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Zeichenhafte Vermittlung von Innenwelt in konstruktivistischer Kunst<br />

<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong><br />

Die Spanne geometrisch-konstruktivistischer Kunst hat seit ihrer ersten Formulierung durch<br />

Malewitsch in der jüngeren Generation einen Grad an monumentalisierender Vergegenwärtigung ihrer<br />

eigenen Geschichte, <strong>als</strong> Teil der "Moderne" erfahren, die sich deutlich von den Anfängen - der<br />

radikalen Entleerung von narrativen Momenten - entfernt. Sie ist nach wie vor durch puristische<br />

Kargheit gekennzeichnet. Vom Traum einer kosmischen "neuen Ordnung" und einer abstrakten<br />

"Weltsprache" der Bilder ist die Aneignung von Reproduktionen <strong>als</strong> Vergangenem verfügbar<br />

geblieben, die der Simulation einer "zweiten Natur" gleichkommt.<br />

In dieser Reproduktion ist seit Kandinskys Besetzung der abstrakten geometrischen Kunst durch<br />

Kodierung mit emotional-physiognomischen Werten über einen inneren Dialog der Bilder mit ihrer<br />

eigenen Bildwirklichkeit, durch die Gestaltung von ausgewogenen Balancen oder auch ornamentalen<br />

Verdoppelungen bis hin zur Reihung, eine Symbolsprache ins Spiel gekommen, die durch René<br />

Magrittes perspektivische Vieldeutigkeiten die Ambivalenz von Bildfläche und Bildfigur verfügbar hielt.<br />

Durch die emotionale Besetzung, die das karge geometrische Kunstwerk mit Hilfe der durch den<br />

Behaviorismus studierten Erkennungsschemata (u.a.) mit vitaler semantischer Perspektive erneut<br />

füllte, wird aus dem Universalitätsanspruch der "Sprache" der Kunst, den die Konstruktivisten der<br />

ersten Generation in transzendenter Spekulation eher verbargen, ein allgegenwärtiges bildliches Spiel<br />

auch im Alltag, auch mit der n i c h t <strong>als</strong> Kunst produzierten zweiten "Natur". Die nachgerade<br />

"bilderfeindlichen" Qualitäten, die jeglichen Konstruktivismus prägten und immer noch zu prägen<br />

scheinen, können in ihrer Kunsthaltigkeit aus der Differenz zu dem erschlossen werden, was in der<br />

Rekonstruktion an theoretischen Vorgaben aufzuspüren ist. Diese Vorgaben inspirierten Malewitsch<br />

zu der minimalistischen Klarheit und Präzision von elementarer Kargheit, mit der er zu der<br />

wahrnehmungspsychologischen Substanz vordrang, die er in seinen Gemälden und Zeichnungen<br />

thematisierte.<br />

Zur Erhellung dieser Differenz haben wir folgenden Fragen nachzugehen:<br />

1. Was besagt die Rede vom "Elementaren" angesichts des Bildes - auch vor Malewitsch?<br />

2. In welchen Bereichen wurde mit visuellen "Elementarformen" experimentiert, bevor diese zu<br />

Kunstwerken "monumentalisiert" wurden?<br />

Wilhelm Busch kommentierte 1878 die allseits bekannten, meist unangenehmen Folgen des abrupten<br />

Kontaktes von kühler Nachtluft mit dem Alkoholspiegel eines Zechers, die dem undankbaren<br />

"Menschen namens Meier" nächtens auf dem Heimweg widerfuhren, nicht nur mit den Versen:<br />

"Weh, jetzt wird die Straße krumm,<br />

Und es drehn sich alle Pappels,<br />

Und auch Meiern dreht es um ..." 1


Er ließ Meiers subjektive Empfindungen optisch an der Außenwelt in der Zeichnung sichtbar werden:<br />

Die Landschaft macht er zum Ausdrucksträger jener subjektiven Empfindungen (Abb. 1, 2).<br />

Die zeichnerischen Mittel, mit denen Meiers Umgebung zu einem Bilde seiner rauschbedingten<br />

Wahrnehmung umgekehrt ist, wurde nach Wilhelm Buschs Erfindung zum Gemeingut der<br />

gezeichneten Bildergeschichten aller möglichen, nicht nur von Drogen bedingten<br />

Wahrnehmungssituationen: subjektive Wahrnehmung wurde dabei kaum noch <strong>als</strong> bildliches Protokoll<br />

unabhängiger materieller Existenz der Außenwelt vorgeführt, deren Postulat traditioneller Ästhetik<br />

zugrunde lag. Bilder dienten vielmehr der Protokollierung der Projektionen von Prozessen, die sich in<br />

der inneren Struktur des wahrnehmenden Subjektsa ereignen müssen. In der Darstellung dieser<br />

Innenwelt-Ansichten werden sie zu "Monumentalisierungen" gerade der subjektiven Täuschung, die<br />

seit Platons Zeiten <strong>als</strong> das Verwerfliche an bildender Kunst galten.<br />

Dieses "Verwerfliche" wird mit aller Deutlichkeit und Dramatik <strong>als</strong> Verformung der Außenwelt<br />

vorgeführt (Abb. 3).<br />

"[...] betrunken sei er;<br />

selber kam's ihm nicht so vor [...]"<br />

kommentierte Busch durch die eingangs nur knapp sichtbar werdende Gestalt des Wirts an der Tür<br />

des Gasthauses, der den Menschen namens Meier zur geschlagenen Stunde mit entschiedener<br />

Geste gegen dessen geringen Widerstand auf den Weg schickte (Abb. 4).<br />

"[...] Aber Täuschung ist es leider [...]" 2<br />

Mit diesem Satz macht Wilhelm Busch seinen Lesern klar, daß alles, was im begleitenden Bild aus<br />

der subjektiven Sicht des Betrunkenen erscheint, doch wohl nicht den Gesetzen der gewohnten Welt<br />

entspricht, sondern eben auf diesen Rauschzustand zurückzuführen sei. Im Bilde aber folgt er den<br />

Spuren der subjektiven Wahrnehmungstäuschung mit knappen, aber um so präzisierem Strich, dringt<br />

somit in die subjektive Sicht, gleichsam in das Bewußtsein des Menschen Meier ein und projeziert<br />

diese Sicht auf sein Zeichenpapier, das somit zum minutiösen Protokoll eines erheblichen<br />

Tatbestandes wurde.<br />

Den äußeren Erscheinungen der Dinge zu mißtrauen und zu einer malerischen Aussage über eine<br />

Einsicht in Verhältnisse von Erscheinung und Wahrnehmung zu kommen, gilt <strong>als</strong> Programm der<br />

Malerei des Impressionismus. Die fundamentale Einsicht besteht in der Feststellung, daß es keine<br />

farbigen Objekte gibt; erst der Betrachter stellt sich einen farbigen Eindruck von diesen Objekten aus<br />

dem unterschiedlich an der Oberfläche reflektierten Licht her, dank der Konstruktion seines ihm von<br />

der Natur mitgegebenen Wahrnehmungsapparates.<br />

Der Physiologe Helmholtz formulierte 1869 ohne Bezug auf die Malerei diese Einsicht<br />

folgendermaßen:


"Aller Anstoß - am Begriff der Eigenschaften - verschwindet, sobald man sich klarmacht, daß<br />

überhaupt jede Eigenschaft oder Qualität eines Dinges in Wirklichkeit nichts anderes ist, <strong>als</strong> die<br />

Fähigkeit desselben, auf andere Dinge gewisse Wirkungen auszuüben. Diese Wirkung [...] geschieht<br />

auf unsere Sinnesorgane und äußert sich dann durch Empfindungen, wie die, mit denen wir es hier zu<br />

tun haben. Eine solche Wirkung nennen wir Eigenschaften.<br />

Wenn aber, was wir Eigenschaften nennen, immer eine Beziehung zwischen zwei Dingen betrifft, so<br />

kann eine solche Wirkung natürlich nie allein von der Natur des einen Wirkenden abhängen, sondern<br />

sie besteht überhaupt nur in Beziehungen auf und hängt ab von der Natur eines Zweiten, auf welches<br />

gewirkt wird [...]." 3<br />

Besser hätte es in keinem Manifest der Pariser Künstler stehen können. Deren Absicht war es, die<br />

Wahrnehmungsleistung des Betrachters aktiv zur Entfaltung zu bringen. Und dieses Ziel erreichten<br />

sie mit ihrer spezifischen, die wechselnd farbige Oberfläche der Dinge zerlegenden Malweise. Damit<br />

trat das Problem der Farbpalette auf, die in einer bestimmbaren Relation zur Farbwahrnehmung zu<br />

stehen hatte und nicht zur Oberflächenbeschaffenheit der Dinge der Außenwelt. 4 Helmholtz wies auf<br />

das Faktum hin, daß die theoretische Spekulation der Impressionisten auf einer Hypothese beruhe,<br />

die Young bereits zu Beginn der Jahrhunderts aufgestellt hatte, die aber bis in die zweite<br />

Jahrhunderthälfte vergessen blieb: daß nämlich im menschlichen Auge drei unterschiedliche<br />

Rezeptorentypen für die Grundfarben Rot, Grün und Blau anzunehmen seien, deren körpereigenes<br />

Substrat jedoch beim Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufzuweisen war. Wir wissen heute,<br />

daß Youngs Hypothese ebenso wie die Spekulation und Malerei des Impressionisten für die<br />

experimentelle Praxis von Wissenschaft, Industrie und Kunst durchaus noch offene Fragen<br />

hinterlassen haben. 5<br />

Worin nun bestand das Gemeinsame der Entdeckung der Naturwissenschaften und der Künste jener<br />

Jahre um 1860/70?<br />

Um den Terminus von Helmholtz von den "Eigenschaften der Dinge" aufzugreifen, die <strong>als</strong><br />

unverbrüchliche an die Außenwelt gebunden gedacht wurden, waren in der bildenden Kunst der<br />

Anlaß des Malens, des Zeichnens, des Skulpierens. Man ahmte die Natur nach, um ihrer<br />

Gesetzmäßigkeit inne zu werden: so jedenfalls ist diese kunsttheoretische Forderung zu verstehen<br />

gewesen. Unter dieser "Natur" war die Natura naturata - <strong>als</strong>o jene von Gott <strong>als</strong> stabiles Gebilde<br />

geschaffene äußere Welt - zu verstehen, die den Menschen umgibt und die er mit seinen Sinnen zu<br />

erkunden und zu enträtseln vermochte, um den ihr innewohnenden Wahrheiten nahezukommen. 6<br />

Und das galt für Kunst und Wissenschaft <strong>als</strong> gemeinsame Aufgabe.<br />

War es das von Platon ausgesprochene Mißtrauen gegenüber der Zuverlässigkeit der Sinnne, die ihn<br />

zur Ablehnung der Kunst <strong>als</strong> adäquatem Erkenntnisinstrument führte, so war es die Beschäftigung mit<br />

den Erkenntnismöglichkeiten des Menschen und die unausweichliche Abhängigkeit jeder<br />

menschlichen Erkenntnis von den Sinnen, die die experimentelle Neugier der Naturwissenschaftler


immer wieder den Menschen und seine Sinneswerkzeuge zum Gegenstand des Fragens werden ließ.<br />

Ich will diesen Aspekt nur mit dem Hinweis auf ein vielzitiertes graphisches Blatt von William Hogarth<br />

andeuten: der Satire auf Kirby's Perspektive (um 1754) 7 . In diesem Blatt weist Hogarth durch<br />

Umkehrung eines wesentlichen Konstruktionselements der Zentralperspektive auf die Möglichkeiten<br />

zur Täuschung hin. Er zeigt, daß die Erkenntnismöglichkeit des Menschen entscheidenden<br />

Beschränkungen unterliegt. Das aber heißt nicht, daß Hogarth schon weitergehende Aspekte<br />

bedenken konnte, auf die erst Helmholtz aufmerksam machte: nämlich auf die Beziehung von zwei<br />

Dingen, und zwar genauer auf die Abhängigkeit der Wirkung des einen auf das andere.<br />

Hier nun sehe ich die entscheidenden Schritte, die in der Kunst des späten 19.Jahrhunderts vollzogen<br />

wurden: Nachahmung der Natur <strong>als</strong> "natura naturata" wird zum Umgang mit einer Natur <strong>als</strong> "natura<br />

naturans", jener Natur, die nicht fertig und vollständig vorfindlich ist, sondern die nach ihr<br />

innewohnenden Gesetzen ständig erst Erscheinungen erzeugt.<br />

Das aktive Glied in dieser Kette ist nun ab der Mensch selbst. Mit der Besinnung auf dessen äußere<br />

Natur hatte Alberti in der Kunsttheorie - <strong>als</strong> Proportionslehre oder Physiognomik - diese äußere<br />

Beschaffenheit des Menschen <strong>als</strong> Spiegelung auch des inneren Wesens verstanden. 8 Die gleiche<br />

Besinnung auf die äußere Natur ist demgegenüber aber auch die Ursache dafür, daß die<br />

naturwissenschaftlichen, z.B. optischen Gesetze, <strong>als</strong> Formulierungen externer Ereignisse<br />

(Umkehrung des Sehstrahls) in der Welt objektiv gegebener Gesetzmäßigkeiten aufgefaßt wurden.<br />

Der Reiz eines Blattes wie das von Hogarth bestand darin, die hohe Kunst - seine "ars", seine<br />

"Kunstfertigkeit" - auszuweisen: daß er nämlich mit seinen Mitteln etwas erzeugen kann, das die<br />

Natur übertrifft, weil durch sie selber nicht herstellbar, somit Dokument einer phantastischen Leistung<br />

menschlicher Einbildungskraft ist. So konnte die Überlegenheit des menschlichen Geistes bildlich von<br />

ihm demonstriert werden.<br />

Zwar verstand sich die experimentelle Physiologie der Optik in ihrem akademisch dominierten Teil<br />

zunehmend <strong>als</strong> Fortsetzung der Ästhetik seit Baumgarten und Hegel. Da sie sich aber mit<br />

Phänomenen der optisch sinnlichen Wahrnehmung befaßte, und sie theoretisch zu ergründen<br />

versuchte, ist sie entgegen ihrer eigenen Einschätzung zugleich <strong>als</strong> Fortsetzung bestimmter Teile der<br />

älteren Kunsttheorie anzusehen.<br />

Die älteren Erkenntnisse der Optik, wie Perspektive, gehörten weiterhin zur Grundlage der<br />

theoretischen Ausbildung eines jeden Künstlers. 9 Gerade aber die Sprengung des akademischen<br />

Kanons am Ende des 19.Jahrhunderts - etwa bei Cézanne 10 durch den Verzicht auf die<br />

Linearperspektive <strong>als</strong> bildkonstituierendem Moment - läßt uns zu Recht vermuten, daß die Künstler<br />

sich anderer Inspirationsquellen bedienen mußten, um das fortzusetzen, was die Impressionisten <strong>als</strong><br />

erste systematisch angegangen waren: nämlich die innere "Natur" des Menschen zu ergründen.<br />

Ein extremes Beispiel zu Beginn der abstrakten Kunst ist Malewitschs Schwarzes Quadrat von 1915 11


(Abb. 5, 6). Es hing zum ersten Mal in der Ausstellung 0-10, in der sich Künstler unter der Führung<br />

von Malewitsch mit der von ihm sogenannten Suprematistischen Malerei der St.<strong>Peter</strong>sburger<br />

Öffentlichkeit vorstellten. Die Reaktionen waren voller Hohn und Spott, doch sollen uns hier<br />

zeitgeschichtliche Umstände der Ausstellung nicht weiter interessieren, sie sind auch nur zu Teilen<br />

erst in der Literatur erschlossen und bedürfen wohl noch einiger genauerer Recherchen. (siehe<br />

Daniels, Duchamp).<br />

Bei Malewitschs Gemälde handelt es sich um die Darstellung eines geometrisch nicht ganz exakten<br />

Quadrats, allseitig auf der Leinwand von einem weißen Randstreifen umgeben. So wie hier abgildet<br />

wurde es ohne Rahmung auf der Ausstellung präsentiert.<br />

Die Tatsache, daß es sich bei diesem Viereck um ein Quadrat handelt, muß jeden ikonographisch<br />

Interessierten verlocken, der weit zurückreichenden Spur zu folgen, die diese elementare Form an<br />

Bedeutungsschichten hinterlassen hat. Diese Spur läßt sich hier nur in wenigen bildhaften Stadien<br />

aufzeigen. Mit ihr ist zudem nur eine allgemeine Bedeutungsdimension, die für das Verständnis des<br />

Gemäldes relevant sein könnte, zu erschließen, der eine besondere vom Beginn des Jahrhunderts<br />

zur Seite zu stellen oder mit der anderen zu konfrontieren sein wird. Aus der Differenz oder der<br />

möglichen Ähnlichkeit dieser Bedeutungsaspekte ergibt sich der hier vorgetragene Deutungsansatz.<br />

Seit Platons Kosmogonie im Timaios sind geometrischen Elementarformen - allen voran dem Dreieck,<br />

dem Kreis und den daraus abgeleiteten einfachen Gestalten wie dem Quadrat und den daraus<br />

gebildeten Körpern - gewichtige Funktionen zugeordnet worden 12 . So heißt es im 53. Kapitel:<br />

"Dam<strong>als</strong> [vor Entstehung des Alls] ermangelten die Dinge noch jeder Ordnung und der Maße. Als<br />

aber das ordnungsstiftende Werk im Universum begann, so verlieh Gott zuerst dem Feuer und<br />

Wasser und der Erde und der Luft ihre bestimmte Formen nach Zahl und Gestalt, die bisher schon<br />

gewisse Spuren ihrer eigenen Natur aufwiesen, aber sich doch zu zerstreut fanden, wie es eben<br />

jegliches Ding ohne die Anwesenheit eines Geistes ist. Und weil dies zu jener Zeit ihr natürlicher<br />

Zustand war, begann Gott sie zu trennen und zu formen nach Gestalt und Zahl [...] Zuvorderst ist wohl<br />

jedem einsichtig, daß Feuer und Wasser und Luft feste Körper sind; und die Form eines Körpers<br />

besitzt auf jeden Fall auch Tiefe. Weiterhin ist es unabdingbar notwendig, daß Tiefe wieder eine glatte<br />

Oberfläche voraussetzt; und eine gradlinig begrenzte Oberfläche ist aus Dreiecken zusammengesetzt<br />

[...] Und nach Erzeugung dieser Körper hat das eine der beiden Dreiecke seine Dienste getan, das<br />

gleichschenklige aber ließ die Natur des vierten entstehen, indem es, zu vieren sich vereinigend und<br />

die rechten Winkel im Mittelpunkt zusammenführend, ein gleichseitiges Viereck bildete; sechs<br />

dergleichen verbanden sich zu acht körperlichen Winkeln, deren jede drei rechtwinklige Ebenen<br />

einschlossen. Die Gestalt des so entstandenen Körpers ist die des Würfels, der sechs gleichseitige,<br />

viereckige Grundflächen hat [...] [55 b] [...] Der Erde wollen wir die Würfelgestalt zuweisen, denn die<br />

Erde ist von den vier Gattungen die unbeweglichste und unter den Körpern die bildsamste [...]" [55 e]


Diese so weiter entwickelten regelmäßigen geometrischen Elementarformen sind die<br />

Struktureinheiten des Kosmos schlechthin, demnach jedem überhaupt existierenden Gebilde<br />

zugrundezulegen.<br />

Kepler noch nutzte die platonischen Elementarformen für sein Modell der Planetenabstände, das er<br />

1619 in seinem Werk Harmonices mundi veröffentlichte 13 .<br />

"Forma quadrata mundi" findet sich in einer Aratos-Handschrift aus Salzburg (818 n. Chr.), in der die<br />

Erdteile dem Quadrat eingeschrieben sind. In der sechsten Vision der Hildegard von Bingen wird das<br />

himmlische Jerusalem in der Tradition der Oppidum-Abbreviatur in quadratischer Form vorgeführt, so<br />

wie sich dann die Ebstorfer Weltkarte von 1235 dieses karthographischen Kürzels <strong>als</strong> Bildzeichen<br />

bediente. In der gebauten Architektur gilt die Verbindung von Quadrat und Kreis, <strong>als</strong>o in der<br />

räumlichen Komposition die Kuppel über dem Geviert, <strong>als</strong> Bild von Diesseits und Jenseits, von Erde<br />

und Kosmos, gerade auch ob ihrer ausgezeichneten Maße.<br />

Scheint bei Villard de Honnecourt (um 1325) das Quadrat, das den Kopf einschließt, diesem nur sein<br />

Maß zu geben, so wird durch die Vitruv-Illustration und ihre astrologische Auslegung bei Agrippa von<br />

Nettesheim (1533) (Abb. 7) und Robert Fludd in Utriusque Cosmi Maiores et Minores Historia (1617)<br />

das Quadrat zum Abbild des Makrokosmos, dem der Mikrokosmos in seinem korrespondierenden<br />

Maßen einschreibbar ist, wie es Leonardo bereits 1482 und Cesare Cesariano 1521 in seiner Vitruv-<br />

Ausgabe gezeigt hatten 14 .<br />

Abb. 7: Agrippa von Nettesheim, Homo bene quadratus nach Vitruv, 1533<br />

Jeder Zeichenlehre noch der folgenden Jahrhunderte diente in der Regel <strong>als</strong> erstes Blatt eine<br />

Darstellung jener geometrischen Elementarformen, aus denen sich die sichtbaren Dinge der Welt<br />

herstellen ließen: gleichsam <strong>als</strong> platonischer Schöpfungsakt in didaktisierter Auffassung. Dabei sind<br />

für den Zeichner und Maler zuallererst die Flächen und erst dann die daraus entwickelten Körper von<br />

Bedeutung, denn gerade die projektive Überführung des einen in das andere sollte er beherrschen<br />

lernen: so in Preisslers Zeichenbuch (Abb. 8), dem wichtigsten akademischen Lehrbuch von<br />

europäischer Wirkung. 15<br />

Abb. 8: Johann Daniel Preissler, Die durch Theorie..., Taf. 1, 1721<br />

Das Bild selbst <strong>als</strong> bildliche Abbreviatur von Welt nun sprach Dürer mit seiner Metapher vom Fenster<br />

zur Erläuterung der Konstruktion perspektivischer Ansichten an. Diese Vorstellung wirkte bis in Carus'<br />

Briefe über die Landschaftsmalerei fort, die <strong>als</strong> kongeniale Interpretation romantischer<br />

Landschaftsmalerei gelten, wobei "der Blick aus dem [rechteckigen] Fenster" ein nicht rares Thema<br />

seit dieser Phase der Malerei vom Beginn des 19.Jahrhunderts an wurde 16 . Aus dieser Perspektive<br />

nun betrachten wir Malewitschs Entwurf einer dunklen, gestaltlosen Welt, denn es ist eine völlig<br />

schwarze.<br />

Dieser schwarzen, gestaltlosen Welt in quadratischer Form ließ bereits 1839 der Zeichner CHAM (d. i.<br />

Amédée de Noë) seinen Monsieur Jobard wider Willen begegnen, nachdem dieser sich eine


Daguerreotypie-Ausrüstung verschafft hatte (Abb. 9) 17 . Als Abbildung gelesen, verweist sie voraus auf<br />

das in der folgenden Szene wiedergegebene, ob der Widerwärtigkeit der Natur gegenüber der<br />

bildtechnischen Neuerung mißratene Produkt des Monsieur Jobard. Als Bild in der Darstellungsfolge<br />

der Bildergeschichte hier jedoch gelesen ist der Blick in die Dunkelkammer schon ob des Formats <strong>als</strong><br />

monumentalisierte, einer sich der traditionellen Abbildbarkeit verweigernde, anders nicht artikulierbare<br />

Ansicht von Welt schlechthin zu deuten: das Foto-Labor <strong>als</strong> der Ort potentieller Weltabbildung.<br />

Doch angesichts dieser Schwärze hilft uns noch einmal Platons Schöpfungsgeschichte entscheidend<br />

weiter. 18 Im Timaios kommt Platon nach der oben zitierten Passage auf die Farben und ihr Verhältnis<br />

zu den Elementen zu sprechen: Demnach ist Schwarz die Farbe der reinsten und sogleich der<br />

solidesten Formen des Elements Erde, nämlich die des Gesteins "[...] von schwarzer Farbe [...]"(59<br />

d). Weiterhin tritt das Schwarz bereits in der antiken Farbtheorie und -symbolik in einen polaren<br />

Gegensatz zu Weiß, dessen Symbolik des Lichts, des Geistes, der Ration und Ordnung göttlicher<br />

Natur entsperingt. Demzufolge wurde Schwarz mit dem oppositionellen Symbolbereich von Materie,<br />

Sünde, Abwesenheit von Licht und Ordnung identifiziert. 19 Damit wäre aus diser Perspektive auch das<br />

Gemälde von Malewitsch <strong>als</strong> Elementarform zu deuten, denkbar <strong>als</strong> Summe aller Kosmosabbilder in<br />

der Sprache des Bildes: pars pro toto, aber <strong>als</strong> eine wohlgeordnete, weil geometrische<br />

Elementarform. Doch sie wäre auf der anderen Seite <strong>als</strong> nicht geistdurchdrungenes, sondern <strong>als</strong><br />

undurchsichtiges Bild der Welt zu untersuchen, das vielfältig gebrochen traditionelle<br />

Weltbildmetaphern in sich vereint, und dies <strong>als</strong> virtuelle Basis der Sehpyramide (Abb. 10). 20<br />

Abb. 10: Charles Wheatstone, Figurenpaare, die unter dem Stereoskop betrachtet, räumlich<br />

erscheinen, 1838, Fig. 15<br />

Machen wir nun die Probe aufs Exempel. Die Forschung der letzten Jahre hat sich wiederholt zur<br />

Entstehungsgeschichte von Malewitschs Schwarzem Quadrat geäußert, um aus verschiedenen<br />

Perspektiven die Inspirationsquellen aufzudecken, die Malewitsch zu der Konzeption dieses<br />

Gemäldes angeregt haben könnten. Dabei sind zwei sich befehdende Lager entstanden, deren eines<br />

vor allem durch die Publikationen von Susan P. Compton 21 repräsentiert wird. Ihre Hauptquelle ist der<br />

Schriftsteller P. Uspenskij, in dessen Tertium Organum - erschienen 1909 in St. <strong>Peter</strong>sburg und in<br />

zweiter Auflage 1912 - eine Abhandlung über die "vierte Dimension" steht. Uspenskij zitiert seinerseits<br />

ein Diagramm nach C. Howard Hintons The Fourth Dimension 22 : es ist ein von oben gesehener<br />

Pyramidenstumpf, den wir sogleich <strong>als</strong> das von Ernst Mach verwandte Vexierbild erkennen. Auf<br />

diesen Aspekt aber gehen Compton und auch die Vertreter der anderen Position nicht ein. Compton<br />

spürt der Verwendung eines Diagramms in Kompositionen Malewitschs nach. Ihr zufolge entdeckte<br />

Malewitsch eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesem Diagramm und Picassos Stilleben der<br />

Shchuckin-Sammlung (Moskau), und sie schloß daraus, daß auch in Moskauer Literatenkreisen das<br />

Problem der vierten Dimension vielfältig diskutiert wurde. 23 Sie belegt mit einem Zitat Krutschenskijs<br />

nach Uspenskij die literarische Qualität dieser Diskussionen:<br />

"Im gegenwärtigen Augenblick kennen wir 3 Einheiten psychischen Lebens: Sensation, Perzeption<br />

und Konzeption (vermittels Ideen), und eine 4. Dimension beginnt sich zu formen [...]";


daran fügte er in Großbuchstaben hinzu:<br />

"In der Kunst verkünden wir DAS WORT IST UMFANGREICHER ALS DIE BEDEUTUNG". 24<br />

Das Wort wurde demnach <strong>als</strong> von einsinniger Bedeutung lösbar betrachtet. Es handelt sich <strong>als</strong>o um<br />

ein linguistisches Problem, das nicht nur in Moskau diskutiert wurde, sondern ein zentrales Problem<br />

der Sprachwissenschaften der Jahrhundertwende weltweit gewesen ist, Ausgangspunkt aller<br />

sprachwissenschaftlichen Theoriebildung und Diskussionen seitdem. Offen bleibt an dieser Stelle<br />

indes in Comptons Darlegung, wieweit die bildende Kunst gerade an dieser Problemformulierung<br />

teilnahm. Oder mit anderen Worten: Ist in der Kunst der Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte<br />

des 20.Jahrhunderts, deren Chronologie wir noch immer <strong>als</strong> eine Abfolge von -ismen dargestellt<br />

sehen, <strong>als</strong>o sich von einander absetzender M<strong>als</strong>tile - die zu Wölfflins und Worringers Theoremen<br />

geführt haben -, insofern noch ein Problem einer weiteren Bildsemantik jenseits der Ikonographie<br />

formuliert worden, <strong>als</strong> - wollte man die Formulierung Krutschenskijs paraphrasieren - DAS BILD<br />

UMFANGREICHER IST ALS SEINE BEDEUTUNG?<br />

Kehren wir zur Argumentation Susan P. Comptons zurück: Malewitsch verwandte das Hinton-<br />

Uspenskij-Diagramm für die Umschlagillustration des Librettos der von ihm, Matjuschin und<br />

Krutschenskij komponierten und inszenierten Oper "Sieg über die Sonne", die sie in Finnland im März<br />

1913 auf einem von ihnen veranstalteten Futuristen-Kongreß verfaßten. Matjuschin komponierte die<br />

Musik auf der Basis einer Zwölftonskala. Von Krutschenskij stammten die daidaistisch anmutenden<br />

Texte und von Malewitsch die Illustrationen, die Entwürfe der Kostüme und Bühnenbilder. 25<br />

Lifschits Beschreibung dieser Aufführung, 1933 veröffentlicht, vor allem die darin enthaltenen<br />

Passagen über den optischen Eindruck, den die Lichtinszenierung mit den bis dahin unbekannten<br />

Spotlichteffekten und die Wirkungen, die die Farbkompositionen Malewitschs zwischen Bühnenraum<br />

und Akteuren erzeugten, stellen nach Compton den Zusammenhang zwischen dem Stück und dem<br />

her, was Uspenskij <strong>als</strong> das "kosmische Bewußtsein", <strong>als</strong> "die höhere Intuition" beschrieb, <strong>als</strong> einen<br />

Zustand nämlich, in dem die dritte Dimension, wie wir sie rational erfahren, <strong>als</strong> etwas Unvollständiges<br />

erkannt wurde. Durch das "kosmische Bewußtsein" verstehe man die vierte Dimension des Raumes,<br />

erlange ein neues Zeitverständnis und eine Empfindung für die Unendlichkeit. Das, was uns wie eine<br />

klassische Beschreibung halluzinatorischer Zustände unter Drogeneinfluß anmuten mag, entspricht<br />

indes sehr wohl der Beschreibung der Farb-Licht-Effekte durch Lifschits:<br />

"Körper zerbrachen unter den Lichtbündeln, sie verloren abwechselnd Arme, Beine, Köpfe, da<br />

Malevitsch sie nur <strong>als</strong> geometrische Körper anglegt hatte, die nicht nur dazu dienten, in Elemente<br />

zerlegt zu werden, sondern auch zur vollständigen Zerstörung/Auflösung im malerischen Raum<br />

führten!" 26<br />

Erreicht wurde dieser Effekt, indem vor farbigem Hintergrund jeweils entsprechend monochrom<br />

gefärbte Körperteile durch das farbige Licht zeitweilig unsichtbar gemacht werden konnten.


Wovon hier die Rede ist, haben wir nunmehr unter einem gemeineren Begriff zu subsummieren, <strong>als</strong><br />

es Uspenskij unternahm: "optische Täuschung" ist dieser Begriff der Wahrnehmungspsychologie für<br />

die Erscheinungen, die hier beschrieben werden.<br />

Wir haben uns jedoch zu fragen, ob wir uns auf der Ebene der Diskussion von Bildinhalten auf diesen<br />

Terminus und seine Implikationen beschränken können: wäre doch dann jedes Bild beliebigen Inhalts<br />

eine optische Täuschung und damit für die Wissenschaft <strong>als</strong> nicht problemerföffnend erledigt und<br />

nicht weiter diskussionswürdig. Offen bliebe dann allerdings die Frage, wer hier über was getäuscht<br />

wird und ob es nicht eine Perspektive gibt, aus der die vorgebliche Täuschung gerade Einsichten in<br />

einen bestimmten Problemkreis eröffnet. Dies aber, inwiefern die optische Täuschung der<br />

Wahrnehmungspsychologie nachgerade die Basis für die "umfangreichere Bedeutung des Bildes"<br />

abgibt, steht nun hier zur Diskusssion. (Kritik an der Motivation Platons u.ff. für den Vorrang des<br />

Wortes bei der Wahrheitsfindung im optischen Indizienprozess).<br />

Rainer Crone 27 bestreitet die Rolle, die der Einfluß des "Tertium Ornaum" Uspenskijs gehabt haben<br />

soll, und kann sich dabei auf die Zeugenschaft von Roman Jacobsen berufen. Crone untersuchte die<br />

literarischen Arbeiten von Schlovskij (Die Auferstehung des Wortes, 1913), die <strong>als</strong> Einleitung des<br />

russischen Formalismus verstanden wurde. Aber er geht weiter auf die Arbeiten Chlebnikovs ein,<br />

einem Landsmann von Malewitsch. 28 Die Bedeutung dieser Arbeiten beruhe nicht auf der Erarbeitung<br />

des "autonomen Wortes <strong>als</strong> solchem", was in der sogenannten "Zaum-Sprache" geleistet wurde,<br />

sondern auf dem Vergleich mit analogen Entwicklungen auf dem Felde der Mathematik, der<br />

Geometrie und Arithmetik: Chlebnikov hoffte auf eine "Welt-Allsprache", eine "Univers<strong>als</strong>prache", in<br />

der die Zahl <strong>als</strong> semantische Einheit fungiere. Dazu müsse die gesamte Fülle der Sprachen in<br />

Einheiten der "Wahrheit des Alphabets" zerlegt werden; dann könne für die "Klangsachlichkeit" so<br />

etwas aufgebaut werden wie das Mendelsche Gesetz - "der letzte Gipfel des chemischen Denkens".<br />

"Sprache würde dann zum Spiel auf dem von uns erklärten Alphabet - zur neuen Kunst, an deren<br />

Stelle wir stehen [...]" 29 .<br />

Mathematisches Denken, das auf nicht-euklidischer Geometrie beruht, wurde durch den immer<br />

wieder zitierten ukrainischen Mathematiker Lobatschewskij (1793-1856) vermittelt, dessen Einsichten<br />

gegen Ende des Jahrhunderts wiederentdeckt und popularisiert wurden. In seinem Buch Neue<br />

Prinzipien der Geometrie (1835), das 1897 von Georg B. H<strong>als</strong>tadt ins Englische übertragen wurde,<br />

erwies er sich <strong>als</strong> Anhänger des Baconschen Sensualismus und <strong>als</strong> strikter Gegner der Kantschen<br />

Auffassung, daß Raum und Zeit reine Kategorien seien, unabhängig und vor jeder Erfahrung liegend.<br />

Alexander Vasiljew, der Vermittler Lobatschewskijs, betonte die Relativität auch der Erfahrung von<br />

Raum und Zeit. Er machte die Schriften Henri Poincarés in Rußland bekannt. Poincarés Diskussion<br />

des Problems der vierten Dimension, die er in dem Buch Wissenschaft und Hypothese behandelte,<br />

erschien 1904 in russischer Übersetzung. Darauf nun bezog sich Chlebnikov in seinem metaphorisch-<br />

spekulativ formulierten Gedanken über die Sprache.<br />

Aufschlußreich für die Wirkung derartiger Überlegungen und Formulierungen auf den Kreis um


Malewitsch sind die Ausführungen von El Lissitzky, die dieser 1925 niederschrieb und <strong>als</strong> Aufsatz<br />

veröffentlichte.<br />

"Der starre euklidische Raum wurde durch Lobatschewki, Gauss, Riemann zerstört. Den ererbten<br />

perspektivischen Raum haben die Impressionisten <strong>als</strong> erste zu sprengen angefangen.<br />

Entscheidender war das kubistische Verfahren. Sie haben den raumabschließenden Horizont in den<br />

Vordergrund gezogen und ihn mit der Malfläche identifiziert. Sie haben diese feste Fläche durch<br />

psychische Merkmale (tapetenbeklebte Wand etc.) und mit elementaren Formdestruktionen<br />

ausgebaut. Sie haben von der Bildfläche aus nach vorne in den Raum gebaut. Die letzten<br />

Konsequenzen sind: die Reliefs von Picasso und Konterreliefs von Tatlin. [...] Die Aufstellung des │_│<br />

durch K. Malewitsch (<strong>Peter</strong>sburg 1913) war die erste Manifestation der Erweiterung in den<br />

"Zahlkörper" der K[unst] [...] Unser Zahlensystem, welches Positionssystem heißt, verwendet schon<br />

lange die 0, aber erst im 16.Jahrhundert wird zuerst die 0 nicht <strong>als</strong> Nichts, sondern <strong>als</strong> Zahl betrachtet<br />

(Cardano, Tartaglia), <strong>als</strong> Zahlenwirklichkeit. Nur jetzt im 20.Jahrhundert wird das <strong>als</strong> plastischer Wert,<br />

<strong>als</strong> 0 in dem Komplexkörper der K[unst] anerkannt. Dieses vollfarbige ganz kontinuierliche mit Farbe<br />

ausgestampfte │_│ in einer weißen Fläche, hat nun angefangen, einen neuen Raum zu bilden." 30<br />

In diesem Text werden unter Anspielung auf die Metapher von der vierten Dimension eben jene<br />

wahrnehmungspsychologisch wirksamen Methoden und Mittel der bildenden Künstler sehr genau<br />

beannt, die in der Tat mit den Entwürfen und Gemälden Malewitschs zur Diskussion gestellt wurden.<br />

Daß El Lissitzkij eingangs seines Artikels den traditionellen Kunstbegriff und traditionelles<br />

Kunstverständnis angreift, gehört schon seit Kandinskys Über das Geistige in der Kunst von 1912 zu<br />

den Topoi derartiger Künstlerschriften. Die Machbarkeit aber neuer Konstruktionsmöglichkeiten<br />

bildkünstlerischer Illusionen verbindet diesen Text mit den Formulierungen, wie wir sie bei Helmholtz<br />

fanden und wie sie Lobatschewskij formuliert hatte:<br />

"Wir stellen unmittelbar in der Natur nur Bewegung fest, ohne die alle Eindrücke, die unsere Sinne<br />

empfangen, unmöglich bleiben [...] Alle unsere Vorstellungen, z.B. geometrische eingeschlossen, von<br />

den Eigenschaften der Bewegung sind künstliche Produkte unseres Verstandes. Und in aller<br />

Konsequenz existiert für uns Raum, abgelöst, nur für sich nicht [...] Oberflächen, Linien, Punkte, wie<br />

sie in der Geometrie definiert werden, existieren nur in unserer Vorstellung [...]" 31<br />

In Anlehnung an ältere Darstellungen, etwa diejenigen der Gallschen Gehirntopographie, entwarf<br />

W.F.A.Zimmermann 1863 ein populäres Bild von der Welt im Kopf (Abb. 11), dem das von Ernst Mach<br />

aus dem Jahre 1870 mit dem Blick aus dem linken Auge zur Seite zu stellen ist (Abb. 12), um die<br />

Bemühungen deutlich werden zu lassen, die sich allenthalben bemerkbar machten, um auch bildlich<br />

die Wendung in die Subjektivität zu bewältigen.<br />

Susan P. Compton hatte die sprachwissenschaftlichen Experimente zitiert, die Spekulationene über<br />

die vierte Dimension auf den Einfluß Uspenskijs zurückgeführt und die bildliche Realisierung durch<br />

Malewitsch an der Oper Sieg über die Sonne von 1913 und an den in ihr wirksamen momentanen


Ereignissen der Farben-Licht-Dramaturgie exemplifiziert. Crone dahingegen hatte mit guten<br />

Argumenten und Belegen gerade Uspenskijs Einfluß für nichtig erklärt und die Sprachexperimente<br />

Chlebnikows und die geometrietheoretischen Überlegungen und Vermittlungen Alexander Vasiljews<br />

herausgearbeitet. Es bleibt verwunderlich, daß den streitenden Parteien bei allem Fleiß der<br />

historischen Rekonstruktion ein naheliegendes Faktum zwischen den Zeilen verloren gegangen ist:<br />

das Bild!<br />

Von Maurice Denis stammt der triviale, aber schöne Satz:<br />

"Ein Bild ist, bevor es ein Schlachtroß, einen Frauenakt oder irgendeine Fabeln darstellt, im Grunde<br />

zuerst einmal eine ebene Fläche, die mit Farben bedeckt ist, die eine gewisse Anordnung aufweisen<br />

[...]" 32<br />

Das fundamentale Problem, das sich einem Maler stellt, ist <strong>als</strong>o die optische Illusion und ihre<br />

Inszenierung auf der Leinwand. 33<br />

Diese ist zumeist ein Rechteck und besitzt für uns jene optische Dimension, die wir in jeder mehr oder<br />

weniger rechteckig begrenzten einfarbigen Fläche realisieren können: den potentiellen<br />

illusionistischen Tiefenraum, ein Faktum, das historisch zu den frühesten Errungenschaften der<br />

Bildbearbeitung der Menschheit gehört. Die weitere Ausarbeitung bis zum winkel- oder<br />

zentralperspektivisch konstruierten Tiefenraum gehört jüngeren Phasen der Kulturgeschichte an. Mit<br />

Cézannes Darstellungen aus den 80er und 90er Jahren, der Serie vom Mont Sainte-Victoire, in denen<br />

er der "wissenschaftlichen Perspektive" ihr Ende bereitete, stellt sich erneut die Frage, ob<br />

bildnerische Schöpfung <strong>als</strong> Nachvollzug der Schöpfungsgeschichte, Imitation der Natur und<br />

Entdeckung der der Natur zugrunde liegenden Regeln und Maße immer nur und ausschließlich auf<br />

die dem Menschen äußere Natur bezogen sein müssen und könne. Diese Frage stellte sich nun<br />

allerdings nicht erst am Anfang des 20.Jahrhunderts. Sie hat ihrerseits eine ähnliche Vorgeschichte,<br />

wie die Sprachtheorie und die Spekulation über die Sprachursprünge, deren erster neuzeitlicher<br />

Höhepunkt am Ende der Aufklärung unter den Vorzeichen der Naturrechtsphilosophie stand. 34 Es sei<br />

nur an die hochgradig abstrakten Schemata bildlicher Illustrationen zu Farbtheorien - etwa bei Runge<br />

oder Chevreuil - erinnert. 35<br />

Wahrnehmungstheorie kann <strong>als</strong> Domäne der Kunsttheorie gelten, besonders jener<br />

produktionstheoretisch orientierten vor dem Entstehen einer Rezeptionstheorie, die in England im<br />

18.Jahrhundert entstanden war. In ihr wurde die subjektive Empfindung des Betrachters in den<br />

Vordergrund gestellt und <strong>als</strong> Ausgangspunkt der Überlegungen bearbeitet. Seitdem dominiert dieser<br />

Aspekt die Theorie bis weit über die Romantik hinaus. Sie verdrängte zeitweilig in ihrer akademischen<br />

Reputation die primären Probleme der künstlerischen Praxis, die der Künstlerausbildung und<br />

beherrschte das weite Feld des akademischen Unterrichts, der auf den verschiedenen Ebenen der<br />

Unterrichtsinstitutionen geleistet wurde. Erstaunlicherweise ist die Geschichte dieses Unterrichts und<br />

der dabei verwendeten Mittel nur in geringem Grade untersucht, vor allem was das 19. und<br />

beginnende 20.Jahrhundert anbetrifft. Es gab eine Vielzahl von Lehrbüchern und Zeichenvorlagen,<br />

die in immer gleichen Varianten das bereits seit dem 16. und 17.Jahrhundert (den beiden wichtigen<br />

Jahrhunderten der Akademiegründungen) Erreichte wiederholen. In diese akademischen Lehrmittel<br />

scheinen keine neuen Erkenntnisse Eingang gefunden zu haben, weder aus der Geometrie, der


Mathematik, der Sprachtheorie, noch aus der damit zusammenhängenden Bedeutungstheorie, ja<br />

nicht einmal aus der Farbtheorie. Jedenfalls haben sich Kunsthistoriker kaum um diese Materie<br />

bemüht: Anthologien existieren, bibliographische Verzeichnisse liegen seit einiger Zeit vor und<br />

neuerdings von Wolfgang Kemp eine Geschichte, die auf die pädagogisch-didaktischen Aspekte<br />

dieses Problems genauer und systematisch eingeht. 36<br />

Nun hatte sich andererseits im 19.Jahrhundert eine andere Wissenschaft etabliert, die sich dieser<br />

Probleme annahm, die zuvor die Domäne der produktionsorientierten Kunstliteratur gewesen waren:<br />

die neuere Optiktheorie der menschlichen Wahrnehmung oder genauer: die Lehre von der<br />

Physiologie der Wahrnehmung. 37 Hier finden wir in der Tat alle jene Probleme wieder, die der<br />

kunsttheoretischen Tradition entstammen, das allerdings mit wesentlichen Unterschieden in den<br />

Prämissen:<br />

1. das Bild wird <strong>als</strong> bereits vorhanden angesetzt;<br />

2. das vorhandene Bild hat einen bereits definierten Inhalt.<br />

Eine besondere Gattung innerhalb der in diesen Theorien diskutierten Probleme stellte die "optische<br />

Täuschung" dar. An ihr wurden die verschiedenen Erklärungsversuche erläutert, die helfen sollten,<br />

sowohl den lichtmechanischen <strong>als</strong> auch den neurophysiologischen Teil der optischen Wahrnehmung<br />

zu ergründen. Beide Erklärungsobjekte finden sich hier nicht im Bilde und seiner Struktur, wie es der<br />

gleichzeitig entstehenden Kunstwissenschaft entsprach, sondern ganz im Gegenteil: Es sind<br />

Prozesse, die sich im vorerst unerreichbaren Inneren des Probanden, <strong>als</strong>o im Bewußtsein<br />

produzierenden Organismus vollziehen. Sie sind Teil jenes Streites, der darum ging, ob die Anlagen<br />

angeboren und unveränderlich oder aber durch kulturelle Einwirkungen modifizierbar seien. Die<br />

Vertreter beider Positionen waren dabei sicher, auf die Spuren der "inneren Natur" des Menschen zu<br />

stoßen, und damit zugleich, da sie diese <strong>als</strong> Spiegel der äußeren Natur auffaßten, auch<br />

entscheidende Bedingungen unserer Erkenntnismöglichkeiten über die äußere Natur, die Welt<br />

schlechthin zu finden hofften. Diese "täuschenden" Figuren, kleinformatig und unscheinbar,<br />

begleiteten die Geschichte der Wahrnehmungstheorie im 19. Jahrhundert. Nimmt man sie einmal wie<br />

Gemälde wahr, so muten sie wie die Belegstücke einer Vorgeschichte der gegenstandslosen Malerei<br />

an, in der alle bedeutenden Werke bereits von meist anonymen Graphikern vorweggenommen<br />

erscheinen. Allerdings hatten uns unbekannte Wahrnehmungstheoretiker deren Form im Entwurf<br />

bestimmt 38 (Abb. 13 und Abb. 14).<br />

So liegt es nahe, <strong>als</strong> "Gegenstand" der beginnenden abstrakten Malerei eben jene "innere Natur" des<br />

Menschen zu vermuten. Das sind u.a. jene Wahrnehmungsbedingungen, die über elementare<br />

Bildformen vermittelt dem Menschen zu Gesicht und Bewußtsein kommen, wenn er sie wie in einem<br />

Spiegel, <strong>als</strong> Bilder, vor sein Auge gehalten bekommt. Sie sind dann gleichsam Außenprojektionen<br />

seines mechanischen und neuronalen Wahrnehmungsapparates. 39<br />

Zur Bekräftigung unserer Argumente, gerade im Zusammenhang mit Malewitschs Schwarzem<br />

Quadrat die scheinbar entlegene Wahrnehmungstheorie zu zitieren und die im Bilde enthaltene<br />

Kunsttheorie <strong>als</strong> Paraphrase der platonischen Schöpfungsgeschichte zu interpretieren, muß noch auf<br />

folgende Umstände hingewiesen werden. Shadowa 40 verdanken wir den Hinweis auf eine russische<br />

Ausgabe von Wilhelm Wundts Grundriß der Psychologie (1874) und auf die Vermittlung der neuesten


wahrnehmungstheoretischen Diskussion durch eine Übersetzung der Schrift Schoenmaekers, die<br />

eine der wichtigsten Inspirationsquellen des hervorragenden westlichen Konstruktivisten, Piet<br />

Mondrians, wurde. Malewitsch kannte auch dieses Buch, das läßt sich belegen, und zwar vor 1913.<br />

Die Lehrbücher der russischen Akademien kennen wir im einzelnen noch nicht, aber eines der<br />

bedeutendsten und verbreitetsten Lehrbücher Europas, Preisslers Theorie 41 , erschien bereits 1749 in<br />

russischer Ausgabe von der Akademie der bildenden Künste in <strong>Peter</strong>sburg. Wir können mit Fug<br />

annehmen, daß diese europäische Diskussion auch in Moskau nicht unbekannt geblieben war,<br />

resultieren doch aus der wahrnehmungstheoretischen Wende der Rezeptionstheorie eben jene<br />

bildkünstlerischen Analogien, die Crone für die russischen Formalisten beschrieb: Das Vexieren<br />

zwischen akustischem Laut, dem Buchstaben und den Bedeutungen von Worten und Sätzen.<br />

Jedes akademische Lehrbuch beginnt noch heute mit einer Elementarlehre: dem Punkt, dem Strich<br />

und den regelmäßigen Flächen und Körpern, <strong>als</strong>o den Konstituenten einer Figur auf der Bildfläche 42 ,<br />

die so offenkundig einen virtuellen in einen aktuellen Bildillusionsraum transformiert. In der<br />

akademischen Praxis wurden die Übungen so eingerichtet, daß der angehende Künstler das freie<br />

Zeichnen derartiger Figuren so lange zu repetieren hatte, bis er in der Lage war, freihändig jede<br />

gewünschte geometrische Form zu zeichnen, d.h., bis er den potentiellen Bildraum frei handhaben<br />

konnte. Er begann selbstverständlicherweise mit zwidimensionalen Figuren. Erst danach ging er zu<br />

dreidimensionalen über, die der weiteren Einübung der Koordination von Hand und Auge dienten. Für<br />

die Elementarformen Kreis, Quadrat, Kugel oder Würfel kann Platons Beschreibung der Ordnung des<br />

Kosmos <strong>als</strong> vorgängig angenommen werden. Denn Form und Zahl sind konstitutiv für jegliche<br />

Bildordnung, und nichts wird im Bilde vorgestellt, was sich nicht irgendwie dieser Grundlage<br />

anbequemen ließ. Aber: in der Malerei noch des ausgehenden 19.Jahrhunderts galt es gerade die<br />

Spuren der v o r g ä n g i g e n Konstruktion n a c h h a l t i g z u t i l g e n. Von Malewitsch und<br />

seinem Kreis werden die bildkonstituierenden Konstruktionsformen aus ihrer dienenden Funktion<br />

befreit und ihre sinnliche Anschaulichkeit thematisiert.<br />

Auf der Ausstellung 0-10 und jener von 1919 in Petrograd finden sich Gemälde auf der Basis von<br />

Quadraten und Varianten dazu, z..B. das Schwarze Kreuz. Diese Gemälde können wir <strong>als</strong> eine<br />

Paraphrase auf die zeitgenössische Wahrnehmungstheorie begreifen, nicht jedoch nur <strong>als</strong> eine<br />

Isolierung und Monumentalisierung bekannter Elemente traditioneller Malerei, die sich <strong>als</strong> Phänomen<br />

durchgängig zwischen aufeinanderfolgenden Phasen der Bildgeschichte immer wieder beobachten<br />

lassen. Bei Malewitsch ist die Monumentalisierung zugleich eine Konzentration auf eben nur sinnlich<br />

Erfahrbares, begrifflich nicht Auflösbares, Provokation von Inspiration <strong>als</strong>o durch<br />

wahrnehmungstheoretische Einsichten oder Spekulationen. Damit aber bleibt die Frage der<br />

Bedeutung dieser Bilder ihrem Inhalt und ihrer Thematik nach noch unbestimmt und offen.<br />

Das Faktum aber, daß Malewitsch monochrome Gestaltungen nicht völlig regelmäßige geometrische<br />

Figuren darstellen, sondern optisch wirksame, kaum erkennbare Abweichungen aufweisen, verweist<br />

den Betrachter wiederum auf seine eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten zurück. Er erfährt somit etwas<br />

über seine optische Sensibilität und aufgrund der farbigen Kontraste etwas über die elementare


Diskriminationsfähigkeit seines Auges.<br />

Dieser Hinweis erschließt zugleich eine andere Tradition der Malerei, nämlich die der Grisaille-<br />

Malerei, die der gemalten Plastik. Malerei zeigte sich darin <strong>als</strong> die allen anderen Künsten überlegen<br />

ars, die, wie wir seit dem Paragonestreit des 16.Jahrhunderts wissen, auch Architektur und Skulptur<br />

darzustellen vermag, was umgekehrt nicht der Fall war. So kann schließlich das Exponatenensemble<br />

der Ausstellung 0-10 <strong>als</strong> ein kunsttheoretisches Manifest ersten Ranges gewertet werden, in dem die<br />

Programmatik "einer Malerei der neuen Bedeutungen" in prägnanter Form vorgeführt wurde, wie<br />

Malewitsch sie in voraufgehenden Illustrationen und Bühneninszenierungen erprobt hatte. Diese<br />

Summe und Basis einer neuen malerischen Ordnung wendet sich nicht gegen die historische Malerei<br />

(von der Malewitsch sich selber eben erst freigemacht hatte), sondern gegen die akademische Praxis<br />

einer literarisch überfremdeten Geschichts- und Genremalerei, die in der virtuosen Handhabung<br />

raffinierter Farbkompositionen die entscheidend erkenntnisfördernde Qualität des Bildes in<br />

Vergessenheit geraten ließ: nämlich wie Wahrnehmung überhaupt fuktioniert im Unterschied, aber<br />

auch im Vergleich zum Wort, aber eben dem eigenen Medium gemäß. Malewitsch stellte mit seinen<br />

Bildern 1915/16, inspiriert von wissenschaftlicher Wahrnehmungstheorie, seine Behauptungen zum<br />

Thema vor die Welt und in die Welt: Licht und Schatten begann er zu trennen und zu formen nach<br />

Gestalt und Maß, wie Platon es dem "nous" bei Erschaffung der Welt nachsagte. Und Paul Klee<br />

forderte in der nachfolgenden Generation - auch er nach Studium der zeitgenössischen<br />

Wahrnehmungstheorie: In der Kunst gelte es neue Welten zu erfinden, die im Inneren des Menschen<br />

verborgen lägen.<br />

Unter dem Stichwort "Element" zeigt jedes beliebige Lexikon an, daß darunter Bestandteile, kleine<br />

Bausteine, Grundstoffe, Urstoffe zu verstehen sind; "elementar" bedeutet soviel wie: grundlegend,<br />

einfach, urwüchsig. Kontrovers ist der Begriff und die damit real verknüpfte Sache nicht nur im<br />

Pädagogenstreit: inweit nämlich Elementarlehren tatsächlich kindgemäß seien; umgekehrt stellen<br />

Entwicklungspsychologen die Frage: wie ist das, was im kindlichen Kopf vor sich geht, im Verhältnis<br />

zu dem, was die pädagogischen Institutionen ihnen an Elementarem zumuten?<br />

Basedows "Elementarwerk" (1774) glaubte den alltäglichen gesellschaftlichen Verkehr in seinen<br />

Sitten und in seiner Moral "elementar" aufbereiten zu können. Die Kunst- und Zeichenlehren hatten<br />

aber den Anfang gemacht: Bereits seit Alberti berief man sich in der Kunsttheorie auf den<br />

platonischen Schöpfungsmythos im "Timaios". In aller Kunsttheorie blieb die Lehre von den<br />

Elementarformen am Äußeren haften, wiewohl ihr Modellcharakter noch das Offenkundigste an ihr zu<br />

sein scheint, nämlich beschreibende Tätigkeit. "Designatio" heißt es zur Linie bei Pomponius<br />

Gauricus. 43 Selbst bei hohem kompensatorischem Komplexionsgrad lag es der Linie ferne, externe<br />

Welt nicht abbilden zu wollen. Die naturwidrigste Umrißlinie wurde noch die dem eigenen<br />

Entstehungsmythos dienende Abstraktion. Das "Element" ihrer Weltaneignungsstrategie münzte<br />

schon Plinius (XXXV, 15) in die kommemorative Funktion um. In der Legende von Butades zog diese<br />

den linearen Schattenriß ihres scheidenden Geliebten (Abb. 15). 44 Noch Wilhelm Busch schlug den<br />

erfolgreichen Weg eines jeden Karikaturisten ein. Wiewohl die Ironie seiner Suggestion im


Widerspruch von Willkür <strong>als</strong> Folge seiner kompositorischen Ratschläge steht und die<br />

Unvorhersehbarkeit des nächsten Schrittes unübersehbar klar macht, daß erst das vage Wissen um<br />

die Lösung die vorgegaukelte Logik der sparsamen Bestandteile in ihrem Gauklerstück von Ökonomie<br />

folgerichtig erscheinen lassen (Abb. 16). 45 Die Poesie der elementaren Linie, längst bevor sie noch<br />

zum Umriß wird, ist eine notwendige, wo die Vorstellung von ihrer deskriptiven Bindung scheinbar<br />

aufgegeben scheint: zuerst in der theoretischen Geometrie, mindestens seit Pythagoras, <strong>als</strong>o lange<br />

bevor die Zeichenlehren sich ihrer annahmen. Wir wissen noch nicht, ob wir dieses Henry Peachem 46<br />

oder Crispijn de Passe 47 zu verdanken haben. Jedenfalls folgte auch Johann Daniel Preissler in<br />

seinem Werk "Die durch Theorie erfundene Practic" 48 (1721) diesem Vorschlag. Diese Autoren<br />

sprechen noch von Orientierungsübungen, Koordinationen von Hand und Auge. Das hieße aber,<br />

schon dem Bildfeld selber einen "inneren Klang", wie Kandinsky ihn verstand, zuzusprechen. 49<br />

Malewitschs Experiment - nach wie vor rätselhaftes puristisches Insistieren -, dem monochromen<br />

Bildfeld ästhetische Qualitäten abzutrotzen, kann, trotz aller kosmischen Bezüge ikonographischer<br />

Tradition, bislang nur aus einer Perspektive erhellt werden: aus der der spezifisch romantischen<br />

Wendung der Metapher vom Bild <strong>als</strong> Spiegel innerer Erlebnis- und Wahrnehmungsstrunkturen des<br />

Subjekts selber [<strong>als</strong> analytischem Objekt seiner selbst und] <strong>als</strong> analytischem Objekt des ästhetischen<br />

Diskurses, <strong>als</strong> Bearbeitung des Materi<strong>als</strong> ohne Illusion. Diese Entdeckung an der reduzierten<br />

Abstraktion von scheinbar geringem Komplexionsgrad aufgewiesen zu haben, verdanken wir indes<br />

einem Beiprodukt der experimentellen Wahrnehmungspsychologie des 19.Jahrhunderts: der Testfigur<br />

(Abb. 17 und Abb. 18). 50 Nur daß deren Autoren sich der ästhetischen Dimension keineswegs bewußt<br />

gewesen sind, jedenfalls scheint bisher nichts dafür zu sprechen.<br />

Gelegentlich sind akademische Zeichenlehren und die in ihnen enthaltenen figurativen "pattern" zu<br />

historisch-analytischen Untersuchungen herangezogen worden, nirgends jedoch die abstrakten,<br />

geometrischen Elementarformen, wie sie in diesen Werken mit Regelmäßigkeit anzutreffen sind.<br />

Malewitsch brachte auch dafür 1924-1927 einen eigenwilligen Versuch zustande, über den bisher<br />

wenig bekannt ist. 51 Gründe für unsere Wissenslücken mögen darin zu finden sein, daß die<br />

elementaren "pattern" in ihrer Abstraktheit dem konkreten, einzelnen Bild gegenüber so vage<br />

erscheinen, daß mit ihnen kaum ein hermeneutischer Zugang zu eröffnen möglich erscheint.<br />

Andererseits liegt in ihrer abstrakten Vagheit gegenüber der vielgestaltigen Komplexität von Realität<br />

die Chance, daß der Künstler jede ihm begegnende Form interpretieren kann, mit Hilfe <strong>als</strong>o der schon<br />

bekannten, der jede fremde, neue Form verglichen werden kann, sie sich zu eigen machen kann.<br />

Letztlich bleibt er <strong>als</strong>o immer wieder bei der selber wieder aus der komplexen Realität angeleiteten<br />

abstrakten Elementarform und ihrer Vagheit stehen. Oder besser nach, er kehrt notwendig zu dieser<br />

Vagheit zurück.<br />

Erst das Insistieren auf ihrem Eigenwert <strong>als</strong> Element, was Semper ihre praktische Ästhetik nannte,<br />

löst sie von der älteren heuristischen Zwangsjacke. Damit sollte sie aber nicht <strong>als</strong> Form<br />

wahrgenommen werden, dies bliebe trivial bis zur Banalität. Die Elementarform wurde zur Notation [=<br />

offenes Zeichen] erklärt. Kandinsky nannte die bildenden Künste die antipodischen, <strong>als</strong> die<br />

abstrakteren gegenüber der Musik und der Architektur, weil diese mit praktischen Zwecken verbunden<br />

seien 52 , die <strong>als</strong> Baumaterialien 53 für das Werk dienen - dies eine bemerkenswerte Umkehrung


gegenüber traditioneller akademischer Lehre. Gaben die Elementarformen noch bei Preissler 54 den<br />

Ort auf der Bildfläche an, wo das Abzubildende im imaginären Bildraum seinen Platz und seine<br />

Grenze hatte, wies er ihnen damit die Funktion zu, Wegweiser, Koordinaten der Reise der Phantasie,<br />

zugleich Gatter und Grenzen für die zeichnende Hand zu sein, der sie disziplinierend Einhalt geboten,<br />

um die Form nicht zu verlieren. Die Elementarformen blieben pädagogisches Instrumentarium ganzer<br />

Generationen von Zeichenlehrern für adlige, später vorrangig bürgerliche Kunstdilettanten, dessen<br />

ganzer Inhalt es war, die "Elemente" hinter einer illusionären Bilderwelt zu tilgen, sie zum Schweigen<br />

zu bringen, ihre Strktur zu eleminieren zugunsten einer durch die geometrische Elementarform mehr<br />

oder weniger wohlgeordnet wahrgenommenen Gegenständlichkeit. Zu Musterbildungen,<br />

Musterprägungen zu dienen, das war ihre überkommene Funktion: Einstm<strong>als</strong> Inbegiff kosmischer<br />

Ordnung und für die der Natur selbst verantwortlich, waren sie nun von ihrer hehren Abstammung<br />

depraviert. 55 Zu diesem noblen platonischen Ursprung führte kein Weg zurück.<br />

Längst hatte in der Produktenwelt vom Papierformat und der Fensterscheiben bis hin zur<br />

industrialisierten Bilderproduktion gegen alles schmückende Ornament vielfältig der Kanon<br />

elementarer geometrischer Formen vom Alltag Besitz genommen, barg der Bilderrahmen wie auch<br />

das technische Kalkül vorindustrieller und späterhin industrieller Produktion die geometrische<br />

Ordnung elementarer Abstraktion, <strong>als</strong> Rokoko, Romantik, ja noch selbst die Malerei des<br />

Impressionismus Kunst ausschließlich jenseits der elementaren Ordnung der Geometrie zu plazieren<br />

schienen. Indes konnte keine Notierung wissenschaftlicher Experimente mehr ohne die Sprache der<br />

Geometrie denkbar erscheinen, selbst in den Humanwissenschaften behauptete sie ihren Platz im<br />

Denken, <strong>als</strong> morphologisches Muster oder Muster der Morphologie. Dies war zugleich die Stunde der<br />

versuchsweisen Blicke in das Innere des Menschen, der kalkulierenden Schritte, um der Mechanik<br />

der Wahrnehmung aller dieser Errungenschaften auf die Spur zu kommen. Hier nun in der<br />

experimentierenden, empirisch argumentierenden Wahrnehmungsforschung gelangten der simple<br />

Punkt, die Linie und die regelmäßig begrenzte Fläche zu der Eigentlichkeit, die ihnen die Kunstlehre<br />

zuvor mit dem Hinweis auf das objektive Gegenüber standig bis zur völligen Tilgung abgesprochen<br />

hatte.<br />

Helmholtz und Wilhelm Wundt kehrten mit Hilfe der geometrischen Elementarformen den Blick um auf<br />

den Gegenpol aller zu erkennenden Welt: in die sie bedingenden Wahrnehmungsorganisationen. Nur<br />

muß eingeräumt werden, daß das Wesen der elementaren Formen das einer dienenden Magd blieb.<br />

Kein Psychologe hat je ihr Wesen zu charakterisieren unternommen, es sei denn mit dem Hinweis<br />

darauf, daß sie eben elementar seien und daher von einem geringen Grad an Komplexität - was<br />

nachgerade einer Tautologie gleichkommt. Für den Experimentator aber war das nun ein gewichtiges<br />

Argument. Das Experiment lasse sich jederzeit wiederholen, die Bedingungen seien von jedem<br />

Nachfolgeexperiment nicht zu unterscheiden, und die störenden Wirkungen nicht überprüfbarer<br />

Umwelteinflüsse seien somit weitgehend eliminierbar, die Reaktion der Probanten daher<br />

kontollierbarer. Und dennoch stellte sich <strong>als</strong>bald heraus, daß der Streit sich gerade an der<br />

notwendigen Interpretation entzündete, die elementaren Testbilder jedoch kaum noch einer<br />

Interpretation ob ihrer weltfernen Abstraktheit zugänglich schienen.<br />

Der humoristische Zeichner Wilhelm Busch machte sich darauf seinen ironischen Vers, gab er doch


die unwahrscheinlichste Folge und Struktur von Lienie <strong>als</strong> die selbstverständlichste aus, die sie im<br />

Detail betrachtet dann doch nicht ist. Im Gegenteil: erst aus der Kenntnis des hochgradig abstrakten<br />

Ganzen lassen sich durch scheinbar einfache Umkehrung elementare Produktionsschritte<br />

deduzieren. Auch dies erweist sich <strong>als</strong> ein klassisches Gauklerstück zeichnender Virtuosen mit<br />

beschränkt variablem Repertoire, deren Kunststückchen nur den kurzweilig verharrenden Betrachter<br />

in seinen betrügerischen Bann zu schlagen vermag.<br />

Von Kandinsky stammte 1926 die Forderung an die bildende Kunst und die Kunstwissenschaft, es der<br />

Musik und Architektur gleichzutun und sich ein analytisches Instrument zuzulegen, das eben aus<br />

Elementen graphischer Strukturierung überliefert sei: Punkt, Strich und Fläche (so auch der Titel der<br />

zum Buch überarbeiteten Grundlehre, die er in den Jahren von 1922 bis 1925 am Weimarer Bauhaus<br />

gelehrt hatte). Damit griff er auf einen Ansatz zurück, den bereits Leon Battista Alberti in der ersten<br />

Hälfte des 15. Jahrhunderts in die kunsttheoretische Literatur eingeführt hatte, der diese Elemente<br />

nach dem Lehrprinzip Euklids <strong>als</strong> Bausteine der objektiven, externen Welt beschrieb, deren sich der<br />

Künstler in Analogie zu bedienen hatte. So arbeitete schließlich jeder Zeichner und Kupferstecher<br />

noch in der differenziertesten Wiedergabe malerischer Effekte. Kandisnky jedoch war weniger an der<br />

herkömmlichen Tilgung jener elementaren geometrischen Formen gelegen, im Gegenteil bemühte er<br />

sich sie aus der dienenden Aufgabe zur autonomen Poesie zu nobilitieren, indem er ihren subjektiven<br />

"Klang" zur Sprache bringen wollte, für den, der sich ihrer physiognomischen Suggestion überließ.<br />

Scheinbar unberührt von der Gestalttheorie und der Lehre von den biologisch wirksamen optischen<br />

Erkennungszeichen folgte er jenen Experimenten, denen Malewitsch mit der Erkundung neuer<br />

Bedeutungsebenen innerhalb des autonomen abstrakten Wirkungsfeldes des Bildes ebenfalls aus der<br />

Spur gewesen war.<br />

Gemessen an den Erfolgen der Maysenbachschen Autotypie, dem strukturierten Punktefeld, und<br />

ihrem elektronischen Nachfolger, dem mechanisch erasterten Vomputerbild, lenkten Kandinsky und<br />

Malewitsch die Aufmerksamkeit vom metaphysischen Ursprung der geometrischen Elementarformen<br />

auf deren innerweltlichen Dimension: Sie machten diese zum unendlich manipulierbaren Medium<br />

unterhalb der Schwelle unserer Wahrnehmnung und damit erst eigentlich zu dem, <strong>als</strong> was die<br />

geometrischen Elementarformen ihrem platonischen Anfang nach gedacht worden waren: dort waren<br />

sie dem Denken Elemente jeglicher Welt, hier wurden sie zum optischen Medium jeglicher denkbaren<br />

synthetischen Weltkonstruktion. Diesen synthetischen Charakter seiner Bildkonstruktionen erklärte<br />

Kandinsky auf verblüffend einfache Weise in seiner aus Intuition und Berechnung konzipierten<br />

"praktischen Wissenschaft" 56 der Künste, indem er sie - z.B. den Punkt - anthropomorphisierte:<br />

"Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null. In dieser Null sind aber verschiedene Eigenschaften<br />

verborgen, die menschlich sind. In unserer Vorstellung ist diese Null - der gemetrische Punkt - mit der<br />

höchsten Knappheit verbunden, d.h. mit der größten Zurückhaltung, die aber spricht. So ist der<br />

geometrische Punkt in unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von<br />

Schweigen und Sprechen." 57


Er ging jedoch nicht so weit, ihn im Sinne Freuds durch Projektion zum Fetisch zu erheben, dem er<br />

Lust und Schuld hätte zuweisen können, deren er selber entbehrt hätte. Dennoch mad das<br />

nachfolgende Zitat belegen, daß seine Sprache nicht völlig des psychoanalytischen Duktus seines<br />

Denkens enträt:<br />

"Das äußere Zeichen [des Punktes] wird zur Gewohnheit und verschleiert den inneren Klang des<br />

[Punktes <strong>als</strong>] Symbol." 58 "Der Klang des mit dem Punkt gewohnheitsgemäß verbundenen Schweigens<br />

ist so laut, daß er die anderen Eigenschaften vollkommen übertönt. [...] Manchmal ist eine<br />

außergewöhnliche Erschütterung imstande, uns aus dem toten Zustand zu einem lebendigen<br />

Empfinden herauszureißen. Nicht selten vermag aber das kräftigste Rütteln nicht, den toten Zustand<br />

in einen lebendigen zu verwandeln." 59<br />

"Durch das allmähliche Herausreißen des Punktes aus dem engen Kreis seines gewohnten Wirkens<br />

bekommen seine bis jetzt schweigenden inneren Eigenschaften einen immer mehr wachsenden<br />

Klang. Diese Eigenschaften - inneren Spannungen - kommen eine nach der anderen aus der Tiefe<br />

seines Wesens heraus und strahlen ihre Kräfte aus. Und ihre Wirkungen und Einflüsse auf den<br />

Menschen überwinden immer leichter die Hemmungen. Kurz - der tote Punkt wird zum lebendigen<br />

Wesen." 60<br />

Physiognomische Anthropomorphisierung darf man diese Interpretation geometrischer Elemente<br />

durch emotionale Qualitäten bezeichnen. Anders bei Baumeister: "Elementar" nannte er die Fähigkeit<br />

des bildenden Künstlers, Formen und Farben ohne ihre Gegenstandsbezeichnung zu sehen "<strong>als</strong><br />

reines Resultat einer Augenoptik", die sich auf "die elementaren Kräfte der Formen und Farben"<br />

konzentriere. 61<br />

Wird nun bei dem Prozeß des Herauslösens der Versuch optisch "elementaren Schauens" sicherlich<br />

<strong>als</strong> ein ontogenetischer Sekundärprozeß beschrieben, so findet sich eine Kandinskys Vorstellung<br />

verwandte in Wilhelm Worringers 1908 verfaßter Dissertation »Abstraktion und Einfühlung«. Dort wird<br />

die Anthropomophisierung der abstrakten Form den "primitiven" Frühkulturen nachgesagt (übrigens<br />

im Anschluß an Riegls »Spätrömische Kunstindustrie« von 1901), "<strong>als</strong> Folge einer gr0ßen inneren<br />

Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt" 62 , die er <strong>als</strong> "Platzangst"<br />

charakterisierte. Diese führe zu einer "reine[n] Instinktschöpfung", die "mit elementarer Notwendigkeit<br />

ohne Dazwischenkunft des Intellekts" produziert werde. 63 Die "Beglückungsmöglichkeit", die aus<br />

dieser Kunst herrühre, bestehe darin, daß das Willkürliche und scheinbar Zufällige durch Annäherung<br />

an abstrakte Formen verewigt und einen Ruhepunkt zu bieten im Stande sei. Hier sei "die höchste<br />

absolute Form, die reinste Abstraktion erreicht und der letzte Rest von Lebenszusammenhang und<br />

Lebensabhängigkeit getilgt." 64 Erreicht sei damit "ein Drang, in der Betrachtung eines Notwendigen<br />

und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der<br />

scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz, denn "[...] das Leben <strong>als</strong> solches wird <strong>als</strong><br />

Störung des ästhetischen Genusses empfunden." 65 Worringer formulierte damit genau das Gegenteil<br />

von dem, was Kandinsky forderte. Übersehen wir einmal die fragwürdigen kulturhistorischen<br />

Postulate und transponieren diese auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, so lassen sich<br />

Worringers Aussagen <strong>als</strong> Polemik gegen die moderne Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts


auffassen. Dort hat die Ästhetikdiskussion in der Tat ihren Platz und rundet das Bild zu einem<br />

inszenierten Selbstverständnis, dem Sinnenlust Frevel, Rationalität Selbstentfremdung, Wirklichkeit<br />

teuflisches Blendwerk ist: Mit anderen Worten, hier begegnen uns die Begriffe aller Bilderverbote<br />

wieder. Dieses Bilderverbot wendet sich negativ gegen den gewesenen Akademismus und die durch<br />

ihn repräsentierte idealistische Ästhetik, aber auch gegen den Begriff der Tradition <strong>als</strong> Negation<br />

dessen, was nun nicht mehr der Fall sein soll. Das ist der Rückzug aufs betroffene Ich gegen die<br />

Negativität der realen Welt. Im Kunstwerk aber wird die Projektion zur Chiffre zwischen erlebter<br />

Entfremdung und Bedingungen der Produktion des ihr heteronomen Marktes. Adorno beklagte diese<br />

dem Fetischcharakter der Ware angepaßte Kunst: da man in ihr auf die Diskrepanz von neuen Mitteln<br />

zu alten Zwecken stoße und das Immergleiche des Neuen in Stagnation umschlagen sehe. 66 Wollten<br />

wir uns aber der Terminologie der Selbstzeugnisse entziehen, müßten wir dem Neuen, das aus Not<br />

ein Gewolltes ist, sioviel an rationaler Historie zurückgeben, wie die Bilder, nicht deren Exege aber,<br />

zulassen, ohne daß deren Einsichten gäzlich verleugnet werden müssten. Wenn <strong>als</strong>o das<br />

Erscheinende der älteren Kunst nach der Krise der Sinne abstrakt geworden ist, dann liegt es nahe,<br />

nach den Sinnen <strong>als</strong> einem Thema der neueren Kunst zu fragen. Abstrakt ist die Moderne in der Tat in<br />

Relation zur älteren Kunst selbst dort, wo sie an traditionellen Errungenschaften (Zentralperspektive<br />

z.B.) festhält: in ihren technischen Bedingungen und letztlich auch in ihren Vorzugsthemen. Doch<br />

unabweislich erscheint, daß auch diese nicht unangefochten bleiben, denn kein Künstler kann<br />

vorraussagen, was denn das Andere, das Neue sein möchte: Es muß der Logik des Begriffs nach ein<br />

Ungewolltes sein. An welcher Stelle in der Dialektik von Form und Inhalt der abstrakten Kunst sich<br />

diese Paradoxie aller Moderne ausdrückt, daß durch Intention alles Gemalte oder Gezeichnete zum<br />

Identischen wieder wird und sparsam, stoßweise nur zum Nichtidentischen, eben zum Anderen<br />

vorstößt, scheint sich mir zwischen der Abstraktion in den Elementarformen und dem Kommentar<br />

dazu bei Kandinsky aufzutun.<br />

Er erläutert das Problem am Beispiel "Punkt" unter zwei Aspekten: Dem der Größe 67 und unter dem<br />

der äußeren Form. 68 In beiden Fällen sind dies Probleme, die allerdings die Drucktechniker in der<br />

Folge Maysenbachs entscheidend - aus ökonomischen Gründen - interessierten: Die Größe ist ein<br />

Problem der Quantität, der relativen Ausdehnung auf der Fläche, die sich im Verhältnis zu<br />

Betrachterabstand (beim Lesen: Leseabstand - normal) und Bildgröße experimentell quantifizieren<br />

läßt. Hier ging es eindeutig um Fragen der Wahrnehmungsphysiologie und zwar deren optische<br />

Grundlagen, <strong>als</strong>o darum, wie es um das Auflösungsvermögen eines norm<strong>als</strong>ichtigen Augen steht.<br />

Kandinsky denkt sich dort in der Tat eine genaue Zahlenrelation zwischen Fläche und Ausdehnung<br />

des Punktes, deren objektives Korrelat die Meinung des Betrachters sein müsse. Ebenso verfährt er<br />

mit dem zweiten Aspekt, dem der äußeren Form. Hier ist es ein leichtes, die experimentellen<br />

Schemata der Lochblenden heranzuziehen, die für die photographische Herstellung von<br />

Rasterklischees angeboten wurden (Abb. 19). In beiden Fällen interessiert uns nicht weiter die<br />

inhaltliche Argumentation. Wir zielen auf ein gemeinsames Drittes: die Wahrnehmungsfähigkeit des<br />

potentiellen oder normalen Betrachters.<br />

Das unaufgelöste Miteinander und Ineinander der physikalisch-optischen und psychisch-neuronalen


Komponenten hatte bereits Helmholtz in seiner Theorie des Zeichens zu vermitteln versucht.<br />

Bedeutsam für uns ist, wie er den Charakter dieses Zeichens bestimmte:<br />

"[...] Insofern die Qualität unserer [optischen] Empfindung uns von der Eigentümlichkeit der äußeren<br />

Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie <strong>als</strong> Zeichen derselben gelten, a<br />

b e r n i c h t a l s e i n A b b i l d. Denn vom Bilde verlangt man irgend eine Art von Gleichheit mit<br />

dem abgebildeten Gegenstand. [...] Ein Zeichen aber braucht keine Art von Ähnlichkeit mit dem zu<br />

haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das<br />

gleiche Objekt, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft,<br />

und daß <strong>als</strong>o ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen [...]. Dieser Rest von<br />

Ähnlichkeit, den wir anerkennen, [mag] sehr geringfügig erscheinen. In Wahrheit ist er es nicht; denn<br />

mit ihm kann die Abbildung der Gesetzmäßigkeit in den Vorgängen der wirklichen Welt gelöst werden<br />

[...]. Was aber das wichtigste ist, sie sind Zeichen von E t w a s und das Gesetzt dieses Geschehens<br />

können sie und abbilden." 69<br />

Kandinsky nutzte diese Gesetzmäßigkeit in einem anderen Sinne, indem er eine naive, kindliche<br />

Erfahrung ernst nahm: jedes Gebilde hat eine anthropomorphe Anmutsqualiät, die schon in der<br />

elementaren geometrischen Figur ihre Wirkung entfaltet. Das ist gleichsam die dubjektive Dimension<br />

des Zeichens im Sinne von Helmholtz. Setzen wir einmal hier <strong>als</strong> sinnvoll annehmbar voraus, daß<br />

Wahrnehmungstheorie, besonders experimentelle, und Probleme der drucktechnischen Neuerungen<br />

Themen mehr oder weniger öffentlicher Diskussion an der Bauhausschule gewesen sein dürften,<br />

wenn es um den Druck von Veröffentlichungen ging - und aus den Unterrichtsplänen können wir dies<br />

mit guten Gründen folgern 70 -, dann erstaunt es kaum, daß eine Generation nach Helmholtz seine<br />

Spekulationen zum intellektuellen Gemeingut geworden waren. Nur der Akzent hatte sich unmerklich,<br />

aber willentlich verschoben, das lehren die in diesen Generation entstandenen Kunstwerke<br />

geometrischer Konstruktionen - und die Kunstreproduktionen in Büchern und Katalogen auf der<br />

anderen Seite. Der Blick hatte sich von den Gesetzmäßigkeiten in den Vorgängen der äußeren Welt<br />

auf die Phänomene im Inneren des Wahrnehmenden selbst gerichtet. Die Reflexivität von Innen und<br />

Außen war in der Folge von Ernst Machs Relativierung der Wirklichkeitskonstruktion, die er <strong>als</strong> aus<br />

der Filterung der subjektiven Empfindungen durch aus der Efahrung gewonnenen Musterbilder<br />

produziert erkannte 71 , zum Inhalt der kosntruktivistischen Kunstwerke nobilitiert. Die Verschränkung<br />

und Spiegelung der Psyche im Bild und des Bildes in der Psyche, so folgerte Umberto Eco 72 ,<br />

unterliegt Regeln von Homologie, die das Wahrgenommene <strong>als</strong> eine Projektion der inneren<br />

Wahrnehmungsstruktur ausweist. Die Inversion des Blicks bindet die Moderne an die Tradition:<br />

insofern ihr Thema der Mensch und seine Natur ist und insofern sie sich des traditionellen Mediums<br />

der Malerei (Leinwand, Pinsel und Farbe) bedient. Sie löste sich insoweit von ihr - auch der<br />

naturwissenschaftlichen Tradition -, <strong>als</strong> sie den Schritt unternahm von der Außenwelt der Innenwelt<br />

der Außenwelt (z.B. der Haut des Aktes) zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (den<br />

Gefühlsregungen) zu gelangen (um es, Handke parodierend, aufs Bonmot zu bringen), was -<br />

zugegebenermaßen - nur ein winziger Schritt sein kann, denn das Äußere des Äußeren muß nicht<br />

das dem Inneren entgegengesetzte sein, sondern kann ebenso die dünne und durchlässig<br />

gewordene Grenzfläche zwischen dem Äußeren des Äußeren des Inneren und dem Äußeren des


Inneren des Äußeren betreffen: <strong>als</strong>o jene sinnliche Kontaktstelle zwischen Innen und Außen, die der<br />

Naturwissenschaftler - so wie Helmholtz - auf seine äußeren Gesetzmäßigkeiten hin untersucht.<br />

Bereits Wilhelm Wundt 73 (73) hatte auf diese zeichenhafte Vermittlung von Innen und Außen durch das<br />

gesamte Empfindungsgefüge des Körpers hingewiesen, die Sinne <strong>als</strong> untereinander in einem<br />

untrennbaren Aufnahmeverbund begriffen. Die Künstler nun bis hin zu Kandinsky mußten, nachdem<br />

sie den fortschrittsgläubigen Optimismus durch den in der Gesellschaft und ihren Medien entfalteten<br />

beliebigen Austausch von Zeichenbedeutungen verloren hatten, erfahren, daß auch die<br />

geometrischen Elemente keineswegs mehr die ihnen unterstellte Repräsentationsfunktion von<br />

"elementar" selbverständlich innehaben. Sie müssen erneut die Mühe der Unbestimmtheit<br />

psychischer Konnotationen und kompositorischer Konstruktionen immer wieder erneut austragen.


1 Der Undankbare. In: Der Haarbeutel (1878), zit.n. Wilhelm Busch, Sämtliche Bildergeschichten (Hrsg.<br />

Rolf Hochuth), Gütersloh o.J., S. 326-328; vgl. Gerd Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en<br />

miniature, Frankfurt 1977, S. 184 ff. u. 304 ff.<br />

2 a.a.O.<br />

3 Hermann von Helmholtz, Optisches über Malerei. In: Vorträge und Reden, Bd. 3, Braunschweig 1876, S.<br />

55-56; vgl. Chr. Bracht 1997:243: Rein qualitative Eigenschaften von Objekten, so argumentiert Morris<br />

zunächst mit Mondrian, sind nicht direkt wahrnehmbar, sondern nur die Relationen, die zwischen diesen<br />

qualitativen Eigenschaften bestehen.<br />

4 Thomas Lersch, Farblehre. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 7, Stuttgart 1981, Sp.<br />

249 ff; W. I. Homer, Seurat and the Science of Painting, Cambridge, (Mass.), 1964.<br />

5 Homer 1964 (wie Anm. 4), a.a.O.<br />

6 Dies galt seit Leon Battista Albertis Thesen in De Statua und De Pictura (Hrsg. Greyson), London 1972,<br />

S. 120 - 121.<br />

7 Joseph Burke, Hogarth. Das graphische Werk, Wien - München 1968; Abb.236; vgl. René Magritte, Les<br />

muscles célestes (1927) u.a. Ausst.Kat. Brüssel 1978.<br />

8 Auch dies bei Alberti (vgl. Anm.6) programmatisch festgelegt und gültig bis ins 19. Jh. hinein.<br />

9 So noch in den gedruckten Kunstlehren, wie etwa Louis de Taeye, Traité général de l'enseignement des<br />

arts du dessin, Namur o.J. (um 1870), Bd. 1-2.<br />

10 Fritz Novotny, Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive, Wien 1938.<br />

11 Larissa A. Shadowa, Malewitsch. Kasimir Malewitsch und sein Kreis. Suche und Experiment. Aus der<br />

Geschichte der russischen und sowjetischen Kunst zwischen 1910 und 1930, Dresden 1078, S. 43 ff.,<br />

Taf. 37.<br />

12 Vgl. Richard Klibansky, The Continuity of the Platonic Tradition, London 1950; Paul Frankl, Erwin<br />

Panofsky, The Secret of the Medieval Masons. In: The Art Bulletin 27, 1945, S. 46 - 64.<br />

13 Johannes Kepler, Harmonices Mundi, Linz 1619, S. 77-78 u. 291 - 292; vgl. Michele Emmer, Art and<br />

Mathematics: The Platonic Solids. In: Leonardo 15, 1982, S. 277; Johannes Hemleben, Johannes Kepler<br />

in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbeck b. Hamburg 1971, S. 84 ff. Zur<br />

Vorgeschichte der proportionalen Ähnlichkeiten J. Bodinus, De Republica libri VI, Paris 1576, S. 746 -<br />

779.<br />

14 Zwischenzeitlich erschien der Aufsatz von Gudrun Inboden, Die Schwarzen (quadratischen) Bilder von<br />

Ad Reinhardt, Abstraktion <strong>als</strong> chymische Karikatur der Moderne oder >Melecholia II


eigefügt.<br />

21 Susan P. Compton, Malevich's Suprematism - The Higher Intuition. In: The Burlington Magazine 118,<br />

1976, S. 577 - 585.<br />

22 C. Howard Hinton, The Fourth Dimension, New York - London 1904; vgl. Sieg über die Sonne. Aspekte<br />

russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ausst. Kat. Akademie der Künste, Berlin 1983, bes. S.<br />

53 ff.<br />

23 Dazu ausführlich Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension, and Non-Euclidean Geometry in<br />

Modern Art, Princeton (N.J.), 1983; zu Malewitsch S. 274 - 294.<br />

24 Zit. nach Compton 1976 (wie Anm. 21), S. 580.<br />

25 Jewgeni Kowtun, Sieg über die Sonne. In: Ausst.Kat. Berlin 1983 (wie Anm. 22), S. 27 - 52.<br />

26 Zit. nach Compton 1976 (wie Anm. 21), S. 580.<br />

27Rainer Crone, Zum Suprematismus. Kazimir Maleviĉ, Velimir Chlebnikov und Nikolai Lobacevskij. In:<br />

Wallraf-Richartz-Jarbuch 40, 1978, S. 129 - 162.<br />

28 Ebd., S. 147 ff.<br />

29 Zit. n. ebd., S. 152.<br />

30 El Lissitzky, K. und Pangeometrie. In: Europa-Almanach, Potsdam 1925, S. 103 - 113; die zit. Passage<br />

auf S. 105 - 106.<br />

31 Übers. v. V. nach Crone 1978 (wie Anm. 27), S. 159.<br />

32 Maurice Denis, Définition du Néo-Traditionnisme (1890). In: Théories 1890-1910. Du Symbolisme et de<br />

Gaugin vers un nouvel ordre classique, Paris 1913, zit. n. 4. Aufl., Paris 1920, S. 1: "Se rapeller qu'une<br />

tableaux - avant d'être un cheval de bataille, une femme nue, ou une quelconque anecdote - est<br />

essentiellement une surface plane de couleurs en un certain ordre assemblées."<br />

33 Reinhild Heller, Concerning Symbolism and the Structure of Surface. In: Art Journal 45, 1985, S. 146 -<br />

153. Die Deutung Kahnweilers der kubistischen Technik <strong>als</strong> wahrnehmnungspsycholigisches Gerüst von<br />

Gegenstandsvorstellungen: Daniel Henri Kahnweiler, Der Weg zum Kubismus (München 1920), Stuttgart<br />

1958, S. 66 - 68. Marianne Werefkins Kenntnis der Überlegungen Theodor Lipps (1851 - 1914),<br />

Psychologische Studien, Heidelberg 1885, und Ästhetische Faktoren der Raumdarstellung, Hamburg -<br />

Leipzig 1891, gehen hervor aus: Briefe an einen Unbekannten (Hrsg. Clemens Weiler), Köln 1960.<br />

34 Vgl. Dazu Wolfgang Pross und J. G. Herder, Über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien,<br />

Kommentar. = Hanser Literaturkommentare 12, München - Wien (o.J.). Eine Auseinandersetzung mit den<br />

Thesen - die wohl besser <strong>als</strong> traditionelle kunsttheoretische Topoi zu bezeichnen sind - von Cicognara,<br />

Visconti und Hirt unternahm C. Fr. von Rumohr, Italienische Forschungen, Kap. VIII, (Hrsg. J. Schlosser),<br />

Farnkfurt a.M. 1920, S. 229 ff. Die Begründung der Rolle der Kopie in der akademischen Tradition des 19.<br />

Jh. in Frankreich aus >magischen< Ursprüngen verfolgte Albert Boime, The Academy and French<br />

Painting in the Nineteenth Century, London 1971, S. 123 ff. Die Schriften zum Ursprung der bildenden<br />

Kunst mehrten sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, deren Auswertung noch aussteht, so z.B.<br />

Yrjö Hirn, The Origins of Art: A Psychological and Sociological Inquiry. Lonson 1910; Theodor Koch-<br />

Grünberg, Anfänge der Kunst im Urwald, Berlin 1905; bemerkenswerte Thesen auch bei Wilheml<br />

Worringer, Abstraktion und Einfühlung, München 1908; Karl-Heinrich Busse, Die Ausstellung zur<br />

vergleichenden Entwicklungspsychologie der primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in<br />

der Urzeit. In: Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin 1913. Der von Kandinsky in<br />

seinem Essay Malerei <strong>als</strong> reine Kunst. In: Essays über Kunst und Künstler (Hrsg. Max Bill), Bern 1973³,<br />

S. 66, erwähnte "Ursprung: praktischer Wunsch, das vergängliche Körperliche festzuhalten" ist ein alter<br />

Topos der kunsttheoretischen Schriften, so schon bei L. B. Alberti (in: 1972, wie Anm. 6) <strong>als</strong> Ursprung der<br />

Skulptur bezeichnet.<br />

35 Heinz Matile, Die Farbenlehre Philipp Otto Runges, Bern 1973, S. 138 ff. E. Schevreul, Die<br />

Farbenharmonie mit besonderer Berücksichtigung auf den gleichzeitigen Contrast in ihrer Anwendung in<br />

der Malerei [...], 2. umgearbeitete Auflage, Stuttgart 1878, weist in den Illustrationen zum Text<br />

interessante >abstrakte< Kompositionen aus, die indessen in der Malerei des Impressionismus nicht,<br />

sondern erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. monumantalisiert <strong>als</strong> Kunstwerke realisiert wurden.<br />

36 Die Untersuchungen von A. Boime 1971 (wie Anm. 34), S. 24 ff befassen sich vorrangig mit einer höheren<br />

Stufe des Zeichenunterrichts, nämlich der Aktstudie. Seine Feststellung, die Unterweisung auf Grundlage<br />

geometrisch-elementarer Formen von zunehmendem Komplexionsgrad <strong>als</strong> typisch deutsche Erscheinung


der Instruktion findet sich a.a.O., S. 192, Anm. 16. Anderen Anschein bringt Wolfgang Kemp, >Einen<br />

wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen


Blättern aus Manuskripten eines Kunstlehre von Malewitsch.<br />

52 Kandinsky 1926 (wie Anm. 49), S. 44.<br />

53 Ebd., S. 18<br />

54 Vgl. Anm. 15, Tafel 1. Hermann von Helmholtz, Optisches über Malerei. In: Vorträge und Reden,<br />

Braunschweig 1869, Bd. 2, S. 97 schrieb: "Das physiolgische Studium der Art und Weise, wie unsere<br />

Sinneswahrnehmungen zu Stande kommen, wie die von Außen kommenden Eindrücke in unseren<br />

Nerven verlaufen, wie der Zustand der letzteren selbst dadurch verändert wird, bietet mannigfache<br />

Berührungspunkte mit der Theorie der schönen Künste [...] Aufmerksame Betrachtung der Werke großer<br />

Meister wird ebenso der physiologischen Optik, <strong>als</strong> die Aufsuchung der Gesetze der Sinnesempfindungen<br />

und sinnlichen Wahrnehmungen der Theorie der Kunst, d.h. dem Verständnis ihrer Wirkungen, förderlich<br />

sein können. [...] Die Eigenthümlichkeiten der künstlerischen Technik, auf welche uns die physiologischoptische<br />

Untersuchung führt, sind in der That mit den höchsten Aufgaben der Kunst eng verknüpft. Ja wir<br />

können vielleicht daran denken, daß selobst das letzte Geheimnis der künstlerischen Schönheit, nämlich<br />

das wunderbare Wohlgefallen, welches wir ihr gegenüber empfinden, wesentlich in dem Gefühle des<br />

leichten, harmonischen, lebendigen Flusses unserer Vorstellungsreihen begründet sei, die trotz reichen<br />

Wechsels wie von selbst einem gemeinsamen Ziele zufließen, bisher verborgene Gesetzmäßigkeiten zur<br />

vollen Anschauung bringen, und in die letzten Tiefen der Empfindungen unserer eigenen Seele uns<br />

schauen lassen."<br />

55 Die Ehrenrettung der geometrischen Elemente <strong>als</strong> Strukturelemente der Naturgebilde unternahm in<br />

bezeichnender Umkehrung der traditionellen kunstheoretischen Argumentation Ernst Haeckel mit seinem<br />

Werk über Kunstformen der Natur, Leipzig - Wien 1899 - 1904, das zahlreiche Nachahmer gefunden hat,<br />

nachdem bereits Adolph Zeising, Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers aus<br />

einem bisher unbekannt gebliebnen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen<br />

Grundgesetze [...], Leispzig 1854, S. 332 ff, Kristalle und Pflanzen auf derartige Merkmale hin<br />

beschrieben ahtte, und <strong>Walter</strong> Crane, Line and Form, London 1900, Leizig 1901, S. 144 f, dies für die<br />

Zeichenlehre und Ornamentik unternommen hatte. Zu den Haeckel-Nachahmern sind zu rechnene z.B.<br />

René Binet, Esquisses décoratives, Paris 1902 u.ö., vgl. Ernst Haeckel, Die Natur <strong>als</strong> Künstlerin (Hrsg. v.<br />

Franz Goerke), W. Breidenbach, Formenschatz der Schöpfung, Berlin 1924.<br />

56 Kandinsky 1926 (wie Anm. 49), S. 17.<br />

57 Ebd., S. 21. Der Bezug zur Einfühlungsästhetik Theodor Lipps ist unüberhörbar und bedürfte einer<br />

näheren Untersuchung.<br />

58 Ebd., S. 21.<br />

59 Ebd., S. 22.<br />

60 Ebd., S. 23.<br />

61 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947, S. 31 ff.<br />

62 Zit. n. 2. Aufl. 1959, S. 49.<br />

63 Ebd., S. 53.<br />

64 Ebd., S. 55.<br />

65 Ebd., S. 59.<br />

66 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, S. 41<br />

67 Kandinsky 1926 (wie Anm. 49), S. 25 - 28.<br />

68 Ebd., S. 28 - 30.<br />

69 H. v. Helmholtz, Die Thatsachen der Wahrnehmung, Berlin 1879, S. 12.<br />

70 Darauf weisen nich nur die Arbeiten von Kurt Kranz hin, vgl. Renate Kübler-Reiser, Kurt Kranz, Hamburg<br />

o.J. In: Hamburger Künstler-Monographien zur Kunst des 20. Jahrhunderts (Hg. Lichtwark-Gesellschaft),<br />

Bd. 18; Kurz Kranz, Bauhaus today, Ausst. Kat. The Smithsonian Institution Washington (D.C.), 1973 -<br />

1975. Zu Kandinsky: Paul Overy, The Language of the Eye, London 1969. Kandinsky bezog die<br />

Physiologie der Wahrnehmung in die für den bildenden Künstler wichtigen Bereiche mit ein, <strong>als</strong> er seine<br />

1922 begonnene Vorlesung über die Grundelemente der Form in Staatliches Bauhaus in Weimar<br />

1919-23 im Abriß veröffentlichte; wiederabgedruckt in: Kandinsky 1973³ (wie Anm. 34), S. 74. Otto<br />

Freundlich, Schriften, Köln 1982, S. 95, beschäftigte sich bereits 1904 mit Helmholtz. Die


Wahrscheinlichkeit, daß auch Paul Klee mit Ergebnissen der Forschung zur Wahrnehmungstheorie sich<br />

beschäftigt hatte, liegt nahe nach der Darstellung von Eva-Maria Triska, Die Quadratbilder Paul Klees -<br />

ein Beispiel für das Verhältnis seiner Theorie zu seinem Werk. In: Paul Klee. Das Werk der Jahre 1919 -<br />

1933 [...], Ausst. Kat. Kunsthalle Köln 1979, S. 45 - 78; Constance Naubert-Riser, La Création chez Paul<br />

Klee. Étude de la Realtion Théorie-Praxis de 1900 à 1924, Paris - Ottawa 1978, S. 72 f.<br />

71 Ernst Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886; ders., Die Analyse der Empfindungen<br />

und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1903.<br />

72 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, (1966), Frankfurt a.M. 1973, S. 154 ff., nur zum Tachismus; ders.,<br />

Sugli specchi, Mailand 1985, S. 125 ff.<br />

73 Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920, Bd. 1, S.162 ff., Bd. 3, S. 185 f.:<br />

"[...] In dieser Zurückführbarkeit der begrifflichen Elemente der Raumanschauung auf die drei<br />

Raumdimensionen kommt endlich ein Prinzip zur Geltung, das für alle konkreten räumlichen<br />

Vorstellungen entscheidend ist: es ist das Prinzip der Relativität unserer Wahrnehmungen, neben dem<br />

das sie begleitende der Relativität der Sinnesempfindungen steht [...]. Jene objektive und diese<br />

subjektive Betrachtung werden jedoch vereinigt durch die Raumanschauung, die alle Wahrnehmungen in<br />

eine dreidimensionale Ordnung dergestalt gliedern, daß der objektive Raum <strong>als</strong> eine Projektion der<br />

subjektiven Raumanschauung in die Außenwelt und die subjektive Raumanschauung <strong>als</strong> ein Spiegelbild<br />

des objektiven Raumes erscheint, beide zusammen <strong>als</strong>o eine Einheit bilden, in der die körperliche und<br />

die geistige Welt untrennbar aneinander gebunden sind."<br />

Vgl. Hermann Drüe, Die psychologische Ästhetik. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft.<br />

Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich (Hrsg. v. E. Mai u.a.), Berlin 1983, S. 71 ff.

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