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Programmbroschüre musikfest berlin 10 - Berliner Festspiele

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Ich will in aller Kürze erzählen, wie es zu Notations für Orchester gekommen<br />

ist. Der Pariser Rundfunk wollte ein Konzert mit den Studenten aus Messiaens<br />

ersten Jahren am Conservatoire organisieren, der Klasse der Jahre um 1945.<br />

Einer meiner damaligen Kommilitonen, der Komponist Serge Nigg, schickte<br />

mir die Klavier-Stücke, meine Notations von 1945, und bat um die Erlaubnis, sie<br />

bei diesem Konzert spielen zu dürfen. Natürlich hatte ich nichts dagegen. Aber<br />

es war eine sehr merkwürdige Wiederbegegnung, denn bis dahin hatte ich die<br />

Notations für verloren geglaubt…<br />

In der Zeit war ich gerade in Bayreuth, um den Ring zu dirigieren, was mich<br />

ziemlich in Anspruch nahm und mir kaum Zeit ließ, in Ruhe an etwas Neuem<br />

zu arbeiten. Als ich nun diese Stücke wiedersah, dachte ich mir, das wäre die<br />

Gelegenheit, das, was ich beim Dirigieren gelernt hatte und das, was ich gerade<br />

von Wagners Orchestrierung lernte, jetzt anzuwenden. Dabei konnte ich mich<br />

auf das Orchester konzentrieren, denn das Material war bereits gegeben, ich<br />

musste nichts Neues erfinden… Und so habe ich das Material wie einen kleinen<br />

Samen behandelt, den ich ins Wasser gebe. Und aus diesem Samen habe ich<br />

eine Pflanze entstehen lassen. So sind einige Stücke viel ausgedehnter als das<br />

Original, obwohl ihnen genau dasselbe Material zugrunde liegt. Darin besteht<br />

für mich die Disziplin: Das Stück wird größer, ohne dass das Material erweitert<br />

wäre. Wenn man jung ist, hat man viele Ideen und will ständig Neues machen.<br />

Später ist man sparsamer mit den Ideen und viel mehr daran interessiert, wie<br />

man diese Ideen konsequent behandeln kann. Und genau so verhält es sich hier<br />

bei den Notations, bei denen es sich sowohl um eine Art Orchestrierung handelt,<br />

wie auch darum, der ursprünglichen Idee ein größeres Feld zu eröffnen…<br />

Es ist eine Retrospektive, aber zugleich ein Spiegel. Ich nehme die Vergangenheit<br />

und drehe sie wie einen Spiegel in die andere Richtung. Der Spiegel ist<br />

die Vergangenheit, und was jetzt ist – das Subjekt – geht in die Zukunft.<br />

Pierre Boulez, 1998<br />

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