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Der Wiener 'Eneasroman' - Commonweb

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A Einleitung<br />

b. Sebastian Brant oder Aeneas indoctus - lector doctus<br />

Schließlich ist es sinnvoll, die mittelalterlichen Handschriftenillustrationen mit Denkmälern<br />

insbesondere des frühen Buchdrucks, wie beispielsweise mit der Vergil-Ausgabe Sebastian Brants aus dem<br />

Jahr 1502, zu vergleichen. Diese Ausgabe ist besonders interessant, da Brant in einem lateinischen<br />

Einleitungsgedicht die Ziele der Illustration erläutert. 28 Er hebt hervor, daß der doctus den Text samt den<br />

beigegebenen Kommentaren verstehen könne. 29 <strong>Der</strong> indoctus dagegen vermöge aufgrund der Bilder zu<br />

verstehen, was im lateinischen Text erzählt werde: seiner Ansicht nach können die Bilder offenbar<br />

„gelesen“ werden.<br />

Hic legere historias commentaque plurima doctus<br />

nec minus indoctus perlegere illa potest.<br />

Bemerkenswerterweise zeigt sich noch an diesem späten Beispiel, daß die Dichotomie der beiden<br />

Kulturtechniken, die Gregor der Große in seinem Wort von der pictura laicorum literatura aufeinander<br />

bezog, das gesamte Mittelalter hindurch Gültigkeit besaß. Im nachfolgenden Distichon versucht Brant<br />

den Beweis für diese Aussage, daß Bilder gleichsam selbst sprechen und ihre Geschichten erzählen,<br />

indem er den Helden der Geschichte selbst als Beispiel anführt: Aeneas werde im Text als des Lesens<br />

unkundig dargestellt, Bilder hingegen könne er sehr wohl „lesen“.<br />

Dardanium Aeneam doctum non legimus usque:<br />

picturam potuit perlegere ille tamen.<br />

Offenbar denkt Brant dabei an die Episode ‘Aeneis’ I, 453-493, in der erzählt wird, daß Aeneas<br />

mit seinem Gefährten in Karthago Bilder am Juno-Tempel, die den Krieg um Troja darstellten,<br />

betrachtet. Aeneas, der Teilnehmer an diesem Kampf, erkennt die Geschehnisse sofort wieder und sieht<br />

auch sich selbst, gleichsam ein Spiegelbild aus der Vergangenheit. In ‘Aeneis’ I, 464 heißt es auch bei<br />

Vergil aber einschränkend: sic ait atque animum pictura pascit inani. J. GÖTTE 30 übersetzt pictura inanis<br />

sehr passend mit „stummes Bild“. Aeneas kann also diese Bilder nur „lesen“, weil er die Geschichte<br />

kennt: Es handelt sich also um die Wiedererkennung des Dargestellten angesichts des sonst stummen<br />

Bildes.<br />

Diese Erkenntnis findet ihre Bestätigung anhand einer anderen Textstelle, in ‘Aeneis’ VIII, 625-<br />

731: Venus überreicht ihrem Sohn den von Vulkan gefertigten Schild, auf dem im Bild - non enarrabile<br />

(!) textum - das künftige Schicksal Roms dargestellt ist. Non enarrabile bezieht sich dabei sicher nicht so<br />

sehr auf die Transformierung des Bildes in Sprache durch den Dichter Vergil, sondern vielmehr auf seine<br />

28 Zum folgenden vgl. WERNER SUERBAUM: Aeneis picturis narrata - Aeneis versibus picta. Semiotische<br />

Überlegungen zu Vergil-Illustrationen oder Visuelles Erzählen. Buchillustrationen zu Vergils ‘Aeneis’. In: Studi<br />

Italiani di Filologia Classica. Terza Serie. Volume X. Fasc. I-II. 1992, S. 271-334; hier: S. 272-279.<br />

29 ECKARD BERNSTEIN: Die erste deutsche Äneis. Eine Untersuchung von Thomas Murners Äneis-Übersetzung aus<br />

dem Jahre 1515. - Meisenheim am Glan: Anton Hain, 1974, S. 13 zitiert Brants Maxime, imperitis pro lectione<br />

pictura est, die neben der These von dem Ersatz der Bilder für ungelehrte Leser die intendierte erzieherische<br />

Wirkung der Holzschnitte ausdrückt.<br />

30 Vergil: Aeneis. Übersetzt von JOHANNES GÖTTE in Zusammenarbeit mit MARIA GÖTTE. Mit einer Einführung von<br />

BERNHARD KYTZLER. - München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1990. - Die folgenden Übersetzungen der<br />

13

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