Herunterladen als PDF - Walter Peter Gerlach, Forschungsprojekte
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Expressionismus-Theorie, Ludwig Klages (1910/1913)<br />
Gibt es Gemeinsamkeiten in expressionistischer Architektur, Film, Foto, Graphik, Kritik,<br />
Literatur, Malerei, Musik, Stadtplanung, Theater, in Pädagogik und Philosophie? Das war die<br />
Frage.<br />
Stilgeschichtlich bleibt's ein müßiges Unterfangen. Die Ausdrucksformen jedes einzelnen<br />
Künstlers divergierten innerhalb kurzer Zeit im eigenen Werk ganz erheblich und sicherlich<br />
sind die Wege, die die einzelnen Künstler in den 20er Jahren weiter gingen und dann noch<br />
weiter von einander entfernten, <strong>als</strong> in der Zeit bis vor 1910.<br />
Gemeinsam scheint indessen z. B. die Gegnerschaft zum Akademismus zu sein. Und aus der<br />
Gegnerschaft zu gleichzeitig möglichen Alternativen (Symbolismus, Jugendstil u.a.)<br />
bestimmte sich Gemeinsamkeit allerdings nur negativ.<br />
Liest man in der Forschung zum Expressionismus nach (z.B. "Der deutsche<br />
Expressionismus. Formen und Gestalten", hg. v. H. Steffen, Göttingen 1965) dann<br />
überrascht nicht, daß dieser Ansatz dort bereits formuliert, indessen aber nicht verifiziert<br />
wurde. Die dort vorgestellten 12 Beiträge zu Dichtung, Kunst und Musik zeichnen ein von<br />
Vorzugsthemen expressionistischer Kunst her bestimmtes Bild: Und zwar ein von<br />
kulturpessimistischen Tendenzen bestimmtes.<br />
Nichts von den Utopien einer besseren Lebenswelt wurde dort vorgetragen. Ausschließlich -<br />
vielleicht für diese Generation von Forschern bezeichnend - ein düsteren Bildes von der<br />
angefeindeten und bekämpften Gesellschaft kurz vor und nach dem 1. Weltkrieg findet sich
dort angehäuft.<br />
Extremer noch fällt das bei Rothe aus. (W. Rothe, Der Expressionismus. Theologische,<br />
soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur. Frankfurt a.M. 1977). Er wählte<br />
<strong>als</strong> Motto für sein Buch zwei Zitate aus: "Die Bewegung des Geistes steht noch aus"<br />
(Friedrich Wolf, 1919) und "Bewegung liegt allem Werden zugrunde." (Paul Klee, 1920).<br />
Ließe sich danach erwarten, daß utopische Konstrukte zur Sprache kämen, wie sie etwa die<br />
Jugendbewegung oder die Reformpädagogik (vgl. dazu etwa die Biographie Rainer<br />
Marwedel, "Theodor Lessing. 1872 - 1933." Darmstadt 1987, 72 ff zur Gründung der<br />
Odenwaldschule 1910.) kennzeichnen, überraschen nicht minder die Kapitelüberschriften:<br />
"Unterwelt", "Die unwirtliche Erde", "Vorhölle", "Das Gefängnis des Lebens", "Weltnacht",<br />
"Unwirklichkeit und Lehre" .... "Staat <strong>als</strong> Zwangssystem" usw.<br />
Hat hier jemand in seiner persönlichen Mid-life-crisis in literaturwissenschaftlichem Gewand<br />
seine Gegenwartskritik (1977 <strong>als</strong> späte Reaktion auf die '68) niedergeschrieben? Mich<br />
erinnert's an jenes düster-melancholische Bild, welches mir meine Deutschlehrern durch<br />
eine entsprechende Auswahl aus der Lyrik (Trakl, Benn) Mitte der 50er Jahre von der<br />
Dichtung des Expressionismus vermittelten. Das verstörte mich dam<strong>als</strong> schon, denn es<br />
paßte so gar nicht zu den lichtdurchfluteten und paradiesischen Gemälden die ich von Otto<br />
Müller oder Paul Klee oder Ernst Macke aus dem Kunstunterricht in der gleichen Zeit längst<br />
kannte. Selbst in Rothes Kapitel "Zum Menschenbild des Expressionismus" wird<br />
ausschließlich "gefroren" und Mädchen, Kind und Narr finden sich zu einer "lächerlichen<br />
Trinität menschlicher Güte" (Toller) vereint.<br />
Lediglich im Kapitel IX "Rationalismus und Wissenschaftskult." (S. 275 ff) scheint etwas vom<br />
Gegenteil auf:<br />
"Man begreift den expressionistischen Antirationalismus fälschlich <strong>als</strong> generelle Absage an<br />
Bewußtheit und Vernunft - sprich Ratio - zugunsten blinder Emotionalität (Gefühlskult) und<br />
Vitalismus (Lebensreligion). Die Gleichzeitigkeit einer verbreiteten irrationalistischen<br />
Zeitströmung in Nordamerika und Europa (Theosophie, Spiritismus u.a.m.) sowie einer<br />
religiösen Erneuerungsbewegung (Freikirchen, Baptisten, religiöse Sozialisten) fördert<br />
dieses Mißverständnis. Doch im Unterschied zu den irrationalistischen Geistesmoden, die<br />
sich soziologisch auf aristokratische Zirkel und bürgerliche Konventikel beschränkten, besitzt<br />
die expressionistische Kritik an einer triumphierenden Wissenschaft und einem autoritären<br />
Verstandesregiment durchaus kognitive Qualitäten. Sei verneint keineswegs doktrinär<br />
jegliche Ratio, sondern nur deren Perversion zu einem Rationalismus, sie zielt auf dessen<br />
fatalen Herrschaftsanspruch, auf sein arrogantes Negieren aller übrigen psychischen
Potenzen und kreativen Fähigkeiten des Menschen..." Lassen wir es dabei bewenden.<br />
"Psychische Potenzen und kreative Fähigkeiten des Menschen" sind nun aber jene positiv<br />
bestimmten Hoffnungsträger, die bemerkenswerter Weise in der Expressionismus-Literatur<br />
kaum zusammengefaßt dargestellt worden sind - auch bei Rothe im danach Folgenden<br />
nicht. Als gälte es immer noch die berüchtigte Expressionismus-Debatte der Nazis vom<br />
Herbst 1933 zu exorzieren - und damit die dort verfolgte Absicht den Expressionismus <strong>als</strong><br />
den neuen deutschen Nation<strong>als</strong>til zu etablieren (einschließlich der Absicht Van Gogh zu<br />
einem "deutschen" Maler zu vereinnahmen) im Nachhinein ungewollt zu bestätigen - wird<br />
allenthalben gerne vom düsteren und geistesschweren deutschen Expressionismus geraunt.<br />
Dies besonders hartnäckig von deutschen Beiträgern zu Ausstellungskatalogen, die gerade<br />
zum Nachweis der Internationalität des Phänomens angetreten sind, wie z.B. im Katalog der<br />
Ausstellung von 1970 im Haus der Kunst, München und Musée National d'Art Moderne,<br />
Paris....<br />
Mein Vorschlag ist zu prüfen, ob nicht eine andere bedenkenswerte, aber kaum nachlesbare<br />
Seite herauszufinden und in der ihr gebührenden Beleuchtung darzustellen möglich ist,<br />
allein schon weil bei jeder Ausstellung die Gemälde optisch dominieren: Sie strahlen von<br />
lebensfroher Farbigkeit. Schon von ferne fallen sie in jedem Kunst-Museum auf, wenn man<br />
etwa aus der Abteilung des 19. Jahrhunderts in den ersten Saal mit Werken der Zeit um<br />
1910 tritt: Endlich ein aufatmen! Dies ist mein Bild vom Expressionismus:<br />
Der Ausdruck »Expressionismus« wurde in einem Ausstellungsbericht von Wilhelm<br />
Worringer, "Sturm" (Aug. 1911) anscheinend zum erstenmal auf die bildende Kunst<br />
angewendet; er schrieb über die "jungen Pariser Synthetisten und Expressionisten Cézanne,<br />
van Gogh und Matisse", auf die der Begriff heute nicht mehr oder vielleicht schon wieder<br />
angewendet wird! Anläßlich einer Ausstellung des Blauen Reiters, 1912 in der Galerie der<br />
»Sturm« wurde die Bezeichnung "Expressionismus" erstmalig im heutigen Sinne mit der<br />
modernen deutschen Kunstrichtung in Verbindung gebracht. Zunächst nur auf die mehr<br />
romantische Seite der expressionistischen Malerei angewandt, breitete sich der Name dann<br />
auch auf die explosiven und groblinigen Formen der Brücke-Maler aus und schließlich auf die<br />
deutsche und ausländische expressive Malerei und Plastik im allgemeinen.<br />
In Vorträgen Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung. In: Tribüne<br />
der Kunst und Zeit, hat Kasimir Edschmid zwischen 1917-18 (Kasimir Edschmid, Über den
Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung. In: Tribüne der Kunst und Zeit,<br />
Berlin 1919, S. 50 ff.) eine zeitgenössische urteilende Deutung niedergeschrieben,<br />
allerdings auf die literarische Ausprägung des Expressionismus nur bezogen. Sie läßt sich<br />
aber dennoch in vielem sehr wohl auch auf die bildende Kunst beziehen.<br />
Seine Bestimmung beginnt mit der Kritik an Naturalismus, Impressionismus und<br />
Neuromantik (das wären die ausgemachte Gegnerschaften!):<br />
"Die Künstler der neuen Bewegung geben nicht mehr die leichte Erregung. Sie geben nicht<br />
mehr die nackte Tatsache. Ihnen entfaltet das Gefühl sich maßlos...<br />
Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie fotografierten nicht. Sie hatten Gesichte. Statt der Rakete<br />
schufen sie die dauernde Erregung. Statt dem Moment die Wirkung in die Zeit...<br />
In ihr stand die Erde, das Dasein <strong>als</strong> eine große Vision. Es gab Gefühl darin und Menschen.<br />
Sie sollten erfaßt werden im Kern und im Ursprünglichen. Dafür bedurfte es einer<br />
Gestaltung der künstlerischen Welt...<br />
Ein neues Weltbild mußte geschaffen werden, das nicht mehr teilhatte an jenem nur<br />
erfahrungsgemäß zu Erfassenden der Naturalisten, nicht mehr teilhatte an jenem<br />
zerstückelten Raum, den die Impression gab, das vielmehr einfach sein mußte, eigentlich,<br />
und darum schön...<br />
... So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Die Tatsachen haben<br />
Bedeutungen nur so weit, <strong>als</strong>, durch sie hindurchgreifend, die Hand des Künstlers nach dem<br />
faßt, was hinter ihnen steht...<br />
Er sieht das Menschliche in den Huren, das Göttliche in den Fabriken, er wirkt die einzelne<br />
Erscheinung in das Große ein, das die Welt ausmacht... Alles bekommt Beziehung zur<br />
Ewigkeit... Die Welt ist da, es wäre sinnlos, sie zu wiederholen. Sie im letzten Zucken, im<br />
eigentlichen Kern aufzusuchen und zu schaffen, das ist die größte Aufgabe der Kunst...<br />
Jeder Mensch ist nicht mehr Individuum, gebunden an Pflicht, Moral, Gesellschaft, Familie.<br />
Er wird in dieser Kunst nicht <strong>als</strong> das Erhebendste und Kläglichste: Er wird Mensch...<br />
Nun ist der Mensch wieder großer, unmittelbarer Gefühle mächtig. Er bleibt nicht mehr<br />
Figur, er ist wirklich Mensch... So kann er sich steigern und zu Begeisterungen kommen,<br />
große Ekstasen aus seiner Seele aufschwingen lassen..." (nach B.S.Myers, Die Malerei des<br />
Expressionismus, Köln 1957, S.41-42).<br />
Was ist damit gemeint? Was meinte er mit Visionen, mit den maßlosen Gefühlen? Und was<br />
hat das mit dem Geschäfte der Malerei zu tun?<br />
"Es gibt nämlich noch Uranfänge von Kunst, auffindbar in ethnographischen Sammlungen
oder daheim in der Kinderstube. Lache nicht, Leser, die Kinder können es auch, und es<br />
steckt Weisheit darin, daß sie es auch können. Je hilfloser sie sind, desto lehrreichere<br />
Beispiele bieten sie uns." Paul Klee, Tagebücher 1912.<br />
Die Formulierungen und Umschreibungen der Frage nach dem "Ursprung" von Kunst, wie sie<br />
noch bei Winckelmann 1 selbstverständlich im einleitenden Kunstlob die kunsttheoretische<br />
und kunstgeschichtliche Debatte durchzog, wurde in der Zeit des in Köln zum Gereonsclub<br />
gehörigen Kunsthistorikers Wilhelm Worringer (1910) 2 mit der Rousseauschen Frage nach<br />
"Ursprünglichkeit" zusammengeführt und mit je konkurrierenden geographisch<br />
(Klimatheorie) und national-sozial (Rassentheorie) orientierten Mythen - in Kindheit oder<br />
Steinzeit - verortet, zu beantworten gesucht. Diese Positionen der Jahrhundertwende<br />
gerieten schließlich zu konservativen, bis heute keineswegs überwundenen innerhalb der<br />
Moderne. Die Alternative zur Frage nach dem "Ursprung", nämlich "Ursprünglichkeit" in der<br />
biographischen Identität des jeweiligen künstlerischen Subjekts verortet und seine<br />
utopischen, historischen oder sozialen Wahlverwandtschaften zu je individuellen<br />
Inspirationsquellen umzumünzen, wurde das Kriterium für avantgardistische Moderne und<br />
<strong>als</strong> Bestimmungsstück für Kreativitätsquellen gerne von diesen genutzt.<br />
Zuerst finden wir diese Konsequenz bei dem italienischen Philosophen Benedetto Croce<br />
(1901) formuliert. Er beurteilte die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung der Kunst <strong>als</strong><br />
ästhetisch irrelevant. 3 Damit wurde ein fester, regelhafter Bestandteil im Rahmen des<br />
einleitenden Kunstlobes der kunsttheoretischen Literatur aus einer historischen in eine, seit<br />
dem Beginn des 20. Jh. noch heute gültige anthropologische Kategorie überführt. Zugleich<br />
spaltete sich die historische Frage nach dem Ursprung der Kunst von der ästhetischen Frage<br />
ab, führte zu einer Gruppe selbstständiger Disziplinen mit einem eigenen Literaturtypus.<br />
Führte die Spurensuche nach historischen Zeugnissen wie zufällig in die bemalten Höhlen<br />
Frankreichs.<br />
Im Unterschied zum Ergebnis der Debatte vom Ursprung der Sprache um 1800 4 , galt die<br />
Malerei - und nur davon ist in der älteren Literatur dann die Rede, wenn der künstlerische<br />
oder sonstige gesellschaftliche Umgang mit dem Bild angesprochen wird 5 - <strong>als</strong> ein<br />
entwicklungsgeschichtlich spätes Kulturprodukt der Menschheit. So ist noch am Ende des<br />
18. und im beginnenden 19. Jhds. selbstverständlich die Rede von den großen<br />
mittelmeerischen Kulturen, beginnend im Vorderen Orient und Indien, kaum von Ostasien,<br />
bald dann von Ägypten, Griechenland und Rom, wenn die Erörterung von »dem Ursprung«<br />
der Künste anstand.
Aber wohin man immer die Frühzeit der Menschheit verlagerte, es blieb letztlich bei dem<br />
bereits von Plinius benannten Dunkel, in das der historische Ursprung von Kunst gehüllt<br />
sei. 6 Somit bestand vorerst kein Grund über Frühes an Kunst näheres in Erfahrung zu<br />
bringen. Kenntnisse von der Kunst mittelmeerischer Antike reichte weiterhin aus sie <strong>als</strong><br />
einen noch immer nicht wieder erreichten Stand der je gegenwärtigen Kunst darzustellen.<br />
Erst zu Winckelmanns Zeiten und vor allem durch Winckelmann selber wurde die "Kunst der<br />
Alten" <strong>als</strong> eine unter bestimmten, nicht wieder zurückholbaren gesellschaftlichen<br />
Bedingungen entstandene Kunst begriffen. Diese Überzeugung hatte nach Winckelmann -<br />
z.B. bei Reynolds und Camper 7 - zur Folge, daß auf die Veränderungen der Kunst in<br />
Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen vorrangig geachtet wurde. Die Kunst wurde <strong>als</strong><br />
ein direkter oder indirekter Ausdruck von Bedingungen der Zeit verstanden. Das ästhetische<br />
Ideal wurde somit potentiell pluralistisch, denn ob nun griechische oder römische Antike <strong>als</strong><br />
die vorbildliche angesehen wurde, stand frei zur Disposition.<br />
Weitere Kulturkreise rückten zu Beginn des 19.Jh. in den Blick - zumal die des fernen<br />
Ostens kamen ins Spiel. Dabei war von Kunst nicht die Rede, die der der mittelmeerischen<br />
Länder zeitlich voraus gelegen und der Aufklärung des Ursprungs von bildender Kunst hätte<br />
dienlich erscheinen können, der der Darstellungs-Regel gemäß an festgelegter Position am<br />
Anfang des Textes zu stehen hatte. 8<br />
Alles änderte sich schlagartig mit den Entdeckungen frühgeschichtlicher Malereien in<br />
süddeutschen und französischen Höhlen in der 2. Hälfte des 19. Jhds. 9 Die traditionelle<br />
Position geriet ins Wanken, nicht aber die bewährte Darstellungs-Regel.<br />
Die Frage nach dem Ursprung, die wir bereits genauer <strong>als</strong> Frage nach der Erfindung von<br />
Kunst durch den Menschen verstehen gelernt haben, erhielt eine andere Wendung. Die von<br />
Winckelmann aufgebrachte Frage nach den Bedingungen der erfinderischen Fähigkeiten des<br />
Menschen wurde verabsolutiert und von der nach einem absoluten Beginn von Kunst<br />
getrennt. Damit war das Problem des Ursprungs gleichsam wieder in die Gegenwart<br />
zurückgebogen. Und das erforderte angesichts der modernen Malerei selber ganz andere<br />
Antworten. Jetzt eröffnete die alte Frage zugleich die Perspektive auf die Bedingungen des<br />
Kunstschaffens zu allen möglichen und denkbaren Zeiten der Vergangenheit und relativierte<br />
vor allem die Wertschätzung der Erzeugnisse der antiken Kunst. Einhellig konnten zumal<br />
deren Entstehungsbedingungen nicht mehr <strong>als</strong> fraglos wünschenswerte akzeptiert werden. 10
Davon aber ging eine Bedrohung des Begriffs vom Individuum aus. Ebenso bedroht erschien<br />
die daran geknüpfte Tradition eines semantischen Raumes von der aktiven Produktion, in<br />
dem sich - prominent in den Gestalten von Kulturheroen der Maler- und Dichterfürsten -<br />
Individualität überhaupt erst in ideologisch (d.h. "interessenlos") vorbildlicher Weise<br />
ausgebildet und dargestellt hatte. Das zeitigte Rückwirkungen auf die Konzeption von<br />
didaktischen Modellen, bis hinein in das Schulwesen, das die öffentlich organisierte<br />
Erziehung junger Bürger bestimmte.<br />
Vom Ursprung zur Ursprünglichkeit scheint's ein kurzer Sprung gewesen zu sein. Seitdem<br />
man die Frage nach der Realzeit zwischen dem historischen Zeitpunkt der Schöpfung und<br />
der Gegenwart gestellt hatte, verlängerte sich zunehmend die Zeitspanne zwischen der<br />
Gegenwart und diesem historischen Ursprung der Welt. Im Gegensatz zur heilsgewissen<br />
Nähe der Schöpfung und der Apokalypse im christlichen Weltverständnis verlangte dieses<br />
profanierte, naturwissenschaftlich fundierte Verständnis der Historizität von Natur und<br />
Menschheit zugleich mit dieser Einsicht das Opfer an Bereitschaft zum Einlassen auf die<br />
beunruhigenden Vorstellung, daß Anfang und Ende dieser Welt die individuelle<br />
biographische Lebensspanne unendlich weit übersteigt. Diese Dehnung des zeitlichen<br />
Verständnisses wird aufgehoben in seinem Gegenteil, aufgehoben in der Vorstellung, daß in<br />
der individuellen Entwicklung gleichsam im Zeitraffer die Entwicklungsgeschichte der<br />
Spezies Mensch vollständig reproduziert und damit vollständig durchlaufen würde.<br />
Was in der Morphologie der Physis dieser an Geltung verschafft wurde, konnte für die<br />
Psyche nicht ohne Folgen bleiben. Die Vorstellung von latenter Präsenz ursprünglicher<br />
Strukturen, die auch durch eine lebenslange Enkulturation nicht restlos ausgemerzt und<br />
zum Schweigen gebracht werden konnte, bestätigte die vorgebliche Gewißheit, daß auch der<br />
Anfang der Menschheit in der individuellen Psyche ständige Präsenz genieße und jederzeit<br />
unter der dünnen Kruste der kulturellen Bildung <strong>als</strong> Rohes und Wildes hervorgeholt werden<br />
könne. Diese rettende Einsicht hatte ihr Bedrohliches und ihr Beglückendes. Bedrohlich<br />
wurde sie in der Vorstellung von brutaler, instinktgeleiteter Roheit und Sexualität.<br />
Beglückend wurde die Vorstellung von der Möglichkeit zu natürlicher Unmittelbarkeit und<br />
paradiesischer Einheit mit der Natur. 11<br />
Diese Ursprünglichkeits-Utopie faszinierte die kunsttheoretische Debatte der jüngeren<br />
Generation seit Nietzsche in ihrer Frage nach kreativer Potenz, den innerpsychischen<br />
Inspirationsquellen <strong>als</strong> verweigernde Resistenz gegenüber der unerbittlichen, <strong>als</strong>
unerquicklich erfahrenen, bedrohlichen Entfaltung der technischen Zivilisation der modernen<br />
Industriegesellschaft.<br />
Im Gegensatz zu allen Formen des bürgerlich Genormten entstand ein Leitbild des<br />
Archaischen, Südseehaften oder Afrikanischen, das immer stärker ins Utopische tendiert.<br />
Statt sich von der Gesellschaft weiterhin widerspruchslos abrichten zu lassen, setzte eine<br />
Gruppe jüngerer Künstler den Bürokratisierungs- und Einengungstendenzen der modernen<br />
"Überzivilisation" das Prinzip des "Primitiven" entgegen. 12<br />
Daß z.B. Wilhelm Worringer sein Buch »Abstraktion und Einfühlung« von 1908 selber <strong>als</strong><br />
einen Beitrag zur Ursprungsdebatte begriff, geht aus dem Vorwort zur Neuausgabe hervor:<br />
Es behandele Fragen der "Genesis menschlicher Kunsttätigkeit [...]." 13<br />
Und die Wendung "Ursprung: [ist ein] praktischer Wunsch, das vergängliche Körperliche<br />
festzuhalten" in einem Essay von Kandinsky 14 verweist uns wieder auf den alten Topos der<br />
kunsttheoretischen Schriften. 15 Verwendet Kandinsky zwar den älteren Begriff, ist dennoch<br />
ersichtlich, daß er diesen im Sinne der Avantgarde der Moderne <strong>als</strong> individuell verfügbares<br />
"Ursprüngliches" verstand. 16<br />
Gleichsam selbstverständlich blieben dennoch bildenden Kunst und Kultur generell in Eins<br />
gesetzt, da sich deren Einheit ausschließlich am Kultbild und der dazugehörigen Architektur<br />
faßlich beschreiben ließ.<br />
Mit erster Sicherheit konnte der Archäologe Adolph Michaelis 1906 konstatieren: "Das<br />
größte Aufsehen erregten die in den siebziger Jahren und wiederum in den neunziger Jahren<br />
in der Nähe von Schaffhausen gemachten Funde, z.B. die meisterhafte Darstellung eines<br />
äsenden Rentiers. Die Vollendung der Zeichnung erschien für jene Urzeit so unbegreiflich,<br />
daß ein - leider durch einige Fälschungen genährter - Verdacht gegen die Echtheit laut<br />
ward. Er verstummte bald. Neuere Entdeckungen in Frankreich haben jene Werke fast noch<br />
übertrumpft, und das Studium des Kunstsinnes und der Kunstleistungen bei wilden Völkern<br />
hat das in seiner Vereinzelung unbegreiflich Erscheinende <strong>als</strong> allgemeingültig nachgewiesen.<br />
Eine höchst primitive Kunststufe schließt keineswegs künstlerischen Blick und treffende<br />
Wiedergabe aus: eine für die Ursprünge der Kunst wertvolle Beobachtung." 17<br />
Selbst mit der Natur 18 verbündete sich die Argumentation fürs Ursprüngliche erneut im<br />
Resultat der Leonardo-Bellini Kontroverse. In der Natur selber fänden sich jene biologischen
Urzeichen künstlerischen Schaffens, die dem seiner kindlichen Ursprünglichkeit<br />
Entwachsenen immer noch unvermittelt zur Verfügung stünden. Mit Haeckels u.a.<br />
Entdeckung von "Kunstformen der Natur" glaubte man ein unerschöpfliches Reservoir<br />
erschlossen zu haben, das von den normierenden Kräften der modernen Gesellschaft<br />
unberührt, immer noch von den Zeiten vor dem Erscheinen des Menschen und seiner Kunst<br />
künde.<br />
Kaum in den Blick der Kunstwissenschaft wurde die Vielzahl derjenigen bildlichen<br />
Äußerungen genommen, die diesseits der hochrangig spezialisierten Produktionsformen<br />
bildender Kunst sowohl das alltägliche gesellschaftliche Leben <strong>als</strong> auch das intimere private<br />
Leben beherrschten.<br />
Erst um die Jahrhundertwende traten vor allem bei Sigmund Freud und den<br />
wahrnehmungstheoretischen Schulen in Leipzig 19 und Dresden jene Formen der bildlichen<br />
Manifestationen menschlicher Weltaneignung in den Blick, die diesseits der traditionellen<br />
Hochformen einer "Bild-Kultur", <strong>als</strong>o der bildenden "Kunst", sowohl beim Kinde schon, <strong>als</strong><br />
auch bei dessen phylogenetischem Pendant, den sogen. »Primitiven« ausgemacht werden<br />
konnten. 20 Andererseits trat ein anderes kulturelles Erbe in die Phase seiner<br />
wissenschaftlich-rationalen Durchdringung, das bis dahin der Domäne von Aberglauben und<br />
Irrationalitäten überlassen schien: die Deutung der Bilderwelt der Träume. Allerdings<br />
unterlag sie von Anfang an einer Festsetzung in einer enthistorisierten Form, da man in<br />
diesem Bild- und Figurenrepertoire ein unveränderliches Zeugnis anthropologischer<br />
Konstitution erblickte, das gegen jede kulturell-bedingte Veränderung und Anpassung<br />
hypostasierte wurde.<br />
Darin Quellen subjektiver Inspiration <strong>als</strong> höchsten Ausweis ungeteilter Individualität<br />
erblicken zu können, wurde zum ausgesprochenen Lieblingsvorurteil der Künstler selber. Mit<br />
Vorliebe nahmen sie sich jenen Erbes neuzeitlichen Irrationalismus' an. Zugleich besetzten<br />
sie damit den Kontrapart zur industrialisierten Rationalität und verhalfen ihm zu neuen,<br />
höchst zwiespältig beurteilten Ehren. Damit war die Frage nach dem historisch-<br />
menschheitsgeschichtlichen "Ursprung" von Kunst oder künstlerischer Tätigkeit zunehmend<br />
von der Vorstellung von "Ursprünglichkeit", <strong>als</strong>o der Frage nach sensitiver "Unvermitteltheit"<br />
emotionaler Wirkung von Formen und Farben überlagert. Es wurde unterstellt, daß "frühen"<br />
Kulturen diese Unmittelbarkeit ebenso direkter zur Verfügung gestanden habe, wie man es<br />
für's Kind selbstverständlich annahm. Nunmehr wollte jeder gerne im Erwachsenen-Alter
selber noch an dieser Projektion partizipieren, um sich dem Druck der beschleunigten<br />
kulturellen Wandlungen zumindest teilweise entziehen zu können. 21<br />
Für jede ältere Vorstellung mußte eine Wortpaarung wie "primitive Kunst" <strong>als</strong> ein unsinniges<br />
Paradox erscheinen, schloß doch der Inhalt von "primitiv" - <strong>als</strong> das Gegenteil von Kultur -,<br />
"Kunst", den Inbegriff von vollzogener kultureller Entfaltung, aus. 22<br />
"Mit diesem unverkennbaren Drang zum Objektiven, zur zwingenden Vereinfachung der<br />
Form, zu einer elementaren Vorurteilslosigkeit der künstlerischen Wiedergabe, hängt jener<br />
Grundcharakter der neuen Kunst zusammen, den man <strong>als</strong> sinnlose Primitivitäts- und<br />
Kindlichkeitskomödie vor dem erwachsenen Europa lächerlich machen zu können glaubt",<br />
schrieb Worringer 1911 in Verteidigung der neueren (französischen) Kunstrichtungen, die<br />
sich an Cézanne, van Gogh und Matisse orientierten, gegen Carl Vinnens Angriff auf die<br />
Kunst der Moderne. 23<br />
"Nicht ist ihr [der Kunst] Wesen - kritisierte Adorno dieses Ansinnen - "aus ihrem Ursprung<br />
deduziebel, so <strong>als</strong> wäre das Erste eine Grundschicht, auf der alles Folgende aufbaute und<br />
einstürze, sobald sie erschüttert ist. Der Glaube, die ersten Kunstwerke seien die höchsten<br />
und reinsten, ist späteste Romantik: nicht mit minderem Recht ließe sich vertreten, die<br />
frühesten kunsthaften Gebilde, ungeschieden von magischen Praktiken, geschichtlicher<br />
Dimension, pragmatischen Zwecken wie dem, durch Rufe oder geblasene Töne über weite<br />
Strecken sich vernehmbar zu machen, seien trüb und unrein; die klassizistische Konzeption<br />
bediente sich gerne solcher Argumente." 24<br />
Mit den - heimlich oder offen geliebten - Zügen eines von der Gesamtentwicklung<br />
Überholten bedrückt seitdem alle Kunst die verdächtige Hypothek des nicht ganz<br />
Mitgekommenen, Regressiven. Dennoch bedienten und bedienen sich Künstler seitdem<br />
jener Lebensbereiche <strong>als</strong> Inspirationsquelle, die angesichts der Steigerung technischer<br />
Effizienz und ökonomischer Rationalität vom triumphierenden Bürgertum <strong>als</strong> ineffektiv, <strong>als</strong><br />
regressiv beiseite geschobenen waren: der Bereich der Kindheit und der der<br />
Geisteskrankheit. Die "Natur" indessen ist sowohl ästhetisch den einen wie ökonomisch den<br />
anderen verdächtig, weil die Grenzen ihrer Ausbeutbarkeit zu offensichtlich geworden sind.<br />
In der ästhetischen Verhaltensweise, die in der Kunst konserviert wird und deren Kunst<br />
unbedingt bedarf, versammelt sich, was seit jeher von Zivilisation gewalttätig<br />
weggeschnitten oder unterdrückt wurde, samt dem Leiden der Menschen unter dem ihnen<br />
Abgezwungenem, das wohl in den primären Gestalten von Mimesis sich äußert. 25
Expressionistische Kunsttheorie<br />
Der aus Hannover stammende Philosoph Ludwig Klages (1872-1956, 1910/1913) knüpfte<br />
mit seiner Theorie der Ausdrucksbewegungen an Carl Gustav Carus‘ Symbolik (1853) an<br />
und formuliert eine Einsicht, die sich fugenlos in den Expressionismus einpasste mit seiner<br />
Unterscheidung von dem Resultat einer Ausdrucksbewegung <strong>als</strong> Gestalt (Bild) einer<br />
seelischen Regung und den äußerlich nicht faßbaren Anlagen (Passionen) und<br />
Antriebsformen von Gefühlen.<br />
Gefühle konnte man somit anders begreifen und den Höhepunkt erreichte die Physiognomik<br />
mit Ludwig Klages, der 1910 mit seiner Theorie von der Ausdrucksbewegung eine<br />
nachgerade expressionistische Physiognomik verfaßte. Hier ist nur noch vom Wechselspiel<br />
des Austausches von Trieb- und Willensimpulsen die Rede, und er verließ das traditionelle<br />
Indikatorenrepertoire, indem er die Handschrift <strong>als</strong> Aufzeichnung eines authentischen<br />
Abbildes innerer Prozesse begriff.<br />
Die Geschichte der Graphologie ihrerseits reicht zurück bis auf Camillo Baldos «Trattato<br />
come da una lettera missiva si conoscono la natura e qualità dello scrittore.» Capri 1622,<br />
nur daß zu dieser Zeit eher einem Schreiber diktiert, <strong>als</strong> selbst geschrieben worden ist.<br />
Handschrift indessen <strong>als</strong> Eigenart einer Zeichnung und eines Gemäldes schätzten zwar<br />
Kenner und Sammler. Teil einer theoretischen Reflexion war sie indessen noch lange nicht<br />
geworden, sondern unter dem Begriff von der maniera, der Manier <strong>als</strong>o immerhin schon<br />
benannt.<br />
Sie auf die Analyse des Empfindens im Sinne der Definition, die seit dem späten 18.Jh.<br />
entwickelt worden war, gerät bei Klages durchaus analog zum Kunst-Ideal des<br />
Expressionismus.<br />
Das nach außen gerichtete, auf soziale Kompetenz und soziale Regulative orientierte<br />
Pendant zu Ludwig Klages findet sich in den Schriften des etwas jüngeren Psychologen Karl<br />
Bühler (1879 -1963) im Begriff von der Ausdruckshandlung und dem den Probanten<br />
folgenden verstehenden Blick des Beobachters. Diesen Ansatz hatte er in dem 1913<br />
erschienen Buch “Gestaltpsychologie” entwickelt. Ihre Theorien unterscheiden sich wie ein<br />
Bildnis eines expressionistischen Künstlers vom dem eines der Neuen Sachlichkeit.<br />
Klages Blick ist nach Innen gerichtet, Bühlers kalter Blick auf das Äußere eines Gegenübers,<br />
ist <strong>als</strong>o selber soziale Interaktion, die simulierte Introspektion von Klages um eine<br />
Dimension erweiternd.
Gehen wir einen kurzen Moment zurück, so werden wir diese Doppelung des endogenen<br />
Blicks nach Innen und den exogenen auf ein Gegenüber in allen drei bisher geschiedenen<br />
Phasen vorfinden: so wie sich Theophrast von Pseudo-Aristoteles unterscheidet,<br />
unterscheidet sich Descartes und La Bruyère von Le Brun, Lavater, Camper von Carus und<br />
den Physiologen (wie Balzac und Zola), Klages von Bühler und den Behavioristen allgemein<br />
– zu deren Mitbegründer Bühler gerechnet werden kann.<br />
Einige Überlegungen zur Konstruktion jener Bildnis-Simulationen, die unter diesen<br />
Prämissen aufzuweisen sind.<br />
Welche artistischen Konstrukte sind das Resultat aus den aufgezeigten Prämissen, oder<br />
wissenschaftlich korrekter, was erschließt sich uns <strong>als</strong> Kunstwissenschaftler an historischer<br />
Kunst unter den aufgezeigten Prämissen?<br />
Die expressionistische Tradition - <strong>als</strong>o der endogene Blick - ist offenkundig in der Wahl der<br />
zugehörigen artistischen Mittel. Von der attributiven Funktion der Farbwahl bis zum gestisch<br />
bestimmten Duktus der Strichführung und des Farbauftrags. Ihre Leidensbereitschaft und<br />
Leidensfähigkeit beweisen sie in jedem ihrer Züge. Kaum ein einschlägiger Gefühle-Begriff<br />
deckt das, was sie auszudrücken vermögen, es bedürfte wohl-überlegter Beschreibung, um<br />
ihren Ausdruck verbal annähernd einzuholen. Diese Werke entziehen sich widerständig<br />
sprachlicher Erfassung. Kategorien der Psychiatrie werden ihnen ebenso wenig gerecht, wie<br />
begriffliche Dichotomien von Befindlichkeitsbeschreibungen (Liebe - Haß, Trauer - Freude),<br />
von denen sie allenfalls <strong>als</strong> deren Zerrbilder erfahrbar sind. Destruktion von Erfahrung und<br />
dessen Begriff strömt von ihnen aus. Sie hinterlassen Rat- und Sprachlosigkeit. Es sind<br />
Kabinettstücke.<br />
Dagegen erscheinen sowohl Warhols Figuren von 1978 <strong>als</strong> auch Richard Lindners Figuren<br />
von 1963 wie silikongespritzte Bestien medialer Simulationen. Ihnen begegnet man nicht <strong>als</strong><br />
Voyeur, sondern <strong>als</strong> Teilhaber an einem elektronischen Spektakel, das kalt bleibt und Kälte<br />
erzeugt. Ihnen braucht man ihre Nähe zur Produkten-Werbung nicht erst anzudichten. Sie<br />
sind nur zu dem fähig, was sie <strong>als</strong> Rolle in der Darstellung zugesprochen bekommen haben.<br />
Identisch bleiben sie mit dieser sozialen Rolle gerade ob ihrer scheinbaren erotisch<br />
konnotierten Absonderlichkeit aus dem Blickwinkel bürgerlicher Wohlanständigkeit. Sie sind<br />
Produkte einer konsumorientierten Großstadtgesellschaft: Lebensfroh und unbeschwert<br />
genießen sie nichts <strong>als</strong> sich selbst in dieser Rolle. Sie erzeugen einverständiges Grinsen und
estätigendes Einverständnis oder ebenso vehemente Abwehr von Fremdbestimmung, aber<br />
immer Eindeutigkeit, wenn’s ums die moralische Seite ginge. Sie sind repräsentativ: <strong>als</strong>o<br />
öffentlich gerade in ihrem Anschein von Intimität.<br />
Öffentlich wie die Bildnisse der Neuen Sachlichkeit (Christian Schad: 1927 / 1929), auf die<br />
hervorragend eine Stelle aus einem Roman von Hans Steguweit aus dem Jahre 1931 paßt.<br />
In seinem Roman “Jünglinge am Feuerofen” berichtet der Ich-Erzähler Manes Himmerod<br />
eine von ihm <strong>als</strong> repräsentativ verstandene Momentaufnahme der jungen Frauengeneration.<br />
Während einer Zugfahrt kommt ein “junges Mädel” ins Abteil “das nicht mal guten Abend<br />
sagt.”<br />
“Dafür ließ sich die Puppe ins Plüsch fallen, schleuderte die seidenen Beine übereinander<br />
und zündete sich eine Navy-Cut an, die nach Honig und Opium roch. Die kaum<br />
Sechszehnjährige hatte rasierte Augenbrauen und zog sich die Lippenbogen mit einem<br />
Rotstift nach. [...] Ich wußte jetzt, wie ich mir ungefähr die mondäne Fortschrittsjugend<br />
vorzustellen hatte, zumal die Tante in einer Zeitschrift studierte, die sich “Edle Nacktheit”<br />
nannte. Gewiß, die Jungfrau fürchtete sich mehr vor dem Kochherd <strong>als</strong> vor dem Bett. Und<br />
sie würde wohl Gitte, Lo oder Resi heißen, obzwar sie auf Brigitte, Charlotte oder Therese<br />
Namenstag feierte.” (274)<br />
Dagegen stehen die intimen Bildnisse expressionistischer Maler. Und hier weisen diese<br />
Gesichts-Landschaften auf einen völlig anderen Text zurück, nicht wie zuvor auf einen Jung-<br />
Mädchen Roman, sondern auf einen wissenschaftlichen Text von 1913, in dem es um<br />
psychologische Anthropologie geht, weil ich finde, daß darin einige Überlegungen<br />
vorgetragen werden, die erstaunlich gut Aspekte und Probleme expressionistischer Kunst -<br />
ohne von dieser überhaupt nur zu sprechen - vorgetragen werden, noch dazu, wo<br />
zumindest die deutschen expressionistischen Künstler Ansätze von Theorie oder gar<br />
programmatische Manifeste nicht hinterlassen haben. Einer der einschlägigen Autoren ist<br />
eben Ludwig Klages (1923, 3. Aufl., S. 163).<br />
"Man redet heute viel von "Gesichten", glaubt Kunstwerke ausnehmend zu lobpreisen, wenn<br />
man sie für "Visionen" erklärt, schmeichelt dem Künstler oder wähnt, es zu tun, mit dem<br />
Namen des "Visionärs". Nun können zwar Künstler daneben noch Visionäre sein, ganz sicher<br />
aber nicht darin liegt ihre Künstlerschaft. Ja, man darf mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
behaupten: wären alle Künstler von Rang ebenso große Visionäre gewesen, wie sie<br />
tatsächlich bedeutende Künstler waren, so gäbe es gar keine Kunst! Weil nämlich echte
Visionen sofort auch <strong>als</strong> ein Fertiges dastehen, so wäre der einzige Antrieb, den sie in<br />
gleichsam künstlerischer Hinsicht vermitteln könnten, der Wunsch, dieses Fertige<br />
unvergänglich zu machen durch Nachbildung seiner in einem beständigen Stoff;<br />
vergleichbar dem Bestreben des Wanderers, von den mancherlei Landschaften, die er<br />
durchmißt, in seiner Dunkelkammer Photogramme mit nach Hause zu nehmen. Allein (...)<br />
wäre das allergetreueste Nachbild niem<strong>als</strong> imstande, in seine unvermeidliche Starre<br />
hineinzubannen das Ereignis einer echten Vision; ganz davon zu schweigen, daß der<br />
Visionär <strong>als</strong>bald die Unmöglichkeit erriete, anhand eines Abklatsches die ihm erwünschte<br />
Vision zu erneuern, und statt dessen darauf verfallen müßte, [...] den ersehnten Erfolg<br />
herbeizuführen durch Wiederholung gewisser Begleitumstände des begnadeten Augenblicks.<br />
[...] Trüge der Bildner fertig im Geiste, was erst durch den Gestaltungsvorgang "in die<br />
Erscheinung zu treten" bestimmt ist, so würde ihm bei noch so großer Begabung der Antrieb<br />
zum Bilden fehlen. Das sog. Motiv ist nicht ein Bild, sondern ein durch Eindrücke oder<br />
Phantasmen erregter Drang.<br />
Sollte vorstehende Abschweifung über den Bildnertrieb es auch nur einigermaßen aufgehellt<br />
haben, warum das Werk, damit es entstehe, gerade das Nichtdasein dessen erheische, was<br />
die Empfänglichkeit des Zuschauers weckt, so dürfte es nunmehr ohne weiteres einleuchten,<br />
wenn wir das Wesen der Begabung in das Gestaltungsvermögen setzen und dieses<br />
beispielsweise folgendermaßen erklären: Nicht das macht den Tondichter, daß er Töne und<br />
ihre Verbindungen behalte, [...] nicht das den Maler, daß er den Kopf sich mit Linien und<br />
Farben fülle; sondern darin besteht ihre unterscheidende Fähigkeit, ihr Inneres leichter und<br />
besser <strong>als</strong> Unbegabte in Formen, Farben, Tönen auszusprechen; wohingegen die<br />
Empfänglichkeit für den Anschauungsstoff samt den aus ihr wieder zu begründenden<br />
Auffassungsanlagen abhängig wäre vom bildnerisch schon Gestalteten [...]. Wir werden das<br />
indes überzeugender und tiefer begründen, wenn wir über den verhältnismäßig sehr engen<br />
Spielraum künstlerischer Gestalter hinaus den Blick auf die grenzenlose Mannigfaltigkeit<br />
möglicher Begabungen richten und wenigstens umrißmäßig wahrscheinlich zu machen<br />
suchen den viel allgemeineren Satz, daß auf der Ebene bloßer Lebendigkeit erleidendes und<br />
ausdrückendes Erlebnis polar zusammengehören, daß aber auf geistiger Ebene, wo das<br />
Polaritätsverhältnis verloren ging, das Auffassbare nach Richtung und Umkreis sogar <strong>als</strong><br />
bestimmt erscheine vom Ausdrückbaren. [...] Im Grunde genommen würdig und anerkennt<br />
man nur Verstandesgaben, obgleich doch natürlich auch solche des Willens und des Gefühls<br />
zu beachten wären (um einmal der üblichen Dreiteilung die Ehre zu geben)."<br />
Gibt es Gemeinsamkeiten in expressionistischer Architektur, Film, Foto, Graphik, Kritik,
Literatur, Malerei, Musik, Stadtplanung, Theater, Zeichnung (Pädagogik und Philosophie) ?<br />
Das war die Frage.<br />
Wille <strong>als</strong>o, den Klages <strong>als</strong> einer der bestimmenden Anteile an dem Drang zur Darstellung<br />
erfasst hat, und Empfindungen <strong>als</strong> der andere bestimmende Anteil sind der Stoff aus dem<br />
eine Theorie des Expressionismus gestaltet werden kann.<br />
Nur daß die Empfindung erst dann zur Gestalt werden kann, wenn sie reflektiert im<br />
Darstellungsdrang sich der medialen Mittel einpasst, die das Medium der Zeichnung oder<br />
Malerei oder Bildhauerei <strong>als</strong> artistische Fertigkeit auszeichnet. Der Maler male nicht mit dem<br />
Gefühl sondern mit dem Pinsel drückt diese Einsicht in etwas salopperer Form aus.<br />
Über das Verhältnis von Empfindung und dem reflektierten Gefühl, wie es im<br />
Darstellungsdrang zur Geltung kommt, müßte noch näheres ausgeführt werden, wie es bei<br />
Klages ausführlich geschehen ist. Das aber würde die Zeit und ihre Geduld wohl<br />
übersteigen.<br />
Lassen Sie mich <strong>als</strong>o zum Schluß kommen mit einer Zusammenfassung der entscheidenden<br />
Punkte:<br />
Ursprünglichkeit (heute auch eher unter dem Schlagwort von der Unmittelbarkeit,<br />
Spontaneität geläufig) bezeichnet die auf Grund der Rekapitulationstheorie von jedem<br />
Individuum in seiner eigenen – ontogenetisch – durchlaufenen Entwicklungsphase der<br />
Gattung – der Phylogenese. Das war eine Entdeckung um die Wende vom 19. zum 20.<br />
Jahrhundert. Sich ihrer individuell <strong>als</strong> Inspirationquelle zu bemächtigen bedurfte es<br />
bestimmter Strategien der Rückerinnerung, die Individuell sehr unterschiedlich ausfällt. Wer<br />
erinnert sich schon an seine Empfindungen und Erfahrungen vor dem 6. Lebensjahr?<br />
Kinderzeichnungen aber <strong>als</strong> Inspirationsquelle einzusetzen ist aber ein äußerst reflektierter<br />
und damit von Empfindungen höchst distanzierter Prozess. Und jeder daraus resultierende<br />
bildkünstlerischer Akt eine Form von Inszenierung, die jeglicher Spontaneität abhold ist,<br />
weil ein hoher Maß an artistischer Perfektion eine ihr unabdingbare Voraussetzung bleibt,<br />
jedenfalls da, wo es sich um einen ernst zunehmenden künstlerischen Akt handeln soll.<br />
Zwischen dem Verstand und dem Gefühl ordnete Klages die Begabung ein, deren Seite dem<br />
internen Ereignis im Künstler nach er den Drang bezeichnete. Ohne diesen Drang, dessen<br />
äußere Seite – <strong>als</strong>o das, was ein Dritter davon wahrzunehmen in der Lage ist, ist das<br />
ästhetisch gelungene, das überzeugende Werk, das Produkt.<br />
Expressionismus ist <strong>als</strong>o kaum auf den Namen für eine Kunstrichtung einzuschränken. Es ist<br />
vielmehr eine nach vielen Seiten hin in ihrer Entstehungszeit mit Wahrnehmungstheorie,<br />
Anthropologie, Psychologie und Erkenntnistheorie verbandelte Haltung dem<br />
bildkünstlerischen Schaffen gegenüber oder besser mittendrin. Erst die zweite Generation
von Klee bis Kandinsky haben es vermocht <strong>als</strong> praktizierende Künstler selber auf diese<br />
komplexen und in der Theorie der bildenden Künste völlig neuartige Erfahrung zu reagieren<br />
und in ihren Texten sich einschlägig dazu zu äußern. Es wäre nun genau an diesen Texten<br />
zu prüfen, inwieweit diese mit den theoretischen Ansätzen von Ludwig Klages etwa<br />
Übereinstimmungen aufweisen.
1 Joh.Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Vorrede :"Die Geschichte der Kunst soll den<br />
Ursprung, das Wachsthum ... derselben ... lehren ...".<br />
2 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, München 1908. Neuausgabe 1959, S. 16: "Denn es handelt sich<br />
[beim Inhalt dieses Buches] um das Problem frühesten Kunstbeginns."<br />
3 Benedetto Croce, Aesthetik <strong>als</strong> Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik, (Neapel 1901), Leipzig 1905,<br />
S. 12 ff, 126 ff: "..., daß es absurd ist, die Frage nach dem Ursprung der Kunst <strong>als</strong> historisches Problem zu stellen. ... In<br />
anderen Fällen hat man unter "Ursprung" ich weiß nicht was für eine ideale Genesis verstanden, die Forschung nach dem<br />
Sinn der Kunst, die Deduktion des künstlerischen Vorgangs aus irgend einem höchsten Prinzip, das Geist und Natur in sich<br />
einschließt: das ist ein metaphysisches Problem und unseres Erachtens ein Problem, das es gar nicht gibt, das nur<br />
imaginärer Natur ist. [...] Ein streng historisches Problem ist das des Ursprungs der Kunst allerdings dann, wenn damit die<br />
Frage nicht etwa nach der Entstehung der Funktion gemeint ist, sondern die nach dem wo und wann die Kunst zum<br />
erstenmal erschien, zum mindesten in bedeutungsvoller Art, und an welchem Punkte oder in welcher Gegend des<br />
Erdkreises [...]. Also nicht mehr das Problem ihres Ursprungs, wohl aber das ihrer ältesten oder primitivsten Geschichte."<br />
Konrad Fiedlers "Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" erschien 1887.<br />
4 Wolfgang Pross, Johann Gottfried Herder "Über den Ursprung der Sprache". Text, Materialien, Kommentar. Wien -<br />
München (o.J.) = Hanser Literatur-Kommentare 12.<br />
5 Frank Balters, Der grammatische Bildhauer. Kunsttheorie und Bildhauerkunst der Frührenaissance. Alberti - Ghiberti -<br />
Leonardo - Gauricus. Diss. RWTH Aachen, Köln 1991.<br />
6 »Nouvelle Méthode appliquée aux Principes élémentaires du Dessin, tendant à perfectionner graphiquement le tracé<br />
de la tête de l'homme au moyen de diverses figures gèométriques. Par Jean Jacques Lequeu, Jeur, Architecte Dessinateur.<br />
Nouvelle Copie du premier manuscrit donné par lui-même à l'honneur de la Bibliothèque Royale. Revue et corrigée.« Ms.<br />
III u. 33 SS., 20 Taf., (sign., dat. Rouen 1792), S. 1: "Des scavantes les plus célèbres croyent que les premiere Chaldées,<br />
les Chinois, les Indiens, soit les plus anciennes Nations de notre monde. Or, en adoptant cette opinion, le commencement<br />
du dessin se perdrait dans la nuite de leur antiquité: car on soit avec vérité que l'Inde fut le berceau des connaissance<br />
humaines et des arts." (P. Duboi 1986:259 - 285, hier: 262). Zu den zeitgenössisch verfügbaren antiken Quellen vgl.<br />
Franciscus Junius, De pictura veterum libri tres, Amsterdam 1637. 2. erweiterte Aufl. [...], tot in locis emendati, et tam<br />
multis accessionibus aucti, ut plane novi possint videri [...], Rotterdam 1694.<br />
7 Joshua Reynolds, »Discourses on Art«, ed. by R.R. Wark, London 1975, Discours III (1770), S. 39-42; Petrus Camper,<br />
Verhandelung over het natuurlijk verschill der wezenstrekken in menschen [...] Utrecht 1791, zit. n. dt. 1792, S.57, vgl.<br />
<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, Proportion. Körper. Leben. Köln 1990, S.44 f.<br />
8 So läßt sich unter diesem Blickwinkel z.B. Hegels «Ästhetik» <strong>als</strong> das umfangreichste bis dahin je verfaßte "Kunstlob"<br />
auffassen, denn die Geschichte der Einführung der Materialien, die großen Neuerer und die Leistungen im Medium Kunst<br />
kommen in dieser Darstellung kaum - gleichsam nur noch im Anhang - vor.<br />
9 M. Hoernes, «Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa von den Anfängen bis um 500 vor Chr.», Wien 1889, S.9 ff:<br />
Anfänge der bildenden Kunst und ihre Entwicklung. S.42 zur Entdeckungsgeschichte der Höhlenmalerei: Boucher de<br />
Perthes, Lartet und Christy, Eduard Piette (Ingenieur, betrieb 23 Jahre lang stratigraphische Höhlenforschung), "Notes<br />
pour servir à l'histoire de l'art primitif." In: L'Anthropologie 4, Paris, 1894, S. 144. Salomon Reinach, "L'art et la magie. A<br />
propos des peintures et des gravures de l'âge du Renne". In: L'Anthropologie 16 1903.<br />
10 Vgl. <strong>als</strong> Gegenbeispiel für eine "verfehlte", weil ahistorisch geführte Debatte, <strong>als</strong> Fortsetzung der alten "Wesens"-<br />
Diskussion: Heinz Meyer, "Zum Ursprung der bildenden Kunst". In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine<br />
Kunstwissenschaft. Bd. 32, 1987, S. 26 - 53, mit reichhaltigen Zitaten von Beleg-Stellen ab ca. 1800.<br />
11 Lessing, Haeckel etc,<br />
12 Leo Frobenius, Die bildende Kunst der Afrikaner, Wien 1897; ders., »Ursprung der afrikanischen Kulturen« 1898.<br />
gegen die These vom rohen, kulturlosen Afrika Entwurf eines Bildes von fünf schwarzafrikanischen Kulturkreisen, deren<br />
Kunst sich durchaus mit der anderer Frühkulturen vergleichen lasse, vgl. Jürgen Christoph Winter, Leo Frobenius' Image of<br />
Africa: An Ethnologist's Work and Ethnology's View of it, in: Komparatistische Hefte 2, 1980, S. 72 - 91. Ernst Grosse,<br />
Ethnologie und Ästhetik. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 15, 1891, 392 - 417; Jean Laude, La<br />
Peinture francais (1905-1914) et »l'Art nègre«, Paris 1968, Bd.1, S. 123 ff: zur Rezeption wilder ethnologischer<br />
Sammlungen in französischer Lit. und bildender Kunst nach Gaugin, ab 1905: Fauves, Matisse, Vlaminck, Dérain und ab<br />
1907 Picasso, Bracque, ebda. Bd. 2, Abb. 17,19,69; Paul Germann, Das plastisch-figürliche Kunstgewerbe im Grasland<br />
Kameruns (1911) wendet Riegl Kategorie des "Kunstwollens" an. vgl. Reinhard Wegner, Der Exotismus-Streit in<br />
Deutschland. Zur Auseinandersetzung mit "primitiven" Formen in der Bildenden Kunst, Frankfurt 1983, 43, 59, 119 ff; zu<br />
Emil Noldes Buchkonzept über "Kunstäußerungen der Naturvölker" (1912) in: ders., Reise in die Südsee 1913-1914, Berlin<br />
1984, S. 3; Carl Einstein, Negerplastik, 1915. Gesammelte Werke, hrsg. von Ernst Nef, Wiesbaden 1962, S. 92 ff;<br />
Hermann Bahr, Expressionismus, München 1916; In der Kunst müsse man wieder zum "Zustand der Urmenschen"<br />
zurückkehren, d.h. wie "die Wilden" malen, um sich der tödlichen Umarmung und Vereinnahmung durch die bürgerliche<br />
Gesellschaft zu entziehen (S. 127); Theodor Däubler, Im Kampf um die neue Kunst, Berlin 1919; Auf dem Weg über die<br />
"Negerkunst" könne man sowohl zum "Primitiven" <strong>als</strong> auch zum "Absoluten" vorstoßen (S.43); Eckart von Sydow, Das<br />
Weltbewußtsein und die Kunst der primitiven Menschen, in: Neue Blätter für Kunst und Dichtung 2 1919/20, S. 70;<br />
Wilhelm Hausenstein, Barbaren und Klassiker. Ein Buch über die Bildnerei exotischer Völker, München 1922; Die moderne<br />
Künstlichkeit lasse sich nur dann überwinden, wenn man sich wie die exotisch-primitiven Völker völlig dem Instinkt<br />
überlasse, wenn <strong>als</strong>o zwischen dem "Bildner und seinem Ding nur die Brunst" stehe (S. 9 f). Über das allmähliche<br />
Bekanntwerden und die Einschätzung dieser Gegenstände <strong>als</strong> "Kunst" in den Jahren vor der Jahrhundertwende: Ferdinand<br />
Hermann, Die afrikanische Negerplastik <strong>als</strong> Forschungsgegenstand, Berlin 1958, S. 4 ff. Kritische Positionen zum Topos bei<br />
Religionshistorikern, Philosophen, Ethnologen, Soziologen, Prähistorikern, Indologen, Theologen in der Lit. um 1900 vgl.<br />
Hans <strong>Peter</strong> Duerr (Hrsg.), Sehnsucht nach dem Ursprung, Frankfurt a.M. 1983 und Jost Hermand, Gewollte Primitivität.<br />
Schwarze in expressionistischer Kunst und Literatur, in: Kritische Berichte 2 1987 4 - 19.<br />
13 Im Vorwort zur Neuausgabe 1959, (S.16) nennt Wilhelm Worringer <strong>als</strong> den eigentlichen Gegenstand seines Buches die<br />
"Genesis menschlicher Kunsttätigkeit..."; noch in dem Aufsatz "Entwicklungsgeschichtliches zur modernen Kunst", in:
Deutsche und französische Kunst. Eine Auseinandersetzung deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller,<br />
München 1911, S.92-99, spricht er (S.94) aus, daß es unerläßlich für das Verständnis der Moderne sei, Verständnis für<br />
"primitive" Kunst zu haben.<br />
14 »Malerei <strong>als</strong> reine Kunst«. In: »Essays über Kunst und Künstler«, hrsg. von Max Bill, Bern 1973, 3. Aufl., S. 66.<br />
15 so schon bei L. B. Alberti »De Statua, De Pictura«, hrsg. von Grayson, London 1972.<br />
16 Zur Lit. um 1900 vgl. P.<strong>Gerlach</strong>, Zeichenhafte Vermittlung von Innenwelt in konstruktivistischer Kunst, in: H.Holländer<br />
- Chr. W. Thomsen (Hrsg.), Besichtigung der Moderne. Köln 1987, S. 187. Theodor Koch-Grünberg, Anfänge der Kunst im<br />
Urwald, Berlin 1905. Emil Stephan, Südseekunst, Berlin 1907. Yrjö Hirn, The Origins of Art: A Psychological and<br />
Sociological Inquiry, London 1910. Karl Heinrich Busse, Die Ausstellung zur vergleichenden Entwicklungspsychologie der<br />
primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit. In: »Kongreß für Ästhetik und allgemeine<br />
Kunstwissenschaft«, Berlin 1913. Katesa Schlosser, Der Signalismus in der Kunst der Naturvölker: biologischpsychologische<br />
Gesetzlichkeit in der Abweichung von der Norm des Vorbildes. = Arbeiten aus dem Museum für<br />
Völkerkunde der Universität Kiel 1, Kiel 1952. Theodor W. Adorno, Theorien über den Ursprung der Kunst, in: Gesammelte<br />
Schriften, Bd. 7, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 480 - 490.<br />
17 Michaelis 1906:179.<br />
18 Michael Kröger, "...gleichsam biologische Urzeichen...". Die Erfindung biomorpher Natur in Malerei und Fotografie der<br />
dreißiger Jahre. in: Kritische Berichte 18 (4) 1990, S. 71 - 87. Zu Ernst Kallai, Zurück zum Ornament. Zeichen und Bilder,<br />
1933 in: ders., Vision und Formgesetz. Aufsätze über Kunst und Künstler 1921-1933, hrsg. v. Tanja Frank, Leipzig -<br />
Weimar 1986, S. 209.<br />
19 Wundt.<br />
20 Hoernes 1898 (wie Anm.9), S. 25; Max Verworn, Zur Psychologie der primitiven Kunst, Jena 1909. 2. Aufl., 1917 zur<br />
Frage nach den psychologischen Wurzeln von Kunst S. 3 ff; Hirn 1910 (wie Anm. 30).<br />
21 Max Verworn, Kinderkunst und Urgeschichte. = Sitzungsberichte des anthropologischen Vereins zu Göttingen 1907.<br />
In: Korrespondenzblatt der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 37 1907; ders., Die<br />
Anfänge der Kunst. Ein Vortrag. Göttingen 1909. 2. Aufl. Jena 1920, S.9: "Für unsere Betrachtung, die sich nur auf die<br />
älteren Perioden der Steinzeit bis zum Ausgang des Paläolithikums erstrecken soll, weil nur hier die Anfänge der Kunst zu<br />
finden sind, kommt von allen Kunstäußerungen allein die bildende Kunst in Betracht, und zwar mit Ausschluß der<br />
Schreibkunst [...]." S. 13 :"Die ursprünglich sehr dicken und plumpen Werkzeuge werden flacher und zierlicher und<br />
erreichen vielfach bereits den Charakter kleiner Kunstwerke, die durch ihre Form sogar uns ein entschiedenes Wohlgefallen<br />
erwecken." S.20: Der Ursprung des "Formensinns" liegt "in einem Spiel mit der Technik der Feuersteinbearbeitung. [...]<br />
"Als Spiel möchte ich ganz allgemein jede Beschäftigung bezeichnen, die direkt oder assoziativ angenehme Empfindungen,<br />
Vorstellungen, Gedanken, Gefühle hervorruft, ohne einen weiteren Zweck zu verfolgen und ohne einem unmittelbar<br />
lebens- oder arterhaltenden Triebe zu dienen." S. 23: " Aber von dem Momente an, wo ein bestimmtes Formideal dem<br />
Menschen vorschwebt, das er mit seinen selbstgeschaffenen Mitteln zum objektiven Ausdruck zu bringen sucht, können wir<br />
auch von Kunst reden. Hier haben wir <strong>als</strong>o die ältesten Zeugen der formgebenden Kunst. Ihre psychologischen Keime aber<br />
wurzeln in dem zufälligen Produkt des Spieles mit der Technik." (n. Hoernes!). Ernst Grosse, Anfänge der Kunst, Freiburg -<br />
Leipzig 1894. (negativ-Äußerungen vgl. Hoernes 1889 (wie Anm.9), 1,9, Kunst <strong>als</strong> "sociale" Funktion: nach dieser<br />
Auffassung sind die Jägerstämme der Urzeit gleichsam das prähistorische Prototyp einer künstlerischen Boheme,<br />
Anarchisten in Politik und Religion mit einer phänomenalen Ausbildung von Auge und Hand [...] und mit einem<br />
besonderen, von dem des Ackerbauers abweichenden seelischen Nahrungsbedürfnis. (Hoernes 1889 (wie Anm.9), 51).<br />
Johannes Kretzschmer, Kinderkunst und Urzeit, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene,<br />
Leipzig 1909; Karl Heinrich Busse, Die Ausstellung zur vergleichenden Entwicklungspsychologie der primitiven Kunst bei<br />
den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit. In: »Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, Berlin<br />
1913.<br />
22 z.B. Kühn 1923. Notwendigerweise muß daher nach denjenigen Buchtiteln und Texten gesucht werden, in denen<br />
diese Wortpaarung im Verlaufe des 19. Jhds. aufzufinden ist.<br />
23 Wilhelm Worringer, Privatdozent, Bern: „Entwicklungsgeschichtliches zur modernsten Kunst.“ In: Deutsche und<br />
französische Kunst. Eine Auseinandersetzung deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller. München 1911,<br />
zitiert nach der 3. Auflage, München (1913), S. 92 - 99. Zu Carl Vinnen, Ein Protest deutscher Künstler, Jena 1911 vgl.<br />
Ron Manheim, Im Kampf um die Kunst. Die Diskussion von 1911 über zeitgenössische Kunst in Deutschland. Hamburg<br />
1987.<br />
24 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. = Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 11. Vgl. "Theorien über<br />
den Ursprung der Kunst" S. 480 - 490 vor allem für die Zeit um 1940, <strong>als</strong> es um den Streit zwischen dem religiös<br />
magischen Anfang von Kunst oder seinem naturalistisch-animistischen geht, <strong>als</strong>o die Worringer These erfolglos<br />
umzukehren versucht wurde.<br />
25 Spielräume extremer Freiheit nennt <strong>Walter</strong> Grasskamp (Die unbewältigte Moderne, München 1990:95) die Inspiration<br />
an Arbeiten von Geisteskranken, sie werden <strong>als</strong> extreme Verkörperung <strong>als</strong> asozial abgestempelter Individualität<br />
verstanden.