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Manfred Faßler, Prof. Dr. habil Vortrag (in Auszügen ... - FAMe

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<strong>Manfred</strong> <strong>Faßler</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>habil</strong><br />

<strong>Vortrag</strong> (<strong>in</strong> <strong>Auszügen</strong>) gehalten auf dem DGV-Kongreß 2007: „Bilder-Bücher-Bytes.<br />

Medialität des Alltags“<br />

Ins Netz gestellt: 10.10.2007<br />

Me<strong>in</strong>e verehrten Damen und Herren,<br />

ich freue mich sehr, hier <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z e<strong>in</strong>ige Aspekte e<strong>in</strong>er Kulturanthropologie des Medialen<br />

vorstellen, also etwas Frankfurter Gedankengut über die Landesgrenze exportieren zu können.<br />

Bedanken für diese Gelegenheit möchte ich mich beim Vorstand der DGV.<br />

Bedanken möchte ich mich auch bei den Mitforscher<strong>in</strong>nen und –forschern des <strong>in</strong>ternationalen<br />

Forschungsnetzwerks Anthropologie des Medialen, - auch gern <strong>FAMe</strong>-Frankfurt genannt.<br />

Ohne die langen und kritisch-bekräftigenden Gespräche wären manche me<strong>in</strong>er<br />

Überlegungnen nicht entstanden.<br />

Was erwartet Sie?<br />

E<strong>in</strong> Zitat-Motto mag e<strong>in</strong>en Ausblick geben. Es ist von dem Architekturtheoretiker Vittorio M.<br />

Lampugnani aus „Die Modernität des Dauerhaften“ und lautet:<br />

„Erf<strong>in</strong>dungen lassen sich nicht vermitteln, sie liegen jenseits aller theoretischen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen. Über Regeln dagegen kann und muss man sprechen.“<br />

Und dies werde ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Schritten bezüglich „Medialität des Alltags“ tun.<br />

Beg<strong>in</strong>nen werde ich mit e<strong>in</strong>em zweigliederigen Lob des Künstlichen, mit dem ich e<strong>in</strong>ige<br />

strukturelle Argumente des Paradigmas Anthropologie des Medialen aufgreife.<br />

Danach folgen 8 Argumentationsschritte, wenn ich´s denn zeitlich schaffe:<br />

1<br />

[0],1 Lob des Künstlichen: die Erf<strong>in</strong>dung von denkbaren Zusammenhängen<br />

[0],2 Lob des Künstlichen: Die Kunstfertigkeit des Alltags<br />

[1] Selbstbefähigung, Selbstorganisation und Betriebssysteme<br />

[2] Kognition, Kommunikation, Konsensualität<br />

[3] Privilegierung des Medialen<br />

[4] Gespürte Zusammenhänge oder die Empirie des Abstrakten


[5] Poetik der Interaktivität und Sit-Forward-Kooperation<br />

[6] „It from Bit“ oder: Bytes – die künstlichen Happen e<strong>in</strong>er natürlichen Welt<br />

[7] Mediale Betriebssysteme menschlichen Zusammenlebens<br />

[8] Zum Schluss<br />

Als Begleitung zu me<strong>in</strong>em Text werden e<strong>in</strong>ige scharfgestellte, verwackelte, unscharfe<br />

Digitalaufnahmen von Kabeln, Screens, Gadgets, Geräten zu sehen se<strong>in</strong>, Alltagsreste. Sie<br />

werden e<strong>in</strong>ige Aspekte des gerätetechnologischen Universums des Medialen bebildern.<br />

[0],1 Lob des Künstlichen: die Erf<strong>in</strong>dung von denkbaren Zusammenhängen<br />

Manchen wird noch die Aussage von Niklas Luhmann im Gedächtnis se<strong>in</strong>: „´Den Menschen´<br />

gibt es nicht, noch nie hat ihn jemand gesehen.“<br />

Die systemtheoretische Weigerung, den Menschen im S<strong>in</strong>gular anzuerkennen, wurde<br />

nicht sehr gemocht. Gleichwohl ist sie schlüssig. Das Gattungswesen Mensch kann nicht als<br />

e<strong>in</strong>zelnes überleben, weder genetisch noch existenziell. D.h. wir s<strong>in</strong>d von Natur aus auf<br />

Kooperation angewiesen. In dieser kooperativen Interaktivität entstehen die Regeln für<br />

Essens- und Denkzeiten, für Schlaf- und Entspannungszeiten, für bäuerliches, höfisches,<br />

städtisches Verhalten, Machtformen und Funktionen der materiellen Versorgung (der<br />

Stoffströme), Ordnungen für geforderte Körperhaltungen und erwartete Wahrnehmung.<br />

Was ich als Regeln ansprach, lässt sich nicht auf Metabolismus reduzieren. Sie s<strong>in</strong>d<br />

gebunden an Muster- und Modellbildfunktionen diese Interaktivität, an s<strong>in</strong>nlich-abstrakte<br />

Unterscheidungen, an Informationsströme. Diesem Bereich der s<strong>in</strong>nlich-abstrakten<br />

Informationsströme die auf den Menschen e<strong>in</strong>wirken und die er selbst erzeugt, widme ich<br />

mich hier.<br />

Ohne diese s<strong>in</strong>nlich-kognitiven Wechselbezüge menschlichen Lebens würde dieses<br />

verkümmern, verfallen, sterben. E<strong>in</strong>schlägige Forschungen zu sensorischer Isolation belegen<br />

die sensorische Verkümmerung und damit die lebensentscheidenden Wechselwirkungen von<br />

auditiven, taktilen, visuellen, geruchlichen Informationen und dem Gesamtzustand des<br />

Organismus.<br />

Informationen s<strong>in</strong>d ebenso e<strong>in</strong> Lebensmittel des Gehirns, wie Hormone oder<br />

Sauerstoff. Und wir sollten versuchen, soviel wie möglich davon zu bekommen. Das<br />

menschliche Leben geht nicht <strong>in</strong> Informationen unter, sondern wird diese modellieren,<br />

zuordnen, abgrenzen, formalisieren müssen. Alles Reden über Informations- oder Datenfluten<br />

ist uns<strong>in</strong>nig, denn die Fragen richten sich an die kognitiven-medialen Fähigkeit des<br />

Menschen. Und dies s<strong>in</strong>d Fähigkeiten der Musterer<strong>in</strong>nerung, der Modellbildung, der<br />

Gruppierung, Verdichtung, der Idealisierung von Form und Zusammenhängen.<br />

2


Der Bereich des Medialen, um den es hier also gehen wird, zielt auf die Entwicklung<br />

künstlicher Informationssphären. Es s<strong>in</strong>d erfundene Zusatzwelten. Durch diese erfundenen<br />

<strong>in</strong>formationellen Zusatzwelten wird es den kooperierenden Menschen möglich, Modelle<br />

ihrer Kooperation, ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten und Freiheiten zu entwickeln.<br />

Biologisch s<strong>in</strong>d diese Erf<strong>in</strong>dungen nicht vorgesehen. Zeugung, Ernährung und Aufzucht<br />

reichen, um die physiologische, direkte Biologie (b<strong>in</strong> nicht ganz zufrieden mit diesem<br />

Ausdruck) zu erklären.<br />

Mit dem, was wir als Medialität beschreiben, kommt aber e<strong>in</strong>e ´<strong>in</strong>direkte Biologie´<br />

h<strong>in</strong>zu, aus der, wie manche sagen, e<strong>in</strong>e post-biologische oder posthumane Welt sich<br />

entwickle.<br />

Diese <strong>in</strong>direkte Biologie ist<br />

1. jene des Gehirns, das sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Differenzierungen allmählich selbst zu<br />

beobachten beg<strong>in</strong>nt, was Erw<strong>in</strong> Laszlo als die Entwicklung e<strong>in</strong>es Gehirn-<br />

Monitors nennt (immer mal wieder als Selbstbewusstse<strong>in</strong> des Menschen<br />

angesprochen). Und sie be<strong>in</strong>haltet<br />

2. erdachte, zeichenregulierte Außenwelten, jenes mediale Monitor<strong>in</strong>g, mit<br />

dessen Hilfe Menschen ihr zunehmend abstrakteres wirtschaftliches,<br />

produzierendes, speicherndes Handeln zusammenfassen und weiter<br />

vorantreiben.<br />

Die Menschheitsgeschichte ist voll von Belegen dieses medialen Monitor<strong>in</strong>gs (der<br />

Selbstbeobachtung und Selbstverwaltung), von gekerbten Knochen und Hölzern, über<br />

Ste<strong>in</strong>gravuren, Schriftsystemen, bis zu technomedialem Monitor<strong>in</strong>g der Tele-kooperationen<br />

(sei es Morse, Marconi oder Microsoft).<br />

Die Erf<strong>in</strong>dung und Entwicklung nicht direkt biologischer Weltbezüge wiederum<br />

verweist auf die formalisierende Verarbeitung kooperativ gewonnener Informationen, auf<br />

Zeichen, Notate, Bilder, Zahlen, und auf die Programme der Formalisierung und<br />

Aktivierung. Diese beschreibe ich im Folgenden als ´das Mediale´.<br />

Die <strong>in</strong>formationellen Zusatzwelten des Medialen s<strong>in</strong>d, - <strong>in</strong> der Weitung des Konzepts<br />

nicht-direkter biologischer Weltbezüge -, nicht-natürliche Selbstverständlichkeiten<br />

geworden. Ohne sie wäre ke<strong>in</strong> organisatorisches Detail dieses Kongresses machbar.<br />

Willkommen also im Universum nicht-natürlicher Beziehungen.<br />

Seit wann Menschen ihre Stellung <strong>in</strong> der Welt über diese Zusatzwelten bestimmen, ist hier<br />

zunächst weniger wichtig, als die enorme Produktivität dieser Variante der Kooperation.<br />

Zum<strong>in</strong>dest das lässt sich vorab sagen: Ohne diese langfristige, <strong>in</strong>formations<strong>in</strong>tensive<br />

Medialität gäb es nichts von dem, was wir als Kultur bezeichnen, und könnte ich nicht e<strong>in</strong>mal<br />

mit Ihnen reden.<br />

3


Ob der Schritt dann schlüssig ist, den Pierre Lévy <strong>in</strong> „Anthropologie du Cyberspace“, von<br />

e<strong>in</strong>er Evolution globaler Wissensräume zu sprechen, sei vor allem unter Problematisierung<br />

des Wissenskonzeptes angezweifelt. Dennoch birgt dieser Schritt e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante <strong>Dr</strong>ehung:<br />

die e<strong>in</strong>es Lobs der Abstraktionen, - bei Levy an die Raumkategorie gebunden -, das ich hier<br />

wende im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Lobs des Künstlichen.<br />

Nun weiß ich nicht, wie es wäre, ohne diese nicht-natürlichen Beziehungen. Ich mag mir<br />

ke<strong>in</strong>e Vorstellung e<strong>in</strong>es a-medialen Homo sapiens machen, der <strong>in</strong> der funktionalen<br />

Idiotie der Unmittelbarkeit lebt. Deshalb lobe ich lieber das Künstliche und denke über<br />

dessen weitere wissenschaftliche Erforschung nach.<br />

Dies ist <strong>in</strong> Anlehnung an Herbert A. Simon formuliert, der e<strong>in</strong>e Wissenschaft vom<br />

Künstlichen e<strong>in</strong>forderte. Das Mediale verwende ich als <strong>in</strong>formationssensibles,<br />

änderungsoffenes kognitives Programm. Ich unterscheide damit grundlegend das Display,<br />

das Instrument und das Medium vom Medialen.<br />

Damit beziehe ich me<strong>in</strong>e Forschungsfragen auf die Logiken und Programme von<br />

Erf<strong>in</strong>dung, Entdeckung, Entwurf und Expressivität und setze diese von den Instrumenten<br />

wie Pfeilen, Bögen, Hütten, Häusern, Faustkeilen und Feuerstellen, von Buchdruck und<br />

Offset, Xerox und Ma<strong>in</strong>frame ab. Es ist der systematische Unterschied zwischen Hausbau<br />

und Architektur, zwischen Schreibenkönnen und Bedeutungsverstehen, zwischen Codel<strong>in</strong>es<br />

und Zusammenhangsverständnis.<br />

In diesem Unterschied zwischen Medium und Medialem nistet e<strong>in</strong> konfliktreiches<br />

Thema, das viel mehr diesen Kongress zu prägen sche<strong>in</strong>t, - wenn ich das Gesamtprogramm<br />

berücksichtige -, als das Mediale: es ist das Konzept ´Alltag´, und <strong>in</strong> diesem Gewand die<br />

Frage nach Kulturrelativismus und Universalismus.<br />

Ob es lange oder vielleicht auch krumme Wege waren vom örtlich-üblichen<br />

Handschlag bis zur globalen elektronischen Signatur, vermag ich nicht zu sagen. Der<br />

archimedische Punkt ist ke<strong>in</strong> Beobachtungskonzept konstruktivistischer Anthropologie.<br />

Dennoch kann gesagt werden, dass zeichen- und zahlenreiche Wege und mit ihnen e<strong>in</strong>e<br />

Menge künstlicher Welten erfunden werden mussten, um die gegenwärtigen medialen<br />

Zustände zu erreichen, - und dies weltweit. Die Körperlichkeit und das Angesicht <strong>in</strong><br />

agrarischen, kle<strong>in</strong>räumlich organisierten Lebensgeme<strong>in</strong>schaften zertifizierten Vertrauen<br />

anders, als dies e-mails, Faksimiles oder Telefonate erfordern. Gleichwohl bewegen sie<br />

sich im selben menschlichen Erwartungsprofil: <strong>in</strong> der Erwartung von Zusammenhängen.<br />

4<br />

Spreche ich über das Mediale und über Medien, so beziehe ich mich auf diese<br />

Erf<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>es medialen Monitors für angesichtig nicht mehr e<strong>in</strong>zuholende


Zusammenhänge. Dieser Monitor reicht von Symbol, Repräsentation über Lehrtext,<br />

Gedankenerziehung, Weisung, Verkündung, Befolgung bis zu GPS.<br />

Mit Medien lokalisiert sich der Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Künstlichen.<br />

Dieses Künstliche ermöglicht ihm, also uns, überhaupt Reichweiten der<br />

Selbstorganisation zu erf<strong>in</strong>den und zu verwalten.<br />

Das Künstliche ist, so betrachtet, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Basiscodierung nicht lokal.<br />

Gründe, sich auf zeit- und raumversetzte Unterschiede e<strong>in</strong>zustimmen, diese zu<br />

speichern, <strong>in</strong> der Gruppe durch Personen oder entpersonalisiert weiter zu geben, s<strong>in</strong>d sicher<br />

zahlreich. Es muss e<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichend komplexer Bedarf menschlicher Gruppen angenommen<br />

werden, Kooperationen außerhalb der Reichweite des Moments, der Stimme, jenseits des<br />

Horizonts, jenseits des eigenen Lebens zu formalisieren.<br />

Mediales wird erst dann zw<strong>in</strong>gende Dimension menschlicher Expression und<br />

Kommunikation, wenn Ungewissheit oder Unklarheiten über die Reichweiten eigenen<br />

denkenden Handelns entstehen. Erst die Depersonalisierung weiträumiger, weitzeitlicher,<br />

tauschgeschäftlicher Beziehungen zwischen sich nicht bekannten Menschen oder<br />

Lebenszusammenhängen, öffnet der Erf<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>es abstrakten Monitors, [e<strong>in</strong>es Monitors<br />

für das Abstrakte] , den Gedankenraum. Und das wirklich Aufregende dabei ist, dass diese<br />

Anforderungen und Fähigkeiten universal s<strong>in</strong>d. [Zu solchen abstrakten Monitoren / Monitoren<br />

des Abstrakten werden Philosophie, Mathematik, Theologie, Rechtssysteme, Politik,<br />

Menschenrechte etc. entwickelt. Aber eben auch die materiale Organisation der Medien.]<br />

Unbestreitbar s<strong>in</strong>d lesen, schreiben, malen, bauen, entwerfen, kochen, kommunizieren,<br />

computieren afrikanische, asiatische, europäische, amerikanische, australische Fähigkeiten.<br />

Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Bild und Geschmack, Architektur und Technik, freier oder gebundener Assoziation<br />

sehr unterschiedlich. Und sie werden es bleiben, ob als kont<strong>in</strong>entale Unterschiede, vermag ich<br />

nicht zu sagen. Diese Unterschiede zu erheben, darzulegen wissenschaftlich zu kommentieren<br />

ist unerlässlich, nicht wegen der vermuteten kulturellen Relativität des Formgeschehens,<br />

sondern wegen ihrer Anthropologie. Denn neben spezifischem Formgeschehen gehören diese<br />

Fähigkeiten zu ke<strong>in</strong>em Kont<strong>in</strong>ent, zu ke<strong>in</strong>er Kultur. Es s<strong>in</strong>d universale Fähigkeiten des Homo<br />

sapiens sapiens.<br />

Nun kann man fragen, warum diese Fähigkeiten so unterschiedlich entwickelt wurden.<br />

Diese Frage führt zu höchst <strong>in</strong>teressanten Themen. Und hier wären Kooperationen mit<br />

Kollegen aus der evolutionären Anthropologie ebenso wichtig, wie mit Hirnforschern,<br />

Soziologen, Globetrottern, back packern und Kunstgeschichtlern.<br />

Schaut man sich langfristige, verteilte, und zwar weltweit verteilte koevolutionäre<br />

Prozesse an, so s<strong>in</strong>d die universalen Unterschiede ´relativ´.<br />

5


Die zentralen (z.B. medien-) evolutionären Selektionen und Verzweigungen lassen sich<br />

weltweit dokumentieren. Nimmt man die Bildexpression und –Bildschrift als Zeitbezug, so<br />

geht es um 40.000 Jahre; bei Schriftsprache s<strong>in</strong>d es 3.000 Jahre, bei <strong>Dr</strong>uckerei, mit der<br />

Berücksichtigung der Erf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a, s<strong>in</strong>d es ca. 1.000 Jahre, nimmt man C<strong>in</strong>emascope<br />

so s<strong>in</strong>d es gut 120 Jahre und Digitalität gerade mal 60 Jahre. Die damit angesprochene<br />

Universalität ist e<strong>in</strong>e durch Wanderschaften, durch Handlungsreisende, des Patentklaus, der<br />

konsumgebundenen Diffusion, der F<strong>in</strong>anzkapitale oder der globalen Kooperationen und<br />

exterritorialen Netz-Vergeme<strong>in</strong>dungen.<br />

[0 //] Lob des Künstlichen: Die Kunstfertigkeit des Alltags<br />

Man muss sich die Empirie des Universalismusarguments ebenso klarmachen, wie die<br />

kulturell nicht reduzierbaren Prozesse <strong>in</strong>formationeller, technologischer, medialer<br />

Evolutionen. Alltag, um den es ja hier geht, ist dazu nicht das Gegenprogramm. Er ist<br />

allenfalls e<strong>in</strong> Format, <strong>in</strong> dem Menschen ihre natürlichen und nicht-natürlichen<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu ihren Selbstverständlichkeiten machen, - und immer wieder neu, ohne<br />

Kont<strong>in</strong>uitätsgarantie, ohne materielle oder <strong>in</strong>formationelle Verlässlichkeit.<br />

Alltag, zumal medialer Alltag, ist also nur sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong> alter Bekannter. Hier trügt<br />

die wissenschaftliche Sicherheit. Nimmt man die Formulierung des Zweittitels ernst, so geht<br />

es auch um die Fragen nach den veränderten organischen und anorganischen,<br />

gegenständlichen und sensorisch-kognitiven Zusammensetzungen von Alltag.<br />

Alltägliche Angesichtigkeit unterscheidet sich im gesamten raum-zeitlichen und<br />

persönlich-partizipativen Aufbau von alltäglicher Telepräsenz (sei sie durch Buch, Teleskop,<br />

Automat, Telegraf, Telefon, Television, oder Cyberspace aufgebaut). Die Unterschiede <strong>in</strong><br />

dieser Telealltäglichkeit s<strong>in</strong>d erheblich und reichen von Erziehung über Unterhaltung, Spiel,<br />

Zoom bis Pixelierung.<br />

Und diese führen wieder zum Lob des Künstlichen zurück.<br />

6<br />

Unbestreitbar ist, dass Medien und das Mediale e<strong>in</strong>iges mite<strong>in</strong>ander zu tun haben. Es<br />

ist dieselbe Welt der Kommunikationsabsichten. Kommunikationstheoretisch organisieren<br />

Menschen mit Medien das von ihnen als geme<strong>in</strong>sam und konsensuell Imag<strong>in</strong>ierte.<br />

Vorauszusetzen ist dabei die Fähigkeit des Menschen, Zeichen willkürlich mit Bedeutung zu<br />

verb<strong>in</strong>den. Etwas zu bedeuten heißt, das Abstraktum mit Gefühl zu verb<strong>in</strong>den, Gefühl <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en zustand zu <strong>in</strong>vestieren, von dem ich etwas erwarte. Ob dies bedrohlich, befreiend,<br />

spaßig, <strong>in</strong>teressiert, unterwerfend oder erlösend geme<strong>in</strong>t ist, <strong>in</strong>teressiert mich hier nicht.<br />

Wichtig ist zu sehen, das gegenständliche und nichtgegenständlich, konkrete oder abstrakte<br />

Unterschiede <strong>in</strong> die Erwartungsprogramme des kooperativen Verhaltens e<strong>in</strong>bezogen werden.


In Medien machen Menschen <strong>in</strong>direkt anschaubar, besprech- und darstellbar, was<br />

s<strong>in</strong>nlich-direkter Beziehungen entzogen ist.<br />

Menschen ´beheimaten´ im Medium also Unterschiede, Daten, Informationen, d.h. sie<br />

beziehen diese auf e<strong>in</strong> Zusammenhangsversprechen.<br />

Gegen die Erfahrung des eigenen sezierenden, diabolischen Unterscheidens werden<br />

die erfundenen und verabredeten Logiken der Verb<strong>in</strong>dungen gesetzt. Medien s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong>sofern Folgen systemischer Anstrengungen der Menschen, Anwesenheit auch im<br />

Uns<strong>in</strong>nlichen zu erzeugen und dieses nach se<strong>in</strong>en eigenen Logiken weiter zu entwickeln.<br />

Mit diesen systemischen Anstrengungen lassen sich Menschen auf<br />

Ordnungsoptionen e<strong>in</strong>. Sie verb<strong>in</strong>den mit der Beständigkeit materialer Medien, mit Ste<strong>in</strong>,<br />

Holz, Papier, Kuhhaut, T<strong>in</strong>te sowohl religiös, philosophisch, geschichtlich als auch politisch,<br />

ästhetisch oder sprachlich geschlossene Welten. Andere vermuten skeptisch h<strong>in</strong>ter f<strong>in</strong>gierter<br />

Beständigkeit unerkennbare Tumulte, die Unerkennbarkeit von Welt.<br />

Mit dem Zusammenhangsversprechen und den Ordnungsoptionen verbanden und<br />

verb<strong>in</strong>den sich Hoffnung auf Vollständigkeit der getroffenen Unterscheidungen, Restlosigkeit<br />

der Weltbeschreibung oder auch die Idealisierung e<strong>in</strong>es außerweltlichen Ganzen. Immer g<strong>in</strong>g<br />

es dabei um die Speicherleistungen der verwendeten Materialien. Deren Universalität und<br />

Beständigkeit trug den Keim der Ganzheit <strong>in</strong> sich. Nur stellte sich heraus, dass ke<strong>in</strong>e<br />

Materialität die Zeit überdauert. Was das Gehirn vergisst, verweht auch irgendwann aus dem<br />

kollektiven Gedächtnis. Auch dies ist e<strong>in</strong>e spannende evolutionäre Thematik.<br />

G<strong>in</strong>g früher so manches nicht mehr auf e<strong>in</strong>e Kuhhaut, s<strong>in</strong>d heute die<br />

Speicherprobleme gelöst. Aber das, was damit ´gemacht werden kann´, welche mediale Welt<br />

erzeugt und erhalten werden kann, ist nicht entschieden. Und ob <strong>in</strong> zwei bis n-Rechner- und<br />

Menschengenerationen diese Speicher noch gelesen werden können, ist fraglich – und aus<br />

me<strong>in</strong>er Sicht auch nicht erforderlich.<br />

Da Menschen leichter zu bee<strong>in</strong>flussen waren und s<strong>in</strong>d als Zeichen und Zeichenträger,<br />

bestand die Versuchung seitens derer, die Zusammenhänge beherrschen wollten, die anderen<br />

Menschen den Artefakten anzupassen. Was auch geschah, was auch geschieht. Schrift-, Text-<br />

und Gesetzesgehorsam, Folgebereitschaft, Exklusivität, Verfolgungsbereitschaft schließen<br />

sich an diese Erkenntnis an.<br />

7<br />

So erf<strong>in</strong>den und verstärken Menschen mit Medien künstliche Umwelten. Über deren<br />

politisch, ethische, soziale Wertigkeit werde ich hier nicht weiter reden.<br />

Anders gesagt: die Zusammenhänge, auf die sich Menschen berufen, s<strong>in</strong>d von Beg<strong>in</strong>n an<br />

künstlich, s<strong>in</strong>nlich-abstrakt oder abstrakt-s<strong>in</strong>nlich. Neben den<br />

Zusammenhangsversprechen werden mit Medien Speicheroptionen verbunden, die das<br />

<strong>in</strong>dividuelle Vergessen außer Kraft setzen. Medien s<strong>in</strong>d Akkumulatormechanismen. Die


angesprochenen systemischen (synthetisierenden) Anstrengungen erfordern immer wieder den<br />

Schritt <strong>in</strong> die ´der Möglichkeit nach vorhandenen Welt´ (der Interrelationen, verwobenen und<br />

vernetzten Zusammenhänge).<br />

Diese Abstraktions-, Regelungs-, Entwurfs- und Virtualisierungsfähigkeit beschreibe<br />

ich als das Mediale.<br />

Sicher ist dafür wichtig, dass Menschen Medien handhaben können. Techniken, denen taktile,<br />

raumsimulierende, reflexive, spielerische und kooperative Kompetenzen zuzuordnen s<strong>in</strong>d,<br />

garantieren auf der materialen Ebene den wechselseitigen, <strong>in</strong>tegrierenden Umgang. Sie s<strong>in</strong>d<br />

aber zugleich nur e<strong>in</strong>e Dimension e<strong>in</strong>es Zusammenhangsdenkens, das ich als das Mediale<br />

beschreibe.<br />

Dieses Zusammenhangsdenken ist schon seit geraumer Zeit vom Rücken der Pferde,<br />

von denen aus Weltreiche erzwungen wurden, abgestiegen und an die Katheder getreten, <strong>in</strong><br />

die Skriptorien e<strong>in</strong>gezogen, hat sich an die Schreibtische oder <strong>in</strong> die Hörsäle gesetzt. Schon<br />

länger gibt es kulturelle Zusammenhänge, <strong>in</strong> denen nichts mehr ´auf die Be<strong>in</strong>e gestellt´,<br />

sondern <strong>in</strong>formationell und kommunikativ verhandelt wird. Der letzte Großversuch, die<br />

Deutsche Philosophie vom bürgerlichen Kopf auf proletarische Be<strong>in</strong>e zu stellen – so Karl<br />

Marx gegen Georg F. Hegel -, endete nach 150 Jahren 1989.<br />

Es wurden systemische Versprechen als Große Erzählung erfunden. Der Trick, der<br />

immer wieder gelang, bestand und besteht dar<strong>in</strong>, die Erzählung, Darstellung als<br />

Selbstauskunft des materialen Mediums zu behaupten. Und es wurde geglaubt. Nur so<br />

konnten aus materialen Artefakten Heilige Zeichen, Heilige Schriften werden.<br />

Immer wieder hat sich die Imag<strong>in</strong>ation der Zusammenhänge verändert, haben<br />

Menschen die Abstraktionsleistungen für Zeichen und Bedeutung neu gruppieren, neu<br />

hierarchisieren müssen. In diesen Prozessen s<strong>in</strong>d die Fähigkeiten des Menschen, sich über<br />

den existenziellen Moment h<strong>in</strong>aus auf Weitergabe, Kont<strong>in</strong>uität, auf Umbruch, Re-Formation<br />

e<strong>in</strong>zulassen, umfangreicher geworden.<br />

8<br />

Bei allem blieb das Ideal der Selbstbewahrung und des Selbsterhalts menschlichen<br />

Lebens das Ziel. Wie die Reiche und Staaten, die feudalen oder kapitalistischen<br />

Zusammenhänge politisch oder menschenrechtlich bewertet werden, ist für e<strong>in</strong>e<br />

Anthropologie des Medialen weniger entscheidend als die Frage danach, wie wir Menschen<br />

überhaupt dazu kommen, Zusammenhänge so zu idealisieren, zu verdammen, sie<br />

kommunikativ <strong>in</strong> Bewegung zu setzen oder ihnen <strong>in</strong>formationelle Autonomie zuzugestehen.<br />

Wie kommt der Mensch dazu, Zusammenhangsmedien zu erf<strong>in</strong>den und sie wertzuschätzen?<br />

Angesprochen ist damit die unh<strong>in</strong>tergehbare Vernetzung von physiologischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen menschlicher Wahrnehmung und den Mensch-Umwelt-Interaktivitäten,<br />

ganz gleich, wie konkret oder abstrakt, wie natürlich oder künstlich sie e<strong>in</strong>gestuft werden. Mit


der doppelten Nennung von Interaktivität und Vernetzung ist auch angesprochen, dass<br />

unser Forschungsansatz sowohl Entwurfspraxen als auch Technostruktur <strong>in</strong>tegriert.<br />

Medien gehören mit ihrer <strong>in</strong>strumentellen und gerätetechnischen Struktur fraglos zu<br />

den Systemen universaler Anthropotechniken. Diese s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs ohne die verwobenen<br />

Programme und Subprogramme der Bezeichnung, Codierung, Bedeutungskarrieren und<br />

Zusammenbrüche, der besonderen Erzähl- und Repräsentationsweisen nicht beschreibbar.<br />

Unter Annahme der selbsterfundenen medialen Kopplungen lässt sich sagen, dass der<br />

anthropologisch moderne Mensch e<strong>in</strong> mediomorpher Mensch geworden ist. (Er ist dies<br />

nicht erst seit kurzem, wie es zum Beispiel <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>ladung zum 11. Medienforum Mittweida<br />

angedeutet: Mediamorphose – Kommunikation im Wandel)<br />

Medien s<strong>in</strong>d die Zweite Haut, die künstliche S<strong>in</strong>nlichkeitsquelle.<br />

Im Medialen s<strong>in</strong>d die Logiken abstrakter Vermittlung und Kooperation<br />

enthalten, über die ´zw<strong>in</strong>gende´ oder ´verb<strong>in</strong>dliche´ Zusammenhänge erst möglich<br />

werden.<br />

- Die primären Instrumente des Medialen s<strong>in</strong>d bild-, zahlen und<br />

schriftsprachliche Notationsordnungen. Sie s<strong>in</strong>d die<br />

Aktivierungsmuster sozialer Systeme.<br />

- Die sekundären Instrumente des Medialen s<strong>in</strong>d die Medien. Sie s<strong>in</strong>d<br />

Speicher-, Tradierungs- und Programmiermuster sozialer Systeme.<br />

Ihre unterhaltsame oder erzieherische, nachrichtliche oder entwerfende<br />

Glaubwürdigkeit steht und fällt allerd<strong>in</strong>gs mit den Welterwartungen, also mit den<br />

Vertrauensmustern, die jeweiliger Abstraktion zugedacht s<strong>in</strong>d.<br />

Ohne das Imag<strong>in</strong>ieren beabsichtiger und gewünschter Zusammenhänge wären Medien<br />

wohl nicht entwickelt worden. Unter diesen Annahmen s<strong>in</strong>d mir Master and Slave –<br />

Diskuren, <strong>in</strong> denen der arme Mensch den bösen Medien, wahlweise Masch<strong>in</strong>en, Roboter,<br />

kle<strong>in</strong>en und großen Teufeln ausgeliefert ist, fremd.<br />

In der Forschung geht es mir um Zufälle und Absichten, um Rout<strong>in</strong>en und Subrout<strong>in</strong>en<br />

aus Wahrnehmung, Experiment, Verabredung, Zufall, Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, Funktion, die<br />

Menschen dazu brachten und br<strong>in</strong>gen, Ideen von Zusammenhängen zu entwickeln. Wie<br />

und mit welchen Entdeckungen, Erf<strong>in</strong>dungen, Entwurfslogiken entstehen Zeichen,<br />

Bedeutungen, Speicher, bewegliche Zeichenträger? wie werden sie medial<br />

bewirtschaftet?<br />

9<br />

Die Fragen verweisen auf <strong>in</strong>teraktive und kooperative Abstraktionsleistungen, auf<br />

angestoßene Gedanken, Imag<strong>in</strong>ationen, Wünsche nach Integration und Reichweiten und<br />

vielem mehr. Im Medialen organisieren sich abstrahierende Unterscheidungs- und


Entscheidungsfähigkeit, die ich als <strong>in</strong>formationelle Intelligenz des Menschen beschreibe,<br />

entwerfende Intelligenz und die Fähigkeiten, Zustände, Zeichen, Zeiten, Intentionen und<br />

Interessen entweder stabil zu koord<strong>in</strong>ieren oder immer wieder neu zusammenzusetzen.<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich brauchen wir e<strong>in</strong>e umfangreichere Forschung zu Alltag und<br />

Abstraktion, und dies nicht nur auf der Ebene der Karikatur von Gebrauchsanweisungen<br />

(´Nippel durch die Lasche ziehen´), die eher vom Kollaps der abstrakten Darstellung und<br />

Wahrnehmung berichten, als von Alltag und Abstraktion. Ohne diese kommen wir auch<br />

Wissenstheoretisch nicht wirklich weiter. Die Tele-Life-Shows, Tele-Life-Berichterstattung<br />

wäre da e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressanter E<strong>in</strong>stieg. In ihnen hat ´das Ferne´ längst gewechselt zur präsenten<br />

Ferne.<br />

Anstelle des Erlebens ist das Erreichen getreten. Hier könnte e<strong>in</strong> Ansatz se<strong>in</strong>.<br />

Möglich, dass man dies alles als „extension of man“ beschreiben kann, wie es<br />

Marshall McLuhan e<strong>in</strong>st tat. Schlüssig ist dies, wenn man ausschließlich zwischen<br />

kognitiven Schaltern und <strong>in</strong>strumentellen Schaltern unterscheidet. Nehmen wir die<br />

Entwicklung von programmierten <strong>in</strong>formationellen Schaltern <strong>in</strong> Netzwerken und Clustern<br />

an, so haben wir eher das, was geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> als Hybridstruktur angesprochen wird. Nun,<br />

McLuhan dachte darüber nicht nach, sondern suchte eher Wege, das aufkommende Screen<strong>in</strong>g<br />

zu <strong>in</strong>terpretieren und tat dies mit dem Narziss-Bildchen. Aber die Erf<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d gewiss<br />

nicht aus sich heraus Narkotikum, Betäubungsmittel für den überbordenden Narzissmus des<br />

Menschen. Ebenso halte ich nichts davon, Medien über Arnold Gehlens These vom Menschen<br />

als Mangelwesen zu diskutieren.<br />

Die ökologische Lücke, <strong>in</strong> der der Mensch angesiedelt ist, bescherte ihm Augen, die<br />

elektronmagnetische Strahlung mit e<strong>in</strong>er Wellenlänge von 380nm bis 780nm (sog.<br />

Lichtspektrum) erfassen können, Ohren, deren Hörzone zwischen 16 Hertz und 20.000 Hertz<br />

liegt, e<strong>in</strong>e Haut, die mit 10 Kilo das größte s<strong>in</strong>nliche Wahrnehmungsorgan ist, e<strong>in</strong>e Gehirn,<br />

das <strong>in</strong>zwischen an die 1,5 Kilo haben kann und mit 100 Milliarden Neuronen se<strong>in</strong>e<br />

Abstraktions-, Vergessens-, Reflexions-, Traum- und Ausdrucks-Späße mit sich selbst und<br />

entsprechenden Ausdrucksorganen treibt. Ich f<strong>in</strong>de, das ist alles ganz schön entwickelt,<br />

zum<strong>in</strong>dest so, dass daraus Welten entstanden s<strong>in</strong>d, mit denen wir uns wieder mit S<strong>in</strong>nen,<br />

Abstraktion und Reflexion befassen müssen, oder wollen, oder sollten, me<strong>in</strong>t me<strong>in</strong> Gehirn-<br />

Ich.<br />

10<br />

Obwohl ich McLuhan und Gehlen <strong>in</strong> den genannten Gedanken nicht zustimme,<br />

stimme ich e<strong>in</strong>em fraglos zu: es geht um d e n Menschen, also e<strong>in</strong>e auf alle Menschen<br />

bezogene, mith<strong>in</strong> universalistische Sichtweise und nicht um e<strong>in</strong>e kulturrelativistische<br />

Betrachtung bestimmter Verhaltensauftritte. Diese, die Verhaltensauftritte, also


performance und nicht behavior, s<strong>in</strong>d zweifellos auch für mich wichtig. Ihre<br />

wissenschaftliche Bedeutung erschließt sich aber erst <strong>in</strong> der Durchformulierung des<br />

Medialen, als Forschungsfeld und zugleich als Theorieanforderung. Diese<br />

universalistische Perspektive stellt ´den Menschen´ und ´se<strong>in</strong>e Artefakte´ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

unh<strong>in</strong>tergehbaren Zusammenhang. Der Körper des Menschen und die Körper der Artefakte<br />

s<strong>in</strong>d Partner <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Endo-Realität (<strong>in</strong> Anlehnung an O.E. Rössler).<br />

Es gibt weder e<strong>in</strong> Jenseits der Wahrnehmung noch e<strong>in</strong> Jenseits der Artefakte.<br />

Damit widerspreche ich grundsätzlich der verbreiteten Annahme e<strong>in</strong>er Archäologie,<br />

hier e<strong>in</strong>er Medienarchäologie. Diese, an Michel Foucaults Archäologie der Moderne<br />

angelehnte Me<strong>in</strong>ung, geht von dem Vorurteil aus, Medien seien e<strong>in</strong> Bereich der Verste<strong>in</strong>erten,<br />

<strong>in</strong>stitutionell-erstarrten Ordnung der ausweglosen Sozialsysteme. Manche<br />

Unternehmensform, manche doktr<strong>in</strong>äre E<strong>in</strong>hegung mag dies begründen. Aber dennoch:<br />

Archäologie löst die Erf<strong>in</strong>dungen zu sehr vom menschlichen Körper, - und zudem gehen<br />

heutige Archäologien völlig anders mit dem Gefundenen um, als es sich Foucault dachte.<br />

Ich bewege mich also <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Ausgrabungsgruppe, sondern mit wissenschaftlichen<br />

Partnern auf der Suche nach den Regeln und Programmen menschlicher<br />

Selbstorganisation, nach der biologisch-nichtbiologischen, s<strong>in</strong>nlich-abstrakten Anatomie<br />

des Medialen. Damit ist e<strong>in</strong>e weitere wichtige Grundposition mitformuliert: der angedeutete<br />

unh<strong>in</strong>tergehbare Zusammenhang von <strong>in</strong>formationeller Intelligenz des menschlichen Körpers<br />

und den Artefakten erfordert,<br />

- nicht auf Text, sondern auf Kontext,<br />

- nicht auf Gerät, sondern Programm,<br />

- nicht auf Funktion, sondern Interaktivität und<br />

- nicht auf Medienformat, sondern auf das Mediale zu schauen.<br />

Diese Privilegierung des Zusammenhangs künstlicher Realität des Menschen erfordert,<br />

neue L<strong>in</strong>sen der Theorie zu schleifen, neue Beobachtungs<strong>in</strong>strumente für den Weltalltag von<br />

Menschen, für das Weltabstraktionserbe, d.h. die Entwurfsfähigkeit der Menschen.<br />

Dass dies nicht e<strong>in</strong>fach von der Hand geht, wird <strong>in</strong> dem Moment klar, wo Gehirn, wie oben<br />

angesprochen, nicht mehr ausschließlich für Individualität (oder gar für Identität) steht, aber<br />

auch nicht ausschließlich e<strong>in</strong>em systemischen Außen zuzuordnen ist. Niklas Luhmann hatte<br />

setzend geschrieben (1988, 884):<br />

„Menschen können nicht kommunizieren, nicht e<strong>in</strong>mal ihre Gehirne können<br />

kommunizieren, nicht e<strong>in</strong>mal das Bewusstse<strong>in</strong> kann kommunizieren. Nur die<br />

Kommunikation kann kommunizieren.“ (Wie ist das Bewusstse<strong>in</strong> an Kommunikation<br />

beteiligt? Gumbrecht / Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation)<br />

11


E<strong>in</strong>igen werden diese Sätze bekannt se<strong>in</strong>. Nun entscheidet die Bestimmung des logischen<br />

Ortes des Gehirns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er davon unterscheidbaren Welt aus Körper, Gerät, Funktion,<br />

Kommunikation, Architektur usw. nicht darüber, wie wir Medialität beobachten. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

entscheidet e<strong>in</strong>e anthropologische, soziologische, neurologische Bestimmung darüber, wie die<br />

Fähigkeiten zu sehen, zu hören, tasten, riechen, schmecken, brummen, oder physiologisch-<br />

physikalisch zu sprechen, beobachtet werden. Klar, erzeugen wir mit jeder Beobachtung<br />

bl<strong>in</strong>de Flecken des Unbeobachteten oder auch grell-argumentierendes Licht unmöglicher<br />

Unterscheidung. Das muss ich auch berücksichtigen. Me<strong>in</strong>e beobachtende Annäherung ist <strong>in</strong><br />

dem Gedanken begründet, dass sich die menschlichen Wahrnehmungspotenziale nur <strong>in</strong><br />

Interaktivität aktivieren können. Entweder wir <strong>in</strong>teragieren, oder unser Leben endet <strong>in</strong><br />

sensorischer Verkümmerung. Dabei ist es egal, auf welche Beweis- oder Wahrheitsformel die<br />

s<strong>in</strong>nlich-musterbildende Erfahrung kulturell verpflichtet ist.<br />

Auf diesem Kongress geht es um die globale mediale Selbstorganisation, um<br />

mediale Kopplungen menschlicher Lebensorganisation. Anders gesagt, es geht um die<br />

Anwesenheitsprogramme von Körper, Gerät, Funktion unter den Bed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong>formationeller Verfassung und medialer Verstetigung von Wahrnehmung als<br />

Kommunikation, um <strong>in</strong>formationell zusammengesetzte Alltage.<br />

Wir haben es also mit e<strong>in</strong>er Art Weltabstraktionserbe und Weltabstraktionszukunft zu tun: mit<br />

universalen Programmen.<br />

[1] Selbstbefähigung, Selbstorganisation und Betriebssysteme<br />

Titel und Untertitel dieses Kongresses haben es also <strong>in</strong> sich.<br />

Es ist e<strong>in</strong>e Bandbreite vom Radiogebrauch bis zu Alltag im Internet, vom<br />

buchstäblichen Denken bis zu Bytes eröffnet. Der Untertitel lässt offen, ob das Verhältnis<br />

Medialität und Alltag Grundzüge manipulativer Determ<strong>in</strong>ation oder <strong>in</strong>teraktiver<br />

Nutzungsentscheidung aufweist. E<strong>in</strong>e Erklärung, ja auch e<strong>in</strong>e Klärung ist aber<br />

unverzichtbar.<br />

Ich gehe davon aus, dass im Medialen nicht nur die <strong>in</strong>formationelle Bee<strong>in</strong>flussung<br />

organisiert ist. Vielmehr gehe ich von <strong>in</strong>formationeller Intelligenz des Menschen aus. Ob<br />

diese e<strong>in</strong>kanalig, ohne Rückkanal, als Verkündigung, als Nachricht, als Liturgie, Parlament,<br />

Öffentlichkeit, oder offen-vernetzt und partizipativ organisiert ist, bleibt dabei wichtig. Ich<br />

will ja Medienforschung nicht entpolitisieren. Dennoch ist mit dem Argument der<br />

<strong>in</strong>formationellen Intelligenz, also mit der Selbstorganisation menschlichen Lebens durch die<br />

Handhabung von Unterschieden und deren Ordnungsgefüge e<strong>in</strong>e Grundlage angefragt:<br />

12<br />

Was ist am Menschen, dass er Medien denken kann.


Und auf den Untertitel gewendet: Was mit dem Genitiv des Untertitels angesprochen?<br />

Bedenken wir, <strong>in</strong> welcher Weise die Mediendiskurse vor allem durch das 20. Jh.<br />

imprägniert s<strong>in</strong>d, ist etwas ´Begriffsarbeit´, wie man früher sagte, erforderlich.<br />

Was me<strong>in</strong>e ich mit `imprägniert´?<br />

Nun, nach wie vor wird von Massenmedien gesprochen, und werden Referenzen quer<br />

durch das 20.Jh. e<strong>in</strong>gesammelt, von Le Bons Massenpsychologie (1895), über Eduard<br />

Bernays Propaganda-Konzeption (1935), zu Adornos Fernseh- und Massenmedienkritik,<br />

vielleicht verbunden mit Argumenten der Massenproduktion oder des antiquierten Menschen.<br />

In dieser Argumentewelt fusionieren Technik-, Zivilisations- und Medienkritik auf der<br />

Ebene e<strong>in</strong>zelner Gesellschaft oder e<strong>in</strong>er epochal verstandenen Moderne. Weiter angelegt, aber<br />

ähnlich imprägnierend, ist die Supermarke „Gutenberg-Galaxis“, von Marshall MacLuhan <strong>in</strong><br />

Umlauf gebracht. E<strong>in</strong>e ganze Weltenordnung wird da behauptet, e<strong>in</strong>e durch die Typografie<br />

erfundene und operativ sowie kognitiv geschlossene Welt. Gerne wurde dieses ironisch<br />

e<strong>in</strong>gespielte Ordnungsversprechen aufgenommen, nicht zuletzt von philosophierenden<br />

Vertretern e<strong>in</strong>es Medienaprioris, wie N. Bolz, oder von sprachwissenschaftlich geschulten<br />

Vertretern e<strong>in</strong>es universalen Zahlenaprioris, wie F. Kittler. Immer wieder diese Suche nach<br />

Welte<strong>in</strong>heitsformeln, nach ultrastabilen Ordnungen, oder gar die Behauptung e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>earen<br />

oder konzeptionellen Allmächtigkeit. Ich kann da nur das sehr <strong>in</strong>formative Buch<br />

„Medienphilosophie“ von Frank Hartmann empfehlen.<br />

Nun ist ´Alltag´ für die Beschreibung von Nutzungskontexten nach wie vor e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Kategorie. Allerd<strong>in</strong>gs muss dann auch danach gefragt werden, wo das stattf<strong>in</strong>det,<br />

was als Nutzungskontext beschreibbar ist.<br />

Wo ist also Alltag?<br />

Und: Wie ist Alltag?<br />

Und: Wie entsteht e<strong>in</strong> medial <strong>in</strong>tegrierter Alltag?<br />

Me<strong>in</strong> Antwortversuch führt zu e<strong>in</strong>em fachlichen Kuriosum: medialem Weltalltag.<br />

Empirisch ist dies über die bereits digital vernetzte 1 Milliarde Menschen begründet<br />

und mit der Perspektive versehen, dass 2015 die Hälfte der menschlichen Weltbevölkerung<br />

vernetzt se<strong>in</strong> wird, - so die Projektion auf dem Weltgipfel der Informationsgesellschaft<br />

(WSIS, 2005 <strong>in</strong> Tur<strong>in</strong>).<br />

Alltag nicht nur unter den Bed<strong>in</strong>gungen digitaler Telepolis, sondern globalpolis?<br />

Alltag ist also nicht skalenfrei, sondern immer vernetzt unter den jeweiligen<br />

<strong>in</strong>formationellen Hegemonien, seien diese angesichtig, durch Litfasssäulen oder durch<br />

digitale Netzwerke bestimmt.<br />

13<br />

Folgen wir der Formulierung „Medialität des Alltags“, so s<strong>in</strong>d damit Entstehungs-,<br />

Erhaltungs- und Änderungsbed<strong>in</strong>gungen anformuliert. Die Größenordnungen e<strong>in</strong>es solchen


Alltags bestehen zunächst <strong>in</strong> <strong>in</strong>formationeller Selbstbestimmung, enterta<strong>in</strong>ement, <strong>in</strong>fo-<br />

oder eduta<strong>in</strong>ement, Erf<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong> Garagen und Labors, Gameconventions, Local Area<br />

Network – Parties, onl<strong>in</strong>e-Broker<strong>in</strong>g, data m<strong>in</strong><strong>in</strong>g oder Musikantenstadel. Angesprochen<br />

s<strong>in</strong>d nicht nur unterschiedliche Medienformate. Es geht auch um gegensätzlich imag<strong>in</strong>ierte<br />

Räume, um Leben im Cyberspace, agieren <strong>in</strong> elektronischer Nahräumlichkeit, um<br />

polydirektionale Räume, die durch Nutzer / durch Nutzung erst entstehen, also ke<strong>in</strong>e klassisch<br />

d<strong>in</strong>gliche, gegenständliche oder dem Handeln vorausgehende Aktualität besitzen.<br />

Berücksichtigen wir konzeptionell umgesetzte Programme wie „Networked Places“<br />

und „Networked Objects“, das „Internet of th<strong>in</strong>gs“, „Scripted realities“ und verb<strong>in</strong>den<br />

diese mit den Konzepten der Locative Media (des Künstlers Karlis Kalm<strong>in</strong>s), der<br />

Gruppenbildungen <strong>in</strong> globalen Netzwerken durch künstliche Arbeitsräume oder<br />

Syndikalisierungsmechanismen wie RSS (Realy Simple Syndication), so lässt sich sagen:<br />

tägliches Leben f<strong>in</strong>det über Arbeitsorganisation, Kooperation, über eBay und Semapedia<br />

(www.semapedia.org), über LANs, Blogs etc. <strong>in</strong> medialen Räumen statt. Ziehen wir noch<br />

elektronisch-automatisierte Programme h<strong>in</strong>zu, die als „Th<strong>in</strong>gs that th<strong>in</strong>k“ massive Realität im<br />

Netz s<strong>in</strong>d, wird die mediale Kopplung von Alltag deutlich.<br />

Unbeantwortet blieb bislang die Frage von Julian Bleecker: „how will an <strong>in</strong>ternet of<br />

th<strong>in</strong>gs change our lived experience?“ (2007)<br />

Möglich, dass Alltag im Cyberspace e<strong>in</strong>e ebenso schwierige Kategorie ist wie virtuelle<br />

Ethnography, wie sie Christ<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>e vor wenigen Jahren vorschlug. Aber belastbare Umwege<br />

für diese Problematik gibt es nicht. Alle<strong>in</strong> schon die Frage ob User Generated Content, d.h.<br />

Verständigung, Vertrauen, Verlässlichkeit, Kooperation nicht für immer, sondern für Jetzt<br />

entstehen, durch die Alltagsbrille sichtbar ist, ist bislang nicht beantwortet. Schwieriger noch<br />

ist es, nehmen wir ubiqitous comput<strong>in</strong>g, oder pervasive comput<strong>in</strong>g an, also das<br />

Verschw<strong>in</strong>den der s<strong>in</strong>nlichen Endbereiche von Comput<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>ter die Oberfläche e<strong>in</strong>es<br />

Gerätes. Was machen wir, wenn die Interface-Debatte dadurch obsolet wird, dass sie <strong>in</strong><br />

den M<strong>in</strong>iaturisierungen und h<strong>in</strong>ter der Verpackung verschw<strong>in</strong>det, wir aber dennoch mit dem<br />

<strong>in</strong>formationellen Abstrakt-Körper über künstliche Sensorik verbunden s<strong>in</strong>d, und das<br />

täglich? Gibt es e<strong>in</strong> Konzept des künstlich-sensorischen Alltags?<br />

E<strong>in</strong> Weg wäre, Alltag über Verhaltensrout<strong>in</strong>en zu rekonstruieren. Ke<strong>in</strong> Problem: denn<br />

täglich grüßt die Rout<strong>in</strong>e für nichtalltägliche Prozesse, grüßen Technologie, e<strong>in</strong>geforderte<br />

Medienkompetenz, strukturelle Langeweile, Flexibilisierung und Entstandardisierung von<br />

Lebensverhältnissen, aber auch zw<strong>in</strong>gende Regelsysteme, statistische Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />

und Reproduktionsstandards.<br />

14<br />

Interessant an der Formulierung von der „Medialität des Alltags“ ist, dass es nicht um<br />

e<strong>in</strong>e altvordere Sozialgeschichte des Alltags geht, um ke<strong>in</strong>e klassenhomogene oder


schichtenhomogene Setzung, sondern um die Koppelung alltäglichen Denkens, Handelns,<br />

Imag<strong>in</strong>ierens, Lernens, F<strong>in</strong>gierens, Träumens, Reflektierens an Medien.<br />

Dadurch wird es gut möglich, e<strong>in</strong>e konstruktivistische Grundidee e<strong>in</strong>zuführen, d.h.<br />

Alltag über die Erklärung von Welt zu beschreiben, wie sie der Organismus Mensch erlebt<br />

(das wäre die Position Jean Piagets) und wie dieser sie entwirft (da käme dann Vilém Flusser<br />

<strong>in</strong>´s Spiel). Die methodisch von mir vertretene konstruktivistische Anthropologie bezieht<br />

sich also nicht nur auf die klassischen Ebenen der<br />

- erlebten Wiederholungen,<br />

- der Er<strong>in</strong>nerungen und Wiederaufnahmen (re-präsentierend, re-aktualisierend),<br />

- der Vergleiche und<br />

- der Hierarchisierung von Erfahrungen.<br />

Sie richtet sich an<br />

- Entwurf,<br />

- Interaktivität,<br />

- Selektion und<br />

- Bewertung.<br />

Nur <strong>in</strong> der Verb<strong>in</strong>dung der acht Ebenen, also der Matrix von Medienhandeln, wird man<br />

Medialität als nicht-l<strong>in</strong>eare Dimension menschlichen Lebens kulturanthropologisch<br />

besprechen können.<br />

[2] Kognition, Kommunikation, Konsensualität<br />

Ich nehme „Medialität des Alltags“ also anders auf, als dies <strong>in</strong> der Tradition der Cultural<br />

Studies erfolgt.<br />

In dieser Tradition s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Arbeiten darüber dokumentiert, wie semiotische,<br />

semiologische, mediale oder <strong>in</strong>formationelle Darstellungs- und Erklärungszusammenhänge<br />

oder gar Entwicklungskonzepte entstanden s<strong>in</strong>d. Langfristige, gar evolutionäre Fragen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

dem strikten Kulturrelativismus nicht auff<strong>in</strong>dbar. `Hier und Jetzt´ sche<strong>in</strong>t das methodische<br />

Pr<strong>in</strong>zip zu se<strong>in</strong>, das W. Kemp zur Polemik führte, zu häufig würde „das Thema von letzter<br />

Woche“ zur „Dissertation von heute“ (W. Kemp, 2001). Nach 40 Jahren Cultural Studies<br />

resümierte Kodwo Eshun, e<strong>in</strong>er ihrer engagierten Vertreter: „Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach gelangweilt von<br />

der Idee der *Identity Politics* der traditionellen Cultural Studies“ (1998).<br />

Christ<strong>in</strong>a Lutter und Markus Reisenleitner schrieben, positiv gestimmt:<br />

15<br />

„Cultural Studies kann als <strong>in</strong>tellektuelle Praxis benannt werden, die beschreibt, wie<br />

das alltägliche Leben von Menschen (everyday life) durch und mit Kultur def<strong>in</strong>iert<br />

wird, und die Strategien für e<strong>in</strong>e Bewältigung se<strong>in</strong>er Veränderung anbietet“ (1998, 9).<br />

Und: „Cultural Studies setzen an und können betrieben werden, wo es um Bedürfnisse<br />

geht, nicht um Moden“ (11).


Nun liefern die Arbeiten von E. P. Thompson, S. Hall, R. Williams oder D. Morley sicher<br />

weitere Unterscheidungen ´im Feld´. Außen vor bleiben aber Fragen nach den Logiken und<br />

Programmen menschlicher Selbstorganisation, die zu den materialen, medialen,<br />

symbolischen, technologischen und ideologischen Zusammenhängen führen, die wir im<br />

Format ´Kultur´ benennen.<br />

Mich treibt nicht besagte Eshun´s Langeweile um, obwohl ich auch das „gemütliche<br />

Cultural Studies-Modell der Bricolage“ mit dynamischen, heterogenen, technologischen,<br />

evolutionären und vernetzten Prozessen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Beziehung br<strong>in</strong>gen kann. Me<strong>in</strong>e Kritik<br />

richtet sich gegen die Autorisierung personaler Identität, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Monolog des<br />

Misstrauens e<strong>in</strong>gefügt, entweder zu Verhaltens-Taktik <strong>in</strong> herrischen Umwelten auffordert,<br />

oder im Gestus e<strong>in</strong>er „All-Kultur“ die Erforschung der Entstehungs-, Erhaltungs-,<br />

Veränderungs-Bed<strong>in</strong>gungen spezifischer Kulturformate ausschließt. (prädiagnostische<br />

Therapeuten aller Länder…/ ) So als g<strong>in</strong>ge es um Identitätsarbeit an ungeliebten Formaten<br />

der Kultur (production, consumption, regulation, representation), beschränken sich die<br />

wissenschaftlichen Fragen auf e<strong>in</strong>e Ethnografie der Gebrauchsanweisungen und (taktischer)<br />

Umnutzungen.<br />

Das Thema „Medialität“ verwende ich demnach als Frage nach der medialen<br />

Selbstorganisation menschlicher Lebenszusammenhänge. Diese weist ebenso auf<br />

Kognition (e<strong>in</strong>zelmenschliche Wahrnehmung), wie auf Kommunikation<br />

(Verständigungsverfahren) und Konsensualität (Verständigung über nutzbare Häufigkeiten).<br />

Das Wort „Medialität“ ist <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>e Steilvorlage für konstruktivistische<br />

Anthropologie.<br />

Und Alltag ist, so betrachtet, nicht nur bed<strong>in</strong>gte Größe der gerätetechnischen Umwelt,<br />

sondern auch bed<strong>in</strong>gte Größe der medialen Verfassung regionaler oder universaler<br />

Kommunikations- und Lebenszusammenhänge. Mit dem Titel der „Medialität des Alltags“<br />

kann ich sehr gut me<strong>in</strong>e Ablehnung der D<strong>in</strong>ghypothesen gegenüber früheren<br />

Alltagsforschungen unterbr<strong>in</strong>gen. Nie g<strong>in</strong>g es alle<strong>in</strong> um D<strong>in</strong>ge, Geräte, sondern immer um die<br />

Programme reflexiver / reflektierter Abstraktion, die damit verbunden waren. Ich kann aus<br />

diesen Gründen auch wenig mit den D<strong>in</strong>gannahmen bei Bruno Latour oder dem Th<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g<br />

Through Th<strong>in</strong>gs von Amiria Henare / Mart<strong>in</strong> Holbraad / Sari Wastell anfangen.<br />

Die<br />

16<br />

- menschliche Fähigkeit, Artefizielles zu denken und<br />

- die komplexe Schaltungsmatrix e<strong>in</strong>es elektronischen Agenten, gerne als<br />

Denkfähigkeit von Artefakten bezeichnet,


s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>erlei Dualismus von e<strong>in</strong>ander zu trennen. Wie allerd<strong>in</strong>gs die kooperative oder ko-<br />

evolutionäre E<strong>in</strong>heit vorrangig begründet ist, ob über Physik, Biologie oder Mediologie, ist<br />

aus me<strong>in</strong>er Sicht die brisanteste und <strong>in</strong>teressanteste Forschungsfrage.<br />

Unter der Annahme, dass die Programme getragen werden von der Ko-Existenz<br />

materieller und immaterieller, biologischer, physikalischer und nicht-biologischer<br />

Realitätsanteile, ist e<strong>in</strong> naturalistisch-biologistisches Menschenbild, das u.a. die<br />

Soziobiologie prägt, ebenso ausgeschlossen wie die naturpessimistische Variante des<br />

Entwicklungsdenkens, die von Emile Durkheim bis zu Claude Levy-Strauss oder auch<br />

André Leroi-Gourhan reicht. Auch ausgeschlossen ist e<strong>in</strong> personalistisches Modell vom<br />

Menschen, das <strong>in</strong> psycho-analysierender Liebhaberei (Dilettantisms) e<strong>in</strong>e fachliche Nähe<br />

zum Anthropos vorspielt. Wir kommen nicht an die <strong>in</strong>neren Landschaften des<br />

biologischen Individuums heran, nicht an die Unterscheidungser<strong>in</strong>nerungen und<br />

emotionale Beweggründe. Die Hirnforschung zeigt die Grenzen der Beobachtung und<br />

Prognose von Billionen neuronaler Interaktivitäten auf, selbst dann wenn sie Muster<br />

und Modelle gruppiert, geclustert s<strong>in</strong>d.<br />

Ich spreche also von Un-Wesentlichem, <strong>in</strong>sofern ich Wesentliches wissenschaftlich<br />

nicht beobachten kann. Damit ist Skepsis gegenüber D<strong>in</strong>gen und Menschen ´an sich´<br />

angesprochen.Und dies führt u.a. zu den Begriffen Kommunikation, sprachliche<br />

Verständigungs<strong>in</strong>strumente, kollektives Gedächtnis und Medialität.<br />

Konventionen, die Verabredungen, Gewohnheiten, Wiederholungen, glaubwürdig<br />

gemachten Selbstverständlichkeiten, bleiben wichtig, um jene Verhaltens- und<br />

Verständigungswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten benennen und beschreiben zu können, <strong>in</strong> denen sich<br />

mediale Kopplungen darstellen. In der damit verbundenen Erforschung der Phänomenologie<br />

und der Praxeologie des medialen Alltags löst sich die Kategorie des Medialen nicht auf.<br />

Diese verweist auf Fragen danach,<br />

- welche langfristigen denkgeschichtlichen,<br />

- kognitiv-evolutionären und<br />

- medien-evolutionären Prozesse<br />

durch diese Alltage h<strong>in</strong>durch gehen, abgelenkt, aufgespaltet, ausgebremst, beschleunigt<br />

werden. Damit weite ich die Kategorie ´Alltag´ aus und beziehe diese auf drei zentrale<br />

Konzepte me<strong>in</strong>er Arbeit, nämlich auf<br />

17<br />

- die mediale Selbstbefähigung des Menschen, also auf die Paradoxie, dass<br />

Menschen erst e<strong>in</strong>mal die Kommunikations<strong>in</strong>strumente erf<strong>in</strong>den müssen, mit<br />

denen sie sich dauerhaft verständigen wollen<br />

- die mediale Selbstorganisation menschlicher Lebenszusammenhänge, womit<br />

angesprochen ist, dass die anthropologisch modernen Kulturen ohne die materiale


und <strong>in</strong>stitutionelle Verkörperung des Medialen nicht existieren würden, und<br />

schließlich auf<br />

- die medialen Betriebssysteme menschlicher Lebenszusammenhänge, womit<br />

die jeweils besondere Art von Speicher-, Transport-, Selektionsmedien<br />

angesprochen ist wie z.B. Heilige Zeichen, Heilige Schriften, Gutenberg-Galaxis,<br />

Digital Univers.<br />

Aus allem ergibt sich, dass wir Menschen für die Selektions- und Kont<strong>in</strong>uitätsentscheidungen<br />

selbst verantwortlich s<strong>in</strong>d.<br />

- Selbstverantwortung ist als viertes Konzept noch h<strong>in</strong>zuzustellen.<br />

Jede Ebene für sich genommen erfordert eigene Methoden, die jeweils erzeugten, <strong>in</strong><br />

kommunikative Bewegung oder <strong>in</strong> repräsentative Erstarrung gebrachten Abstraktionen zu<br />

erforschen. Was sie verb<strong>in</strong>det s<strong>in</strong>d die Fragen nach e<strong>in</strong>er von Norbert Elias geforderten<br />

„Entwicklungstheorie des Abstrakten (der Synthesen)“. Hiermit ist ke<strong>in</strong>e Mathematik alle<strong>in</strong><br />

angesprochen, sondern die enormen Abstraktionsleistungen aufgerufen, die uns heute<br />

ermöglichen, uns mit s<strong>in</strong>nlich nie direkt erfahrbaren Fernen und Nähen, Sichtbarkeiten und<br />

Hörbarkeiten zu umgeben. Dies berührt sicher den Aspekt der Medienkompetenz, ist aber von<br />

mir eher im S<strong>in</strong>ne der „Logiken des Hervorbr<strong>in</strong>gens“ geme<strong>in</strong>t, von denen Ernst v. Glaserfeld<br />

e<strong>in</strong>st sprach, oder den Gesten des Entwerfens, mit denen Vilém Flusser sich im Buch vom<br />

„Subjekt zum Projekt“ für die nicht-trivialen Welten des Menschen e<strong>in</strong>setzte.<br />

18<br />

[3] Privilegierung des Medialen<br />

Die drei genannten Bereiche der Selbstbefähigung, Selbstorganisation und<br />

Betriebssysteme s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unterschiedlicher, aber unaufhebbarer Weise Teil der menschlichen<br />

Biologie. Ich habe sie formuliert, um die unkündbaren Wechselwirkungen biologischer<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen des Menschen (Anthropo-Biologie) mit denen der kommunikativ-<br />

medialen (Anthropo-Mediologie) anzusprechen.<br />

E<strong>in</strong>e zweistufige Arbeitsthese stützt diesen Gedanken:<br />

1. wir können annehmen, dass die menschlichen Lebenszusammenhänge schon<br />

weit vor dem Auftreten des Homo sapiens sapiens an die verb<strong>in</strong>dliche<br />

Organisation der Unterscheidungsfähigkeiten gebunden waren. Die<br />

Gruppenprozesse waren <strong>in</strong>fogen, d.h. sie waren gebunden an praktische<br />

Unterscheidungsregeln, direkt anwendbare Unterschiede. Es war e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>fogene Welt direkter kooperativer Bezüge der Jagd, des Raubes, der<br />

Zeugungs- und Aufzuchtgeme<strong>in</strong>schaften.<br />

2. Dem anthropologisch modernen Menschen gel<strong>in</strong>gt es, aus dieser Direktheit<br />

zeichnend, zählend, schreibend auszusteigen und e<strong>in</strong>e Künstlichkeit zu


erf<strong>in</strong>den, die ausschließlich <strong>in</strong> der Prozessierung dieser Abstraktionen und<br />

neuer daraus entstehender Abstraktionen besteht. Es ist e<strong>in</strong>e<br />

selbstbedeutende, - selbstreferenzielle – Künstlichkeit, die Künstlichkeit<br />

der Notationsysteme und des Medialen. In Anlehnung an Roger Fidler<br />

spreche ich von „mediamorpher“ Selbstorganisation.<br />

Die <strong>in</strong>fogen organisierten Erfahrungen dauern immer noch an, und zugleich <strong>in</strong>tensivieren sich<br />

mediamorphe Weltideale.<br />

des Medialen.<br />

Menschheitsgeschichtlich entwickelte sich seit ca. 3.000 Jahren e<strong>in</strong>e Privilegierung<br />

Mit ihr legen Menschen immer wieder neu fest, <strong>in</strong> welcher Art gedacht,<br />

wahrgenommen, geglaubt, rebelliert, zerstört, geträumt, verändert wird. Und mit dieser<br />

Privilegierung des Medialen entsteht e<strong>in</strong> neues <strong>in</strong>fogenes Universum, das sich nicht mehr<br />

vorrangig über Augensche<strong>in</strong>, Handauflegen oder Stimmenstärke direkt bestimmt. Es bestimmt<br />

sich <strong>in</strong> immer neuen zirkulären Verläufen über die Systematiken der Abstraktion und über ihre<br />

künstlichen Verkörperungen <strong>in</strong> bemalten, beschrifteten Tonkrügen, <strong>in</strong> Tontafeln,<br />

Papyrusrollen, Kuhhäuten, Büchern, Bibliotheken, Kupferkabeln für den Transport von<br />

Elektrizitäts<strong>in</strong>tervallen usw.<br />

So groß der Abstand zwischen direkten Unterscheidungen und medialen<br />

Abstraktionen auch se<strong>in</strong> mag: dennoch bleiben beide Ebenen unsere Natur.<br />

Dies beschreibt weder irgende<strong>in</strong>en verkappten Dualismus, noch irgende<strong>in</strong>en<br />

verkappten Monismus, sondern dynamische Wechselwirkungen.<br />

Edgar Mor<strong>in</strong>, französischer Anthropologe und Kulturwissenschaftler schreibt:<br />

„Offensichtlich besteht der Mensch nicht aus zwei übere<strong>in</strong>ander liegenden Schichten,<br />

e<strong>in</strong>er biologisch-natürlichen und e<strong>in</strong>er psychosozialen, offensichtlich trennt ke<strong>in</strong>e<br />

ch<strong>in</strong>esische Mauer <strong>in</strong> ihm se<strong>in</strong>en menschlichen Teil von se<strong>in</strong>em tierischen.“ Der<br />

Mensch ist „zur gleichen Zeit voll und ganz natürlich und voll und ganz kulturell“ (E.<br />

Mor<strong>in</strong> 1973, 23/22)<br />

Clifford Geertz, amerikanischer Ethnologe, argumentiert ähnlich:<br />

„Es gibt ke<strong>in</strong>e von Kultur unabhängige menschliche Natur.“ Die organische<br />

Entwicklungsgeschichte des Menschen, die durch Aktionen, Umwelterfahrungen,<br />

Veränderungen der Schädelkapazität und der Gehirndifferenzierung, bedeuten, „dass<br />

Kultur nicht gleichsam als Beigabe zu e<strong>in</strong>em fertigen oder be<strong>in</strong>ahe fertigen Tier<br />

h<strong>in</strong>zukam, sondern dass sie selbst an der Hervorbr<strong>in</strong>gung dieses Tieres beteiligt war,<br />

und zwar ganz entscheidend“.(C. Geertz 1973c, 74)<br />

Der heutige biologische Mensch ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Form „das Ergebnis e<strong>in</strong>er Koevolution<br />

natürlicher und kultureller Faktoren <strong>in</strong> den frühen Phasen der Gattungsgeschichte“,<br />

schlussfolgert N. Meuter (2006, 21).<br />

Diesen Schritt mache ich hier auch mit, halte es aber für unplausibel, Koevolution nach der<br />

frühen Gattungsgeschichte enden zu lassen. N. Meuter zitiert zwar E. Mor<strong>in</strong> :<br />

19


„Seit Darw<strong>in</strong> geben wir zu, dass wir von Primaten abstammen, nicht aber, dass wir<br />

selbst Primaten s<strong>in</strong>d. Herabgestiegen von jenem Stammbaum <strong>in</strong> den Tropen, auf dem<br />

unsere Vorfahren lebten, s<strong>in</strong>d wir davon überzeugt, dass wir ihm auf alle Zeiten<br />

entronnen s<strong>in</strong>d und dass wir uns außerhalb der Natur das selbständige Reich der<br />

Kultur errichtet haben.“(1973, 19)<br />

Radikaler noch formuliert der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre, wir Menschen seien<br />

„umgestaltete und umgeschaffene Tiere und nichts anderes…Wir bleiben tierische Personen<br />

mit tierischen Identitäten“ (MacIntyre 1999, 63).<br />

Manchen von Ihnen werden solche zoologischen Aussagen im Magen liegen, vermute<br />

ich. Grundsätzlich kann ich Ihnen da nicht helfen, denn ich halte sie für plausibel, - sowohl<br />

die Aussagen, wie Ihre Magenschmerzen.<br />

Vielleicht hilft auch nicht der Satz, dass es nur e<strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>zip Leben gibt. Se<strong>in</strong> Reichtum<br />

ist se<strong>in</strong>e Varietät, und es ist zu vermuten, dass aus uns Menschen auch noch ´was wird´, was<br />

kann ich Ihnen aber nicht sagen.<br />

Der Grund, die Aussagen zu zitieren, liegt <strong>in</strong> der Erf<strong>in</strong>dung nicht-biologischer / nicht-<br />

zoologischer Welten, die immer wieder neue Transformationsketten von der Physiologie<br />

zur Mediologie erzeugen. Zu ihnen gehören Codes, Zeichen, Symbole, Repräsentationen und<br />

<strong>in</strong>zwischen Fachbibliotheken füllende Erf<strong>in</strong>dungsgeschichten des Bezeichnens.<br />

[4] Gespürte Zusammenhänge oder die Empirie des Abstrakten<br />

Diese Karriere menschlich-erdachter Welten ist begründet <strong>in</strong> den <strong>in</strong>tensiven Anstrengungen,<br />

Unterscheidungen zu Unterschieden werden zu lassen, Unterschiede <strong>in</strong> Zeichen und Daten<br />

zu erhalten, diese mit Bedeutung und weiteren Verknüpfungslogiken zu verb<strong>in</strong>den sowie <strong>in</strong><br />

diesen abstrakten Verknüpfungslogiken eigenständige Wege des Erkennens zu erf<strong>in</strong>den und zu<br />

entwickeln.<br />

Es ist e<strong>in</strong>e Karriere, die sich <strong>in</strong> sehr verschiedene Umgangsweisen, lautliche,<br />

zeichnerische, zeichenhafte, zahlige Ausdrucks- und Darstellungsweisen teilt – aber eben e<strong>in</strong>e<br />

genu<strong>in</strong> menschliche, als anthropologisch relevante Karriere ist, - e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von<br />

biologischer und kultureller Evolution.<br />

Um rechtzeitig vor Missverständnissen zu klären, warum ich dennoch von Biologie<br />

spreche, gestatten Sie mir e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Umweg. Führende Primatenforscher wie Goodall<br />

1986, de Waal 1989,1997, betonen, dass Menschen und Schimpansen e<strong>in</strong>ander sehr ähnlich<br />

seien,<br />

- <strong>in</strong> den sozialen Strukturen und im sozialen Verhalten<br />

- sowie <strong>in</strong> Formen der Emotionalität.<br />

20


Die B<strong>in</strong>dungen an die Aufzucht- und Versorgungsgeme<strong>in</strong>schaft Familie wird dabei<br />

ebenso betont wie die Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit, hierarchische Abhängigkeit ebenso wie<br />

Gruppen- und Allianzbildungen. Unbestreitbar sche<strong>in</strong>t, wie auch die avanciertesten<br />

Forschungen der Paläoanthropologie und evolutionären Anthropologie von Svente Päböo und<br />

Michael Tomasello zeigen, dass basale Komponenten des sozialen und emotionalen Lebens<br />

beim Schimpansen und Menschen „fest im genetischen Substrat wurzeln“ (Wolfgang Wieser,<br />

2007, 207) – oder <strong>in</strong>formatisch ausgedrückt: dass sie fest verdrahtet s<strong>in</strong>d.<br />

Angenommen wird allerd<strong>in</strong>gs auch, wie Tomasello schreibt, dass beim Menschen e<strong>in</strong>e<br />

genetische Disposition besteht, die Absicht, das Interesse des Gattungsgegenübers denken und<br />

<strong>in</strong> der eigenen Handlung mit berücksichtigen zu können. Warum sich diese primäre<br />

Abstraktionsleistung beim Menschen herausgebildet hat, vermag ich auch nicht zitierend zu<br />

beantworten.<br />

Es ist aber diese biologische Differenz, die die Welt, zum<strong>in</strong>dest die der Menschen,<br />

veränderte. Entscheidend sei, so Wolfgang Wieser, dass sich die<br />

„kulturellen Leistungen des modernen Menschen – Sprache, Schrift, Wissenschaft,<br />

Technik, Kunst – über die von der natürlichen Selektion geformte adaptive Realität<br />

weit h<strong>in</strong>ausgehoben und den Status e<strong>in</strong>er autonomen Wirklichkeit erworben haben.“<br />

(208)<br />

Autonom heißt hier, von der Biosphäre unterschieden und abgesetzt, nach eigenen<br />

Entstehungs- und Erhaltungsbed<strong>in</strong>gungen organisiert und weitergegeben. Wie ist dies zu<br />

verstehen? Nun, es gibt im biologischen S<strong>in</strong>ne ke<strong>in</strong>e Fitnesswerte und Selektionsvorteile<br />

für Hexameter, für Sonette, Paläste zu bauen, Symphonien zu komponieren, Theater<br />

aufzuführen, mathematische Axiome zu setzen oder schulisch gut <strong>in</strong> Inf<strong>in</strong>itisimalrechnung<br />

zu se<strong>in</strong>.<br />

Nun könnte man widersprechen und sagen:<br />

Sonette können e<strong>in</strong>en Werbevorteil gegenüber e<strong>in</strong>er begehrten Frau oder e<strong>in</strong>em<br />

begehrten Mann darstellen, Theateraufführung kann im S<strong>in</strong>ne „Brot und Spiele“ e<strong>in</strong>e clevere<br />

Herrschaftstechnik se<strong>in</strong>, oder komplexe Mathematik kann e<strong>in</strong>em im Feld künstlicher<br />

Intelligenz e<strong>in</strong>en erheblichen Konkurrenzvorteil bieten. Dies alles wäre richtig, bestätigt<br />

dennoch zugleich, dass diese Konkurrenz oder Kooperation <strong>in</strong> erfundenen künstlichen, d.h.<br />

kulturellen Umwelten geschieht.<br />

21<br />

Kultur- und Sozialanthropologien s<strong>in</strong>d noch weit davon entfernt, diese<br />

Zusammenhänge von biologischem, anthropologisch-modernen Menschen und se<strong>in</strong>en<br />

dynamischen, unvorhersehbaren Abstraktions- und Syntheseleistungen begrifflich<br />

mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>den zu können. Ausgeschlossen ist dabei die von Richard Dawk<strong>in</strong>s


angestoßene Suche nach Äquivalenten von Genen (Memen) im Denken beobachtbarer<br />

Menschen.<br />

Die kulturelle Evolution ist <strong>in</strong> allen ihren Formaten, Formen (und Formeln)<br />

biologisch nicht vorgesehen, aber dennoch ohne Biologie nicht möglich.<br />

So ganz leicht ist dies nicht, es unter den Anforderungen e<strong>in</strong>er Anthropologie des<br />

Medialen darzustellen. Nehmen wir nur den Aspekt der Sprache(n) heraus: die sensorische<br />

Ausstattung des Menschen lässt ke<strong>in</strong>e sensorische Introspektion zu, noch birgt sie die<br />

Möglichkeit, ohne Gehirn e<strong>in</strong> Modell von Welt zu erzeugen. Gleichzeitig ist jede Sprache e<strong>in</strong><br />

komplexes System <strong>in</strong>direkter Beziehungen zu hypothetischer <strong>in</strong>nerer und äußerer Welt.<br />

Die Brücke, die der AdM-Ansatz vorschlägt, besteht aus vier Elementen:<br />

- e<strong>in</strong>er Entwicklungstheorie der Abstraktion, wie sie Norbert Elias forderte,<br />

- e<strong>in</strong>er Wissenschaft vom Künstlichen, wie sie Herbert A. Simon e<strong>in</strong>klagte,<br />

- der Integration der Kognitionsforschung <strong>in</strong> die Kultur- und<br />

Sozialanthropologie,<br />

- sowie Forschungen zu den schriftlichen, tonalen und visuellen<br />

Programmen, Logiken und Neuerungen, durch die Menschen sich anwesend<br />

machen, - zu entwerfen.<br />

Die damit verbundenen Fähigkeiten der kooperativen Verwaltung, Selektion und<br />

Hierarchisierung von Informationen, gehen aus heutiger Sicht, auf biologische<br />

Bed<strong>in</strong>gungen zurück, lassen sich aber nicht auf diese reduzieren.<br />

Sie verweisen auf sog. Spiegelneuronen, auf neurologisch fest verbundene<br />

Antizipationsfähigkeit, oder auch auf den Hippocampus, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>gehende<br />

S<strong>in</strong>neswahrnehmungen zeitlich und räumlich sortiert und mit Gefühlen verbunden werden.<br />

Was wir Menschen <strong>in</strong> direkten oder <strong>in</strong>direkten, <strong>in</strong> abstrakten oder künstlichen Beziehungen<br />

daraus machen, hängt von vielen Ereignissen und deren gedanklichen Fassung ab, - und eben<br />

auch von der Art der direkten, abstrakten oder künstlichen Beziehungen.<br />

Vielleicht werden nun e<strong>in</strong>ige denken: woh<strong>in</strong> führt er uns jetzt?<br />

In die Neuroscience, <strong>in</strong> die Hirnforschung oder Kognitionswissenschaft? Ke<strong>in</strong>e Sorge,<br />

ich werde mich heute nicht auch noch dem Risiko stellen, hier vielmehr über<br />

Neurophysiologie anzusprechen. Gleichwohl ist Ihre Vermutung richtig, dass ich<br />

Medienevolution nicht aus der enorm entwurfsfähigen Biologie des Menschen auslagere.<br />

Insofern b<strong>in</strong> ich überzeugter Materialist.<br />

22<br />

Weder die mediale Selbstbefähigung, die von Lautsignalen bis zu komplexen<br />

Programmiersprachen reicht, - und es wird weiter gehen -, noch die mediale<br />

Selbstorganisation, - und damit kulturelle Selbstorganisation -, s<strong>in</strong>d als freie ´geistige´<br />

Leistungen zu verstehen. So e<strong>in</strong>zigartig uns Denken und Bewusstse<strong>in</strong> vorkommen mögen, so


s<strong>in</strong>d sie e<strong>in</strong>gefügt <strong>in</strong> das Naturgeschehen Mensch. Sie übersteigen dies nicht. Ich bewege<br />

mich also mit dem Thema der Anthropologie des Medialen pr<strong>in</strong>zipiell im Diesseits, - womit<br />

auch me<strong>in</strong> konstruktivistisches Denken angedeutet ist.<br />

[5] Poetik der Interaktivität und Sit-Forward-Kooperation<br />

Es könnte se<strong>in</strong>, dass wir <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är die Arbeitsfragen zur Verfügung haben, uns den<br />

Anforderungen e<strong>in</strong>er Medienentstehungsforschung zu stellen, <strong>in</strong> deren Zentrum die<br />

Anthropologie des Medialen steht. Dies wäre e<strong>in</strong> Weg, veränderte Wissensniveaus über<br />

- die Biologie / Zoologie des Menschen<br />

- über Wahrnehmung und Denken<br />

- über komplexer werdende Lebenszusammenhänge<br />

- die Karriere der Abstraktionsfähigkeit und des Künstlichen <strong>in</strong> allen<br />

menschlichen Kulturen<br />

- über die Erf<strong>in</strong>dung und Entwicklung von abstrakten, synthetischen,<br />

künstlichen Kooperationsfeldern<br />

- Anwendungs-, Erwartungs- und Reflexionsprogramme<br />

- und über Daten, Informationsflüsse, Erkennen und Wissen<br />

zusammenzuführen.<br />

Die Forschungen zur Realität der Abstraktion haben, neben diesen engen neuro-<br />

mediologischen Zusammenhängen, zwei Grundthemen:<br />

Die Poetik der Interaktivität<br />

und<br />

die Poiesis des Medialen.<br />

Poetik der Interaktivität entsteht aus der Fähigkeit des Menschen, Unterschiede zu<br />

erzeugen, sie als Abstände ´als Dazwischen´ wahrzunehmen, sie zeichen- und<br />

sprachengestützt zu erhalten und zu vermitteln. In diesen Gedanken der Poetik ist He<strong>in</strong>z v.<br />

Foersters These von der Wahlfreiheit für Selektion e<strong>in</strong>bezogen. Poiesis des Medialen<br />

beschreibt die Zusammenführung verschiedenster Wahrnehmungen, Interaktivitäten,<br />

Selektionen, also jeweilige Selbstorganisation und Kooperation.<br />

Damit verb<strong>in</strong>de ich e<strong>in</strong>e wichtige Beobachtung: Interaktivität bestätigt nicht mehr<br />

vorrangig Struktur und Inhalt, - ist demnach auch nicht ohne Umschweife auf e<strong>in</strong> Modell<br />

der Rahmenanalyse á la Erw<strong>in</strong> Goffmann e<strong>in</strong>zugrenzen -, sondern erzeugt diese erst, <strong>in</strong><br />

jedem Moment.<br />

23<br />

Steve Jobs, Gründer jenes Kunstkost-Ladens namens APPLE, zeichnet die<br />

Interaktivität zwischen Mensch-Information-Mensch durch zwei Kürzel: die Television-<br />

Culture und das broadcast<strong>in</strong>g-Muster seien durch lean-back-Konsum bestimmt, während die


Internet-Cultures zu sit-forward-Aktivität zw<strong>in</strong>ge. Wendung und Zuwendung, Erwartung<br />

und Beteiligung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> beiden globalen Haltungsmustern nicht vergleichbar. Douglas<br />

Rushkoff, kritischer Betrachter der digital orientierten Medien- und Kunstszene sprach vor 10<br />

Jahren von Screenagern und beschrieb damit die erste Generation, die aufwuchs mit dem<br />

Bewusstse<strong>in</strong>, dass die Bilder auf dem Bildschirm aktiv gestaltet werden können. Die folgende<br />

Generation, seit drei-vier Jahren aktiv, s<strong>in</strong>d die Blogger, jene also, die Bildschirm nicht nur<br />

gestalten, sondern das eigene Leben aufzeichnen, während es sich abspielt.<br />

Die Interpassivität analoger Medienstrukturen, wie wir sie bei Zeitung, Radio,<br />

Fernsehen oder C<strong>in</strong>emaskope beobachten, bleibt sicher erhalten. Sie können also weiterh<strong>in</strong><br />

mit Ihrer Süßen oder Ihrem Süßen, mit K<strong>in</strong>dern und Freunden oder alle<strong>in</strong> mit ´nem Sixpack<br />

oder kle<strong>in</strong> geschnittenem Obst auf der Coach sitzen und fernsehen, oder auch weiterh<strong>in</strong> das<br />

`Erlebnis K<strong>in</strong>o´ mit Nachos, klebriger Käsesauce und Getränke schlürfenden Passiv-Nachbarn<br />

erleben.<br />

Viel wichtiger ist allerd<strong>in</strong>gs, dass die Felder der <strong>in</strong>formationellen Interaktivität sich<br />

ausweiten, beruflich, nachbarschaftlich, familiär, funktional, kooperativ. Und dass wir andere<br />

Haltungen, körperlich und kognitiv, entwickeln, andere Berufs- und<br />

Kommunikationskrankheiten, andere Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverfahren.<br />

Sitt<strong>in</strong>g forward, creat<strong>in</strong>g presence, elsewhere.<br />

[6] „It from Bit“ (J. A. Wheeler) oder:<br />

Bytes – die künstlichen Happen e<strong>in</strong>er natürlichen Welt<br />

Die Poiesis der Interaktivität und die Medialität des Alltags führt, neben den körperlichen und<br />

kognitiven Haltungsfragen, e<strong>in</strong>e Frage mit sich: Wie halten wir es mit der Unterscheidung?<br />

Die Frage kommt vielleicht etwas lässig daher, weil ja klar zu sche<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, dass wir nach<br />

Formbestimmungen unterscheiden. Klar denken manche nun an Dist<strong>in</strong>ktionstheorien, an<br />

differenztheoretische Diskurse oder an die freudige Begrüßung: es lebe der Unterschied. Ganz<br />

so e<strong>in</strong>fach ist es mit und im digitalen Universum nicht. Und der dritte Begriff auf der shortlist<br />

des Hauptthemas, Bytes, kündigt dies an. Ohne nun ausführlicher auf die Schwächen von<br />

Informationskonzepten e<strong>in</strong>zugehen, gehe ich auf e<strong>in</strong>ige Aspekte von Bits und Bytes zurück,<br />

sofern sie kulturanthropologisch relevant s<strong>in</strong>d.<br />

24<br />

Wörtlich an dritter Stelle nach Bildern und Büchern, und abgeschwächt durch den<br />

Zusatz: „Zur Medialität des Alltags“, kommt den Bytes erhebliches Gewicht zu. Denn mit<br />

diesem Ausdruck wird e<strong>in</strong> paradigmatischer Umbruch angesprochen, der die Medialität<br />

des Alltags weltweit betrifft. Wir lassen über diskrete Datenmengen alle globalen<br />

Informationsströme laufen und lassen diese als Texte, Musik, als Vertrag, Bild, als<br />

diagnostische Tomographien, Videos oder Telefon über Bits und Bytes digital rekonstruieren.


Zu Recht können wir davon ausgehen, dass Bits und Bytes nicht für jede mediale<br />

Wahrnehmung, mith<strong>in</strong> nicht für jedes Erleben, für jede Erfahrung von Medialität gelten.<br />

Dennoch ist die mediale Kopplung alltäglicher Wahrnehmung, Kommunikation und<br />

Unterhaltung <strong>in</strong>zwischen weitgehend digital.<br />

Unter diesem E<strong>in</strong>fluss müssen wir von e<strong>in</strong>er Multimedialität des Alltags ausgehen,<br />

die durch analoge Medien erzeugt wird, und e<strong>in</strong>e Multimedialität, die <strong>in</strong> digitalen<br />

Datenströmen durch entsprechende Programme entsteht. Nun könnte man sagen: die<br />

Mischung macht´s, reden wir also über crossover im Alltag, von hybriden<br />

Wahrnehmungswelten. Die Versuchung ist aber nicht so groß, wie es aussieht. Ich halte den<br />

angesprochenen Umbruch allerd<strong>in</strong>gs für so bedeutend, dass ich eher von weltweiten<br />

Transformationen der überlieferten medialen Betriebssysteme ausgehe, also nicht von<br />

Verwischungs- und, wie es oft zu lesen ist, von Entropieschüben.<br />

E<strong>in</strong> globaler Betriebsstandard für Medialität ist mit Bytes angesprochen. Und aus<br />

diesem Grunde ist es für mich schlüssig, fern der Alliteration der drei B´s, Bytes hier mehr<br />

Aufmerksamkeit zu widmen, als Bildern und Büchern.<br />

Führt man Bytes weiter aus mit den Worten Digitalität, Standard-Software,<br />

Vernetzung, Global Knowledge Divide, Global Knowledge Opportunity, Virtualität,<br />

Cyberspace, Blue Bra<strong>in</strong> oder Artificial Intelligence, so wird deutlich, dass Bytes <strong>in</strong>zwischen<br />

Bildern und Büchern materiell und techno-logisch vorgelagert s<strong>in</strong>d. Dabei geht es nicht um<br />

die aktuellen Bytes-Orgien von Mega-, Giga-, Terrabyte, sondern um die Koord<strong>in</strong>ation<br />

genu<strong>in</strong> menschlicher Unterscheidungs- und Abstraktionsfähigkeiten und deren<br />

Produktivität.<br />

Vielleicht ist bereits e<strong>in</strong>e Aufteilung von Unterscheidungsverfahren, -stilen und –<br />

kulturen entstanden, die an der Durchsetzung der Bits und Bytes als Unterscheidungsschalter<br />

gebunden ist. Also nach dem <strong>Dr</strong>uckbuchstaben e<strong>in</strong> Bitgrafem?<br />

Kl<strong>in</strong>gt schwierig, ist es auch.<br />

Denn mit den b<strong>in</strong>ären Schaltungsmustern werden neue Unterscheidungslogiken<br />

erzeugt, die jeder Informatiker / jede Informatiker<strong>in</strong> als Logiken der Pflichtenhefte, der<br />

E<strong>in</strong>stiegsprogrammierung, der dom<strong>in</strong>ierenden objektorientierten oder schwächeren<br />

strukturorientierten Programmierung kennt. Geme<strong>in</strong>t ist damit Mikrologisierung,<br />

Entgegenständlichung, ausdrückliche Formvorgaben, programmierte Freiheitsgrade etc. D.h.<br />

mit Bits und Bytes schränken wir die traditionellen formbezogenen Unterscheidungen, die<br />

sich an Stilen, Variationen, Umbrüchen, an Spielereien, Formexperimenten orientierten, e<strong>in</strong>,<br />

und ermöglichen die Wahrnehmung von Unterschieden vor der Form, - von<br />

Information.<br />

25


Bevor ich nun aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Versuch über kulturanthropologische<br />

Informationsforschung abgleite, möchte ich Sie zurück zum Medialen führen, an dem dieser<br />

Umschwung auch darstellbar ist.<br />

Zweifelsohne haben Medien gerade im 20. Jahrhundert wegen ihrer gerätetechnischen<br />

Verbreitung <strong>in</strong> öffentlichen und privaten Räumen, der medialen Produktpalette und der damit<br />

verbundenen Informations<strong>in</strong>tensität e<strong>in</strong>e zunehmend ökonomische, politische, private<br />

Bedeutung zugewiesen bekommen. Kulturen haben sich im 20.Jh. medial zunehmend<br />

ausdifferenziert, - gerätetechnisch, konsumistisch, kommunikativ. Bücher, Zeitungen, Filme,<br />

Videos, Radio und Television, ergänzt durch Kommunikations<strong>in</strong>strumente wie Telegrafie,<br />

Telefonie und Post, haben medial gekoppelte Alltage erzeugt, oder Kopplungen verstärkt. In<br />

diese Dynamiken h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wurde Computertechnologie entwickelt, zu deren Geschichte<br />

Großrechneranlagen, auch ´elektronisches Gehirn´ genannt, ebenso gehören wie die<br />

politischen Konzepte der <strong>in</strong>formationell gesteuerten „formierten Gesellschaft“ (Ste<strong>in</strong>bruch),<br />

das sog. hot potato root<strong>in</strong>g des frühen Internet, wie SMS, MMS, um nur wenige Beispiele zu<br />

erwähnen. In dem analog differenzierten medialen Alltag ´nistete´ sich sozusagen e<strong>in</strong><br />

aggressiver Neul<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>: die Informationstechnologien und erzeugten e<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>formationellen Alltag, durch Gebrauch der Digitalität. Zu diesem gehören nicht nur<br />

e<strong>in</strong>fache Zeichen- und Sprachwelten mancher Tageszeitungen, sondern auch Onl<strong>in</strong>e-<br />

Bibliotheken, sich verlieben im Datennetz, e<strong>in</strong>e Ehe per SMS für beendet zu erklären oder<br />

Betrug per Telefon.<br />

Bytes spielen dabei e<strong>in</strong>e wichtige Rolle.<br />

Bytes ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>formatischer Ausdruck für die Datenmenge von 8 Bits, von Claude E.<br />

Shannon 1949 <strong>in</strong> mathematische Gewissheit gegossen. Die adressierbare Speichere<strong>in</strong>heit war<br />

berechnet. Allerd<strong>in</strong>gs kam erst 1956 Werner Buchholz bei IBM auf die Idee, diese<br />

Speichere<strong>in</strong>heit mit dem Ausdruck Byte zu taufen. Es ist e<strong>in</strong>e mathematisch geordnete<br />

Zusammenstellung von Bits (n-Tupel oder auch Oktett genannt). Bits, b<strong>in</strong>ary digits, s<strong>in</strong>d<br />

zweiwertige Ziffern (Null und E<strong>in</strong>s). E<strong>in</strong> Byte ist erforderlich, um soviel Schaltungszustände<br />

zusammen zu br<strong>in</strong>gen, wie ich für die Speicherung e<strong>in</strong>es Buchstabens benötige. Aber auch da<br />

gibt es Unterschiede zwischen z.B. Telex-, ASCII oder IBM-PC-Standards. Bytes s<strong>in</strong>d<br />

Kernbestandteil der formalen Programmiersprache, der ISO-Normen, und somit e<strong>in</strong><br />

universaler Schlüssel für Codierung, Speicherung und Übertragung von Bild, Ton, Schrift,<br />

bewegten Bildern, Zahlen usw.<br />

26<br />

In der Artefaktgruppe des Titels dieser Tagung ist Byte der weitreichendste<br />

Ausdruck. Indirekt verspricht er, dass wir uns als Fachvertreter mit Software beschäftigen<br />

oder fordert, dass wir das sollten. Möglich, dass dieses Versprechen so nicht geme<strong>in</strong>t war.<br />

Mich hat es sehr für diese Tagung e<strong>in</strong>genommen. Denn übersetzt heißt der Titel: Bilder-


Bücher-b<strong>in</strong>äre Buchstaben / Töne / Visuelle Elemente, womit die heute dom<strong>in</strong>ierenden<br />

globalen Erhaltungslogiken für mediale Strukturen angesprochen s<strong>in</strong>d. Bit, das Bisschen, und<br />

Bytes, der Happen, machten Appetit.<br />

Ich nehme diesen Titel als Ermutigung, die angewandte Physik und Mathematik mit zu<br />

bedenken, und Sie anzusprechen, e<strong>in</strong>ige Schritte <strong>in</strong> das Universum der medialen<br />

Selbstbefähigung des Menschen zu gehen. Diese Selbstbefähigung ist erst seit den 1940ern<br />

digital codiert. Über lange Jahrtausende war sie analog, fassbar, handlich, material<strong>in</strong>tensiv. Ob<br />

und wie wir mit <strong>in</strong>formationeller und medialer Kompetenz / Intelligenz da anschlussfähig<br />

bleiben werden, wird sich zeigen. Wir brauchen nicht nur die Hälfte der Menschheit als<br />

Mitmacher, sondern davon auch ne Menge als Zusammenhangs<strong>in</strong>teressierte.<br />

Die Wucht der digitalen Transformationen, die sich vor allem <strong>in</strong> den zurückliegenden<br />

fünf Jahrzehnten konzentrierte, sollte also nicht darüber täuschen, dass ke<strong>in</strong>e Kultur des<br />

anthropologisch modernen Menschen ohne Medialität zustande gekommen wäre. Wir haben<br />

es mit e<strong>in</strong>er alten Geschichte zu tun, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> immer neuer Konstellation und unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen immer neuer Standards. Der Homo sapiens sapiens ist, weil er Zeichen und<br />

Bedeutung denken kann, e<strong>in</strong> Medienmensch, e<strong>in</strong> Unterscheider, e<strong>in</strong> Speicherer. Allerd<strong>in</strong>gs:<br />

er hat dies alles selber erf<strong>in</strong>den müssen und das dauerte se<strong>in</strong>e Zeiten, bis das unnatürliche<br />

Lebensmittel der zeichengestützten Information Kultur ernährte.<br />

Er hat mit Zeichnungen und Zeichen vor langer Zeit zaghaft angefangen, - mit dem,<br />

was human revolution genannt wird. Viel muss geübt worden se<strong>in</strong>, viel verworfen, bis e<strong>in</strong>ige<br />

Generationen vor Heute, vor ca. 40.000 Jahren, begannen, Millionen Höhlen-,<br />

Felszeichnungen und Gravuren zu schaffen. Seit dem brummt der Laden des Medialen. Vieles<br />

wurde <strong>in</strong> den zurückliegenden 5000 Jahren erfunden, verworfen, geschrieben, gedruckt,<br />

gepresst, gekratzt. In allem schimmert aber durch: die Selbstbezüge des Menschen werden<br />

immer umfangreicher, je länger er mit Medien experimentiert. Ob diese Bezüge richtig oder<br />

falsch, hämisch oder liebevoll s<strong>in</strong>d, tut nichts zur Sache, wenigstens nichts zur Sache, der ich<br />

mich hier widmen werde: der medialen Selbstbefähigung des Menschen und den daraus<br />

resultierenden medialen Betriebssystemen menschlichen Zusammenlebens.<br />

27<br />

[7] Mediale Betriebssysteme<br />

Um dies wissenschaftlich erfassen zu können, genügt es aus me<strong>in</strong>er Sicht nicht zu sagen,<br />

„dass Erfolg des E<strong>in</strong>satzes von Kommunikationsmedien hochgradig von ihrer sozialen<br />

Integration abhängt“ (so Ch. Stegbauer u.a., kommunikation@gesellschaft, Sonderausgabe<br />

Wikis, 2007, 4). Erst wenn man methodisch berücksichtigt, dass die medientechnischen<br />

Innovation <strong>in</strong> den Bereichen „sozialer Integration“ entstehen, also Differenzierungsprozesse


darstellen, die, wenn akzeptiert, auch die Strukturen sozialer Integration, aus denen sie<br />

entstanden, unumkehrbar verändern, wird e<strong>in</strong> kulturanthropologischer Schuh daraus.<br />

Kritik richtet sich aber nicht nur an die Soziologie. Auch die von mir angesprochene<br />

Neuroscience hat Schwächen. In dem „Manifest über die Hirnforschung im 21. Jahrhundert“,<br />

verfasst von elf führenden deutschen Neurowissenschaftlern, heißt es über die Erforschung<br />

der obersten Organisationsebene des Gehirns (Funktionen größerer Hirnareale, z.B. Aufgaben<br />

der Großhirnr<strong>in</strong>de, der Amygdala oder der Basalganglien): zu erforschen seien<br />

Sprachverstehen, Bilderkennen, Tonwahrnehmung, Musikverarbeitung, Handlungsplanung,<br />

Erleben von Emotionen. (F. Schwarz, 2007, 36). Das ist alles unstrittig, aber wo ist das<br />

Spracherf<strong>in</strong>den, Bildentwerfen, Tonerzeugen? Wie machen Menschen das? Wie entwirft<br />

Mensch sich und wie verändern sich diese Selbstentwürfe?<br />

Me<strong>in</strong>e These ist, dass wir erst über das Wie des Entwerfens, der Erf<strong>in</strong>dung, des<br />

zufälligen Entdeckens, des Ordnens, also über das Wie von<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsempf<strong>in</strong>dung und Vertrauenserwartungen, von Häufigkeit und<br />

Abstraktion an die Individualität, Kulturalität und Sozialität des Denkens und Erlebens<br />

herankommen.<br />

Ausgehend von e<strong>in</strong>em ökologischen Systemverständnis (G. Bateson) verstehe ich<br />

die Wechselwirkungen von biologischen und abiotischen Systemen als Koevolution. Wir<br />

leben <strong>in</strong> erfundenen Ökologien und haben die Aufgabe, hierfür die Regeln immer wieder neu<br />

zu entwerfen, prüfen und zu verändern.<br />

Das mediale Betriebssystem ist dabei die zentrale strukturelle Plattform.<br />

Koevolution ist Ergebnis von Vernetzungsprozessen mit vielen Agenten. Deren<br />

Anpassung ane<strong>in</strong>ander be<strong>in</strong>haltet grundverschiedene Muster wie Abgrenzung,<br />

Unterscheidung, Kritik, Ablehnung, Bee<strong>in</strong>flussung, Unterordnung, Neuordnung,<br />

Fahrlässigkeit, Wiederholung, Ignoranz etc.<br />

Damit verb<strong>in</strong>det sich die These, dass die medialen Betriebssysteme der<br />

Verständigung sich seit geraumer Zeit erheblich verändern. Und erkennbar ist, dass wir<br />

fachlich wenig über diese medialen Betriebssysteme und ihre Evolutionen wissen.<br />

Me<strong>in</strong> wissenschaftlicher Irritationspunkt liegt <strong>in</strong> dem etwas lapidar wirkenden Satz:<br />

Gesellschaften kommen und gehen, aber das Mediale bleibt bestehen.<br />

28<br />

Oder anders gesagt: seit Herodot, dem analphabetischen Stichwortgeber für<br />

Schriftgeschichte, hat es zahlreiche Kulturen und Gesellschaften gegeben. Geblieben s<strong>in</strong>d und<br />

vorangetrieben wurden die Fähigkeiten zur zahlen-, schrift- und bildsprachlichen Notation,<br />

weltweit, weltweit unterscheidbar, weltweit geme<strong>in</strong>sam.<br />

Me<strong>in</strong>e Vermutung ist, dass anthropologische Medienforschung helfen könnte, die<br />

Black Box phänomenologischer Zusammenhänge etwas zu öffnen, die Regeln von Präsenz,


Repräsentation, von Interaktivität, von Zusammenhang und Symbol, Institution,<br />

Kont<strong>in</strong>uitätsmodellen uvam. zu erklären und <strong>in</strong> veränderter Weise für Analysen darzustellen.<br />

Voraussetzung dafür ist, nicht nur auf die mediale Selbstbefähigung des Menschen<br />

historisch und strukturell e<strong>in</strong>zugehen. Immer wichtiger ist <strong>in</strong>zwischen geworden, das Mediale<br />

h<strong>in</strong>ter den Medien zu erforschen, die Abstraktionsleistungen zu beschreiben, die im A und<br />

im B ebenso enthalten s<strong>in</strong>d wie <strong>in</strong> 1 oder 1.000.000.000, <strong>in</strong> Differenzialgleichungen oder im<br />

Begriff Globalisierung, <strong>in</strong> Liebeserklärungen oder Verkaufsverhandlungen, <strong>in</strong> entdeckten<br />

genetischen Codes von Fliegen oder Menschen, oder <strong>in</strong> visuellen Darstellungen e<strong>in</strong>er<br />

Computertomografie.<br />

Anthropologisch kann es - aus me<strong>in</strong>er Sicht - dabei nicht um e<strong>in</strong>e Variante<br />

sprachwissenschaftlicher oder philosophischer Bedeutungsanalyse gehen. Menschen machten<br />

und machen sich weltweit mit den Instrumenten der Sprache und mit Medien auf die Wege,<br />

nicht nur die Anwesenheit direkter Beziehungen zu ordnen, sondern weiträumige,<br />

telepräsente, künstliche oder auch metaphysische Lebenserwägungen zu schaffen.<br />

E<strong>in</strong> fasz<strong>in</strong>ierender Reichtum an Abstraktionen, Symbolen, Artefakten,<br />

Idealisierungen, Stereotypen, Farb- und Formentscheidungen, Bild-, Schrift- und<br />

Zahlensprachen ist dabei entstanden und wird weiter entstehen. Zugleich s<strong>in</strong>d fasz<strong>in</strong>ierende<br />

Makrostrukturen erkennbar, die der Homo sapiens sapiens erfunden haben muss, um den<br />

S<strong>in</strong>n / die Bedeutung / die Geltung e<strong>in</strong>es alpha / omega, e<strong>in</strong>es Tierbildes, e<strong>in</strong>e Zierfrieses,<br />

e<strong>in</strong>es Reliefs, e<strong>in</strong>er Schriftrolle oder e<strong>in</strong>es Memory-Sticks zu erzeugen, zu erhalten und<br />

weiterzugeben.<br />

Dieses Triplet aus Erzeugen / Erhalten / Weitergeben genügt aber nicht, um<br />

erwartete oder überraschende Veränderungen, begründete oder unbegründete Selektionen und<br />

Varietäten zu erklären. H<strong>in</strong>zugezogen werden müssen die Ebene der Bewertung / Rout<strong>in</strong>en /<br />

Neugier, die für Alltag zentral ist<br />

Abstraktionen, Künstliches, Medien fielen nicht vom Himmel.<br />

Sie s<strong>in</strong>d von Menschen gemacht; sie s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em positiv-fröhlichen S<strong>in</strong>ne, se<strong>in</strong>e<br />

Machwerke. Medien abzulehnen, gar aufzufordern, Medien zu meiden, wirkt un<strong>in</strong>formiert,<br />

günstigenfalls politisch korrekt, für e<strong>in</strong>e bestimmte Moralfraktion.<br />

Sich die Strukturen des Künstlichen anzusehen, lohnt sich. Unbestritten ist, dass dies<br />

niemals e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Mensch gemacht hat. Medien s<strong>in</strong>d, um e<strong>in</strong>en Ausdruck von George<br />

Spencer Brown zu verwenden, „conditioned coproduction“. Das ganze Zitat lautet: „How we,<br />

and all appearance that appears with us, appear to appear is by conditioned coproduction“<br />

(1995, 20).<br />

29


In dieser bed<strong>in</strong>gten Zusammenarbeit, <strong>in</strong> der Poiesis und Poetik der Interaktivität, die<br />

ich als ko-evolutionäres Geschehen beschreibe, erzeugt der Mensch künstliche<br />

Anwesenheit.<br />

[8] Zum Schluss<br />

Unsere heutigen Lebensumstände, also die Lebensverhältnisse unter den Vorgaben so<br />

genannter Informations- oder Wissensgesellschaften, spitzen die Fragen nach Code,<br />

Bedeutung, Realität und Welt zu.<br />

Es wird uns zunehmend deutlich, dass Digitalität nicht nur die Speicher- und<br />

Transportlogik <strong>in</strong> Kommunikationsmedien darstellt. Alle die heutigen Wissenschaften und<br />

Leitökonomien betreffenden Erkenntnisse beruhen darauf, dass wir Menschen ke<strong>in</strong>en<br />

s<strong>in</strong>nlich-direkten Bezug zu diesen haben.<br />

Nun s<strong>in</strong>d uns<strong>in</strong>nliche Wahrheiten nicht neu. Das Reden vom Geist war nichts<br />

anderes, das Reden von Geisteswissenschaften ist nichts anderes. Auch Natur ist nur das<br />

Modell von ihr. Neu ist allerd<strong>in</strong>gs, dass die Performance digitaler S<strong>in</strong>nlichkeit immer mehr<br />

die Natur- und Technikwissenschaften und die materielle Struktur von Gesellschaft erfassen.<br />

Und neu ist, dass Digitalität nicht nur Speicher- und Transportlogik bereitstellt, sondern<br />

Erzeugungs- und Entwurfslogiken bee<strong>in</strong>flusst.<br />

Menschliche Wahrnehmung verlässt kaum noch diese Welt der digitalen Referenten.<br />

In ke<strong>in</strong>em Moment unseres Lebens kommen wir an Medien vorbei. Wir versuchen,<br />

uns <strong>in</strong> diesen durch diese zu orientieren, zu entspannen, zu belohnen (und bedienen das, was<br />

schon seit e<strong>in</strong>igen Jahrtausenden getan wird).<br />

Mit ihnen regeln wir nicht nur die kulturelle Praxis der Nachrichten, der Berichte<br />

oder die Praxis des Nachlesens, Anzeigens, des typografischen Darstellens und<br />

typografischen Denkens. Bildliche und akustische Medialität gehören mit den Schriftwelten<br />

von Trivialitätsliteratur bis zu wissenschaftlichen Büchern zum komplexen kulturellen<br />

System der Selbst-Belohnung.<br />

Ob Enterta<strong>in</strong>ement, Info- oder Eduta<strong>in</strong>ement, ob Feuilletons oder Games,<br />

Kurznachrichten oder Dauerbeschallung durch Musiksendungen: Medien haben e<strong>in</strong>en<br />

kognitiven, emotionalen, erzieherischen, normativen, <strong>in</strong>stitutionellen, ablenkenden,<br />

konzentrierenden Nutzen. Mit ihnen garantieren wir die Anwesenheit von Welt <strong>in</strong> unseren<br />

Wahrnehmungen und – zu kle<strong>in</strong>eren Teilen – unsere Beteiligung an dieser. Anwesenheit und<br />

Beteiligung stehen <strong>in</strong> enger Verb<strong>in</strong>dung mit der biologisch codierten Fähigkeit des<br />

Menschen, sich <strong>in</strong> das Verhalten se<strong>in</strong>es menschlichen Gegenübers h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>denken zu<br />

können, dessen Gedanken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Simulation geistiger Prozesse ´vorauszuahnen´ und sich<br />

kommunikativ darauf e<strong>in</strong>zustellen.<br />

30


In unterschiedlichen Forschungsansätzen wird dies als Antizipationsfähigkeit oder als<br />

emotionale Intelligenz beschrieben (s.o.). Ich gehe, <strong>in</strong> Anlehnung an Jean Piagets Vorschlag<br />

der „Ko-Adaptation“(1968), Michael Tomasellos anthropologisch-evolutionäre Forschung<br />

(2002) oder P.B. Baltes (2006) Ansatz e<strong>in</strong>es „biocultural Co-Constructivism“ davon aus, dass<br />

diese biologisch codierten Fähigkeiten der mitdenkenden Vorwegnahme die Quelle dessen ist,<br />

was ich als Mediens<strong>in</strong>n beschreibe. Dieser ist e<strong>in</strong> kulturelles Erzeugnis, e<strong>in</strong> im ernsten S<strong>in</strong>ne<br />

des Wortes: menschliches Machwerk.<br />

Der Mediens<strong>in</strong>n erweitert die biologisch-kognitive Fähigkeit des Menschen, sich <strong>in</strong> andere<br />

Menschen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen, also Zwischen-Menschlichkeit zu simulieren. Er zielt auf e<strong>in</strong><br />

abstraktes Wir, auf abstrakte Zuschreibungen zu diesem Wir und angenommener Welt.<br />

Diese abstrakt-kognitive Erweiterung gilt den nicht-menschlichen, nicht-biologischen,<br />

künstlichen Gebilden, den Zeichen, Signalen, Notationen, Zahlen-, Bild-, Schrift-Sprachen,<br />

den Symbolen oder Diabolen und reicht bis <strong>in</strong> unsere mediale Zukunft der diversen<br />

Künstlichen Welten h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />

Es ist aber e<strong>in</strong>e trickreiche Erweiterung, denn sie erf<strong>in</strong>det sich und ihren<br />

Gegenstandsbereich ko-evolutionär sozusagen selber.<br />

Die grundlegende Paradoxie der Anthropologie!<br />

Der Mensch e<strong>in</strong> umgekehrt sich bewegender Münchhausen?<br />

Er zieht sich nicht aus der Welt der Unbeobachtbarkeit heraus, sondern geht immer<br />

wieder <strong>in</strong> diese zurück, ausgestattet mit Zeichen-, Schrift- und Codierungssystemen, mit<br />

Krück- und <strong>Dr</strong>uckstöcken, mit Leseräumen und digitalen Caves, mit Kuhhäuten und<br />

Bioadaptern, mit allen S<strong>in</strong>nen und <strong>in</strong> der Dunkelheit des Gehirns. Am Schopf se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Wahrnehmung hängt wieder e<strong>in</strong>e unerschließbare Fülle von Möglichkeiten. Immer ungenauer,<br />

unschärfer wird die Welt.<br />

Immer dr<strong>in</strong>glicher werden Regeln der Kooperation zwischen den weltweit<br />

<strong>in</strong>teragierenden Menschen. Immer dr<strong>in</strong>glicher e<strong>in</strong>e entwerfende, voraus denkende<br />

Anthropologie des Medialen, die e<strong>in</strong>e Anthropologie der universal möglichen Kulturen<br />

ist, entlastet vom <strong>Dr</strong>uck der identitätspolitischen Selbstüberschätzung.<br />

Zum Schluss Zygmunt Baumann:<br />

„Jetzt endlich richten wir uns auf und stellen uns dem Chaos“.<br />

Wir stellen uns <strong>in</strong>s Chaos und <strong>in</strong> die Strukturen, wir das s<strong>in</strong>d die Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen<br />

von Forschungsnetzwerk Anthropologie des Medialen / <strong>FAMe</strong> – Frankfurt<br />

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