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Der Wiener 'Eneasroman' - Commonweb

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B Philologie als Archäologie literarischer Texte<br />

auch nicht möglich ist, so könnte das prophetische Buch der Sibylle durchaus als mit Bildern oder<br />

magischen Zeichen ausgestattet gedacht sein. Weder im ‘Roman d’Eneas’ noch bei Vergil wird Sibylle<br />

bei der Ankunft des Aeneas als in einem Buch lesend dargestellt, so daß es sich hier um ein<br />

Charakteristikum der mittelhochdeutschen Fassung Veldekes handelt.<br />

Mit diesen beiden Textstellen aus dem ‘Eneasroman’ läßt sich schließlich sehr gut die oben<br />

zitierte Passage aus Ulrichs von Eschenbach ‘Alexander’ vergleichen. Es geht hier um die Gestaltung des<br />

Grabes für einen Ritter: Auf dem bearbeiteten Grabstein sollte man die Taten des Verstorbenen<br />

schouwen und lesen, wie in einem Buch. In beiden Fällen bezieht sich also die von beiden Verben<br />

charakterisierte Wahrnehmung auf Objekte mit einer vergleichbaren Qualität: auf der einen Seite auf ein<br />

Buch, auf der anderen Seite auf einen künstlerisch gestalteten Grabstein. Beiden gemeinsam ist<br />

offensichtlich eine Struktur, die aus textlichen und - im weitesten Sinne - bildlichen Komponenten<br />

besteht. Im Falle des Grabsteins ist an ein figürlich gestaltetes Relief zu denken, das von einem Text<br />

begleitet wird. Daß man aber bezüglich der diskutierten Verspartie aus dem ‘Eneasroman’ mit Blick auf<br />

diese Parallelstelle auf eine mit Miniaturen ausgestattete Handschrift schließen darf, wie ETTMÜLLER es<br />

tat, ist durchaus möglich.<br />

Von hier aus soll abschließend noch einmal die zitierte Textstelle aus Wernhers ‘Maria’, die<br />

ausgezeichnet mit den Versen V. 13445-13447 des ‘Eneasromans’ verglichen werden kann,<br />

herangezogen werden. Darf man aufgrund der Analogie mit der Textstelle bei Veldeke ebenfalls einen<br />

mit Miniaturen ausgeschmückten Archetypus annehmen? Hier wäre dieselbe skeptische Haltung<br />

angebracht, wenn nicht gerade von Wernhers ‘Maria’ ebenfalls eine frühe Bilderhandschrift erhalten<br />

wäre, die darüber hinaus im selben Umkreis entstanden sein dürfte wie die Berliner Handschrift des<br />

‘Eneasromans’ 93 und von der F. KUGLER 94 sogar vermutete: „Dass die in unserer Handschrift enthaltenen<br />

Bilder von dem Dichter selbst herrühren (oder wenigstens, wie wir unten sehen werden, Copien der<br />

seinigen sind), unterliegt noch weniger einem Zweifel. Es sind im Obigen Beispiele zur Genüge<br />

beigebracht, wie in jenem Zeitalter die verschiedenen Richtungen der geistigen Produktion,<br />

wissenschaftliche und künstlerische, sich in einem und demselben Individuum zu vereinigen pflegten und<br />

wie namentlich die Schreiber der Werke sich auch ihre künstlerische Ausstattung angelegen sein<br />

liessen.“ 95<br />

Es scheint, daß man mit letzter Sicherheit die These von einem bereits im Archetyp dem<br />

‘Eneasroman’ zugeordneten Bilderzyklus weder ausreichend verifizieren noch grundsätzlich verwerfen<br />

kann, zumal im Codex B bereits ein ganz früher Illustrationszyklus überliefert ist. Viel sinnvoller ist es,<br />

die Gedanken J. BUMKES, der ebenfalls im Hinblick auf den Berliner ‘Eneasroman’ in der aufgeworfenen<br />

Frage keine eindeutige Stellung bezieht, aufzugreifen und eine definitive Beantwortung dieser<br />

93 JOACHIM BUMKE: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland<br />

1150-1300. - München: Beck, 1979, S. 139: „Mit dem ‘Regensburger Federzeichnungsstil’ werden auch die ältesten<br />

Illustrationen volkssprachiger Werke in eine allerdings nicht ganz deutliche Verbindung gebracht: die Bilder der<br />

<strong>Wiener</strong> und der Millstätter ‘Genesis’, das Heidelberger ‘Rolandslied’, die Berliner Handschrift von Priester<br />

Wernhers ‘Maria’ und die Berliner ‘Eneit’.“<br />

94 FRANZ KUGLER: De Werinhero, saeculi XII. monacho Tegernseei, et picturis minutis, quibus carmen suum<br />

theotiscum de vita B. B. Mariae ornavit. - Dissertation Berlin, 1832. Zum Teil wiederabgedruckt in: DERS.: Kleine<br />

Schriften und Studien zur Kunstgeschichte. 1. Teil. - Stuttgart: Ebner und Seubert, 1853, S. 12-37.<br />

95 Ebd., S. 28. - Zu den Miniaturen vgl.: Des Priesters Wernher Drei Lieder von der Magd. Nach der Fassung der<br />

Handschrift der Preußischen Staatsbibliothek metrisch übersetzt und mit ihren Bildern herausgegeben von HERMANN<br />

DEGERING. - Berlin: Wegweiser Verlag, 1925. - HANS WEGENER: Beschreibendes Verzeichnis der Miniaturen und<br />

des Initialschmucks in den deutschen Handschriften bis 1500. - Leipzig: Weber, 1928, S. 2-4.<br />

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