Programmbroschüre musikfest berlin 10 - Berliner Festspiele
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Was für uns das Wichtigste an Bachs Werk ist: eine Technik der Form, die auf<br />
äußerste Einheit zielt und ein Mutterverhältnis zwischen der Schreibweise und<br />
der Architektur stiftet. Die Form ist in hohem Maß variabel und stellt sich mit<br />
jedem Werk wieder in Frage. … Schließlich möchten wir noch auf einen besonders<br />
interessanten Aspekt bei Bach aufmerksam machen; François Florand<br />
hat ihn in seinem Buch Johann Sebastian Bach unübertrefflich beschrieben:<br />
»Beim Aufbau einer Entwicklung greift Bach zu einem von ihm bevorzugten<br />
Mittel: Er führt das Konzert der Stimmen so, dass keine von dem Umfang<br />
abweicht, den er ihr anfänglich zugewiesen hat, wobei er sie fast gewaltsam in<br />
den gleichen Grenzen hält – kaum mehr als eine Oktave für jede Stimme – und<br />
eine Progression herbeiführt, die ganz aus dem melodischen Verlauf selbst<br />
kommt, beinahe wie ein Fluss, den man ohne äußerlich erkennbaren Grund<br />
anschwellen sieht: keine Nebenflüsse, keine Schneeschmelze, kein Unwetter,<br />
sondern allein der Zuwachs durch geheimnisvolle unterirdische Quellen. Es<br />
handelt sich um etwas ganz anderes als um eine bloße Wiederholungsästhetik<br />
nach Art der Orientalen oder Inder. Vielmehr ist es ein für Bach sehr bezeichnender<br />
Vorgang, der durch einen inneren Anstau von Energie, von Bewegungskraft<br />
in Gang kommt und bis zu dem Punkt getrieben wird, wo Komponist<br />
und Hörer gesättigt und wie betäubt sind.« Florand spricht auch von<br />
einer Neigung zum musikalischen Taumel bei Bach: »Man muss dahinter beileibe<br />
nichts Brutales, nichts Grobes suchen. Aber schließlich kommt es zu<br />
einem Augenblick, wo sich dem Komponisten vom Hin- und Herdrehen seines<br />
Motivs der Kopf selbst zu drehen beginnt. Es schwindelt… Und dies ist der<br />
Kulminationspunkt des Werkes.« Florand bezeichnet diesen musikalischen<br />
Taumel als eine »innere Gärung der Polyphonie«. Er schließt seine Analyse mit<br />
dem Hinweis, dass das »Delirium« von Bach »licht«, »sein Rausch bewusst« ist,<br />
seine Verzichte wohl überlegt sind und durch ständig wache Intelligenz und nie<br />
nachlassenden Willen immer auf dem Hintergrund des schöpferischen Bewusstseins<br />
stehen.*<br />
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