist der Weg zum Großen Krieg. Gegen das unberechenbar<br />

gewordene, national trompetende Deutschland schlossen sich <strong>die</strong><br />

Flügelmächte zusammen, Frankreich gesellte sich h<strong>in</strong>zu, <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>ternationale Konstellation verschärfte sich so, daß es nur e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en<br />

Anlasses bedurfte, und <strong>die</strong> Machtblöcke stießen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em millionenfaches<br />

Leid br<strong>in</strong>genden Großen Krieg zusammen, der vier Jahre währte und mit<br />

der Niederlage Deutschlands und der Absetzung des Kaisers endete, der zu<br />

Beg<strong>in</strong>n des Krieges es übrigens nicht für Wert hielt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hauptstadt<br />

zugegen zu se<strong>in</strong>, sondern mit se<strong>in</strong>er Yacht durch norwegische Fjorde fuhr.<br />

Oder war es <strong>die</strong> Absicht, so den E<strong>in</strong>druck zu erwecken, <strong>die</strong> anderen hätten<br />

den Krieg begonnen, während der deutsche Monarch nichtsahnend und<br />

friedliebend und nur an <strong>die</strong> Schönheit der Natur denkend <strong>in</strong> fernen<br />

Gewässern schipperte. Daß man <strong>in</strong> den Krieg absichtslos "geschlittert" sei, ist<br />

angesichts <strong>die</strong>ser maritimen Aktivitäten eher unwahrsche<strong>in</strong>lich, denn des<br />

Kaisers Yacht fuhr entgegen aller Gewohnheit <strong>in</strong> eisfreien Gebieten, um<br />

schnell zurückkehren zu können.<br />

210


In der Zeit, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Bühne zum vierten Akt umgebaut wurde, trugen<br />

Saal<strong>die</strong>ner bizarre Figuren, <strong>die</strong> das Unheil symbolisierten, über <strong>die</strong><br />

Vorderbühne: grüne Pappmaschéwürmer mit langen Fühlern <strong>in</strong>kl.<br />

Schneidezangen; auf überlangen, knöchrigen Sp<strong>in</strong>nenbe<strong>in</strong>en stolzierten<br />

Karikaturen von Menschen mit w<strong>in</strong>zig kle<strong>in</strong>en Köpfen und langem Schnabel<br />

e<strong>in</strong>her; e<strong>in</strong>e Frau lief schleppend mit e<strong>in</strong>er von ihrem Gatten versetzten Axt<br />

<strong>in</strong> ihrem Schädel vorbei - auf ihrer Schulter e<strong>in</strong> tiefschwarzer Kater mit nur<br />

e<strong>in</strong>em, rotstechenden Auge - bis das Publikum durch e<strong>in</strong> gänzliches Dunkel<br />

von <strong>die</strong>sem Horror erlöst wurde.<br />

4. Akt: Nach dem Krieg, <strong>die</strong> Große Konferenz<br />

E<strong>in</strong> Zeitlang war es auf der Bühne und im Saal überhaupt<br />

gänzlich dunkel. Kuncorow hatte sich <strong>die</strong>sen Effekt ausgedacht, um so den<br />

Tod durch Krieg zu symbolisieren.<br />

Dann betrat er - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sche<strong>in</strong>werferkegel - <strong>die</strong> Bühne: "Menschen und vor<br />

allem Klassen und erst recht Nationen lernen nur durch Schocks, je<br />

schlimmer, desto besser. Das ist nicht Zynismus, sondern lernpsychologische<br />

Realität. Von <strong>die</strong>sen Schocks werden <strong>in</strong> besonderem Maße <strong>die</strong> betroffen, <strong>die</strong><br />

an den Grenzen wohnen, wo <strong>die</strong> Völker aufe<strong>in</strong>anderstoßen. So war es ke<strong>in</strong><br />

Zufall, daß auf der zentralen Nachkriegskonferenz <strong>in</strong> Mess<strong>in</strong>a vor allem<br />

solche Politiker und Diplomaten vertreten waren, <strong>die</strong> aus Grenzgebieten<br />

stammten.<br />

Man hatte Mess<strong>in</strong>a als Konferenzort gewählt, weil <strong>die</strong> Stadt e<strong>in</strong> Kompromiß<br />

war zwischen Rom und Paris. Frankreich wollte Paris, andererseits wollte<br />

man den Papst e<strong>in</strong>beziehen, so daß Rom nahe gelegen hätte, wogegen sich<br />

aber <strong>die</strong> Briten und Skand<strong>in</strong>avier wandten, so daß man auf Mess<strong>in</strong>a verfiel,<br />

was genügend katholisch, aber ebenfalls genügend weit entfernt vom<br />

Vatikan erschien. Zudem wollten <strong>die</strong> europäischen Staaten mit <strong>die</strong>ser Wahl<br />

dokumentieren, daß Europa offen zum Süden, zur islamischen Welt sei. Im<br />

Norden galt es glücklicherweise ke<strong>in</strong>e Offenheit zu zeigen, Amerika war<br />

fern, nur mit dem russischen Koloß wußte man nichts so recht anzufangen:<br />

zu groß, weil es <strong>die</strong> Konferenz dom<strong>in</strong>ieren würde; aber draußen lassen<br />

konnte man es auch nicht, aber was dann? Zudem hatte sich der Heilige<br />

Vater gegen e<strong>in</strong>e all zu große Nähe zum orthodoxen, für ihn mystischen<br />

Christentum ausgesprochen, dem er wohl möglich noch e<strong>in</strong>e geistige<br />

Verwandtschaft zur Goldenen Horde und allem fernen Östlichen zuschrieb.<br />

Kurz und gut: Da nahezu allen das Östliche Europas unheimlich schien - wo<br />

war der Übergang nach Asien? -, ergab sich schließlich, daß es draußen<br />

vorblieb, wie es ja auch schon seit dem 15. Jahrhundert und der nahezu<br />

alle<strong>in</strong>igen Industrialisierung <strong>in</strong> Westeuropa abgekoppelt worden war."<br />

Auf der Bühne war mittlerweile der Konferenztisch des 3. Aktes<br />

vergrößert und mit Blumengeb<strong>in</strong>den geschmückt worden, es entstand durch<br />

<strong>die</strong>se wenigen Änderungen e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck von Festlichkeit, der der nun<br />

211


anstehenden Großen Friedenskonferenz angemessen war. Kuncorows<br />

didaktisches Ziel war es, <strong>die</strong> persönlichen (Grenzgebiete!) und strukturellen<br />

(Schock!) Gründe zu demonstrieren, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e friedliche Welt schaffen<br />

könnten.<br />

Der Papst eröffnete <strong>die</strong> Konferenz, beidseits von ihm knieten se<strong>in</strong>e Berater, J.<br />

de Maistre und Teilhard de Chard<strong>in</strong>:<br />

"Gemäß des Friedensauftrages der christlichen Kirche habe ich <strong>die</strong> Vertreter<br />

der Staaten zu mir kommen lassen, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong>sen schrecklichen Krieg wie<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höllenfahrt gebeutelt wurden.<br />

Mögen Sie <strong>die</strong>sen Krieg als Strafe Gottes sehen, als Strafe für <strong>die</strong> Rankünen<br />

und Großmannssüchteleien der Vorkriegszeit. Aber Gottes unerforschlicher<br />

Wille f<strong>in</strong>det immer Auswege, wie auch das Volk Israel aus ägyptischer und<br />

babylonischer Gefangenschaft unter weiser Führung herausgeführt wurde.<br />

Laßt uns demgemäß für <strong>die</strong> Zukunft planen! Wir brauchen e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit<br />

Europas, wie sie unbestritten im Christentum repräsentiert wird." (Alle<br />

Anwesenden nickten, auch das Publikum.) "Von Spanien bis Polen, von<br />

Italien bis Deutschland (der Papst zögerte e<strong>in</strong> wenig) s<strong>in</strong>d wir katholisch,<br />

und auch <strong>die</strong> Briten s<strong>in</strong>d ja vom Ritus her katholisch, und auch mit den<br />

Lutheranern s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Differenzen nicht so groß. Glücklicherweise gibt es<br />

kaum Calv<strong>in</strong>isten.<br />

Das ist e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same, unbestrittene, allgeglaubte, gottgesetzte<br />

Wertebasis, <strong>die</strong> uns verb<strong>in</strong>det, <strong>die</strong> unser Leben, unseren Alltag bestimmt, <strong>die</strong><br />

auch von der Vernunft geboten ist -um evt. Zweifelnde anzusprechen;<br />

darauf muß Politik aufbauen, <strong>in</strong> Verfassungen, <strong>in</strong> Schulen, <strong>in</strong> der<br />

Sozialpolitik usw. Ich und me<strong>in</strong>e Vorgänger haben hierzu ja genügend<br />

Enzykliken erlassen.<br />

Politik ist nach dem atheistischen, wenn nicht gar nihilistischen und neonihilistischen<br />

Taumel des Krieges nur noch wertfun<strong>die</strong>rt möglich, und <strong>die</strong><br />

Werte s<strong>in</strong>d da, tief verankert im Glauben des<br />

Volkes! Man denke nur an <strong>die</strong> zahllosen Prozessionen! Man denke an <strong>die</strong><br />

Friedenslehre des Heiligen Thomas von Aqu<strong>in</strong> und <strong>die</strong> Angabe von<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen überhaupt nur Krieg möglich können se<strong>in</strong> soll.<br />

Ich verkündige also hiermit - als Folge <strong>die</strong>ser Überlegungen -e<strong>in</strong>en aus dem<br />

Papst zusammengesetzten Rat zur Fun<strong>die</strong>rung von Wertorientierung, der<br />

quasi als letztes Gericht - kurz vor dem Gottesgericht - verb<strong>in</strong>dlich darüber<br />

wacht, welche Politik wertkonform ist und welche nicht. Das ist me<strong>in</strong>e<br />

Botschaft an <strong>die</strong> Völker der Welt!"<br />

Allgeme<strong>in</strong>er Applaus.<br />

Daraufh<strong>in</strong> erhob sich der Vertreter Deutschlands, das mittlerweile unter der<br />

Führung des ethischen Sozialisten Eduard Bernste<strong>in</strong> stand, dankten dem<br />

212


Heiligen Vater zustimmend, und brachte <strong>die</strong> Diskussion auf <strong>die</strong> praktischpolitische<br />

Ebene:<br />

"Wie wollen wir das ganze aber gemäß <strong>die</strong>ser Vorgaben unter praktischpolitischen<br />

Gesichtspunkten realisieren? Wir haben gerade <strong>in</strong> Deutschland<br />

e<strong>in</strong> voll souveränes Parlament konstituiert, das natürlich auch <strong>in</strong> Zukunft<br />

bestehen bleiben soll, denn <strong>die</strong> Nationen können wir als historisch<br />

gewachsene Gebilde auch im neuen Europa nicht wegwischen oder<br />

negieren. Aber was wir machen können, ist, e<strong>in</strong> europäisches Parlament zu<br />

bilden mit e<strong>in</strong>er von <strong>die</strong>sem zu wählenden Regierung, <strong>die</strong> für das<br />

verb<strong>in</strong>dlich zuständig ist, was alle europäischen Staaten geme<strong>in</strong>sam betrifft.<br />

Vor allem natürlich für <strong>die</strong> Konfliktregelung, da wird schon e<strong>in</strong>e<br />

europäische Truppe dann zu verh<strong>in</strong>dern wissen, daß Konflikte nicht <strong>in</strong> Krieg<br />

eskalieren oder umkippen. Auch zwischenstaatliche Gerichte gilt es zu<br />

schaffen." Und wie er das sagte, zog er e<strong>in</strong> volum<strong>in</strong>öses Papierkonvolut aus<br />

se<strong>in</strong>er Tasche, das den Umfang e<strong>in</strong>es Haushaltsplanes e<strong>in</strong>er Großmacht<br />

hatte, und erläuterte <strong>die</strong>sen (eher gestisch andeutend, damit das Publikum<br />

nicht überbeansprucht werde).<br />

Nur der Brite hatte E<strong>in</strong>wendungen und wollte statt e<strong>in</strong>es europäischen<br />

Parlaments vielmehr e<strong>in</strong>e Vielzahl <strong>in</strong>ternationaler Organisationen geschaffen<br />

sehen. Man e<strong>in</strong>igte sich schließlich auf e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation beider Modelle.<br />

Das wurde von unserem epischen Erzähler dem Publikum wie e<strong>in</strong><br />

Nachrichtensprecher im Fernsehen berichtet, so daß er nun nach <strong>die</strong>sem<br />

nüchternen E<strong>in</strong>schub mit Stolz auf den großen symbolschwangeren<br />

Schlußakt verweisen konnte, <strong>in</strong> dem sich alle Teilnehmer um den großen<br />

Konferenztisch emporschwangen (nur nicht der Papst, dessen Stuhl so hoch<br />

war, daß es e<strong>in</strong>es Erhebens nicht bedurfte), um - ihre Hände zu<br />

Rückversicherung gen Himmel r<strong>in</strong>gend - wie e<strong>in</strong>stmals <strong>die</strong> Eidgenossen auf<br />

dem Rütli den Ewigen Bund zu beschwören.<br />

Kuncorow: "Ich möchte me<strong>in</strong>e Ausführungen <strong>in</strong> folgender Formel<br />

zusammenfassen, schloß der Redner, wieder <strong>in</strong> re<strong>in</strong>e Wissenschaft<br />

zurückkehrend:<br />

K = f (m, n, X, C, K)3 + S<br />

Erläuterung der Faktoren:<br />

K = Krieg<br />

m = Macht<br />

X = Glück (fortuna)<br />

C = Charakter<br />

S = Schicksal (fatum)<br />

K = kulturelles Gleichheit<br />

E<strong>in</strong>e Funktion ist damit auch e<strong>in</strong>e Fügung, wenn ich mir <strong>die</strong>ses kle<strong>in</strong>e<br />

Sprachspiel erlauben darf."<br />

213


Hiermit endigte Kuncorow, befriedigt vor allem darüber, daß ihn ke<strong>in</strong>er<br />

über <strong>die</strong> Potenz hoch drei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Formel gefragt hatte, denn er hätte e<strong>in</strong>e<br />

Antwort selbst nicht gewußt. Er war auch froh, daß ke<strong>in</strong>er gefragt hatte, <strong>in</strong><br />

welchem Gewicht <strong>die</strong> Faktoren zue<strong>in</strong>ander stünden. Er hätte es nur<br />

vorsichtig mit dem Verweis auf das schicksalhafte Walten des weltlichen<br />

Urgrundes andeuten können. E<strong>in</strong> Vortrag ist auch e<strong>in</strong>e Art von riskantem<br />

Vabanque-Spiel.<br />

Darauf versuchte aber das Nachfolgende Auskunft zu geben.<br />

E<strong>in</strong> therapeutich-eqilibristisches Intermezzo: Maestro Kissengeriano gibt se<strong>in</strong><br />

Bestes<br />

Der Arrangeur des Abends hatte sich - zur Auflockerung der auch ihm zu<br />

didaktisch-belehrend ersche<strong>in</strong>enden Materie - e<strong>in</strong>en Gag -allerd<strong>in</strong>gs mit<br />

Ernst durchsetzt - ausgedacht, wie er sie aus se<strong>in</strong>er nicht ganz so strengen<br />

katholischen Geme<strong>in</strong>de kannte.<br />

Er hatte e<strong>in</strong>en der schwarzen Saal<strong>die</strong>ner <strong>in</strong> <strong>die</strong> belebte Innenstadt an <strong>die</strong><br />

Stellen geschickt, an denen <strong>die</strong> Slumbewohner der Vorstädte ihre Waren -<br />

auf dem Boden verteilt liegend -feilboten. Hier gaben auch Akrobaten,<br />

Seiltänzer, Tänzer überhaupt, Zauberer und ähnliches Gewerbe ihre<br />

Kunststücke zur Schau, um durch das leicht zu erweckenden Erstaunen der<br />

Touristen ihren Lebensunterhalt zu ver<strong>die</strong>nen.<br />

Und von hier trat nun zwischen dem vierten und dem fünften Akt e<strong>in</strong><br />

Gleichgewichtskünstler mit messmeristischen Fähigkeiten auf der Bühne<br />

unserer kle<strong>in</strong>en Welt auf, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em buntfarbigen Rautenkostüm von der Art<br />

Kleidungsstück, bei dem Ober- und Unterteil e<strong>in</strong>e sackartige E<strong>in</strong>heit bilden.<br />

Das e<strong>in</strong>zig E<strong>in</strong>tönige war se<strong>in</strong> tiefschwarzes Gesicht, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Augen<br />

<strong>in</strong>telligent funkelten. Von l<strong>in</strong>ks betrat er das Podest, das nun frei war von<br />

Rednertribüne und Souffleurskasten, schritt tänzelnd zur Mitte und sprang<br />

mehrmals empor, um dabei <strong>die</strong> Fußspitzen im kle<strong>in</strong>en Wirbel um sich<br />

kreisen zu lassen. Er wollte das "System" darstellen. Die ersten Gelehrten<br />

verließen bereits den Raum, murmelnd, daß sie so etwas ähnliches (nämlich<br />

den Auftritt e<strong>in</strong>es Nuttencancans, wie sie es nannten) auf der Konferenz <strong>in</strong><br />

Paris erlebt hätten.<br />

Der Tänzer drehte sich unbeirrt weiter, bildete Pirouetten, sprang, hüpfte,<br />

sauste, wirbelte, rispelte und wispelte durchaus mit Freude und Verve, um<br />

dann aus dem Inneren se<strong>in</strong>es Gewandes immer mehr bunte Kugeln wie aus<br />

dem Nichts hervorzuzaubern, <strong>die</strong> er - wie mit mehr als zwei Händen und<br />

Armen geboren - shivagleich <strong>in</strong> sich überlagernde Konstellationen sich<br />

drehender Kugelkreise um sich zu gruppieren <strong>in</strong> der Lage war. So daß das<br />

Ganze aussah wie e<strong>in</strong> fünfmal <strong>in</strong> sich geschachteltes Bohrsches Atommodell,<br />

<strong>in</strong> dem der Tänzer wie e<strong>in</strong>e Monade im Fleisch der Welt den Mittelpunkt<br />

bildete.<br />

214


Die wie das Kleid buntestfarbigsten Kugeln sausten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

sich wieder wie e<strong>in</strong> große Kugel aussah, wie e<strong>in</strong> großes O - von Alpha bis<br />

Omega -, und wer genau mit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Brille h<strong>in</strong>sah, über <strong>die</strong> jedoch<br />

nur <strong>die</strong> Gutsehenden verfügen, der konnte wahrnehmen - nicht sehen! -, daß<br />

jede Kugel e<strong>in</strong>en der Buchstaben e<strong>in</strong>es unendlichen Alphabets trug, <strong>die</strong> <strong>in</strong><br />

sich zusammen e<strong>in</strong>e melodische Harmonie ergaben, <strong>die</strong> alle<strong>in</strong> durch das<br />

Durchstreichen und Inschw<strong>in</strong>gungsetzen der heiß-schwülen Atmosphäre<br />

des Saales bed<strong>in</strong>gt war. Dieses Spiel, <strong>die</strong>se Inszenierung hatte bis spät <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Nacht weiter gehen und <strong>die</strong> Wenigen fasz<strong>in</strong>ieren können, wenn nicht unser<br />

Arrangeur, der übrigens dem unbekannten Feuerwerksredner von gestern<br />

ähnelte, zur rechten Zeit <strong>die</strong> Bühne betreten und durch e<strong>in</strong> dezentes<br />

Klatschen dem Meister das Signal gegeben hätte, daß nun se<strong>in</strong>e Zeit<br />

gekommen sei.<br />

Der Arrangeur, der das Didaktische aber nicht se<strong>in</strong> lassen konnte, entrollte<br />

nun zum Schluß e<strong>in</strong> Bild, auf dem - wie auf dem Buchumschlag zu sehen -<br />

<strong>die</strong> Absicht des Ganzen graphisch reproduziert wurde: Lasset mir <strong>die</strong><br />

Faktoren im Gleichgewicht! Für <strong>die</strong> Studenten hieß das: Nur nicht<br />

monokausal se<strong>in</strong>!<br />

Das große Experiment<br />

Wir haben es dem Leser, um dessentwillen wir ja hier T<strong>in</strong>te vergießen,<br />

erspart, <strong>die</strong> Vielzahl von Vorträgen,<br />

Diskussionsbeiträgen, E<strong>in</strong>würfen, Vorwürfen, Anwürfen, Beiwürfen,<br />

Referaten und sonstigen verbalen Untersicherlassungen wi(e)derzugeben.<br />

Man kann so etwas auch <strong>in</strong> vielen anderen Konferenzbänden nachlesen.<br />

Aus motivationspsychologischen Gründen wäre <strong>die</strong> Wiedergabe vielleicht<br />

erforderlich gewesen, denn nur so läßt sich der explosionsartige<br />

Wutausbruch von Prof. Will aus Texas - e<strong>in</strong> Podzdanz aus den USA, aber<br />

sympathisch - am heiteren Morgen beim Frühstück des vorletzten Tages<br />

erklären, wenn man Motive überhaupt erklären kann. "Ich kann <strong>die</strong>se Wenn<br />

und Abers, <strong>die</strong>ses Sowohl als Auch, <strong>die</strong>ses ziselierte Abwägen zwischen<br />

fiktiven Alternativen ohne Ergebnis nicht mehr ertragen. Was nützt das,<br />

wenn <strong>die</strong> Welt ganz anders läuft - und wir wissen es nicht. Nicht das<br />

Klügeln hilft, sondern <strong>die</strong> Erforschung durch Tat. Packen wir doch den Tiger<br />

an!" Und er schlug vor, daß sich doch nun endlich - gerade an <strong>die</strong>sem Ort <strong>in</strong><br />

Neu<strong>in</strong><strong>die</strong>n - e<strong>in</strong>e Gruppe williger Wissenschaftler mit der Armut und den<br />

Möglichkeiten ihrer Bekämpfung beschäftigen soll. Wissenschaft sei Praxis.<br />

E<strong>in</strong>e Kommission, e<strong>in</strong> panel, wurde gebildet, um <strong>die</strong> Frage zu klären. Wie<br />

soll man Armut erforschen? Der Gang zum Statistischen Amt der nahen<br />

Prov<strong>in</strong>zhauptstadt wurde bald abgelehnt, weil <strong>die</strong> Daten <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton<br />

wohl besser und weniger gefälscht seien. Was sagen auch Daten über Leid<br />

aus! Die Saal<strong>die</strong>ner e<strong>in</strong>fach zu befragen - ja, das schien am leichtesten, aber<br />

<strong>die</strong> würden nach der Höhe des Tr<strong>in</strong>kgeldes antworten.<br />

215


Mit dem Gedanken der Befragung als solcher begann man sich jedoch<br />

zunehmend nach längerem h<strong>in</strong> und her zu befreunden, auch wenn deren<br />

Wahlprognosen <strong>in</strong> den USA oder sonstwo nicht immer so präzise zu se<strong>in</strong><br />

schienen. Das Projekt war beschlossen: Man wollte e<strong>in</strong>e schriftliche und<br />

mündliche Befragung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der Slums der Prov<strong>in</strong>zhauptstadt machen,<br />

auch wenn e<strong>in</strong>er der Herren zu Bedenken gab, daß e<strong>in</strong> ähnliches<br />

Unterfangen, nämlich Prostituierte über ihr Sexualverhalten zu <strong>in</strong>terviewen,<br />

schon im Vorhof mit Handtaschenschlägen auf Wissenschaftlerköpfe<br />

gescheitert sei.<br />

E<strong>in</strong> Gruppe setzte sich zusammen und bastelte e<strong>in</strong>en Fragebogen. Aber was<br />

sollte denn überhaupt <strong>die</strong> Fragestellung se<strong>in</strong>? Denn der Ehrgeiz der<br />

Sozialwissenschaftler besteht mit dem Ziel der Ehrerr<strong>in</strong>gung dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e<br />

möglichst abgelegene Fragestellung zu f<strong>in</strong>den, um sie nachzuweisen und an<br />

<strong>die</strong> Majestät e<strong>in</strong>er bestehenden Großtheorie anzub<strong>in</strong>den oder noch besser:<br />

<strong>die</strong>se Großtheorie widerlegen zu können, um selbst <strong>in</strong> den würdevollen<br />

Stand e<strong>in</strong>es Großparadigmatikers aufzusteigen, der allerd<strong>in</strong>gs wie alle<br />

Herrschenden <strong>in</strong> der ständigen Furcht leben muß, von jungen, sich<br />

profilierenden Wissenschaftlern gestürzt zu werden. Daher war es zu<br />

e<strong>in</strong>fach und zu wenig ergiebig, nach den Gründen von Armut zu fragen.<br />

Aber wonach war zu fragen? Verschiedene Versionen wurden<br />

durchgespielt. Denn danach, warum jemand arm ist, kann man ja nicht<br />

e<strong>in</strong>fach fragen. Wollte man den Zusammenhang zwischen Interaktionsdichte<br />

im Slum und der Kopulationshäufigkeit deren Bevölkerung untersuchen?<br />

schlug e<strong>in</strong> Sk<strong>in</strong>ner-Schüler vor. Das paßte so recht den prüden Amerikanern<br />

nicht. Wer würde darauf auch schon ehrlich antworten?<br />

"Zentral ist das Indikator-Problem", bemerkte Podsdanz, um se<strong>in</strong>e<br />

Kenntnisse der empirischen <strong>Sozialwissenschaften</strong> unter Beweis zu stellen.<br />

"Wie messen wir Armut?", fragte er weiter. "Wenn ich nichts mehr zu fressen<br />

habe!", warf Unruh bereits e<strong>in</strong> wenig entnervt e<strong>in</strong>.<br />

Ustasch bemerkte, daß es für ihn am meisten verwunderlich sei, daß es <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sen von Schmutz und Elend strotzenden Elendsvierteln politisch so ruhig<br />

sei. Er wäre schon längst mit Waffen - und seien es nur Holzkeulen - <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Stadtmitten und <strong>die</strong> Villenvororte ausgebrochen, um sich dort zu holen, was<br />

e<strong>in</strong>em gebühre. Das Leben sei halt Kampf und Recht des Stärkeren. Wenn<br />

auch <strong>die</strong>ser letzte Satz auf stillen Widerstand stieß, so stieß <strong>die</strong>se Perspektive<br />

doch auf allgeme<strong>in</strong>es Interesse. Es war<br />

<strong>die</strong> Frage der Möglichkeit von Revolutionen, was auch unter<br />

pressepolitischem Aspekt von Bedeutung schien, denn <strong>die</strong> Konferenz<br />

brauchte für <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n e<strong>in</strong> möglichst skandalträchtiges Ergebnis,<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> angsterregendes Thema.<br />

Das sollte also <strong>die</strong> Fragestellung se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> es nun <strong>in</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Fragen<br />

aufzudröseln galt: Frage nach E<strong>in</strong>kommenshöhe, Vermögensbeständen,<br />

Schulbesuch, Abstammung und Herkunft usw. waren selbstverständlich,<br />

man kannte sie aus den Befragungen <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong> Europa. Dem<br />

folgten Fragen auf der "rechts-l<strong>in</strong>ks"-Skala. Unruh gab vorsichtig zu<br />

216


edenken, was das wohl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land heißen möge, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> seit 170<br />

Jahren quasi-diktatorisch regierende Staatspartei "Partei der <strong>in</strong>stitutuionalisierten<br />

Revolution" heiße. Aber das hörte ke<strong>in</strong>er.<br />

Erbittert wurde noch bis spät <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nacht um <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Fragen, deren<br />

Reihenfolge, <strong>die</strong> Möglichkeit schriftlicher Antworten und offener Fragen<br />

sowie überhaupt <strong>die</strong> Verständigungsschwierigkeiten diskutiert, denn<br />

welchen Dialekt sprach man dort? Sicherlich ke<strong>in</strong> Queens-English! Aber das<br />

Problem hielt man unter Zuhilfenahme der e<strong>in</strong>heimischen Saal<strong>die</strong>ner für<br />

lösbar. Wie sich später herausstellen sollte, gehörten sie nicht dem gleichen<br />

Stamm wie <strong>die</strong> Slum<strong>in</strong>sassen an.<br />

Kaum geschlafen, fuhr das Forscherteam schon früh um fünf am nächsten<br />

Morgen los, nachdem <strong>die</strong> Sekretär<strong>in</strong>nen und der Drucker des<br />

Konferenzgebäudes noch <strong>in</strong> der Nacht <strong>die</strong> schriftlichen Unterlagen tippen<br />

und vervielfältigen mußten. Vorsorglich hatte der e<strong>in</strong>heimische<br />

Verwaltungsdirektor des Tagungsgebäudes, dem das ganze unheimlich und<br />

wohl auch unverständlich war, mehrere Polizeikonvois (<strong>die</strong>ses Mal von<br />

e<strong>in</strong>em dritten Stamm) erbeten, <strong>die</strong> <strong>in</strong> diskretem Abstand dem engagierten<br />

Wissenschaftler-Bus folgten. Sie wurden nach e<strong>in</strong>iger Zeit - als es hell zu<br />

werden begann - auch von <strong>die</strong>sen wahrgenommen; man <strong>in</strong>terpretierte sie<br />

jedoch als Truppen des Geheim<strong>die</strong>nstes, <strong>die</strong> sie kontrollieren sollten, und<br />

fühlte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Selbstwertgefühl erheblich aufgewertet. An Schutz für<br />

<strong>die</strong> Wissenschaftler dachte man <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise, wer würde schon so<br />

harmlosen Wesen etwas anhaben wollen.<br />

Das Slum, das man aufsuchte, zog sich über mehrere Hügel der<br />

Prov<strong>in</strong>zstadt, bis an das äußere Ende des Zentrums, bis zum <strong>in</strong>nersten<br />

Autobahnr<strong>in</strong>g, h<strong>in</strong>. Es hatte bereits mehrere Versuche der Verwaltung<br />

überstanden, es mit Bulldozern platt zu walzen. Oder genauer: Es wurde<br />

auch dem Erdboden gleich gemacht (den Reichen roch es zu sehr, es<br />

verstellte zudem <strong>die</strong> Aussicht aus den Bungalowwohnungen der<br />

Hochhäuser), aber <strong>die</strong> Hütten aus Holz und Blech waren schnell wieder<br />

aufgebaut, so daß man das Plattwalzen wieder aufgab und nun statt dessen<br />

versuchte, den Anblick durch bunt bemalte Holzwände um das Slum zu<br />

erleichtern. Ansonsten bemühten sich nur e<strong>in</strong>ige Priester um<br />

menschenwürdige Verhältnisse <strong>in</strong> dem Lager, <strong>in</strong> dem rd. 100.000 Menschen -<br />

nach vorsichtigen Schätzungen -konzentriert waren.<br />

Von weitem schien den Wissenschaftlern das Slum gar nicht so scheußlich,<br />

wie es von den neu-<strong>in</strong>dischen Damen auf dem Empfang des ersten Abends<br />

geschildert worden war. Die Häuschen waren z.T. bunt gestrichen und mit<br />

Figuren bemalt, es gab e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Fernsehantennen, auch<br />

Gard<strong>in</strong>en und Blumenrabatten davor. Wollten <strong>die</strong> Damen mit Elendsschilderungen<br />

mehr Entwicklungshilfe für sich anreizen, fragte man sich<br />

diskutierend im Bus.<br />

Überrascht war allerd<strong>in</strong>gs der e<strong>in</strong>e oder andere, als er nun unter<br />

Polizeibegleitung durch e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geschlagenes Loch <strong>in</strong> der Umgebungswand<br />

den Slum betrat, oder anders formuliert: er wußte gar nichts damit<br />

217


anzufangen, warum <strong>die</strong>se Unzahl von halbnackten K<strong>in</strong>dern aus<br />

durchsichtigen Plastiktüten <strong>in</strong>halierten. War das wieder so e<strong>in</strong>e eigenartige<br />

Mode, wie sie - über <strong>die</strong> Satelliten vermittelt - auch von Manhattan bis<br />

Athen und Tokio <strong>die</strong> Welt erfaßt hatte? Die Gruppe von Wissenschaftlern<br />

g<strong>in</strong>g - mißtrauisch beobachtet - weiter vor, sie wollte <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der nicht<br />

befragen, weil <strong>die</strong> Antworten von den Eltern als valider galten. Darauf hatte<br />

man sich zuvor gee<strong>in</strong>igt.<br />

Nur Unruh hatte - aufgrund e<strong>in</strong>es H<strong>in</strong>weises von Ustasch -schockartig<br />

erkennen müssen, auf was er sich da e<strong>in</strong>gelassen hatte, denn urplötzlich<br />

stand vor ihm e<strong>in</strong> vollkommen nackter, rd. 16 jähriger, faltenreicher Junge<br />

ohne Glied, vertiert und mordlüstern dre<strong>in</strong>schauend, h<strong>in</strong>ter sich e<strong>in</strong>e Bande<br />

von skeletösen Halbwüchsigen, <strong>die</strong> wohl nur deshalb dort blieben, wo sie<br />

waren, weil <strong>die</strong> Polizei <strong>in</strong> der Nähe war.<br />

Podsdanz und <strong>die</strong> Wissenschaftlergruppe marschierte statt dessen wie e<strong>in</strong>e<br />

Kolonne von Schmetterl<strong>in</strong>gsfängern schnurstracks auf e<strong>in</strong>e der ersten Hütten<br />

zu, vorsichtig auf den Balken balancierend, <strong>die</strong> den Weg zwischen Hütten<br />

darstellten und unter denen <strong>die</strong> Abwässer zu Tale liefen. Man klopfte<br />

vorsichtig an der Türatrappe, ohne Antwort. Podsdanz betrat<br />

nichtsdestotrotz den dunklen Raum, der nur durch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Holzfeuer <strong>in</strong><br />

der<br />

Mitte erleuchtet war, und man sah e<strong>in</strong>e uralte Frau (wohl 40 Jahre alt) <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Ecke dah<strong>in</strong>dämmern. Aber auch sie wollte man nicht befragen, da<br />

nicht repräsentativ. Die Polizei erklärte, daß <strong>die</strong> Erwachsenen erst gegen<br />

Abend nach Hause kämen -von ihren Jobs als Dienstmädchen oder<br />

Verkäufer oder Straßenkehrer oder... Ob sie dann nach e<strong>in</strong>em 14-stündigen<br />

Arbeitstag noch an Interviews <strong>in</strong>teressiert seien, das sei nur schwerlich<br />

vorherzusagen.<br />

So entfloh <strong>die</strong> Gruppe zunächst <strong>in</strong> das Shopp<strong>in</strong>g-Center der Innenstadt, um<br />

sich hier für <strong>die</strong> Heimat mit den lohnbed<strong>in</strong>gt billigen Produkten, mit allem<br />

sche<strong>in</strong>bar Notwendigem e<strong>in</strong>zudecken. Als sie am Abend wieder vor dem<br />

Slum erschienen, war ihr Bus überladen mit e<strong>in</strong>er Unzahl von Plastiktüten,<br />

<strong>die</strong> eigens von e<strong>in</strong>em Teil der Polizei überwacht werden mußten.<br />

Nun schritt man schon weniger dreist als beim ersten Mal voran, denn <strong>die</strong><br />

Dunkelheit der nicht beleuchteten Wege verbreitete e<strong>in</strong> Gefühl von<br />

Unheimlichkeit, und man tastete sich nur zögernd zur ersten Hütte, <strong>in</strong> der<br />

jedoch der E<strong>in</strong>tritt durch e<strong>in</strong>e Art von Bud-Spencer des Slums verwehrt<br />

wurde.<br />

In e<strong>in</strong>er Hütte zehn Meter weiter wurde ihnen aber angesichts des<br />

Polizeiaufgebotes freundlich E<strong>in</strong>laß gewahrt, und e<strong>in</strong>e Familie stand nun zur<br />

Verfügung, <strong>die</strong> bereit schien, all <strong>die</strong> ausgeheckten Fragen wahrheitsgemäß<br />

zu beantworten. Nach dem E<strong>in</strong>kommen wurde gefragt, das <strong>in</strong> Naturalien<br />

angegeben wurde, mit der Regierung war <strong>die</strong> Familie natürlich auch<br />

e<strong>in</strong>verstanden; der Präsident sei wie e<strong>in</strong> Vater zu ihnen. Erst kürzlich habe<br />

man ihn gesehen, wie er im Parlament e<strong>in</strong>e<br />

218


ausgezeichnete Rede gehalten habe. Auf Hygiene würden sie großen Wert<br />

lägen, auch wenn es ke<strong>in</strong> fließend Wasser gäbe. Aber <strong>die</strong> Gräben unter den<br />

Wegebrettern gäben schon genügend Re<strong>in</strong>lichkeit. Ihre K<strong>in</strong>dern würden sie<br />

selbst unterrichten, und ihre Arbeitgeber seien sehr zuvorkommend: Das<br />

Mittagessen sei frei.<br />

Auch noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe weiterer Hütten konnten unsere Forscher <strong>die</strong>se<br />

Tortur durchziehen, so daß der Statistiker unter ihnen gegen Mitternacht<br />

entschied, es sei nun Repräsentativität erreicht, und man könne zur<br />

Auswertung heimkehren.<br />

Zwei Tage später, faktisch, als <strong>die</strong> Konferenz zu Ende war, betrat Prof. Will<br />

nochmals das Rednerpodium, um <strong>die</strong> durch ständiges Heißlaufen der<br />

Computer gewonnenen Ergebnisse bekanntzugeben. Zahlenkolonnen<br />

folgten auf Kolonnen, wie <strong>die</strong> Polizeikolonnen während des Slumbesuches.<br />

Korrelationen wurden korreliert und x-quadriert, substantiiert und<br />

kreuztabelliert, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß es <strong>in</strong> den Slums<br />

politisch so ruhig sei, weil es den Leuten vergleichsweise aus ihrer Sicht gut<br />

g<strong>in</strong>g. Podsdanz hatte das zuvor schon vermutet, denn gab es nicht <strong>die</strong>se<br />

vielen Fernsehantennen? In <strong>die</strong>sem Urteil fühlte sich Podsdanz bestätigt,<br />

weil Will freimütig berichtete, daß das EDV-Gerät bei e<strong>in</strong>igen Datenreihen<br />

Korrelationen ausgerechnet habe, <strong>die</strong> mathematische Größen über hundert<br />

Tausend ergäben hätten. Man könne sich das nicht erklären, wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

läge es an den Unregelmäßigkeiten im Stromsystem von<br />

Entwicklungsländern, oder an den Faxen des Se<strong>in</strong>s, wie Unruh dachte, der<br />

<strong>die</strong> Elixiere des Teufels gründlich stu<strong>die</strong>rt hatte.<br />

kuk-Platonisches<br />

Der letzte Tag der Konferenz nahte, und er sollte als abschließender<br />

Höhepunkt gestaltet werden. Alle Vorträge und Aktivitäten der Konferenz<br />

sollten <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem letzten Tage konvergieren, und man hoffte, auch so e<strong>in</strong>e<br />

Art von summa zur Weltpolitik der nicht anwesenden Presse vermitteln zu<br />

können. Immerh<strong>in</strong> war aber e<strong>in</strong> ehemaliger Außenm<strong>in</strong>ister unter den<br />

Gästen, so daß man sich e<strong>in</strong> gewisses M<strong>in</strong>destmaß an Publizität versprach,<br />

auch wenn <strong>die</strong>ser Herr als ausgewanderter Deutscher <strong>in</strong> den USA mit immer<br />

noch deutschem Akzent amerikanisch sprechend eher als Kuriosität<br />

begriffen wurde.<br />

Der Abschlußabend war als Podiumsdiskussion organisiert worden -und<br />

zwar nicht <strong>in</strong> der üblich auktorial-vertikalen Form, wo e<strong>in</strong> Podium wohl<br />

möglich auf der Bühne e<strong>in</strong>em schweigenden Publikum gegenübersitzt. Das<br />

empfand man als der Wissenschaft unwürdig, höchstens geeignet für das<br />

städtische Bildungsbürgertum. Die Diskutierenden sollten an e<strong>in</strong>em Tisch<br />

unter den anderen Tischen sitzen, nur e<strong>in</strong> wenig erhöht sowie im<br />

Sche<strong>in</strong>werferkegel bestrahlt, und <strong>in</strong> dem Teil des großen Saales gelegen, den<br />

219


wir schon vom Empfang her kennen und der im Halbrund von antikischentblößten<br />

Frauenfiguren <strong>in</strong> marmorner Blässe umgeben war.<br />

Man hatte daher auch e<strong>in</strong> offenes, schon fast vergnügtes Programm<br />

arrangiert, denn Lachmachs hatte <strong>die</strong> Parole ausgegeben: Erkenntnis ist nur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er angenehmen, s<strong>in</strong>nlich ansprechenden Atmosphäre möglich. Er hatte<br />

schwach <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, daß er während se<strong>in</strong>es politikwissenschaftlichen<br />

Studiums an der Universität München gelernt hatte, daß Erkenntnis im<br />

S<strong>in</strong>ne der Antike e<strong>in</strong> erotischer Akt sei, der sich mit dem zu Erkennenden<br />

vere<strong>in</strong>ige.<br />

Und daher hatte er dafür gesorgt, daß auf der Abschlußdiskussion zur<br />

"Entwicklung der Weltpolitik" genügend We<strong>in</strong>, Speisen und sonstig<br />

Ästhetisches für das Auge der dom<strong>in</strong>anten Männergesellschaft angeboten<br />

wurde.<br />

Nichtsdestotrotz überraschte das Auftreten e<strong>in</strong>es leicht beschürzten<br />

Damenballetts zu Beg<strong>in</strong>n des Abends, das se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e auf der Bühne stracks<br />

und ständig wiederholend <strong>in</strong> <strong>die</strong> Höhe warf. Die antiken Figuren des<br />

H<strong>in</strong>tergrundes schienen sich unversehens und harmonisch <strong>in</strong> das Ensemble<br />

e<strong>in</strong>zufügen.<br />

E<strong>in</strong>ige verließen auch protestierend den Saal. Die Mehrheit fand es recht<br />

schön.<br />

Und <strong>die</strong> Unentschiedenen wurden dadurch beruhigt, daß <strong>die</strong><br />

überbordenden We<strong>in</strong>schalen, Trauben- und Blumenarrangements sowie <strong>die</strong><br />

servierten, z.T. flambierten Speisen auch <strong>in</strong>tellektuell überzeugten, zumal sie<br />

multiethnisch zusammengesetzt waren: Schnitzel plus Krabben plus Pizza je<br />

nach Auswahl und Geschmack, für <strong>die</strong>, <strong>die</strong> es wollten, auch alles zugleich<br />

oder genauer: h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander, so daß das Essen z.T. <strong>die</strong> zeitgleich<br />

stattf<strong>in</strong>dende Podiumsdiskussion bei weitem überschritt.<br />

H<strong>in</strong>ter den antiken Figuren war e<strong>in</strong> Chor und e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Orchester plaziert<br />

worden, als Dirigenten hatte man Herrn Kur-Musikdirektor Kreisler aus St.<br />

Pölten gew<strong>in</strong>nen können. Auch sie fügten sich fast ununterscheidbar <strong>in</strong> das<br />

zu Figuren gegossene Marmor der sichelförmigen Umgebung e<strong>in</strong>.<br />

Auf dem leicht erhöhten, runden, altarähnlichem Diskussionstisch, der mit<br />

Blumen, Kandelabern, silbernen Schüsseln und Gefäßen und den gleichen<br />

Speisendekorationen wie bei den anderen geschmückt war, saßen -<br />

e<strong>in</strong>gerahmt von Blumengeranken - der liebenswürdige Conférencier, <strong>in</strong> der<br />

Mitte und zu se<strong>in</strong>en beiden Seiten Will und Unruh - als Repräsentanten<br />

zweier polarer Pr<strong>in</strong>zipien, <strong>die</strong> - so <strong>die</strong> Hand der unsichtbaren Regie - <strong>in</strong> der<br />

Mitte ihre Synthese f<strong>in</strong>den sollte.<br />

Der Diskussionsleiter, auf dessen Namensschild daher "Synthesion" stand,<br />

eröffnete das Gespräch eher beiläufig, während noch an den anderen<br />

Tischen weiterparliert wurde (das sollte auch im folgenden nicht aufhören)<br />

und während im H<strong>in</strong>tergrund der Chor faßt unhörbar e<strong>in</strong> sphärisch fe<strong>in</strong>es<br />

S<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kuppel des Saales e<strong>in</strong>fließen ließ, wo es sich zu e<strong>in</strong>em stets<br />

220


erneuerten Schw<strong>in</strong>gen der Luft verflüchtigte: "Die Menschen s<strong>in</strong>d ja<br />

eigentümliche Geschöpfe, so eigentümlich, daß <strong>die</strong>ser Abend mit se<strong>in</strong>en<br />

vielleicht fruchtbr<strong>in</strong>genden Ergebnissen nur der Anfang se<strong>in</strong> kann. Vor<br />

Beg<strong>in</strong>n des Abends sah i ch <strong>die</strong> ehrenwerten Teilnehmer unserer Konferenz<br />

im Empfangssaal zwanglos herumstehen, und trotz der Ungeordnetheit des<br />

Ganzen bildeten sich schnell größere und kle<strong>in</strong>ere Gruppen. Nur e<strong>in</strong>ige<br />

wenige standen abseits und begnügten sich mit sich selbst, was ja auch gut<br />

und schon ist.<br />

Vielleicht kann man das auf <strong>die</strong> Staatenwelt übertragen, denn um <strong>die</strong><br />

Organisation der Weltpolitik im dritten Jahrtausend - um nicht weniger soll<br />

es heute abend gehen - wollen wir uns ja <strong>in</strong>tellektuell bemühen. Wir müßten<br />

..." Hier unterbrach Will wirsch den Redner, der zu dist<strong>in</strong>guiert war, um <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> simultanes Rededuell zu treten. Will tönte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Lautstärke <strong>in</strong><br />

den Saal, das <strong>die</strong> Gespräche an den Tischen erstarben. "Was wir brauchen",<br />

posaunte er - wohl schon e<strong>in</strong> wenig alkoholisiert, "was wir brauchen",<br />

wiederholte er noch lauter, "ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Armee, am besten unter<br />

dem Kommando der UN oder des UN-Sicherheitsrates. Wie auch <strong>in</strong> den<br />

Innenpolitiken der Staaten Verbrecher durch Polizei und Gerichte <strong>in</strong>s<br />

Gefängnis gebracht werden" (wenn man ihrer habhaft wird, dachte Unruh<br />

weniger optimistisch), "so sollte zukünftig auch mit <strong>in</strong>ternationalen oder<br />

staatlichen Verbrecher umgegangen werden. Es gibt dazu ja erfreuliche<br />

Ansätze. Ohne Macht geht es nicht, und Macht ist letztlich potentiell immer<br />

Gewaltanwendung. Die Hoffnung auf e<strong>in</strong>e anarchische Selbstorganisation<br />

teile ich nicht. Auch <strong>die</strong>se Konferenz wurde ja sorgfältig vorbereitet, und<br />

zwar von e<strong>in</strong>er zentralen Instanz, sowie das gesamte Naturreich <strong>in</strong>klusive<br />

der menschlichen Sphäre von e<strong>in</strong>em eisernen Gesetz zur Hierarchisierung<br />

durchzogen ist." (Hier freute sich Ustasch, als er <strong>die</strong>s hörte, auch wenn ihm<br />

ansonsten <strong>die</strong> wissenschaftliche und persönliche Biederkeit des Will im<br />

Innersten zuwider war,)<br />

Synthesion und erst Recht Unruh waren jedoch über <strong>die</strong>se Thesen sehr<br />

erregt, wenn sie es auch verbargen, wie es ihrem antikem<br />

Persönlichkeitsideal entsprach. Sie konnten gar nicht so<br />

apodiktisch argumentieren - wir wollen es höflicherweise mal so nennen -<br />

wie es der Vorredner tat. Nichtsdestotrotz riß der ansonsten <strong>die</strong><br />

Zurückhaltung als solche verkörpernde Diskussionsleiter das Wort wieder<br />

an sich, das ihm entwendet worden war: "Haben Sie nicht Sorge, me<strong>in</strong> lieber<br />

Prof. Dr. Will," warf Synthesion e<strong>in</strong>, "daß sich e<strong>in</strong>e solche <strong>in</strong>ternationale<br />

militärische Macht zum Superstaat entwickeln könnte. <strong>die</strong> doch e<strong>in</strong>er<br />

unbestrittenen Errungenschaft des Abendlandes, nämlich der <strong>in</strong>dividuellen<br />

und kollektiven Freiheit, gefährlich werden könnte? Denn was könnte <strong>die</strong><br />

Gegenmacht zur Weltmacht se<strong>in</strong>?" Will phaselte daraufh<strong>in</strong> etwas von<br />

demokratischer Kontrolle, ohne jedoch genau sagen zu können, wie das<br />

global, und das heißt zugleich <strong>in</strong> Bangladesh und <strong>in</strong> den USA, zu<br />

organisieren sei. Was sollte man <strong>in</strong> solchen weltweiten Wahlen wählen?<br />

E<strong>in</strong>zelpersönlichkeiten, wenn auch noch so charismatisch? Aber selbst Willy<br />

Brandt oder Mao s<strong>in</strong>d wohl nicht weltweit generalisierbar. Oder Parteien?<br />

221


Aber Sozialismus <strong>in</strong> Afrika ist etwas ganz anders als <strong>in</strong> Europa oder<br />

sonstwo! Fragen, Fragen, Fragen, und ke<strong>in</strong>e Antworten, so daß sich bei<br />

<strong>die</strong>sem Stand der Diskussion <strong>die</strong> Gesellschaft wieder <strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es<br />

Gespräch auflöste, von zahlreichem Gelächter unterbrochen, <strong>die</strong><br />

Diskussionsrunde ignorierend.<br />

Synthesion warf noch unbeachtet - Will hatte sich sogar schon zu se<strong>in</strong>en<br />

Grüppchen h<strong>in</strong> entfernt - den Gedanken e<strong>in</strong>, ob nicht e<strong>in</strong> Kompromiß<br />

dah<strong>in</strong>gehend zu f<strong>in</strong>den sei, daß regionale Ordnungsmächte vielleicht<br />

effektiver seien, <strong>in</strong> Westeuropa, <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika, oder <strong>in</strong> sonstigen<br />

geographisch abgegrenzten Gebilden. Und man brauche ja auch nicht immer<br />

gleich mit dem Knüppel zuschlagen. Oft genügten ja auch schon<br />

Überredung, oder e<strong>in</strong> wenig heilsamer Druck, oder funktional-pragmatische<br />

Kompromisse.<br />

Nur Unruh schwieg. Se<strong>in</strong>e Gedanken schweiften - gefördert durch <strong>die</strong><br />

Melodik des Orchesters im H<strong>in</strong>tergrund - <strong>in</strong> Vergangenheit und Zukunft, <strong>in</strong><br />

Nähe und Ferne ab. Im Halbdunkel des Saales erschien ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

versteckten Ecke das Bild des Joseph Roth, wie er <strong>in</strong> tragischer Pariser<br />

Exilverbannung rotwe<strong>in</strong>selig dem alten Wien und dem kuk-Pr<strong>in</strong>zip<br />

nachtrauerte, <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>samkeit mit Adelbert Stifter an dem kle<strong>in</strong>en Bar-<br />

Tisch sitzend. Hier gab und gibt es e<strong>in</strong>en Verlust zu beklagen, der<br />

hoffentlich nicht unrevi<strong>die</strong>rbar ist. Was war das alte Wien, <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>er<br />

grandiosen Morbidität, <strong>die</strong> aber Leben bedeutete? (Denn Leben ist Tod.) -<br />

e<strong>in</strong> Leben, das Größe durch das erlebte Scheitern fand und f<strong>in</strong>det, das im<br />

Kle<strong>in</strong>en das Große sah und sieht - und dadurch menschlich-human ward. Es<br />

war <strong>die</strong> Gleichzeitigkeit von Franz Joseph und Egon Schiele, von der<br />

Absurdität Kafkas und dem Spät-Romantizismus Hoffmannsthals, von<br />

Tschechen und Deutschen, von Ungarn und Slowenen, von Kaisertum und<br />

Demokratisierungsprozessen, von Austromarxismus - er hieß nicht umsonst<br />

so - und Feudalismus, alles wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wohltemperierten, erträglichen<br />

Maß von e<strong>in</strong>gedämmter Unzufriedenheit gehalten; alles e<strong>in</strong> ewiges<br />

Durchwursteln, <strong>die</strong> europäisch-sympathische Form des amerikanischen<br />

Pragmatismus; alles das Immer-Gleiche, das durch den jeden Tag gleichen<br />

Tagesablauf des Kaisers symbolisiert wurde; alles <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gebilde, das<br />

nicht Staat im modern-kompakten S<strong>in</strong>ne mit Oben und Unten war, sondern<br />

eben e<strong>in</strong> Reich, zwar nicht Gottes auf Erden, aber doch <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Richtung.<br />

Reicher als alle Staaten, weil es - bescheiden geworden nach vielen<br />

machtpolitischen Niederlagen - <strong>die</strong> Vielfalt des Kle<strong>in</strong>en <strong>in</strong> sich zu bewahren<br />

vermochte und se<strong>in</strong>e zivile Größe durch Hochzeiten gewonnen hatte (auch<br />

wenn - oder weil - e<strong>in</strong> Teil der Nachkommenschaft von Franz Joseph auf<br />

Berl<strong>in</strong>er Kabarettbühnen gelandet war). Die vielen kle<strong>in</strong>en Teile waren<br />

symbolisch zusammengehalten, durch das kuk, durch den Kaiser, der <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er sympathisch-humanen Schwächlichkeit alle<strong>in</strong>ig dazu <strong>in</strong> der Lage war.<br />

(Allerd<strong>in</strong>gs konnte Unruh nie vergessen, daß Kaiser Franz Joseph nach der<br />

Revolution von 1848 300 Revolutionäre hat h<strong>in</strong>richten lassen, so daß sich<br />

selbst der russische Zar besänftigend zu <strong>in</strong>tervenieren gezwungen sah.)<br />

222


Das Kle<strong>in</strong>e koexistiert, nicht das Große, das immer zur Imperialität neigt.<br />

Nicht Zufällig war auch Adalbert Stifter e<strong>in</strong> Österreicher, der vielleicht auch<br />

nicht Zufällig im Selbstmord endete - angesichts der neuen Zeit, <strong>die</strong> sich ihm<br />

am Horizont des Nach-Sommers abzeichnete.<br />

Was wir brauchen, s<strong>in</strong>d Liechtenste<strong>in</strong>s, und Monacos und Andorras und<br />

möglichst viele Deutschlands, <strong>die</strong> man <strong>in</strong> der Weltgeschichte vergißt und<br />

dadurch ihr Überleben sichert. So waren ja auch frühere Gesellschaften<br />

organisiert, fern von allem Homogenisierungswahn. Es gab <strong>die</strong> korporativen<br />

Freiheiten, <strong>die</strong> der Universitäten und der Kommunen und der Kirchen und<br />

der Gewerken und der Unternehmungen und so weiter, <strong>die</strong> locker<br />

koord<strong>in</strong>iert - fast anarchisch - zusammenstanden. Daß sie sich nicht<br />

abgrenzen, sondern e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>heit harmloser Art trotz aller Diversität bilden, ist<br />

<strong>in</strong> unserer heutigen Zeit um so leichter, weil wir den Marktmechanismus<br />

entdeckt haben, der alles wie von selbst durch Gottes Hand zum Wohle aller<br />

regelt. Adam Smith war Schüler von Leibniz, und dem aufmerksamen und<br />

kenntnisreichen Leser wird nicht entgangen se<strong>in</strong>, daß der Redner der nicht<br />

gehaltenen Rede eben <strong>die</strong>ser war - aus dem kle<strong>in</strong>en Hannover stammend,<br />

aber e<strong>in</strong> Universum aus monadologischen Nichtigkeiten bildend, <strong>die</strong> trotz<br />

des Nichtigen doch etwas und viel darstellen. Die Summation des Kle<strong>in</strong>en ist<br />

mehr als das Große, obwohl es nie imperial wird.<br />

Der Mensch f<strong>in</strong>det sich dann <strong>in</strong> der ihm zugewiesenen und zugeordneten<br />

und angestammten Korporation oder sonstigen E<strong>in</strong>heit, möglichst<br />

kommunal begrenzt, wenn man so will auch anarchisch, basisorientiert,<br />

modern ausgedrückt, und hier kann er auch Demokratie im <strong>in</strong>tensivsten<br />

S<strong>in</strong>ne verwirklichen, wenn er es will und es nicht vorzieht, im stillen<br />

Kämmerle<strong>in</strong> Bücher zu fabrizieren. Jedem nach se<strong>in</strong>em Bedürfnis - um <strong>die</strong><br />

Synthese noch weiter zu ziehen ... dachte Unruh <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schon weit<br />

ausschweifenden Gedankenzuge, dessen Bogen auch schon vom Rotwe<strong>in</strong><br />

Rothscher Prägung bestimmt war.<br />

Und es war ihm, <strong>die</strong>sem Unruh-Stifter-Rothschen Verschnitt exzellentestem<br />

Jahrganges, als würde nun der H<strong>in</strong>ter- zum Vordergrund, das Orchester mit<br />

se<strong>in</strong>em Dirigenten den Saal friedlich erobern und musikalisch umhüllen. Die<br />

freudenbr<strong>in</strong>genden C - Dur-Akkorde wirbelten <strong>in</strong> <strong>die</strong> Höhe, der Reigen der<br />

Geiger variierte das Thema <strong>in</strong> immer höher steigenden Kadenzen wie auf<br />

e<strong>in</strong>er Himmelsleiter, <strong>die</strong> Bögen strichen <strong>in</strong> eskalierendem Rhythmus über <strong>die</strong><br />

Saiten, und selbst noch <strong>die</strong> Ohren des taubesten Wissenschaftlers wurden<br />

erfüllt von e<strong>in</strong>er Völligkeit musikalischer Harmonik bachscher Prägung, <strong>die</strong><br />

wie zu Pf<strong>in</strong>gsten <strong>die</strong> Grenzen von Sprache aufzeigte. Das Letzte ist letztlich<br />

nicht mehr mit der Vernunft erfaßbar, sondern nur noch staunend zu<br />

glauben.<br />

Und der Saal erhob sich, der Kontrapunktik folgend, <strong>in</strong> voller Pracht, und es<br />

erschall im Gesang e<strong>in</strong>e Botschaft, wie sie frühchristlich-verfolgten<br />

Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den Katakomben zu Rom würdig gewesen wäre:<br />

223


Göttliches, sei gesegnet, Du feste Vernunft,<br />

sei uns <strong>die</strong> sichere Zu- und Herkunft,<br />

Du bist es, der im Chaos der Welt,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen D<strong>in</strong>ge zusammenhält.<br />

Laßt uns daher nun musizieren und missionieren,<br />

den E<strong>in</strong>klang aller <strong>in</strong>tonieren und tirillieren,<br />

denn <strong>die</strong> Welt, wie sie <strong>die</strong> Götter wagten,<br />

ist auch so, wenn wir nicht tagten und klagten.<br />

Aber das war wohl nur e<strong>in</strong> traumatischer Exkurs, gesungen mit<br />

z.T. fistelnden Oberstimmen - à la Freud aus Wien, um beim Thema zu<br />

bleiben.<br />

Grenzübergang<br />

Die meisten Konferenzteilnehmer reisten über <strong>die</strong> USA nach Mexiko ab, da<br />

<strong>die</strong> Flugverb<strong>in</strong>dungen nach Scildamente selbst sehr ungünstig waren. Über<br />

e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Grenzstation am Rio Grande betraten sie wider amerikanisches<br />

Territorium. "Sie" waren hier <strong>die</strong> Delegationen aus der Volksrepublik Ch<strong>in</strong>a<br />

und aus Deutschland, <strong>die</strong> beide geme<strong>in</strong>sam hatten, das sie von der übrigen<br />

Welt mit Mißtrauen betrachtet wurden: <strong>die</strong> Ch<strong>in</strong>esen als <strong>die</strong> Repräsentanten<br />

e<strong>in</strong>es kommunistischen Landes (wo doch der Kommunismus sonst überall<br />

gescheitert und untergegangen war) und <strong>die</strong> Deutschen als gerade<br />

wiedervere<strong>in</strong>igtes und erstarktes Volk, was den anderen auch nicht<br />

angenehm war, eher unheilvoll erschien.<br />

Die Professoren Dr. My und Dr. Wy aus Ch<strong>in</strong>a und e<strong>in</strong> ewiger Tourist<br />

kamen wie beiläufig <strong>in</strong> der Grenzstation beim Warten auf <strong>die</strong> Rückgabe der<br />

Pässe <strong>in</strong>s Gespräch: der Tourist sagte etwas überheblich vor sich h<strong>in</strong>, daß <strong>in</strong><br />

Europa, <strong>in</strong> der EG solche Prozeduren nicht mehr notwendig seien. Man sei<br />

hier schon "weiter", wie er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schlechten Englisch bemerkte. Er hatte<br />

"weiter" mit "more on" übersetzt. Trotz <strong>die</strong>ser an Unverständlichkeit<br />

grenzenden Kommunikationsweise hatte Dr. Wy, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimat als<br />

Herder-Übersetzer und EG-Experte geschätzt wurde, ihn ansche<strong>in</strong>end<br />

verstanden und antwortete nur: "Schade!". Der Tourist hörte das "Schade!"<br />

nicht und hätte es wohl auch nicht verstanden. Er lernte nicht gern.<br />

Mittlerweile war Dr. Wy zur nahen Bank geschritten, um Devisen für <strong>die</strong><br />

USA e<strong>in</strong>zutauschen. "Man überschreitet <strong>die</strong> Grenze - und überschreitet sie<br />

auch wiederum nicht" - belehrte er <strong>in</strong> sich s<strong>in</strong>nierend. "Das ist der große<br />

Vorteil von alle<strong>in</strong>- und umtauschbaren Währungen: sie schaffen<br />

Unterschiede - und heben sie zugleich wieder auf - e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zip, das<br />

allgeme<strong>in</strong> gültig für alle sozialen und politische Bereiche se<strong>in</strong> sollte.!"<br />

224


Unruh sehnte sich währenddessen - nach <strong>die</strong>ser Irrfahrt - zu dem zurück,<br />

was se<strong>in</strong> Wesen und was Wissenschaft ist: zu se<strong>in</strong>em Schreibtisch <strong>in</strong> der<br />

kle<strong>in</strong>en Ecke, umrahmt von Regalen, wo er nun - weiser und bescheidener<br />

durch Erfahrung und Reise worden - se<strong>in</strong>en Garten wieder bestellen wollte,<br />

der aus e<strong>in</strong>er Vielzahl bunt blühender, wilder und hoch gezüchteter Blumen<br />

- auch Unkraut - bestand und <strong>in</strong> dem er - mit dem, was andere<br />

Wissenschaften durchaus eifrig und ergiebig heranzukarren <strong>in</strong> der Lage<br />

waren -<strong>die</strong> Welt als Kopfgeburt erneut rekonstruieren wollte.<br />

Wer e<strong>in</strong>e Reise gemacht hat, kann viel erzählen. Denn jeder äußeren<br />

Konferenz, <strong>die</strong> auch <strong>in</strong> ihrem Negativen, natürlich auch ihrem Positiven<br />

anzuregen vermag, folgen <strong>die</strong> <strong>in</strong>neren Konferenzen zu Hause - das ständige<br />

In-Sich-Abwägen, das Reflektieren, das Nach- und Überschauen.<br />

ENDE<br />

Nachwort des Herausgebers<br />

Warum schon wieder e<strong>in</strong> positiver Schluß? fragt der Herausgeber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

ständig ihn quälenden Bemühen, den Verfasser zu verstehen. Und um<br />

falschen Interpretationen seitens der Herren Rezensenten von vorn here<strong>in</strong> zu<br />

begegnen, seien hier e<strong>in</strong>ige abschließende Worte angefügt, so wie ja auch<br />

Thomas Mann selbst <strong>die</strong> besten Kommentare zu se<strong>in</strong>en Romanen<br />

geschrieben hat: Es geht <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Stück nicht um Häme, um das<br />

Lustigmachen über irgend jemanden. Es stellt vielmehr den ironisch-heiteren<br />

Versuch dar, e<strong>in</strong>iges aufzuzeigen, was vielleicht revi<strong>die</strong>rt zu werden zu<br />

ver<strong>die</strong>nen sche<strong>in</strong>t - zum<strong>in</strong>dest aus der vorsichtigen Perspektive des<br />

Verfassers -, ohne das große Ja der Wissenschaft gegenüber zu negieren.<br />

Darauf deutet auch e<strong>in</strong>deutig der Schluß des vorliegenden Werkes h<strong>in</strong>, <strong>in</strong><br />

dem Unruh das alte Lied auf <strong>die</strong> große Zeit des Privatgelehrtentums s<strong>in</strong>gt,<br />

das er wohl zu revitalisieren hofft. Ob das realistisch ist, sei der weiteren<br />

Diskussion überlassen, zu der das Buch wohl aufrufen will.<br />

Abschließend sei noch auf e<strong>in</strong>e briefliche, erst kürzlich im Nachlaß entdeckte<br />

Notiz von Unruh verwiesen, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong>ser dafür entschuldigt, daß "se<strong>in</strong>e<br />

Konferenz nicht wie <strong>die</strong> von Tegte" endet. Hier brach der Text ab.<br />

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