Programmbroschüre musikfest berlin 10 - Berliner Festspiele
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Tausend Arten, Musik zu vergessen: Agon ist ein Behältnis, das eine Sammlung<br />
kostbarer Miniaturen enthält – verschieden in Art, Charakter, Herkunft und<br />
von großer Schönheit – zusammen mit Kopien von ihnen… In Agon findet sich<br />
ein bisschen von allem: diatonische, chromatische, atonale, kanonische, tonale,<br />
serielle, polytonale, neobarocke Abschnitte, Anspielungen auf Weberns op. 24,<br />
Kammermusik, die auf ein großes Symphonieorchester verteilt ist, das niemals<br />
als Ganzes spielt... In Agon unterwirft sich Strawinsky nicht der Geschichte,<br />
sondern er erzählt sie auf vielfältige Weise neu. Agon ist eine musikalische<br />
Dokumentation (glücklicherweise eine unzuverlässige, weil sie unendlich erfinderisch<br />
ist), sowohl über das historische und das strukturelle Gedächtnis als<br />
auch über deren Verhältnis zueinander, das ebenfalls unzuverlässig und vergänglich<br />
ist. Und es stellt einen Abschied vom Neoklassizismus dar. Warum<br />
also Musik vergessen? Weil es tausend Arten gibt, ihre Geschichte zu vergessen<br />
und zu verraten. Weil Schöpfung immer ein Maß an Zerstörung und Untreue<br />
impliziert. Weil wir fähig sein müssen, uns das, was nützlich ist, in Erinnerung<br />
zu rufen, und es dann mit einer Spontaneität, die paradoxerweise rigoros ist, zu<br />
vergessen. Weil es sowieso, wie Heraklit sagt, »nicht möglich ist, zweimal in<br />
denselben Fluss zu steigen.« Weil das Bewusstsein der Vergangenheit niemals<br />
passiv ist und wir nicht die gefälligen Komplizen einer Vergangenheit sein wollen,<br />
die immer bei uns ist, die wir nähren und die niemals endet.<br />
Luciano Berio<br />
As the curtain rises, four male dancers are aligned across the rear<br />
of the stage with their backs to the audience.<br />
Igor Strawinsky, Agon<br />
Man beurteilt den Baum nach seinen Früchten. Beurteilen Sie also den Baum nach<br />
seinen Früchten und geben Sie sich nicht mit den Wurzeln ab. Die Funktion rechtfertigt<br />
einen Organismus, so überraschend dieser Organismus auch in den Augen derer<br />
erscheinen mag, die nicht daran gewöhnt sind, ihn funktionieren zu sehen. Die<br />
Welt der Snobs ist voller Leute, die wie jene Figur von Montesquieu sich fragen,<br />
wieso man denn Perser sein könne. Sie erinnern mich unwillkürlich an die Geschichte<br />
jenes Bauern, der im Zoo zum ersten Mal ein Dromedar sieht. Er schaut es lange<br />
an, schüttelt den Kopf und geht schließlich weg, indem er zum Spaß der Umstehenden<br />
sagt: »Das ist nicht wahr.« Ein Werk offenbart und rechtfertigt sich also durch<br />
das freie Spiel seiner Kräfte. Es steht uns frei, diesem Spiel beizustimmen oder nicht,<br />
aber es steht niemanden zu, die Tatsache seiner Existenz zu bestreiten.<br />
IGOR STRAWINSKY<br />
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