Herunterladen als PDF - Walter Peter Gerlach, Forschungsprojekte
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Er ging jedoch nicht so weit, ihn im Sinne Freuds durch Projektion zum Fetisch zu erheben, dem er<br />
Lust und Schuld hätte zuweisen können, deren er selber entbehrt hätte. Dennoch mad das<br />
nachfolgende Zitat belegen, daß seine Sprache nicht völlig des psychoanalytischen Duktus seines<br />
Denkens enträt:<br />
"Das äußere Zeichen [des Punktes] wird zur Gewohnheit und verschleiert den inneren Klang des<br />
[Punktes <strong>als</strong>] Symbol." 58 "Der Klang des mit dem Punkt gewohnheitsgemäß verbundenen Schweigens<br />
ist so laut, daß er die anderen Eigenschaften vollkommen übertönt. [...] Manchmal ist eine<br />
außergewöhnliche Erschütterung imstande, uns aus dem toten Zustand zu einem lebendigen<br />
Empfinden herauszureißen. Nicht selten vermag aber das kräftigste Rütteln nicht, den toten Zustand<br />
in einen lebendigen zu verwandeln." 59<br />
"Durch das allmähliche Herausreißen des Punktes aus dem engen Kreis seines gewohnten Wirkens<br />
bekommen seine bis jetzt schweigenden inneren Eigenschaften einen immer mehr wachsenden<br />
Klang. Diese Eigenschaften - inneren Spannungen - kommen eine nach der anderen aus der Tiefe<br />
seines Wesens heraus und strahlen ihre Kräfte aus. Und ihre Wirkungen und Einflüsse auf den<br />
Menschen überwinden immer leichter die Hemmungen. Kurz - der tote Punkt wird zum lebendigen<br />
Wesen." 60<br />
Physiognomische Anthropomorphisierung darf man diese Interpretation geometrischer Elemente<br />
durch emotionale Qualitäten bezeichnen. Anders bei Baumeister: "Elementar" nannte er die Fähigkeit<br />
des bildenden Künstlers, Formen und Farben ohne ihre Gegenstandsbezeichnung zu sehen "<strong>als</strong><br />
reines Resultat einer Augenoptik", die sich auf "die elementaren Kräfte der Formen und Farben"<br />
konzentriere. 61<br />
Wird nun bei dem Prozeß des Herauslösens der Versuch optisch "elementaren Schauens" sicherlich<br />
<strong>als</strong> ein ontogenetischer Sekundärprozeß beschrieben, so findet sich eine Kandinskys Vorstellung<br />
verwandte in Wilhelm Worringers 1908 verfaßter Dissertation »Abstraktion und Einfühlung«. Dort wird<br />
die Anthropomophisierung der abstrakten Form den "primitiven" Frühkulturen nachgesagt (übrigens<br />
im Anschluß an Riegls »Spätrömische Kunstindustrie« von 1901), "<strong>als</strong> Folge einer gr0ßen inneren<br />
Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt" 62 , die er <strong>als</strong> "Platzangst"<br />
charakterisierte. Diese führe zu einer "reine[n] Instinktschöpfung", die "mit elementarer Notwendigkeit<br />
ohne Dazwischenkunft des Intellekts" produziert werde. 63 Die "Beglückungsmöglichkeit", die aus<br />
dieser Kunst herrühre, bestehe darin, daß das Willkürliche und scheinbar Zufällige durch Annäherung<br />
an abstrakte Formen verewigt und einen Ruhepunkt zu bieten im Stande sei. Hier sei "die höchste<br />
absolute Form, die reinste Abstraktion erreicht und der letzte Rest von Lebenszusammenhang und<br />
Lebensabhängigkeit getilgt." 64 Erreicht sei damit "ein Drang, in der Betrachtung eines Notwendigen<br />
und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der<br />
scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz, denn "[...] das Leben <strong>als</strong> solches wird <strong>als</strong><br />
Störung des ästhetischen Genusses empfunden." 65 Worringer formulierte damit genau das Gegenteil<br />
von dem, was Kandinsky forderte. Übersehen wir einmal die fragwürdigen kulturhistorischen<br />
Postulate und transponieren diese auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, so lassen sich<br />
Worringers Aussagen <strong>als</strong> Polemik gegen die moderne Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts