Andreas Bühler: Kontrapost und Kanon. Studien zur ... - Sehepunkte
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<strong>Andreas</strong> <strong>Bühler</strong>: <strong>Kontrapost</strong> <strong>und</strong> <strong>Kanon</strong>. <strong>Studien</strong> <strong>zur</strong> Entwicklung der Skulptur<br />
in Antike <strong>und</strong> Renaissance (= Kunstwissenschaftliche <strong>Studien</strong>; Bd. 85),<br />
München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 595 S., ISBN 3-422-06293-9,<br />
EUR 65,50.<br />
Rezensiert von:<br />
Peter Gerlach<br />
Institut für Kunstgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen<br />
Der Inhalt ist brisanter als der Titel. "<strong>Studien</strong> <strong>zur</strong><br />
Entwicklung der Skulptur" klingt altbacken. Der Inhalt ist es<br />
nicht. Was auf den ersten Blick nach einer typenkritischen<br />
katalogmäßigen Abhandlung klingt, von denen Archäologie<br />
<strong>und</strong> Kunstgeschichte zahlreiche kennen, erweist sich schon<br />
beim Blick ins Inhaltsverzeichnis als eine Geschichte der<br />
Semantik zweier Begriffe.<br />
Geschichte schreiben ist immer wieder eine Erzählung von<br />
scheinbar geläufigen Zusammenhängen <strong>und</strong> Einzelheiten.<br />
Einzelheiten stellen sich dar als niedergeschriebene<br />
Meinungen zu Sachverhalten. Meinungen schlagen sich<br />
nieder in der Einbindung von Sachbegriffen in<br />
Beobachtungen an Kunstwerken. "<strong>Kanon</strong>" <strong>und</strong> "<strong>Kontrapost</strong>"<br />
tragen das Flair von Regelbegriffen an sich über die es<br />
kaum einen Dissens geben könnte. Das Gegenteil wird in<br />
dem vorliegenden Buch nachgezeichnet. Insofern erweist<br />
sich die Geschichte eines Begriffs als die Geschichte der<br />
Meinungen über ihn.<br />
Ein Blick in die einschlägigen Handbücher <strong>und</strong> Lexika oder ins Internet (google <strong>und</strong><br />
metager ergeben zu "<strong>Kanon</strong>" immerhin über 8000 Einträge, zu "<strong>Kontrapost</strong>" noch circa<br />
300) lehrt, dass zwar eine literaturhistorische Dimension bei <strong>Kanon</strong> überwiegt, dass aber<br />
eine nähere geschichtliche Differenzierung völlig ausgeblendet bleibt.<br />
Der Begriff "<strong>Kanon</strong>" ist in der Geschichte der Skulptur mit dem Namen des griechischen<br />
Bildhauers Polyklet verb<strong>und</strong>en. Verb<strong>und</strong>en ist er ebenso mit der akademischen<br />
Kunstausbildung. Dort bezeichnet er ein Regelwerk von ästhetischen Minima: Maße, die<br />
<strong>zur</strong> Herstellung von ästhetisch Gefälligem mindestens anzuwenden sich schickt.<br />
Verb<strong>und</strong>en ist er aber ebenso mit der Vorstellung von Klassizismen.<br />
Die Geschichte der <strong>Kanon</strong>es von Ägypten bis zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert (Le Courbusier) -<br />
abgesehen von den orientalischen <strong>und</strong> asiatischen - ist mehrfach geschrieben <strong>und</strong> in<br />
vielen Einzelheiten durchleuchtet worden. Panofsky (1921), Ghylia im Buch von 1927 bis<br />
zu Braunfels et al. 1973 haben uns eine Überblick zu verschaffen unternommen. Im<br />
Kunstforum Band 162, 2002 wurde kürzlich erst das neuere metaphorische Umfeld des<br />
Begriffes befragt.
Die Spezialuntersuchung von Hiller (1965), Steuben (1973) <strong>und</strong> wenige Jahre später die<br />
Erträge einer Tagung anlässlich der Ausstellung im Liebieghaus in Frankfurt 1990 klärten<br />
unsere Vorstellung vom <strong>Kanon</strong> des Polyklet. In diesen Texten spiegelt sich der seit<br />
Falconet (1781) nicht mehr abgebrochene Streit um die Deutung des wenigen, was<br />
bereits Franciscus Junius 1637 zusammengestellt hatte. Mehr ist es nicht geworden,<br />
zumindest bei den literarischen Quellen. Vermehrt haben sich indessen die<br />
denkmalhistorischen Argumente.<br />
Das indessen ist im vorliegenden Buch nur ein unerlässlicher Hintergr<strong>und</strong>. Die<br />
eigentliche Entdeckung der Forschungslücke, der nie erzählten Geschichte ist die des<br />
Begriffes vom "<strong>Kontrapost</strong>". Der Rezensent kann nicht verleugnen, dass es eine<br />
Überraschung bleibt, dass dieser Begriff zwar in jedem einschlägigen Lexikon<br />
aufzufinden ist, seiner durchaus komplexen Entstehungs- <strong>und</strong> Verwendungsgeschichte<br />
indessen noch nie nachgegangen wurde. Die Vorgeschichte wird nach Hiller (1965)<br />
referiert. Die Diskussion um den <strong>Kanon</strong> des Polyklet besteht in weiten Teilen ebenso aus<br />
dem Referat der aktuellen Diskussion von Hiller (1965) bis zu Herzog (1990) <strong>und</strong> Gauer<br />
(1998). Den Zusammenhang von <strong>Kanon</strong> <strong>und</strong> <strong>Kontrapost</strong> sieht der Autor so: "Es ist [...]<br />
die Duplizität des Maßbegriffs, welche heute zu intensiver Beschäftigung mit dem Begriff<br />
des <strong>Kontrapost</strong>es veranlasst. Denn der <strong>Kontrapost</strong> hat einerseits [...] einen reinen<br />
Zahlenaspekt <strong>und</strong> er verkörpert andererseits auch eine zugehörige Lebenseinstellung,<br />
welche sich wiederum im Doryphoros als der Regel des <strong>Kontrapost</strong>es spiegeln muß."<br />
(28).<br />
Maße <strong>und</strong> Bewegungsbild der menschlichen Gestalt stehen damit in Rede. Mit anderen<br />
Worten geht es um die Konstruktion eines Bildes vom lebendigen Menschen mit<br />
besonderen Eigenschaften: dem von kriegstüchtigen Athleten. Eine erste Überraschung<br />
ist die Feststellung, dass in der antiken Literatur der Begriff "<strong>Kontrapost</strong>" nicht<br />
existierte. Das Kapitel über die antike Kunsttheorie erschließt indessen eine Fülle von<br />
Begrifflichkeiten (decorum, antithesis, symmetria, imaginatio etc.), die der Renaissance<br />
<strong>zur</strong> Verfügung standen. 1681 führte Baldinucci in seinem "Vocabulario Toscano dell'arte<br />
del disegno" den Begriff erstmalig auf. Dort bedeutet er aber nichts weiter als "[...]<br />
einen nicht näher definierten Gegensatz" (91). 1675 beschrieb Sandrart in seiner<br />
"Teutschen Academie [...]" das, was bereits seit dem Bronzedavid des Donatello in der<br />
Renaissancebildhauerei praktiziert wurde unter dem Begriff des "Wol-Stand". Dieser<br />
Begriff wird fassbar mit seinem Gegenbegriff vom "Ubelstand" (was zugleich gegen den<br />
gotischen Hüftschwung formuliert worden war). Erst nach Winckelmann kommt bei A. R.<br />
Mengs (um 1760, gedruckt 1843) jene spezifische Semantik hervor, die in der<br />
deutschen Fachsprache seit Lange (1899) noch immer gültig ist. Er wird in den<br />
romanischen durch "ponderazione" (etwa bei Milizia 1785) vertreten, seit Flaxmann<br />
(1829) ist im englischen der Begriff "counterpoise" geläufig.<br />
Über eine längere Passage hat sich der Autor mit den mehr metaphorischen<br />
Verwendungen in einer schier bis <strong>zur</strong> Bedeutungslosigkeit ausufernden Übertragung des<br />
Begriffs vom <strong>Kontrapost</strong> auf alle möglichen Standmotive von Skulpturen auseinander zu<br />
setzen. Das reicht vom "gotischen Schwunge" <strong>und</strong> seinen Varianten bis hin zu den<br />
verschiedenen Stufen der Antikenrezeption in der italienischen Bildhauerei von Pisano<br />
bis Donatello. Einen klassischen, dem griechischen Vorbild vollkommen entsprechenden<br />
<strong>Kontrapost</strong> weist dessen Hl. Markus (1411-15) auf. Die vergleichende Beschreibung<br />
einer Reihe von Statuen der Folgezeit führt den Autor <strong>zur</strong> Analyse von möglicherweise<br />
angewandten Maßsystemen bei der Proportionierung <strong>und</strong> der Verwendung einer
kontrapostischen Komposition. Mit Michelangelos Einführung der "figura serpentinata"<br />
als einem Spiel mit dem <strong>Kontrapost</strong> wird deutlich, wie sehr das Bemühen um eine<br />
Suggestion von Lebendigkeit seine künstlerische <strong>und</strong> theoretische Arbeit bestimmte. Die<br />
Betrachtung weiterer Werke der manieristischen Skulptur von Sansovino bis Vincenzo<br />
Danti belegt die Verwendung eines spezifischen modularen Proportionssystems in der<br />
künstlerischen Praxis, die der Kunsttheorie von Ghiberti bis Lomazzo die Begründung<br />
des Zusammenhanges von Proportionssystemen mit dem des <strong>Kontrapost</strong>es (in der<br />
Erweiterung als "figura serpentinata") als untrennbare Einheit.<br />
Erfreulich ist, dass in allen Abschnitten die originalen Textpassagen in aller<br />
Ausführlichkeit abgedruckt worden sind. Dass in den "Zusammenfassungen" am Ende<br />
jeden Kapitels allerdings zum Teil gleich lautend nochmals viele der zuvor<br />
niedergeschriebenen Überlegungen wiederholt wurden, mag manchem Leser als<br />
unnötige Ausweitung des Umfanges erscheinen. Im abschließenden Bildteil sind alle<br />
genannten Statuen als Fotografie abgebildet <strong>und</strong> zuvor meist in mehreren Ansichten mit<br />
einem Proportionsraster in Umrisszeichnungen wiedergegeben, wobei manche dieser<br />
Zeichnungen allerdings etwas sehr groblinig ausgefallen sind. Das aber macht ein<br />
ständiges Vorurteil gegen Proportionsbestimmungen an Kunstwerken erst recht sichtbar:<br />
Die Messpunkte sind kaum anatomisch genau bestimmbar <strong>und</strong> erscheinen als eine meist<br />
an Willkür grenzende Schätzung.<br />
Redaktionelle Betreuung: Hubertus Kohle<br />
Empfohlene Zitierweise:<br />
Peter Gerlach: Rezension von: <strong>Andreas</strong> <strong>Bühler</strong>: <strong>Kontrapost</strong> <strong>und</strong> <strong>Kanon</strong>. <strong>Studien</strong> <strong>zur</strong> Entwicklung der<br />
Skulptur in Antike <strong>und</strong> Renaissance, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, in: sehepunkte<br />
3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: <br />
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in r<strong>und</strong>en<br />
Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.<br />
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.