Einführung in die Sozialwissenschaften - Jürgen Bellers
Einführung in die Sozialwissenschaften - Jürgen Bellers
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Frauen werden den K<strong>in</strong>dern vergleichbar nur bed<strong>in</strong>gt den Härten und<br />
Gefahren der realen Wirklichkeit ausgesetzt. Zum<strong>in</strong>dest entspricht e<strong>in</strong>e Frau<br />
dem traditionellen Bild von Weiblichkeit am besten, wenn sie sich von den<br />
Unbilden und Konkurrenzkämpfen <strong>in</strong> der Welt außerhalb des Hauses<br />
fernhält (Goffman 1994: 150). Auf <strong>die</strong>se Weise haben <strong>die</strong> geschlechtsspezifischen<br />
Ideale zwar e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> gesellschaftspolitische Wirkung, den<br />
männlichen Personen <strong>die</strong> Hälfte der möglichen Konkurrenz im Wettstreit zu<br />
ersparen. Gleichzeitig aber erfahren Frauen Schonung sowie Trost und<br />
Verzeihen, sollten sie sich auf unweibliches Terra<strong>in</strong> außerhalb der<br />
häuslichen Sphäre verirren und dementsprechend Handlungsfehler<br />
begehen. In unserer Gesellschaft wurde e<strong>in</strong> solches Geschlechterverhältnis -<br />
und <strong>die</strong> entsprechende Symbolik für männliche und weibliche Identitäten -<br />
lange durch Gesten des höfischen Rituals unterstützt. Man denke an <strong>die</strong><br />
Regeln, e<strong>in</strong>er Frau <strong>die</strong> Tür aufzuhalten, <strong>in</strong> den Mantel zu helfen, den Stuhl<br />
beim Setzen unterzuschieben und vieles mehr. Doch solche Bevorzugung -<br />
<strong>die</strong> als re<strong>in</strong>e Etikette allerd<strong>in</strong>gs am Verschw<strong>in</strong>den ist - ändert nichts am<br />
durchgängig hierarchischen Geschlechterverhältnis, das fast alle Interaktionssituationen<br />
kennzeichnet und den Frauen <strong>in</strong> Beziehung zu Männern<br />
den ger<strong>in</strong>geren Status - verbunden mit ger<strong>in</strong>gerer Def<strong>in</strong>itions- und<br />
Handlungsmacht - zuweist.<br />
Aus den Ausführungen dürfte deutlich geworden se<strong>in</strong>, daß Frauen e<strong>in</strong>en<br />
anderen situativen Stellenwert besitzen als Männer. E<strong>in</strong>e adäquate<br />
Def<strong>in</strong>ition der Situation hängt deshalb nicht nur von der Kenntnis des<br />
Geschlechts ab, das <strong>die</strong> Identität der Menschen und damit ihr Handeln zu<br />
e<strong>in</strong>em erheblichen Maß bestimmt. Sie steht und fällt auch mit der korrekten<br />
E<strong>in</strong>schätzung der Def<strong>in</strong>itions- und Handlungsmacht, <strong>die</strong> Interaktionspartner<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Interaktionssituation ausspielen können, um den<br />
Handlungsablauf zu steuern. Hier aber unterscheiden sich Frauen und<br />
Männer, da Geschlecht <strong>die</strong> Handlungsweisen von Menschen nicht nur<br />
geschlechtsspezifisch, sondern auch hierarchisch bestimmt. Für kompetentes<br />
Handeln ist es deshalb unverzichtbar, daß beide Geschlechter als tendenziell<br />
Über- und Unterlegene <strong>die</strong>sen Aspekt <strong>in</strong> ihrem Handeln berücksichtigen.<br />
Freilich ist das hierarchische Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht<br />
ganz unabhängig von der Geschlechtsspezifik der Situation selbst. Es macht<br />
e<strong>in</strong>en Unterschied, ob man e<strong>in</strong>er Frau oder e<strong>in</strong>em Mann im Bereich<br />
öffentlicher Organisationen auf der e<strong>in</strong>en und geme<strong>in</strong>schaftsorientierten<br />
Gruppen auf der anderen Seite begegnet. Die Geschlechter beanspruchen<br />
<strong>die</strong>se Bereiche - wie jeder weiß - unterschiedlich als ihr "natürliches Handlungsrevier".<br />
Für kompetentes, adäquates Verhalten muß man deshalb <strong>die</strong><br />
Geschlechtstypik der Situation zum Geschlecht der anwesenden Personen <strong>in</strong><br />
Beziehung setzen.<br />
Zwar sche<strong>in</strong>t vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ser Triangulierung - Geschlechtstypik<br />
der Situation, Geschlecht der Interaktionspartner, Hierarchieverhältnis<br />
zwischen ihnen - e<strong>in</strong> geschlechtsorientiertes Handeln eher kompliziert als<br />
leicht zu se<strong>in</strong>. Doch wird <strong>die</strong>se Komplexität durch das B<strong>in</strong>ärsystem der<br />
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