Einführung in die Sozialwissenschaften - Jürgen Bellers
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HANDELN UND GESCHLECHT<br />
Irene Woll-Schumacher<br />
S<strong>in</strong>n und Handeln<br />
Will man <strong>die</strong> Besonderheit des Handelns der Menschen im Unterschied zum<br />
Verhalten der Tiere kennzeichnen, wird der Begriff "S<strong>in</strong>n" zum<br />
Schlüsselwort. Die beim Tier genetisch vorgegebenen Situationsdeutungen,<br />
Handlungsziele und Handlungsformen gründen beim Menschen auf S<strong>in</strong>n.<br />
Durch S<strong>in</strong>n wird <strong>die</strong> Wahrnehmung jedes e<strong>in</strong>zelnen so gelenkt, daß er se<strong>in</strong>e<br />
natürliche und soziale Umwelt "versteht". Dies zeigt sich dar<strong>in</strong>, daß er<br />
bewußt oder unbewußt "weiß", <strong>in</strong> welcher Situation er sich gerade bef<strong>in</strong>det,<br />
oder wie er das Verhalten se<strong>in</strong>er Mitmenschen deuten und se<strong>in</strong> eigenes<br />
erklären kann. S<strong>in</strong>n konstituiert <strong>die</strong> Ordnung des menschlichen Erlebens<br />
und Handelns.<br />
Menschen handeln oder unterlassen Handeln, weil sie hoffen, daraus e<strong>in</strong>en<br />
Nutzen zu ziehen. Allgeme<strong>in</strong> gesprochen besteht <strong>die</strong>ser Nutzen im<br />
alltäglichen Überleben. Überleben kann der Mensch aber nur, wenn er zwei<br />
zentralen Bedürfnissen nachkommt: dem Streben nach physischem<br />
Wohlbef<strong>in</strong>den und dem Gew<strong>in</strong>n sozialer Wertschätzung (Esser 1996: 6 f.).<br />
Während physisches Wohlbef<strong>in</strong>den auf <strong>die</strong> Funktionserfordernisse des<br />
Organismus verweist und deshalb als e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung für Überleben jedem<br />
Laien e<strong>in</strong>sichtig ist, liegt der Überlebensnutzen von sozialer Wertschätzung<br />
weniger auf der Hand. Die Erklärung f<strong>in</strong>det sich im S<strong>in</strong>nbezug des menschlichen<br />
Handelns, denn S<strong>in</strong>n impliziert Bewertung. Durch S<strong>in</strong>n wird festgelegt,<br />
was bedeutend und unbedeutend, richtig und falsch, gut und böse ist.<br />
Sucht deshalb e<strong>in</strong> Mensch soziale Wertschätzung durch andere, wendet er<br />
sich der akzeptierten Seite im sozialen S<strong>in</strong>nsystem zu. Dort bef<strong>in</strong>den sich <strong>die</strong><br />
Plätze, <strong>die</strong> man e<strong>in</strong>nehmen muß, um legitimerweise <strong>die</strong> besten<br />
Lebenschancen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft zu gew<strong>in</strong>nen.<br />
Akzeptables Handeln ist immer e<strong>in</strong> Handeln, das im Rahmen der<br />
gesellschaftlichen S<strong>in</strong>nsetzungen ausgeführt wird, <strong>die</strong> Situationsdeutungen,<br />
Handlungsziele und Handlungsformen e<strong>in</strong>es Menschen <strong>in</strong> ihrem Wert<br />
bestätigen. Dadurch erhält der Mensch - weil er nach sozialer Objektivität<br />
richtig und gut handelt - selbst e<strong>in</strong>en Wert. Sicherlich kann Handeln auch<br />
auf gänzlich subjektiver S<strong>in</strong>nsetzung beruhen, wie <strong>die</strong> illustrative Geschichte<br />
zeigt, <strong>die</strong> dem berühmten Thomas-Theorem zugrunde liegt. Dort g<strong>in</strong>g es um<br />
e<strong>in</strong>en Gefängnis<strong>in</strong>sassen, der mehrere Menschen getötet hatte, welche <strong>die</strong><br />
Angewohnheit besaßen, auf der Straße mit sich selbst zu reden. Der S<strong>in</strong>nh<strong>in</strong>tergrund<br />
für <strong>die</strong>ses Handeln war, daß der Totschläger aus den<br />
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