Ursprung und Ursprünglichkeit - Walter Peter Gerlach ...
Ursprung und Ursprünglichkeit - Walter Peter Gerlach ...
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<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
<strong>Ursprung</strong> <strong>und</strong> <strong>Ursprünglichkeit</strong><br />
„Es gibt nämlich noch Uranfänge von Kunst,<br />
auffindbar in ethnographischen Sammlungen<br />
oder daheim in der Kinderstube.<br />
Lache nicht, Leser, die Kinder können es auch,<br />
<strong>und</strong> es steckt Weisheit darin, daß sie es auch können.<br />
Je hilfloser sie sind,<br />
desto lehrreichere Beispiele bieten sie uns.“<br />
Paul Klee, Tagebücher 1912.<br />
Die Formulierungen <strong>und</strong> Umschreibungen der Frage nach dem „<strong>Ursprung</strong>“ der Kunst, wie sie noch bei<br />
Winckelmann 1 selbstverständlich einleitend die kunsttheoretische <strong>und</strong> kunstgeschichtliche Debatte<br />
durchzog, wurde in der Zeit Worringers 2 mit der Rousseauschen Frage nach „<strong>Ursprünglichkeit</strong>“<br />
zusammengeführt <strong>und</strong> mit je konkurrierenden geographisch (Klimatheorie) <strong>und</strong> national-sozial<br />
(Rassentheorie) orientierten Mythen zu beantworten gesucht. Diese Vorstellungen der<br />
Jahrh<strong>und</strong>ertwende gerieten schließlich zu konservativen, bis heute keineswegs überw<strong>und</strong>enen<br />
Positionen innerhalb der Moderne. Die Alternative zur Frage nach dem „<strong>Ursprung</strong>“, nämlich<br />
„<strong>Ursprünglichkeit</strong>“ in der biographischen Identität des jeweiligen künstlerischen Subjekts zu<br />
lokalisieren <strong>und</strong> seine utopischen, historischen oder sozialen Wahlverwandtschaften zu je<br />
individuellen Inspirationsquellen umzumünzen, wurde das Kriterium für avantgardistische Moderne<br />
<strong>und</strong> gerne genutzt.<br />
Zuerst finden wir diese Konsequenz bei Benedetto Croce (1901) formuliert. Er beurteilte die Frage<br />
nach dem geschichtlichen <strong>Ursprung</strong> der Kunst als ästhetisch irrelevant. 3 Damit wurde ein fester,<br />
regelhafter Bestandteil im Rahmen des einleitenden Kunstlobes der kunsttheoretischen Literatur aus<br />
einer historischen in eine, seit dem Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts noch heute gültige anthropologische<br />
Kategorie überführt. Zugleich spaltete sich die historische Frage nach dem <strong>Ursprung</strong> der Kunst von<br />
der ästhetischen Frage ab, führte die Spurensuche nach historischen Zeugnissen zu einer Gruppe<br />
selbständiger Disziplinen mit einem eigenen Literaturtypus.<br />
Im Unterschied zum Ergebnis der Debatte vom <strong>Ursprung</strong> der Sprache um 1800 4 , galt die Malerei -<br />
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<strong>und</strong> nur davon ist in der älteren Literatur dann die Rede, wenn der künstlerische oder sonstige<br />
gesellschaftliche Umgang mit dem Bild angesprochen wird 5 - als ein entwicklungsgeschichtlich spätes<br />
Kulturprodukt der Menschheit. So ist noch am Ende des 18. <strong>und</strong> im beginnenden 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
selbstverständlich die Rede von den großen mittelmeerischen Kulturen, beginnend im Vorderen<br />
Orient <strong>und</strong> Indien, kaum von Ostasien, bald dann von Ägypten, Griechenland <strong>und</strong> Rom, wenn die<br />
Erörterung von „dem <strong>Ursprung</strong>“ der Künste anstand.<br />
Das Argument vom <strong>Ursprung</strong> der Kunst nach antiken Schriftquellen wurde in die neuere Kunsttheorie<br />
des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts durch Alberti <strong>und</strong> Ghiberti eingeführt. 6 Damit wurde die vorgängige christliche<br />
These von Gott als dem ersten Architekten <strong>und</strong> Bildhauer um eine historische Dimension für die<br />
Genesis der Malerei erweitert. Anfangs werden in den einschlägigen kunsttheoretischen Texten<br />
verschiedene lokale Varianten von <strong>Ursprung</strong>slegenden angeführt, die alle die Malerei auf das<br />
Nachzeichnen des Schattens zurückführen. Daraufhin präzisierte Ghiberti, daß nicht die Malerei, wohl<br />
aber das „disegno“, die Konturzeichnung, auf diese Weise entstanden sei. 7<br />
Seitdem nahm dieses durch ihn formulierte Argument einen festen Platz in der Argumentationsfolge<br />
ein, denn - so ließe sich resümieren - die Kunst wurde erf<strong>und</strong>en, weil die Natur einst dazu Anlaß gab. 8<br />
Dieses nunmehr Selbstverständliche kam zu seinem aktuellen Recht in der Leonardo-Botticelli-<br />
Kontroverse. Diese Kontroverse bezog sich auf die inspirative Funktion assoziativer Anregungen<br />
durch zufällige Strukturen, die von Naturobjekten oder manipulierten optischen Erscheinungen,<br />
jenseits der <strong>Ursprung</strong>sfrage oder der Frage nach der individuellen Disposition, hervorgerufen sein<br />
konnten. Entscheidend war bei diesem Argument die anfängliche Entdeckung <strong>und</strong> Nutzung derartiger<br />
natürlicher Zufallsformen durch Künstler. Denn von dieser ersten „Erfindung“ ausgehend, ließ sich die<br />
Geschichte der Kunst als eine fortschreitende Akkumulation von Verbesserungen <strong>und</strong> Verfeinerungen<br />
der Technik beschreiben - sowohl in handwerklicher als auch in artistischer Hinsicht. Jede<br />
nachfolgende neuzeitliche Position konnte damit als ein Beitrag zum Fortschritt der Kunst begriffen<br />
werden, die, immer wieder dem Verfall ausgesetzt, jeweils wieder einen neuen Anfang gef<strong>und</strong>en<br />
hatte. So argumentierten Félibien, Perrault, Winckelmann, Lessing, Herder u.a. bis hin zu Croce. 9<br />
Präsent blieb allerdings, verstärkt durch die gegenreformatorische Ideologie im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert, die<br />
von den Kirchenvätern formulierte Überzeugung, daß Gott der erste Künstler - Bildhauer oder<br />
Architekt - sei. 10<br />
Aber wohin auch immer man die Frühzeit der Menschheit verlagerte, es blieb letztlich bei dem bereits<br />
von Plinius benannten Dunkel, in das der historische <strong>Ursprung</strong> von Kunst gehüllt sei. 11 Somit bestand<br />
vorerst kein Anlaß, über Frühes an Kunst Näheres in Erfahrung bringen zu wollen. Kenntnisse von<br />
der Kunst der mediterranen Antike reichte weiterhin aus, sie als einen noch immer nicht wieder<br />
erreichten Stand der je gegenwärtigen Kunst darzustellen <strong>und</strong> jeden erstrebten Fortschritt als<br />
Wetteifer mit dieser zu begreifen. Erst zu Winckelmanns Zeiten <strong>und</strong> vor allem durch Winckelmann<br />
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selber wurde die „Kunst der Alten“ als eine unter bestimmten, nicht wieder zurückholbaren<br />
gesellschaftlichen Bedingungen entstandene begriffen. Diese Überzeugung hatte nach Winckelmann<br />
- z.B. bei Reynolds <strong>und</strong> Camper 12 - zur Folge, daß auf die Veränderungen der Kunst vorrangig in<br />
Abhängigkeit von den jeweilig geltenden Rahmenbedingungen geachtet wurde. Die Kunst wurde als<br />
ein direkter oder indirekter Ausdruck von gesellschaftlichen (Winckelmann: Verfassung) Bedingungen<br />
der Zeit verstanden. Das ästhetische Ideal wurde somit potentiell pluralistisch, denn, ob nun<br />
griechische oder römische Antike als die vorbildliche angesehen wurde, stand zum ersten Mal frei zur<br />
Disposition.<br />
Im Jahre 1752 veröffentlichte der Comte de Caylus den ersten Band seines »Recueil d'Antiquités<br />
[...]«. Darin formulierte de Caylus seine Auffassung vom Primat der griechischen Kultur <strong>und</strong> ihrer<br />
eindeutigen Vorbildlichkeit für die spätere römische Kunst. In diesem Ansatz, dessen verändertes<br />
Geschichtsverständnis eine erste Formulierung in der »Querelle des anciens et modernes« gef<strong>und</strong>en<br />
hatte 13 , offenbart sich ein bezeichnender Bruch mit der in der italienischen Renaissance formulierten<br />
These von der unbedingten Vorbildlichkeit vorzüglich der römischen Baukunst, wenn nicht der<br />
römischen Kunst überhaupt, die Piranesi wenig später wieder heftig verteidigte. 14 Ideale römisch-<br />
republikanischer Bürgertugend, also moralische Qualitäten historischer Exempla <strong>und</strong> chronistische<br />
Wahrheit einerseits <strong>und</strong> andererseits die immens gewachsenen Kenntnisse über die griechische<br />
Kultur standen in Konkurrenz zu dem umfangreichen Denkmälerbestand, sowohl der Skulptur als<br />
auch der Architektur, deren tatsächliches Herkommen noch weitgehend ungeklärt war. Alles, was sich<br />
in der Erde Italiens hatte finden lassen, galt als römisch, wenn nicht im Einzelfall Textbelege<br />
beigebracht werden konnten, die bezeugten, daß die Objekte griechischen <strong>Ursprung</strong>s waren. Das<br />
hatte Folgen für ihre Deutung, <strong>und</strong> es hatte umwälzende Folgen für ihre ästhetische Bewertung in<br />
Abhängigkeit von ihrer Datierung. 15<br />
„Von dem <strong>Ursprung</strong>e der Kunst <strong>und</strong> den Ursachen ihrer Verschiedenheit unter den Völkern“<br />
überschrieb Winckelmann das einleitende erste Kapitel seiner »Geschichte der Kunst des<br />
Alterthums«. Darin führte er den Leser nach einigen Einlassungen über Besonderheit des Mediums<br />
bildender Kunst, einschließlich der in diesem verwendeten Materialien (wie Ton, Holz, Elfenbein, Erz<br />
etc.) <strong>und</strong> zu ihren unterschiedlichen Ausprägungen in den frühen vorderasiatischen <strong>und</strong><br />
mittelmeerischen Kulturen.<br />
Im ersten Kapitel erkennen wir unschwer das Kunstlob 16 wieder, das der europäischen<br />
schriftstellerischen Tradition vertraute obligatorische Thema des ersten Kapitels - <strong>und</strong> dies seit<br />
Albertis 17 <strong>und</strong> Polizians 18 neuartigen Versuchen für das Abfassen von kunsttheoretischen Schriften.<br />
Das aber mußte - den rhetorischen Regeln Ciceros oder Quintilians 19 gemäß - als einführendes<br />
Kapitel unabhängig vom Inhalt der Sache, über die zu reden ist, vorangestellt werden. Dies hat in<br />
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<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
gleicher Weise in einer Rede über die Landwirtschaft, über Politik oder Kunst zu gelten. Winckelmann<br />
hielt sich an diese Darstellungs-Regel <strong>und</strong> konnte dazu auf einen aufbereiteten Stoff aus antiken<br />
Schriftquellen zurückgreifen, der - vor allem von Franciscus Junius in »De Pictura Veterum« (1637) 20<br />
zusammengetragen - leicht zugänglich vorlag.<br />
Weitere Kulturkreise rückten zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in den Blick - zumal die des fernen<br />
Ostens wurden in die wissenschaftliche Diskussion einbezogen. Dabei war von der Kunst nicht die<br />
Rede, die derjenigen der mittelmeerischen Länder zeitlich voraus gelegen <strong>und</strong> der Aufklärung des<br />
<strong>Ursprung</strong>s von bildender Kunst hätte dienlich erscheinen können, nicht von der Kunst, wie sie - der<br />
rhetorischen Darstellungs-Regel gemäß - an festgelegter Position am Anfang des Textes zu stehen<br />
hatte. 21<br />
Alles änderte sich schlagartig mit den Entdeckungen frühgeschichtlicher Malereien in süddeutschen<br />
<strong>und</strong> französischen Höhlen in der 2. Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. 22 Die traditionelle Position geriet ins<br />
Wanken, nicht aber die bewährte Darstellungs-Regel der Rhetorik-Lehre. Sie blieb nach wie vor gültig<br />
<strong>und</strong> sie bewährt sich offenk<strong>und</strong>ig bis heute.<br />
Die alte Frage nach dem <strong>Ursprung</strong>, die wir bereits genauer als Frage nach der Erfindung von Kunst<br />
durch den Menschen verstehen gelernt haben, erhielt eine andere Wendung. Die von Winckelmann<br />
aufgeworfene Frage nach den Bedingungen der Steigerung erfinderischer Fähigkeiten des Menschen<br />
verselbständigte sich <strong>und</strong> damit von der nach einem absoluten Beginn von Kunst getrennt. Somit war<br />
das Problem des <strong>Ursprung</strong>s gleichsam wieder in die Gegenwart zurückgebogen worden. Und das<br />
erforderte angesichts der modernen Malerei selber ganz andere Antworten. Jetzt eröffnete die<br />
traditionsbeladene Frage zugleich die Perspektive auf die Bedingungen des Kunstschaffens zu allen<br />
möglichen <strong>und</strong> denkbaren Zeiten der Vergangenheit <strong>und</strong> relativierte vor allem die Wertschätzung der<br />
Erzeugnisse antiker Kunst. Einhellig konnten zumal deren Entstehungsbedingungen nicht mehr als<br />
fraglos wünschenswerte für die eigene Gegenwart akzeptiert werden.<br />
Davon aber ging eine Bedrohung des Begriffs vom „schöpferischen“ Individuum aus. Ebenso bedroht<br />
erschien die daran geknüpfte Tradition eines semantischen Raumes von der aktiven Produktion, in<br />
dem sich - prominent in den Gestalten von Kulturheroen der Maler- <strong>und</strong> Dichterfürsten - Individualität<br />
überhaupt erst in ideologisch (d.h. „interessenlos“) vorbildlicher Weise ausgebildet <strong>und</strong> dargestellt<br />
hatte. Das zeitigte Rückwirkungen auf die Konzeption von didaktischen Modellen, bis hinein in das<br />
Schulwesen, das die öffentlich organisierte Erziehung junger Bürger bestimmte. Nicht von ungefähr<br />
verlief eine europäisch breite Diskussion um die originäre Qualität der Kinderzeichnung bis hin zur<br />
Reform des Zeichen-Unterrichts an Schulen seit ca. 1860 parallel zur Entstehung der „Moderne“ in<br />
den bildenden Künsten. 23<br />
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<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
Dagegen stand - ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts - beispielsweise Morellis Entdeckung<br />
von der Darstellung höchst individueller Differenzen an genau jenen Orten in der Malerei, die<br />
keineswegs der rational kontrollierten Darstellungsabsicht des Künstlers unterlagen, sondern<br />
gewöhnlich als unwichtig, nebensächlich, gar als trivial oder „niedrig“ für das Erkennen der<br />
Eigenhändigkeit aus der Gesamtwirkung eines Werkes der bildenden Kunst eingeschätzt wurden. Um<br />
das Werk eines längst verstorbenen Individuums zu rekonstruieren, konnten derartige unwillkürlichen<br />
Merkmale (Gestaltung der Ohren, Fingernägel <strong>und</strong> dgl.) nunmehr als sehr wohl aufschlußreich<br />
ausgewiesen werden. Willkürliches erhielt einen mindestens ebenbürtigen Rang neben dem<br />
kontrolliert Komponierten. 24 Das entfachte den erbosten Widerstand der etablierten Autoritäten. Diese<br />
urteilten von der Einschätzung des Gesamten des Gemäldes - der Komposition - her, mit der sie die<br />
spezifische Darstellungsabsicht des großen Komponisten <strong>und</strong> Künstlers auszumachen sich in der<br />
Lage sahen.<br />
Morelli hatte sich vorgenommen, in einem System kulturell bedingter Zeichen, z.B. der Malerei,<br />
diejenigen aufzuspüren, die das Unwillkürliche von Symptomen (oder der meisten Indizien eines<br />
Kriminalfalles) an sich hatten. Aber nicht nur das. Morelli erkannte eine sichere Spurengruppe der<br />
Künstler-Individualität in diesen unbeabsichtigten Zeichen, den „materiellen“ Kleinigkeiten - ein<br />
Kalligraph würde sie Schnörkel nennen, die mit den „beliebten Worten <strong>und</strong> Phrasen“ vergleichbar<br />
sind, die „die meisten Menschen, [...] sowohl die Redenden als auch die Schreibenden, [...] haben, die<br />
sie, ohne dessen sich zu versehen, absichtslos, oft anbringen“.<br />
Dies ereignete sich nicht von ungefähr zur gleichen Zeit gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, als die<br />
Methode der Spurensicherung zu einer qualitativen, kapillaren Kontrolle der Gesellschaft durch<br />
staatliche Macht in Kriminalistik <strong>und</strong> Psychologie ausgebildet wurde. Diese nutzten ebenso die auf<br />
geringfügigen <strong>und</strong> willkürlichen Merkmalen basierenden Indizien fürs Individuelle (Fingerabdruck)<br />
einerseits, wie andererseits die sich dem individuellen Zugriff entziehenden, nur statistisch erfaßbaren<br />
Merkmale von Gruppen (Verhaltensmuster), was man unter dem von dem belgischen Astronomen<br />
Adolph Quételet geprägten Begriff der „sozialen Physik“ zusammenfaßte. 25 Davon ist noch heute die<br />
Auswahl an minimalen Individualitätskennzeichen bestimmt, die unser aller Reisepässe ziert.<br />
Das Insgesamt des staatlichen Identitifizierungs-Bedürfnisses von Individualität auf breiterer Basis<br />
entstand erst gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts unter dem Druck des Klassenkampfes <strong>und</strong> der<br />
Unterdrückung der proletarischen Opposition nach der Pariser Kommune, zudem der veränderten<br />
Bedeutung der Kriminalität. Wiederholungstäter etwa wurden strenger bestraft, wenn der<br />
Identitätsnachweis gelang. Denn seit der Einführung des Codes Napoleon hatten sich die Zahl der<br />
strafbaren Handlungen wider das bürgerliche Eigentum <strong>und</strong> das Strafmaß beträchtlich erhöht.<br />
Andererseits führte die Objektivierung der unter den Begriffen von „Wahnsinn“ <strong>und</strong> „Verrücktheit“<br />
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zuvor getrennten Ausfallerscheinungen zur „Paranoia“ seit ihrer Definition 1883 durch den Berliner<br />
Privatdozenten Emanuel Mendel nach 1866 zu einem gehäuften Auftreten. Gegen das ihr unterstellte<br />
vorgeschichtliche oder überhistorische Substrat hatte Foucault bereits gegen die Frage nach dessen<br />
<strong>Ursprung</strong> die nach ihrer Genese gefordert. 26<br />
Vom <strong>Ursprung</strong> zur <strong>Ursprünglichkeit</strong> war's ein kurzer Sprung. Seitdem man die Frage nach der<br />
Realzeit zwischen dem historischen Zeitpunkt der Schöpfung <strong>und</strong> der Gegenwart stellte, verlängerte<br />
sich zunehmend die Zeitspanne zwischen der Gegenwart <strong>und</strong> diesem historischen <strong>Ursprung</strong> der Welt.<br />
Im Gegensatz zur heilsgewissen Nähe der Schöpfung <strong>und</strong> der Apokalypse im christlichen<br />
Weltverständnis verlangte dieses profanierte, naturwissenschaftlich f<strong>und</strong>ierte Verständnis der<br />
Historizität von Natur <strong>und</strong> Menschheit zugleich mit dieser Einsicht das Opfer an Bereitschaft zum<br />
Einlassen auf die beunruhigende Vorstellung, daß Anfang <strong>und</strong> Ende dieser Welt die individuelle<br />
biographische Lebensspanne unendlich weit übersteigen. Diese Dehnung des zeitlichen<br />
Verständnisses wird aufgehoben in seinem Gegenteil, aufgehoben in der Vorstellung, daß in der<br />
individuellen Entwicklung gleichsam im Zeitraffer die Entwicklungsgeschichte der Spezies Mensch<br />
vollständig reproduziert <strong>und</strong> damit vollständig durchlaufen würde. 27<br />
Was in der Morphologie der Physis dieser Entwicklungsgeschichte an Geltung verschafft wurde,<br />
konnte für die Konzeption der Psyche nicht ohne Folgen bleiben. Die Vorstellung von latenter Präsenz<br />
ursprünglicher Strukturen, die auch durch eine lebenslange Enkulturation nicht restlos ausgemerzt<br />
<strong>und</strong> zum Schweigen gebracht werden konnte, bestätigte die vorgebliche Gewißheit, daß auch der<br />
Anfang der Menschheit in der individuellen Psyche ständige Präsenz genieße <strong>und</strong> jederzeit unter der<br />
dünnen Kruste der kulturellen Bildung als Rohes <strong>und</strong> Wildes hervorgeholt werden könne. Diese<br />
rettende Einsicht hatte ihr Bedrohliches <strong>und</strong> ihr Beglückendes. Bedrohlich wurde sie in der<br />
Vorstellung von brutaler, instinktgeleiteter Roheit <strong>und</strong> Sexualität. Beglückend wurde die Vorstellung<br />
von der Möglichkeit zu natürlicher Unmittelbarkeit <strong>und</strong> paradiesischer Einheit mit der Natur.<br />
Diese <strong>Ursprünglichkeit</strong>s-Utopie faszinierte die kunsttheoretische Debatte der jüngeren Generation seit<br />
Nietzsche in ihrer Frage nach kreativer Potenz, den innerpsychischen Inspirationsquellen als<br />
verweigernde Resistenz gegenüber der unerbittlichen, als unerquicklich erfahrenen, bedrohlichen<br />
Entfaltung der technischen Zivilisation der modernen Industriegesellschaft.<br />
Im Gegensatz zu allen Formen des bürgerlich Genormten entstand ein Leitbild des Archaischen,<br />
Südseehaften oder Afrikanischen, das immer stärker ins Utopische tendiert. Statt sich von der<br />
Gesellschaft weiterhin widerspruchslos abrichten zu lassen, setzte eine Gruppe jüngerer Künstler den<br />
Bürokratisierungs- <strong>und</strong> Einengungstendenzen der modernen „Überzivilisation“ das Prinzip des<br />
„Primitiven“ entgegen. 28<br />
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<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
Daß z.B. Wilhelm Worringer sein Buch »Abstraktion <strong>und</strong> Einfühlung« von 1908 selber als einen<br />
Beitrag zur <strong>Ursprung</strong>sdebatte begriff, geht aus dem Vorwort zur Neuausgabe hervor: Es behandele<br />
Fragen der „Genesis menschlicher Kunsttätigkeit [...].” 29 Und die Wendung „<strong>Ursprung</strong>: [ist ein]<br />
praktischer Wunsch, das vergängliche Körperliche festzuhalten“ in einem Essay von Kandinsky 30<br />
verweist uns wieder auf den alten Topos der kunsttheoretischen Schriften. 31 Verwendet Kandinsky<br />
zwar den älteren Begriff, ist dennoch ersichtlich, daß er diesen im Sinne der Avantgarde der Moderne<br />
als individuell verfügbares „Ursprüngliches“ verstand. 32 Kasimir Edschmid schrieb über „die Künstler<br />
der neuen Bewegung“: „Es gab Gefühle darin <strong>und</strong> Menschen ... Sie sollten erfaßt werden im Kern <strong>und</strong><br />
im Ursprünglichen. Dafür bedurfte es einer Gestaltung der künstlerischen Welt...” 33<br />
Vorausgegangen war zudem eine Veränderung in der Orientierung der Archäologie. 1832 stellte<br />
Christian Jürgen Thomsen (Kopenhagen) die Unterscheidung von Steinzeit, Bronzezeit <strong>und</strong> Eisenzeit<br />
vor. Das führte durch die Veränderung der Grabungstechnik von dem Schliemannschen<br />
„Schatzsuchen“ (1870 -1876) zu einer entwickelten prähistorischen Chronologie, die sich nicht auf<br />
Schriftzeugnisse stützen konnte. 34 Gleichsam selbstverständlich blieben dennoch bildende Kunst <strong>und</strong><br />
Kultur generell in Eins gesetzt, da sich deren Einheit ausschließlich am Kultbild <strong>und</strong> der<br />
dazugehörigen Architektur optisch evident zu werden schien, faßlich beschreiben <strong>und</strong> nachzeichnen<br />
ließ.<br />
Mit erster Sicherheit konnte der Archäologe Adolph Michaelis 1906 konstatieren: „Das größte<br />
Aufsehen erregten die in den siebziger Jahren <strong>und</strong> wiederum in den neunziger Jahren in der Nähe<br />
von Schaffhausen gemachten F<strong>und</strong>e, z.B. die meisterhafte Darstellung eines äsenden Rentiers. Die<br />
Vollendung der Zeichnung erschien für jene Urzeit so unbegreiflich, daß ein - leider durch einige<br />
Fälschungen genährter - Verdacht gegen die Echtheit laut ward. Er verstummte bald. Neuere<br />
Entdeckungen in Frankreich haben jene Werke fast noch übertrumpft, <strong>und</strong> das Studium des<br />
Kunstsinnes <strong>und</strong> der Kunstleistungen bei wilden Völkern hat das in seiner Vereinzelung unbegreiflich<br />
Erscheinende als allgemeingültig nachgewiesen. Eine höchst primitive Kunststufe schließt<br />
keineswegs künstlerischen Blick <strong>und</strong> treffende Wiedergabe aus: eine für die Ursprünge der Kunst<br />
wertvolle Beobachtung.“ 35<br />
Selbst mit der Natur 36 verbündete sich die Argumentation fürs Ursprüngliche erneut im Resultat der<br />
Leonardo-Bellini Kontroverse um die freie Ausdeutung von Naturformen: In der Natur selber fänden<br />
sich jene biologischen Urzeichen (die Zufallsstrukturen unterschiedlichster Provenienz) künstlerischen<br />
Schaffens, die dem seiner kindlichen <strong>Ursprünglichkeit</strong> Entwachsenen immer noch unvermittelt zur<br />
Verfügung stünden. Mit Haeckels u.a. Entdeckung von „Kunstformen der Natur“ - als Photographien<br />
veröffentlicht - glaubte man, ein unerschöpfliches Reservoir erschlossen zu haben, das von den<br />
normierenden Kräften der modernen Gesellschaft unberührt, immer noch von den Zeiten vor dem<br />
Erscheinen des Menschen <strong>und</strong> seiner Kunst künde.<br />
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<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
Kaum in den Blick der Kunstwissenschaft wurde die Vielzahl derjenigen bildlichen Äußerungen<br />
genommen, die diesseits der hochrangig spezialisierten Produktionsformen bildender Kunst sowohl<br />
das alltägliche gesellschaftliche Leben als auch das intimere private Leben beherrschten.<br />
Erst um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende traten, vor allem bei Sigm<strong>und</strong> Freud <strong>und</strong> den<br />
wahrnehmungstheoretischen Schulen in Leipzig 37 <strong>und</strong> Dresden, jene Formen der bildlichen<br />
Manifestationen menschlicher Weltaneignung in den Blick, die diesseits der traditionellen Hochformen<br />
einer „Bild-Kultur“, also der bildenden „Kunst“, sowohl beim Kinde schon, als auch bei dessen<br />
phylogenetischem Pendant, den sogenannten „Primitiven“ ausgemacht werden konnte. 38 Andererseits<br />
trat ein anderes kulturelles Erbe in die Phase seiner wissenschaftlich-rationalen Durchdringung, das<br />
bis dahin der Domäne von Aberglauben <strong>und</strong> Irrationalität überlassen schien: die Deutung der<br />
Bilderwelt der Träume. Allerdings unterlag diese von Anfang an einer Festsschreibung in<br />
enthistorisierter Form, da man in deren Bilder- <strong>und</strong> Figurenrepertoire ein unveränderliches Zeugnis<br />
anthropologischer Konstitution zu erblicken glaubte, das gegen jede kulturell-bedingte Veränderung<br />
<strong>und</strong> Anpassung hypostasiert wurde.<br />
Darin Quellen subjektiver Inspiration als höchsten Ausweis ungeteilter Individualität erblicken zu<br />
können, wurde zum ausgesprochenen Lieblingsvorurteil der Künstler selber. Mit Vorliebe nahmen sie<br />
sich des Erbes eines neuzeitlichen Irrationalismus' an. Zugleich besetzten sie damit den Kontrapart<br />
zur industrialisierten Rationalität <strong>und</strong> verhalfen ihm zu neuen, höchst zwiespältig beurteilten Ehren.<br />
Damit war die Frage nach dem historisch-menschheitsgeschichtlichen „<strong>Ursprung</strong>“ von Kunst oder<br />
künstlerischer Tätigkeit zunehmend von der Vorstellung von „<strong>Ursprünglichkeit</strong>“ überlagert, also der<br />
Frage nach sensitiver „Unvermitteltheit“ emotionaler Wirkung von Formen <strong>und</strong> Farben. Es wurde<br />
unterstellt, daß „frühen“ Kulturen diese Unmittelbarkeit ebenso direkt zur Verfügung gestanden habe,<br />
wie man es für Kinder annahm. Nunmehr wollte jeder gerne im Erwachsenen-Alter selber noch an<br />
dieser Projektion partizipieren, um sich dem Druck der beschleunigten kulturellen Wandlungen<br />
zumindest teilweise entziehen zu können. 39<br />
Für jede ältere Vorstellung mußte eine Wortpaarung wie „primitive Kunst“ als ein unsinniges Paradox<br />
erscheinen, schloß doch der Inhalt von „primitiv“ - als das Gegenteil von Kultur - die „Kunst“ als den<br />
Inbegriff von vollzogener kultureller Entfaltung aus. 40<br />
„Mit diesem unverkennbaren Drang zum Objektiven, zur zwingenden Vereinfachung der Form, zu<br />
einer elementaren Vorurteilslosigkeit der künstlerischen Wiedergabe, hängt jener Gr<strong>und</strong>charakter der<br />
neuen Kunst zusammen, den man als sinnlose Primitivitäts- <strong>und</strong> Kindlichkeitskomödie vor dem<br />
erwachsenen Europa lächerlich zu machen können glaubt“, schrieb Worringer 1911 in Verteidigung<br />
der neueren (französischen) Kunstrichtungen, die sich an Cézanne, van Gogh <strong>und</strong> Matisse<br />
orientierten, gegen Carl Vinnens Angriff auf die Kunst der Moderne. 41<br />
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<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
„Nicht ist ihr [der Kunst] Wesen“ - kritisierte Adorno dieses Ansinnen - „aus dem <strong>Ursprung</strong> deduzibel,<br />
so als wäre das Erste eine Gr<strong>und</strong>schicht, auf der alles Folgende aufbaute <strong>und</strong> einstürze, sobald sie<br />
erschüttert ist. Der Glaube, die ersten Kunstwerke seien die höchsten <strong>und</strong> reinsten, ist späteste<br />
Romantik: nicht mit minderem Recht ließe sich vertreten, die frühesten kunsthaften Gebilde,<br />
ungeschieden von magischen Praktiken, geschichtlicher Dimension, pragmatischen Zwecken wie<br />
dem, durch Rufe oder geblasene Töne über weite Strecken sich vernehmbar zu machen, seien trüb<br />
<strong>und</strong> unrein; die klassizistische Konzeption bediente sich gerne solcher Argumente.“ 42<br />
Mit den – heimlich oder offen geliebten – Zügen eines von der Gesamtentwicklung Überholten<br />
bedrückt seitdem alle Kunst die verdächtige Hypothek, nicht ganz mitgekommen, also regressiv zu<br />
sein. Dennoch bedienten <strong>und</strong> bedienen sich Künstler seitdem jener Lebensbereiche als<br />
Inspirationsquelle, die angesichts der Steigerung technischer Effizienz <strong>und</strong> ökonomischer Rationalität<br />
vom triumphierenden Bürgertum als ineffektiv, als regressiv beiseite geschobenen waren: der<br />
Kindheit (als der bereits seit dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert in den Blick genommenen erneut), des „Primitiven“<br />
<strong>und</strong> der Geisteskrankheit. Die „Natur“ indessen ist sowohl ästhetisch den einen wie ökonomisch den<br />
anderen verdächtig, weil die Grenzen ihrer Ausbeutbarkeit zu offensichtlich geworden sind.<br />
Ästhetische Verhaltensweise wird in Kunst konserviert. Kunst ist ihrer unbedingt bedürftig. Und darin<br />
versammelt sich, was seit jeher von Zivilisation gewalttätig weggeschnitten oder unterdrückt wurde,<br />
mitsamt dem Leiden der Menschen unter dem ihnen Abgezwungenem. Das äußert sich nur in<br />
originären Gestalten von Mimesis, die jedem menschlichen Tun <strong>und</strong> Verhalten immanent sind. Kunst<br />
zeichnet sich dadurch aus, daß das in ihr zum zentralen Thema gemacht wird. 43<br />
_ ._ ._ . _ . _ . _<br />
Anmerkungen:<br />
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1. Joh. Joachim Winckelmann, »Geschichte der Kunst des Alterthums.« Vorrede :„Die Geschichte der Kunst soll den<br />
<strong>Ursprung</strong>, das Wachsthum [...] derselben [...] lehren [...]“. Zur Vorgeschichte dieses Wandels in der Romantik auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />
englischen Musik <strong>und</strong> Poetiktheorie Harris (1744) <strong>und</strong> Daniel Webb (1762) vgl. Anna Tumarkin, „Die Überwindung der Mimesislehre<br />
in der Kunsttheorie des XVII. Jahrh<strong>und</strong>erts. Zur Vorgeschichte der Romantik.” In: »Festgabe Samuel Singer.« Tübingen 1930, S. 40<br />
– 55.<br />
2. Wilhelm Worringer, »Abstraktion <strong>und</strong> Einfühlung.« München 1908. Neuausgabe 1959, S. 16: „Denn es handelt sich [beim<br />
Inhalt dieses Buches] um das Problem frühesten Kunstbeginns.<br />
3. Benedetto Croce, »Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks <strong>und</strong> allgemeine Linguistik.« (Neapel 1901), Leipzig 1905,<br />
S. 12 ff, 126 ff: „[...], daß es absurd ist, die Frage nach dem <strong>Ursprung</strong> der Kunst als historisches Problem zu stellen. [...] In anderen<br />
Fällen hat man unter ‚<strong>Ursprung</strong>‘ ich weiß nicht was für eine ideale Genesis verstanden, die Forschung nach dem Sinn der Kunst, die<br />
Deduktion des künstlerischen Vorgangs aus irgend einem höchsten Prinzip, das Geist <strong>und</strong> Natur in sich einschließt: das ist ein<br />
metaphysisches Problem <strong>und</strong> unseres Erachtens ein Problem, das es gar nicht gibt, das nur imaginärer Natur ist. [...] Ein streng<br />
historisches Problem ist das des <strong>Ursprung</strong>s der Kunst allerdings dann, wenn damit die Frage nicht etwa nach der Entstehung der<br />
Funktion gemeint ist, sondern die nach dem wo <strong>und</strong> wann die Kunst zum erstenmal erschien, zum mindesten in bedeutungsvoller<br />
Art, <strong>und</strong> an welchem Punkte oder in welcher Gegend des Erdkreises [...]. Also nicht mehr das Problem ihres <strong>Ursprung</strong>s, wohl aber<br />
das ihrer ältesten oder primitivsten Geschichte.“ Konrad Fiedlers »Über den <strong>Ursprung</strong> der künstlerischen Tätigkeit.« erschien 1887.<br />
4. Wolfgang Pross, »Johann Gottfried Herder „Über den <strong>Ursprung</strong> der Sprache“. Text, Materialien, Kommentar.« Wien,<br />
München (o.J.) (= Hanser Literatur-Kommentare 12).<br />
5. Frank Balters, »Der grammatische Bildhauer. Kunsttheorie <strong>und</strong> Bildhauerkunst der Frührenaissance. Alberti - Ghiberti -<br />
Leonardo - Gauricus.« Köln 1991.<br />
6. Leon Battista Alberti, La Pittura, trad. da Lodovico Domenichi, Venedig 1547, S. 19, ed. Grayson 1972, S. 14; Lorenzo<br />
Ghiberti, »I Commentarii .« (um 1440), ed. Morisani 1947, Comm. I., S. 1-31; MS fol. 1r - 8v. Kap.3 Vorwort (nach Vitruv, VII. praef.<br />
1-2), Entdeckung des disegno.<br />
7. Ghiberti-Morisani 1947, (wie Anm. 6) S.6: „[...] ma affermano gl'Egizii chè l'disegno, il quale è origine e fondamento<br />
dell'arte statuaria e della pittura, essa stata prima in Egypto circa d'anni seimilla chè in Grecia venissi o fosse in uso: ma vanamente<br />
dicono. I Greci dicono chè essi non furono trovatori d'esso, alquanti dicono chè l'disegno fù trovato da'Corinzi. Ma ciascuno afferma<br />
essere [stato] trovato coll'ombra del sole parata innanzi alla forma dell'uomo virile [...]“, vgl. Balters 1991 (wie Anm. 5), S. 247.<br />
8. Philostratus, »In proemio Iconum.« <strong>und</strong> Quintilian, »De inst. orat.« lib. II.; Cajus Plinius Sec<strong>und</strong>us, »Historia naturalis.«<br />
XXXV, V 1, ed. Mayhoff, S. 238: „De picturae initiis incerta nec instituti operis quaestio est.“, Loeb Class. Lib. 9, London 1961, S.<br />
270 u. »Kleine Schriften zur Kunst, Neudr. der Frankfurter Kunstgewerblichen Bibliothek.« Hrsg. von W. Schürmeyer, Bd. 5,<br />
Frankfurt a. M. 1925, S. 14 -15: „Der <strong>Ursprung</strong> der Malerei ist in Dunkel gehüllt [...]“.<br />
9. André Félibien, Sieur des Avaux, »De l'origine de la Peinture et des plus excellens Peintres de l'Antiquité. Dialogue (avec<br />
Pymandre, à Vaux).« A Paris, chez Pierre Le Petit, 1660 [imprimatur: 10. jan. 1660], 50 S. in-4 (Teyssèdre 1957:589, Fouquet<br />
gewidmet <strong>und</strong> wiederabgedruckt in »Etretien I.«, 1666, nur daß die Tuileries Vaux als Ort der Promenade ersetzen). Roger De<br />
Piles, »Historie <strong>und</strong> Leben der berühmtesten Europäischen Mahler, so sich durch ihre Kunst-Stücke bekand gemacht [...].«<br />
Hamburg 1710, S. 128 ff. Als Teil einer allgemeinen Geschichte der Kunst gefaßt, trägt er den Plan eines „Traité de cét excellent Art<br />
de la Peinture”, vor <strong>und</strong> kündigte eine Fortsetzung an „sur les Peintres Modernes” (S. 50). Zusammenstellung der antiken Quellen,<br />
die im 17. Jh. verwendet wurden bei Teyssèdre 1964:15, 41, 233. J. J. Winckelmann, »Geschichte der Kunst des Alterthums.«<br />
(1764), I. 1,1 zit. nach der Ausgabe hrsg. von J. Lessing, 2. Aufl., Leipzig 1881, S. 17: „Die ältesten Nachrichten lehren uns, daß die<br />
ersten Figuren vorgestellt, was ein Mensch ist, nicht wie er uns erscheint, dessen Umkreis, nicht dessen Ansicht.“; Aber auch: „Edle<br />
Einfalt, stille Größe“, bezogen in den „Gedanken über die Nachahmung“ auf die griechische Antike, hatte viele Vorläufer, sowohl in<br />
ihren einzelnen Elementen wie in der Verknüpfung, meist zuvor für den literarischen Bereich. Vgl. Wolfgang Stammler, „Edle<br />
Einfalt“. Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos, in: »Wort <strong>und</strong> Werte, Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag.« Berlin 1961,<br />
S. 359 - 382. G. E. Lessing, »Laokoon oder: Ueber die Grenzen der Malerei <strong>und</strong> Poesie.« 1. Theil (1766), zit. nach »Werke.«<br />
Hrsg.v. R. Gosche, Berlin 1875, Bd. 4, S. 52: „Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in den bildenden<br />
Künsten gemacht habe [...]“, vgl. »Handschriftliche Anmerkungen zu Winckelmann.« op. cit., S. 316 f. Johann Caspar Lavater,<br />
»Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis [...].« Leipzig - Winterthur 1775 - 1778, Bd. 2, S. 90; J. G.<br />
Herder, »Plastik.« (1778), V., hrsg. vov Lambert A. Schneider, Köln 1969, S. 121-125; vgl. »Sämtliche Werke.« Stuttgart <strong>und</strong><br />
Tübingen 1830, Bd. 19, S. 116 - 122. „Dies ist auch die Geschichte der Kunst bei allen Völkern. Vom Himmel entsprang sie:<br />
Ehrfurcht, Liebe, ein Funke der Götter brachte sie hinunter, schuf ihr irdische Form an, <strong>und</strong> erhielt sie einige, wiewohl kurze Zeit<br />
lebend. Nun ward sie Abgötterei, sodann Kunst, sodann Handwerk, <strong>und</strong> endlich, die Gr<strong>und</strong>suppe von allem, Kennerei, Trödelkram<br />
<strong>und</strong> Kunstgewäsche. Die Dädalus <strong>und</strong> Phidias gehen vor, die Praxiteles, Myrons <strong>und</strong> Lysippe folgen; sodann wirds Nachklang oder<br />
Nachgeschmack oder noch etwas Ärgeres. Niemals gelingts uns hier, die Zeiten umzukehren, <strong>und</strong> es ist töricht, die Dädale in<br />
Lysippen umschaffen zu wollen. Sind jene erst da, so werden diese kommen, denn ohne jene konnten diese nicht werden. Die<br />
gerade Linie bleibt immer die erste <strong>und</strong> Hauptlinie, um die sich der Reiz nur schwinget. 2. Kolossalische Figuren sind der bildenden<br />
Kunst nicht fremde <strong>und</strong> unnatürlich, sondern vielmehr gerade ihr eigen, ihres <strong>Ursprung</strong>s <strong>und</strong> Wesens.“ August Wilhelm Schlegel,<br />
»Kunstlehre.« (1801/1884), S. 111: Skulptur (Plastik) sei älter als Malerei. G. W. F. H. Hegel, »Ästhetik.« Frankfurt/M 1955, S. 327<br />
ff: „Diese ersten, noch wildesten Versuche der Phantasie <strong>und</strong> Kunst treffen wir vornehmlich bei den alten Indern an [...]“ C. Fr. von<br />
Rumohr, »Italienische Forschungen.« (1826), hrsg. von Julius von Schlosser, Frankfurt a. M. 1920, Kap. VIII, S. 22, 229 ff. „Denn es<br />
wird für die Kunstübung ohne Belang seyn, auf welche Weise man sich gefalle, ihren <strong>Ursprung</strong> abzuleiten, oder die Ergebnisse ihrer<br />
Wirksamkeit zu erklären, da sie bekanntlich nicht etwa aus irgend einem Systheme der Weltweisheit, sondern ganz aus sich selber<br />
entstanden ist.“ (Anti-Hegel; <strong>Ursprung</strong> sei die Natur, wie bei Alberti) S. 13: „Denn gewiß entspringt die Kunstfähigkeit, wie hoch oder<br />
niedrig die Richtung sey, welche sie nimmt, doch unter allen Umständen aus den verborgensten Tiefen des menschlichen Daseyns<br />
[...]“; S. 14: „Wir woellen also den <strong>Ursprung</strong> des Geistes, der in den bildenden Künsten sich ausspricht, mit Ehrfurcht übergehen <strong>und</strong><br />
uns darauf beschränken, diesen Geist in seiner Thätigkeit <strong>und</strong> Anwendung zu betrachten, oder die Gesetze zu erforschen, nach<br />
welchen die einzelnen Thätigkeiten der allgemeinen Kunstfähigkeit sich bewegen.“ Zur Bilderschrift S. 24 - 27; zu der neueren<br />
Kunst Kap. III, S. 157 ff. Den zweiten Teil seinen »Italienischen Forschungen.« (1827, S. 1) leitete Rumohr mit der Feststellung ein:<br />
„Hinsichtlich des <strong>Ursprung</strong>es der bildenden Künste giebt es verschiedene, einander gänzlich entgegengesetzte Ableitungen [...]“ Zur<br />
Rolle der Kopie in der akademischen Tradition des 19. Jh. in Frankreich aus „magischen Ursprüngen“ verfolgte Albert Boime, »The<br />
Academy and French Painting in the Nineteenth Century.« London 1971, S. 123 ff.
10. M. Théodort, »De la Providence.« 1642, S. 14; Antoine Le Blond de La Tour, »Lettre [...] à une de ses amis, contenant<br />
quelques instructions touchant la peinture, 4. Sept. 1668.« A Bordeaux, chez P. Le Coq, 1669, 79 S. (Nachdruck in: »Revue<br />
Universelles des Arts.« XIX, S. 247ff.); Pierre Mosnier, »Histoire des Arts qui ont raport au Dessin [...].« Paris 1698 (nach seinen<br />
„conférences académiques” vom 22. Juni 1693 u. 1. März 1698). Indessen finden sich auch seltenere Belegstellen dafür, daß Gott<br />
als der erste Maler bezeichnet wurde, so z.B. in Lelonotti da Fano - Britio Prenetteri, »Trattato della pittura e scultura, uso ed abuso<br />
di loro, composto da un theologo e da un pittore.« Florenz 1652, vgl. P. <strong>Gerlach</strong>, „Die Akademie, der Kenothaph, Der Triumph.<br />
Lesarten der Fassade von SS. Luca e Martina des Pietro da Cortona.” In: »Festschrift für Günther Urban.« Rom 1992, S. 8 ff.<br />
11. «Nouvelle Méthode appliquée aux Principes élémentaires du Dessin, tendant à perfectionner graphiquement le tracé de<br />
la tête de l'homme au moyen de diverses figures gèométriques. Par Jean Jacques Lequeu, Jeur, Architecte Dessinateur. Nouvelle<br />
Copie du premier manuscrit donné par lui-même à l'honneur de la Bibliothèque Royale. Revue et corrigée.» Ms., III u. 33 SS., 20<br />
Taf., (sign., dat. Rouen 1792), S. 1: «Des scavantes les plus célèbres croyent que les premiere Chaldées, les Chinois, les Indiens,<br />
soit les plus anciennes Nations de notre monde. Or, en adoptant cette opinion, le commencement du dessin se perdrait dans la<br />
nuite de leur antiquité: car on soit avec vérité que l'Inde fut le berceau des connaissance humaines et des arts.» (P. Duboi 1986, S.<br />
259 - 285, hier: 262). Zu den zeitgenössisch verfügbaren antiken Quellen: Franciscus Junius, De pictura veterum libri tres,<br />
Amsterdam 1637. 2. erw. Aufl. [...], „tot in locis emendati, et tam multis accessionibus aucti, ut plane novi possint videri [...]“,<br />
Rotterdam 1694.<br />
12. Joshua Reynolds, »Discourses on Art.«, ed. by R. R. Wark, London 1975, »Discours III.« (1770), S. 39 - 42; Petrus<br />
Camper, »Verhandelung over het natuurlijk verschill der wezenstrekken in menschen van onderscheidene landaart en ouderdom;<br />
over het schoon in antyke beelden en gesneedene steenen. Gevolgd door een voorstel van eene nieuwe manier om hoofden van<br />
allerleye menschen met zekerheid te teekenen. Naa des Schrijvers dood metgegeewen door ziynen zoon Adriaan Gilles Camper.«,<br />
Utrecht 1791. zit. nach ders., »Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge...« Übersetzt von Samuel Thomas Soemmering,<br />
Berlin 1792, S.57 ff, vgl. <strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, »Proportion. Körper. Leben.« Köln 1990, S. 44 f.<br />
13. Ein Problem, das seit Perrault auf die Frage nach dem Primat der artistisch-ästhetischen Überlegenheit der römischen<br />
gegenüber der griechischen Kunst zugespitzt worden war. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich um eine<br />
architekturgeschichtliche Debatte handelte, die die bildenden Künste, Malerei, Skulptur <strong>und</strong> Zeichnung, nicht berücksichtigte, die<br />
hier im Vordergr<strong>und</strong> der Aufmerksamkeit stehen. Vgl. Hans Robert Jauß, „Ästhetische Normen <strong>und</strong> geschichtliche Reflexion in der<br />
»Querelle des Anciens et des Modernes.«”. in: »Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences.<br />
Par M. Perrault de l'Académie Français [1688-1697].« (= Theorie <strong>und</strong> Geschichte der Literatur <strong>und</strong> der schönen Künste. Texte <strong>und</strong><br />
Abhandlungen, hrsg. v. Max Imdahl, W. Iser, H. R. Jauss u.a., Bd. 2), München 1964, S. 8 – 64.<br />
14. Norbert Miller, »Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Baptista Piranesi.« München, Wien 1978, bes. 223 ff.<br />
15. Lionello Venturi, »Storia della critica d'arte.« = piccola biblioteca einaudi 38, Turin 1964 3 , S. 164 - 168; Nikolaus<br />
Himmelmann, »Winckelmanns Hermeneutik.« (= Akademie der Wissenschaften <strong>und</strong> der Literatur. Abhandlungen der geistes- <strong>und</strong><br />
sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrg. 1971, Nr. 12, Darmstadt 1971, S. 591 - 610). Camper 1792 (wie Anm. 12), S. 77 f.<br />
16. Vgl. zur Systematik P. O. Kristeller, "The modern system of arts." in: Journal of the History of Ideas, Bd. 12, 1951, S. 496-<br />
527, Bd. 13, 1952, S. 17-46.<br />
17. Vgl. F. Balters <strong>und</strong> <strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, „Zur Natur von Albertis ‚De Statua‘“. in: »Kunsthistorisches Jahrbuch Graz«, Bd. 23,<br />
1987, S. 38-54.<br />
18. Vladimir Juren, „Politien et la théorie des arts figuratifs.” in: Bibliothèque d'humanisme et de Renaissance, Bd. 37, 1975,<br />
S. 131-140.<br />
19. »De Inst. Oratoria.« II, 14: ars, artifex, opus, vgl. D. R. Edward Wright, „Alberti's De Pictura: Its literary structure and<br />
purpose." in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute, Bd. 47, 1984, S.52-71.<br />
20. Junius 1637 (wie Anm. 11), Lib. I, Cap. III; A. Ellenius, »De Arte Pingendi. Latin literature in seventeenth century Sweden<br />
and its international backgro<strong>und</strong>.« (= Lychnos, Bd. 19), Uppsala 1960, S. 73-90; zu Winckelmanns Urteil über Junius vgl. Carl Justi,<br />
»Winckelmann <strong>und</strong> seine Zeitgenossen.« 5. Aufl., Köln 1956, Bd. 3, S. 95f.<br />
21. Unter diesem Blickwinkel stellt sich z.B. Hegels »Ästhetik« als das umfangreichste bis dahin je verfaßte „Kunstlob“ dar,<br />
denn die Geschichte der Einführung der Materialien, die großen Neuerer <strong>und</strong> die Leistungen im Medium Kunst kommen in dieser<br />
Darstellung kaum - gleichsam nur noch im Anhang – vor.<br />
22. M. Hoernes, »Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa von den Anfängen bis um 500 vor Chr.« Wien 1889, S. 9 ff:<br />
„Anfänge der bildenden Kunst <strong>und</strong> ihre Entwicklung.”, S. 42; Zur Entdeckungsgeschichte der Höhlenmalerei: Boucher de Perthes,<br />
Lartet <strong>und</strong> Christy, Eduard Piette (Ingenieur, betrieb 23 Jahre lang stratigraphische Höhlenforschung), „Notes pour servir à l'histoire<br />
de l'art primitif.” In: L'Anthropologie 4, Paris, 1894, S. 144; Salomon Reinach, „L'art et la magie. A propos des peintures et des<br />
gravures de l'âge du Renne”. In: L'Anthropologie, Bd. 16, 1903.<br />
23. Von W. Kemp 1979 nur summarisch im Schlußkapitel behandelt. Einen bezeichnenden Fall liefert der Maler-Diletant <strong>und</strong><br />
Kunsterzieher in Wien, Franz Cizek, vgl. L. W. Rochowanski, »Die Wiener Jugendkunst.« Wien 1946.<br />
24. „Giovanni Morelli (Arzt + 1891) (Ivan Lermolieff).” Übersetzt von Johannes Schwarze (= Morelli). In: Zeitschrift für<br />
bildende Kunst 1874 / 1876. Freud 1914:185 zitiert die Morelli Methode <strong>und</strong> weist auf die methodologische Verwandtschaft zur<br />
Psychoanalyse hin; Das Individuelle wird gerade dort am sichtbarsten, wo der aktive Geist am wenigsten beteiligt ist. Wind 1979:40-<br />
55, Bibl.: S. 150-155. I[van] Lermolieff [Pseud.], »Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden <strong>und</strong> Berlin.<br />
Ein kritischer Versuch. Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Johannes Schwarze.« Leipzig 1880; engl.: G. Morelli (I. Lermolieff),<br />
»Italian Masters in German Galleries. A Critical Essay on the Italian Pictures in the Galleries of Munich, Dresden and Berlin. Trasl.<br />
from German by L. M. Richter.« London 1883.(posthum! Name zum ersten Mal) vgl. Ginsburg 1979:119 (Anm. 10-11).<br />
»Kunstkritische Studien über italienische Malerei, Die Galerien Borghese <strong>und</strong> Doria Pamphili in Rom.« Leipzig 1890. ital.: Giovanni<br />
Morelli (Ivan Lermolieff), »Della pittura italiana. Studii storico critici. - Le gallerie Borghese e Doria Pamphili in Roma.« Milano 1897.<br />
Vgl. Ginsburg 1979:78 ff, 86 (Kenntnis durch Freud, Mailand 14. Sept. 1898/1914). Carlo Ginzburg, „Spie. Radici di un paradigma
indiziario.“ In: »Crisi della ragione. Nuovi modelli nel rapporto tra sapere e attività umane, ed. da Aldo Gargani.« Torino 1979:57-<br />
106, dt. „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft<br />
auf der Suche nach sich selbst”. In: Carlo Ginsburg, »Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst <strong>und</strong> soziales<br />
Gedächtnis.« München 1988, S.78-125. Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff): Wissenschaften in der Reihenfolge ihrer abnehmenden<br />
Zuverlässigkeit (quantifizierende Objektivität versus Individualisierung): Medizin, Connoisseurship, Kunst der Identifizierung von<br />
Schrift/ Methoden der Indizienforschung vor <strong>und</strong> seit ihrer statistischen Quantifizierung (das Indizienparadigma als Methode um<br />
1870-1880). Gleichzeitigkeit von Morelli (gemalten Details), Freud (Symptomen), <strong>und</strong> Indizien bei (Sherlock Holmes) Conan Doyle<br />
als Spurenidentifizierer, alle drei waren Ärzte: medizinische Semiotik. Vorgeschichte: Baldi 1622, Mancini 1619: absteigende<br />
Rangfolge von „universellen“ Eigenschaften der caratteri im Buche der Natur (Galilei) als geometrische Gr<strong>und</strong>formen über die<br />
Eigenschaften „caratteri“, die der Literatur eines Jahrh<strong>und</strong>erts gemeinsam sind, zu den „individuellen“ caratteri in Malerei oder<br />
Kalligraphie, S. 100. Retrospektive Wahrsagung (Huxley 1881:132). Fingerabdruck: Purkyne 1823; Galton 1880, unter Bezug auf<br />
engl. Verwaltungspraxis in Bengalen, wo Fingerabdruck Tradition hatte: Sir William Herschel 1860, S. 112-115.<br />
25. A. Quételet, »Physique sozial, ou Essai sur le développement des facultés de l'homme.« Brüssel 1869, dt. »Soziale<br />
Physik [...].«, Jena 1914.<br />
26. Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971). In: ders., »Von der Subversion des Wissens.«<br />
Frankfurt/M. 1987, S. 69 - 90.<br />
27. Von Lessing vermutet <strong>und</strong> von Haeckel als Rekapitulationstheorie formuliert.<br />
28. Leo Frobenius, »Die bildende Kunst der Afrikaner.« Wien 1897; ders., »<strong>Ursprung</strong> der afrikanischen Kulturen.« 1898.<br />
Gegen die These vom rohen, kulturlosen Afrika Entwurf eines Bildes von fünf schwarzafrikanischen Kulturkreisen, deren Kunst sich<br />
durchaus mit der anderer Frühkulturen vergleichen lasse, vgl. Jürgen Christoph Winter, „Leo Frobenius' Image of Africa: An<br />
Ethnologist's Work and Ethnology's View of it", in: Komparatistische Hefte 2, 1980, S. 72 - 91. Ernst Grosse, „Ethnologie <strong>und</strong><br />
Ästhetik.“ in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 15, 1891, S. 392 - 417; Jean Laude, »La Peinture français (1905-<br />
1914) et
dreißiger Jahre.“ in: Kritische Berichte 18, 1990, S. 71-87. Zu Ernst Kallai, „Zurück zum Ornament. Zeichen <strong>und</strong> Bilder“ (1933), in:<br />
ders., »Vision <strong>und</strong> Formgesetz. Aufsätze über Kunst <strong>und</strong> Künstler 1921-1933.« hrsg.v. Tanja Frank, Leipzig-Weimar 1986, S. 209.<br />
37. Wilhelm W<strong>und</strong>t, »Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos <strong>und</strong> Sitte.«<br />
Stuttgart 1900 - 1921. Zur Einschätzung als einer evolutionistischen Konstruktion vgl. Wilhelm E. Mühlmann, »Geschichte der<br />
Anthropologie.« 4. Aufl., Wiesbaden 1986, S. 120. Zu Lamprecht ebda., S. 122 ff.<br />
38. Hoernes 1898 (wie Anm. 22) S. 25; Max Verworn, »Zur Psychologie der primitiven Kunst.« Jena 1909. 2. Aufl., 1917. Zur<br />
Frage nach den psychologischen Wurzeln von Kunst S. 3ff; Hirn 1910 (wie Anm. 32). Bereits die Kunsttheorie des 17. Jh. kennt das<br />
Argument Kinder hätten eine „natürliche“ Neigung zum Zeichnen. Vgl. W. v. Goeree, »Inleydinge tot de algemeene Teyken-Konst<br />
[...].« Amsterdam 1697. Reprint Soest 1974, S. 12.<br />
39. Max Verworn, „Kinderkunst <strong>und</strong> Urgeschichte.“ (= Sitzber. des anthropologischen Vereins zu Göttingen) 1907. In:<br />
»Korrospondenzblatt der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie <strong>und</strong> Urgeschichte.« 37, 1907; ders., »Die Anfänge<br />
der Kunst. Ein Vortrag.« Göttingen 1909. 2. Aufl. Jena 1920, S. 9: „Für unsere Betrachtung, die sich nur auf die älteren Perioden der<br />
Steinzeit bis zum Ausgang des Paläolithikums erstrecken soll, weil nur hier die Anfänge der Kunst zu finden sind, kommt von allen<br />
Kunstäußerungen allein die bildende Kunst in Betracht, <strong>und</strong> zwar mit Ausschluß der Schreibkunst [...].“ S. 13 :„Die ursprünglich sehr<br />
dicken <strong>und</strong> plumpen Werkzeuge werden flacher <strong>und</strong> zierlicher <strong>und</strong> erreichen vielfach bereits den Charakter kleiner Kunstwerke, die<br />
durch ihre Form sogar uns ein entschiedenes Wohlgefallen erwecken.“ S. 20: Der <strong>Ursprung</strong> des „Formensinns“ liege „in einem Spiel<br />
mit der Technik der Feuersteinbearbeitung. [...] Als Spiel möchte ich ganz allgemein jede Beschäftigung bezeichnen, die direkt oder<br />
assoziativ angenehme Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle hervorruft, ohne einen weiteren Zweck zu verfolgen <strong>und</strong><br />
ohne einem unmittelbar lebens- oder arterhaltenden Triebe zu dienen.“ S. 23: „Aber von dem Momente an, wo ein bestimmtes<br />
Formideal dem Menschen vorschwebt, das er mit seinen selbstgeschaffenen Mitteln zum objektiven Ausdruck zu bringen sucht,<br />
können wir auch von Kunst reden. Hier haben wir also die ältesten Zeugen der formgebenden Kunst. Ihre psychologischen Keime<br />
aber wurzeln in dem zufälligen Produkt des Spieles mit der Technik.“ (formuliert nach Hoernes 1889!). Ernst Grosse, »Anfänge der<br />
Kunst.« Freiburg - Leipzig 1894. Negativ-Äußerungen vgl. Hoernes 1889:1,9 (wie Anm. 22), Kunst als soziale Funktion: nach dieser<br />
Auffassung seien die Jägerstämme der Urzeit gleichsam der prähistorische Prototyp einer künstlerischen Boheme, Anarchisten in<br />
Politik <strong>und</strong> Religion mit einer phänomenalen Ausbildung von Auge <strong>und</strong> Hand [...] <strong>und</strong> mit einem besonderen, von dem des<br />
Ackerbauers abweichenden seelischen Nahrungsbedürfnis. Johannes Kretzschmer, „Kinderkunst <strong>und</strong> Urzeit“, in: Zeitschrift für<br />
pädagogische Psychologie, Pathologie <strong>und</strong> Hygiene, Leipzig 1909. Busse 1913 (wie Anm. 32).<br />
40. Notwendigerweise muß daher nach denjenigen Buchtiteln <strong>und</strong> Texten gesucht werden, in denen diese Wortpaarung<br />
gegen Ende des 19. Jhds. aufzufinden ist.<br />
41. Wilhelm Worringer, Privatdozent, Bern: „Entwicklungsgeschichtliches zur modernsten Kunst.“ In: »Deutsche <strong>und</strong><br />
französische Kunst. Eine Auseinandersetzung deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler <strong>und</strong> Schriftsteller.« München 1911, zit.<br />
nach der 3. Aufl. München (1913), S. 92 - 99. Zu Carl Vinnen, »Ein Protest deutscher Künstler.« Jena 1911 vgl. Ron Manheim, »Im<br />
Kampf um die Kunst. Die Diskussion von 1911 über zeitgenössische Kunst in Deutschland.« Hamburg 1987.<br />
42. Th. W. Adorno, (wie Anm. 32), S. 11. Vgl. „Theorien über den <strong>Ursprung</strong> der Kunst“ S. 480 - 490 vor allem für die Zeit um<br />
1940, als es um den Streit zwischen dem religiös magischen Anfang von Kunst oder seinem naturalistisch-animistischen geht, also<br />
die Worringer These erfolglos umzukehren versucht wurde.<br />
43. „Spielräume extremer Freiheit“ nannte <strong>Walter</strong> Grasskamp (in: »Die unbewältigte Moderne.« München 1990, S.95) die<br />
Inspiration an Arbeiten von Geisteskranken, als extreme Verkörperung von als asozial abgestempelter Individualität.