Frauenfragen - GEW Landesverband Bayern
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so entsteht allmählich das innere Netz, in dem sich »Hand«,<br />
»Herz« und »Kopf« entfalten können. Auf der Suche nach<br />
angemessenen Geschwindigkeiten, so der Zeitexperte, können<br />
wir eine theoretische Brücke zwischen solchen inneren<br />
und den äußeren Netzen des Lebens schlagen. Unsere Aufgabe:<br />
In der Praxis Verhältnisse zu schaffen, in denen innere<br />
und äußere Strukturen synchronisiert ablaufen.<br />
Ein schulischer GAU Was geschieht, wenn die inneren<br />
Netze, die den Heranwachsenden<br />
stark machen sollen, nicht gebildet werden oder<br />
zu schwach sind? Am Beispiel des sogenannten Amoklaufs<br />
von Erfurt, der einem kleinen »GAU« gleich kam, und an<br />
ähnlichen Vorfällen bei uns und in anderen Ländern arbeitet<br />
Fritz Reheis überzeugend heraus, dass alle Versuche, bei<br />
der Schulbildung Tempo zu machen, um angeblich Zeit zu<br />
sparen, sich letztlich als klassische Beschleunigungsfallen<br />
erweisen. Das muss man/frau einfach gelesen haben, eine<br />
bessere Analyse ist kaum denkbar. Aber auch hier wendet<br />
der Lehrer Reheis das Geschehene ins Positive. Wieder geht<br />
er Schritt für Schritt auf die zeitlichen Bedingungen erfolgreicher<br />
schulischer Bildung und Erziehung ein.<br />
Zeitmaße Die Eigenzeiten der SchülerInnen und die<br />
der LehrerInnen, verstanden als Eigenzeiten<br />
des Körpers, der Seele und des Geistes, sind die wesentlichen<br />
Zeitmaße für den Schulbetrieb als Ganzes. Aber auch<br />
die Lerninhalte und der Unterricht haben Eigenzeiten, nach<br />
denen sich der Schulbetrieb zu richten hat. Der altbekannte<br />
Begriff des »didaktischen Dreiecks« bekommt eine völlig neue<br />
Bedeutung, wenn das Geschehen zwischen SchülerInnen,<br />
LehrerInnen und den Lerninhalten als »Resonanzgeschehen«<br />
interpretiert wird, wobei im Gegensatz zur »Osterhasen-Pädagogik«<br />
die Schwingungen vom Inhalt selbst ausgehen. LehrerInnen<br />
treten in den Hintergrund, damit SchülerInnen die<br />
Inhalte mit »Eigensinn« versehen können. »Wenn man Schule<br />
als Ort der Selbstfindung des Individuums und der Selbsterhaltung<br />
und Selbsterneuerung der Kultur begreift, wird sie<br />
zu einer Zeitinsel mit eigener Qualität«.<br />
Pioniere Wem diese Ansätze als zu idealistisch oder<br />
utopisch erscheinen, den weist der Autor auf<br />
die Schulen in Deutschland hin, in denen die LehrerInnen<br />
bereits klüger und vernünftiger mit Zeit umgehen, ohne<br />
vielleicht im einzelnen um die fundamentale Bedeutung von<br />
Evolution und Ökologie der Zeit zu wissen. Da gibt es LehrerInnen,<br />
die ihren Unterricht regelrecht umkrempeln, damit<br />
einige Eigenzeiten respektiert werden können. Gegen<br />
die Vergewaltigung des Rüchkgrats durch stundenlanges Stillsitzen<br />
hilft Gymnastik oder Sichhinstellen während des Unterrichts.<br />
Der »Frontalunterricht« wird marginalisiert zugunsten<br />
anderer Methoden wie Stillarbeit im Buch, Arbeit mit<br />
dem Banknachbarn oder in der Gruppe, Rollenspiele, Planspiele<br />
usw. Oder SchülerInnen erhalten speziell auf sie zugeschnittene<br />
Einzelaufgaben. »Lehren durch Lernen« ist ein<br />
inzwischen weitverbreitetes Konzept, das für die Schüle-<br />
21 DDS März 2008<br />
rInnen Abwechslung und ein gehöriges Maß an Selbsttätigkeit<br />
und für die LehrerInnen einen pädagogisch aufschlussreichen<br />
Perspektivenwechsel bringt.<br />
Größere Eingriffe An einem sächsischen Gymnasium<br />
haben sich Lehrerinnen und<br />
Lehrer für das Team-Teaching entschieden und erarbeiten<br />
fächerübergreifend in größeren Zeitblöcken größere Projekte,<br />
wie z. B. das Thema »Geld und Geltung«. In Taucha<br />
bei Leipzig ist am dortigen Gymnasium der 45-Minuten-<br />
Takt ganz abgeschafft worden. In der Bodensee-Schule in<br />
Friedrichshafen bestimmen großzügige Freiarbeitsphasen<br />
das gesamte Unterrichtsgeschehen. An der Max-Brauer-Gesamtschule<br />
in Hamburg sind anstelle der üblichen Unterrichtsfächer<br />
»Lernbüros« und »Werkstätten« eingeführt worden,<br />
in denen die SchülerInnen zur selbstständigen Auseinandersetzung<br />
mit den entsprechenden Themen kommen.<br />
Theaterarbeit hat nachweisbar positive Auswirkungen auf<br />
die Leistungsentwicklung der SchülerInnen. Ein gutes Beispiel<br />
dafür ist die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, die<br />
im PISA-Test besonders gut abgeschnitten hat. Ein Reformversuch<br />
aus der Schweiz: An einem Gymnasium im Zürcher<br />
Oberland wurden OberstufenschülerInnen von der Anwesenheitspflicht<br />
befreit und ein System für das Selbstlernen<br />
eingerichtet. Die Ergebnisse in den Selbstlernklassen<br />
waren nach einem halben Jahr in den meisten Fächern nicht<br />
schlechter, sondern sogar besser als bei den anderen.<br />
Arbeit und Muße Die meisten Beispiele sind wenig<br />
spektakulär. Dennoch weisen sie<br />
in die richtige Richtung: Es gilt, die »Zerstückelung der Welt«,<br />
die Züchtung von EinzelkämpferInnen in der »Turboschule«<br />
zu überwinden und den verhängnisvollen Kreislauf von<br />
Ausgrenzung, Verzweiflung und Explosion zu durchbrechen.<br />
»Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können<br />
vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.« Reheis<br />
erinnert an diesen Artikel der Bayerischen Verfassung,<br />
der auf die Bildung der kindlichen Persönlichkeit zielt und<br />
dem Ansatz der Evolution und Ökologie der Zeit zur Entfaltung<br />
verhelfen könnte, wollte man/frau ihn nur ernst nehmen.<br />
Das Nomen »Schule«, auch das ruft uns der Autor ins<br />
Gedächtnis zurück, kommt vom lateinischen »schola« und<br />
bedeutete einmal so viel wie »Muße, Ruhe«, war »wissenschaftliche<br />
Beschäftigung während der Mußestunden«. So verstanden,<br />
böte die Arbeit in der Schule den nötigen Raum für<br />
Zeit und Muße, den jede/r Heranwachsende braucht, um<br />
sich selbst zu einer auf die Gesellschaft bezogenen unverwechselbaren<br />
Persönlichkeit heranzubilden.<br />
von Hannes Henjes<br />
Mitglied der DDS-Redaktion<br />
Gymnasiallehrer im »Unruhestand«<br />
E-Mail: h.henjes@web.de<br />
Das Buch (das zumindest jeder Lehrer und jede Lehrerin lesen müsste):<br />
Fritz Reheis: Bildung contra Turboschule! Ein Plädoyer.<br />
Herder 2007, 221 S., 14,90 Euro