1923-Die Dauer geologischer Vorgänge - Burgenverein Untervaz
1923-Die Dauer geologischer Vorgänge - Burgenverein Untervaz
1923-Die Dauer geologischer Vorgänge - Burgenverein Untervaz
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Untervaz</strong>er <strong>Burgenverein</strong> <strong>Untervaz</strong><br />
Texte zur Dorfgeschichte<br />
von <strong>Untervaz</strong><br />
<strong>1923</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Dauer</strong> <strong>geologischer</strong> <strong>Vorgänge</strong><br />
Email: dorfgeschichte@burgenverein-untervaz.ch. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter<br />
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter<br />
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
- 2 -<br />
<strong>1923</strong> <strong>1923</strong> <strong>Die</strong> ie <strong>Dauer</strong> <strong>geologischer</strong> <strong>Vorgänge</strong> <strong>Vorgänge</strong> Natur und Technik. Heft 11. 1922/23. Seite 299-304<br />
Christian Tarnuzzer<br />
Über ber die die Daue <strong>Dauer</strong> Daue r <strong>geologischer</strong> <strong>Vorgänge</strong>.<br />
von Prof. Dr. Chr. Tarnuzzer, Chur.<br />
S. 299: Es ist eine alte Erfahrung, dass der Laie, der gebildete wie der ungebildete, für<br />
Gegenstände und <strong>Vorgänge</strong>, mit denen sich die Geologie beschäftigt, ein<br />
besonderes Interesse zeigt. Von jeher befasste sich die Volksphantasie mit den<br />
leblosen Naturkörpern in<br />
S. 300: und auf der Erde, mit Mineralien und Erzen, Berggeistern, die seltenes Gut<br />
bewachen, wohltätigen Zwergen, die dem Bergknappen helfen, und funkelnden<br />
Metallschätzen des Erdenschosses, deren Hebung die Armut zu scheuchen<br />
versprach. Auffallende Block- und Felsgestalten, seltene Gesteinsarten,<br />
Formen der Erosion und Verwitterung sind vornehmlich die Gegenstände, für<br />
die sich das Volk Erklärungen zu geben sucht. Bergformen und Schluchten,<br />
Höhlen, Bergwerke, Erdbeben usw. erwecken in jedem lebhaftes Interesse.<br />
Eine solche Regsamkeit des Geistes im Volke muss den Geologen mit Freude<br />
erfüllen. Er wird mit Fragen und Erklärungen bestürmt, aber diese<br />
Erkundungen beziehen sich nur selten auf eigentliche geologische Tatsachen<br />
und deren exakte Beobachtungen, die das Wesen der Wissenschaft ausmachen,<br />
der Fragende schweift meist weit über den Wert der Tatsachen hinaus und<br />
wünscht vor allem die Zeit, in der ein geologisches Ereignis auftrat, die <strong>Dauer</strong><br />
der Ablagerung eines nutzbaren Flötzes, einer bestimmten Erdschicht und<br />
ähnliches in absoluter Zahl kennen zu lernen. Er zeigt sich höchst verwundert,<br />
wenn darüber nur ungenügende und unsichere, ja meist überhaupt keine<br />
Auskunft erfolgt. Er erwartet als Antworten nicht zu hohe Zahlen, aber er<br />
erwartet sie. Das Mass für Klein und Gross, für die <strong>Dauer</strong> und Stärke eines
- 3 -<br />
Naturvorganges wird ja, wie E. v. Bär hervorgehoben, aus der physischen<br />
Organisation des Menschen selbst genommen, und unser Urteil haftet an dieser<br />
Endlichkeit. Darum hat auch die Geologie eine so langsame Entwicklung<br />
durchgemacht. Dass manche ihrer einfachsten grundlegenden Wahrheiten so<br />
lange unerkannt blieben, hing einmal von den innern Schwierigkeiten des<br />
Gegenstandes ab, so konnte der Mensch z. B. den ungestörten Fortschritt der<br />
Ablagerung von Sedimenten in Seen und Meeren nur ungenügend beobachten<br />
und dessen Bedeutung erst nach und nach mit Hilfe des Nachdenkens u. der<br />
Phantasie erkennen. Darum hat die frühere Geographie und Geologie mit dem<br />
Zeitmass so ausserordentlich gegeizt und geizt der Laie noch heute damit,<br />
wenn er sich geologischen <strong>Vorgänge</strong>n und Problemen zuwendet. Aber in<br />
unserm Denken ist etwas, wie Kant gezeigt, das sich der Begrenztheit der Zeit<br />
und des Raumes entgegenstellt. Der schottische Geologe Hutton (1720-1797)<br />
war der Erste, der die Veränderungen auf der Erde als Spiel der heute noch<br />
wirkenden Kräfte erkannte und für ihre Bildungen unermessliche Zeiten<br />
beanspruchte. Dennoch vermochte sich auch dieser grosse Geist von der<br />
Ansicht eines Wechsels von Zeiten des ruhigen Absatzes der Erdschichten mit<br />
Zeiten allgemeiner Störung oder Katastrophen nicht frei zu machen. Erst in<br />
Charles Lyells "Principles of Geology" von 1830 ist das Prinzip, alle frühem<br />
Veränderungen auf der Erde ausschliesslich durch die heute tätigen natürlichen<br />
Kräfte und <strong>Vorgänge</strong> zu erklären, in umfassendster Art angewandt und<br />
durchgeführt worden. Wie niemand vor ihm hat er gezeigt, wie in der Natur<br />
Kleines die Wiege des Grossen ist.<br />
Gleichzeitig, wenn auch unserm Auge meist verborgen, setzen sich heute die<br />
Materialien der verschiedensten Sedimentgesteine ab: an den Ufern der<br />
Buchten und Meere für künftige Konglomerate und Sandsteine, ähnlich, wie<br />
sich zur Miocänzeit die Nagelfluh und die Molassesandsteine bildeten, weiter<br />
draussen für Tonschiefer, Korallenkalk, Steinsalz und Gips und in der Tiefe für<br />
Kreide und dichte Kalke, in den tiefsten (abyssischen) Regionen des<br />
Weltmeers aber die Kieselpanzer von Radiolarien und rote Tone, die künftige<br />
Hornsteine und die Tiefseetone liefern. Das alles geschah, so gut wie heute, in<br />
den frühern Erdepochen. Es bedurfte nur. der Bindemittel von Ton, Kalk und<br />
Kiesel, um die zonenweise verteilt gehaltenen Schuttmassen zu verkitten, der<br />
Veränderungen des Strandes, der Trocknung und Erhärtung der Schichten in<br />
langen Zeiträumen und endlich der Hebung durch die gebirgsbildenden Kräfte,<br />
bis diese Gebilde dorthin kamen, wo wir sie heute erblicken. Das wichtigste
- 4 -<br />
geologische Agens ist die Zeit, und Zeit war immer genug vorhanden. <strong>Die</strong><br />
heutigen Bildungsweisen beherrschten also auch die Vergangenheit, nur<br />
konnten ähnliche Gesteine, z. B. Sandsteine und Konglomerate, in<br />
verschiedenen Epochen ihre Eigentümlichkeiten in Trümmermaterial, Farbe<br />
und Beimengung ihres Bindemittels bewahren und sich gegen gleiche<br />
Bildungen in andern Zeiten unter-<br />
S. 301: scheidbar machen. Was aber das Wichtigste ist: die eingeschlossenen<br />
Versteinerungen waren in den Gesteinen verschiedener <strong>geologischer</strong> Zeiten<br />
unter sich und von den heute lebenden tierischen und pflanzlichen Organismen<br />
in der Mehrzahl ganz verschieden. Aber selbst die erleuchteten Griechen, und<br />
die Welt noch lange nach ihnen, vermochten in den frühern Tier- und<br />
Pflanzengeschlechtern keine wesentlichen Veränderungen wahrzunehmen, und<br />
so blieben sie auch ausserstande, die heute sichtbaren Veränderungen des<br />
Unorganischen und den Zustand der bestehenden organischen Welt mit den<br />
frühern Verhältnissen auf beiden Gebieten in Vergleich zu setzen.<br />
Im weitern zeigt die Geschichte der Geologie, dass manche ihrer<br />
grundlegenden Erkenntnisse nach dem ersten glücklichen Erfassen erst noch<br />
fast unübersteigliche Hindernisse, die in äusserlichen Ursachen lagen, zu<br />
besiegen hatten. So in der Frage nach der Natur und Bedeutung der<br />
Versteinerungen. Man hatte zwar schon früh aus Meeresmuscheln, die drinnen<br />
im Lande oder auf Bergeshöhen gefunden wurden, auf ausgedehnte einstige<br />
Meere und den Wechsel von Land und Meer auf der Erde geschlossen, aber in<br />
der christlichen Zeit erlangte die Lehre von der Sündflut (Sintflut, d. h. grosse<br />
Flut) die allgemeinste Verbreitung, und es entstand für Jahrhunderte lang das<br />
fast unausrottbare Dogma, dass alle Versteinerungen während dieser<br />
universalen, in der landläufigen Vorstellung nur kurz verlaufenen Flut über die<br />
Erde verstreut worden seien. <strong>Die</strong> Lehre von der Sündflut war zu einer Zeit<br />
brauchbar und von Bedeutung, als man die Fossilien (Versteinerungen) zum<br />
Teil noch als blosse Naturspiele betrachtete, oder vulkanische Kräfte und<br />
Erdbeben zu Hilfe. nahm, um die Verbreitung versteinerter Tierschalen über<br />
die Gebirge hin zu erklären und sogar behaupten durfte, die geschichteten<br />
Gesteine hätten sich bei kurzen vulkanischen Eruptionen gebildet. Dann aber<br />
trat das Dogma von der "Sündflut" der Entwicklung der Erdgeschichte als<br />
unnatürlichstes Hindernis entgegen. Ihm ist auch der ausgezeichnete J. J.<br />
Scheuchzer erlegen. <strong>Die</strong> Anhänger der Sintflutlehre wussten nichts mehr von<br />
Ereignissen, welche die Erdoberfläche nachträglich wesentlich verändert
- 5 -<br />
hätten, und mussten alle sedimentären Schichten zusammennehmen, statt sie<br />
zu trennen, was allein mit der Erkenntnis eines veränderten Bestandes der<br />
organischen Wesen vereinbar gewesen wäre. Was in Wirklichkeit erst<br />
hunderttausende und Millionen von Jahren zustande brachten, das schätzte<br />
man damals als in kurzer Zeitspanne entstanden, und man durfte auch nicht<br />
anders, denn wer längere Zeiträume lehrte und verteidigte, als sie die<br />
mosaische Schöpfungsgeschichte zuliess, war in Gefahr, des kirchlichen<br />
Unglaubens bezichtigt ….. zu werden. … Aber auch diejenigen, die zu andern<br />
Katastrophen- Theorien, z. B. dem Vulkanismus, übergingen, hatten damals<br />
keine Ahnung eines geologischen Zeitmasses, und sie konnten sich die<br />
physikalischen <strong>Vorgänge</strong> auf der Erde nur durch kurze Epochen andauernd<br />
vorstellen.<br />
Wenn wir daran zurückdenken, so müssen wir doch sagen, dass heute dank der<br />
allgemeinern Kultur und der schon weit verbreiteten Vorstellung einer<br />
Entwicklung des Einzelnen wie des Naturganzen schon ein viel sichereres<br />
Gefühl in der Schätzung <strong>geologischer</strong> <strong>Vorgänge</strong> ausgebildet ist. Auch der<br />
Ungebildete nimmt jetzt den Masstab für Klein und Gross, für die <strong>Dauer</strong> eines<br />
Naturvorganges, nicht mehr ausschliesslich aus sich selbst, sondern weiss sich<br />
schon der Reflexion zu bedienen und gewöhnt sich einigermassen an grössere<br />
Ziffern für die Ereignisse. Er lernte verschiedene Masstäbe der Verwitterung<br />
harter und weicher Gesteine kennen und dachte nach über die von der Erosion<br />
bewirkte Trennung von Felspfeilern. Dass unsere Täler in erster Linie das<br />
Werk der Erosion fliessender Gewässer sind, nimmt heute meist auch der<br />
Einfältigste an, wenn er die Flussarbeit in einer Klamm betrachtet, und er<br />
denkt sicherlich schon an grosse Zeiträume, die zur Auswaschung einer<br />
Reusschlucht bei Göschenen und der Aareschluchten bei Meiringen nötig<br />
gewesen sind. Das ist schon ein grosser Fortschritt in der Anschauungsweise<br />
unseres Zeitalters, die sich unter Mithilfe von Physik, Chemie und Astronomie<br />
tiefer eingelebt hat, wenn auch selten einer sich Rechenschaft davon<br />
S. 302: gibt, dass das, was er in dieser Richtung denkt, der Geologie zu verdanken ist.<br />
Von diesem Fache verlangt der Laie vor allem Zeitberechnungen für<br />
Naturvorgänge, und er mutet dem Geologen das Erstaunlichste zu. "Wie lange"<br />
und "Seit wann" sind die üblichen Fragen, mit denen er sein Interesse<br />
bekundet. Er möchte z. B. wissen, wie alt eine Höhle des Kalk- oder<br />
Dolomitgebirges ist, und wie lange die baumdicken Stalaktiten ihrer<br />
Tropfsteingebilde gewachsen sind. Man vermag ihm nur zu sagen, dass nach
- 6 -<br />
Berechnungen der jährlichen Inkrustationen eingelegter Hacken in der<br />
Adelsbergergrotte in Krain zur Bildung eines 1 m dicken Zapfens ein Zeitraum<br />
von 15'000-25'000 Jahren nötig gewesen sein mag, die Baumannshöhle im<br />
Harz, nach dem Umfang ihrer Tropfsteinkegel betrachtet, ein Alter von 20'000<br />
Jahren haben dürfte, in englischen Tropfsteinhöhlen aber das Wachstum 60-<br />
70mal schneller befunden wurde. Das ist eben je nach geographischen und<br />
klimatischen Verhältnissen, der Tiefe und dem Feuchtigkeitsgrade der Höhlen<br />
sehr verschieden, übrigens auch in verschiedenen Zeiten für eine und dieselbe<br />
Höhle, in welcher in Trockenperioden (Zwischeneiszeiten) des Diluviums<br />
grosse Tropfsteine während viel geringerer Zeit erzeugt wurden als in der<br />
feuchten Luft des heutigen regenreichen Klimas. Jene Angaben beruhen auf<br />
Schätzungen, die regelmässig an Unzuverlässigkeiten leiden, es sind Ziffern.<br />
die mit andern geologischen Daten im Widerspruch stehen und jedenfalls zu<br />
hoch sein dürften. Aber der Laie verlangt eben oft mehr, als eine gewissenhafte<br />
Forschung verantworten kann, nicht auf Tatsachen, sondern auf solche<br />
Erledigungen legt er Wert, weil ihm die Voraussetzungen unbekannt sind, die<br />
zu den Ergebnissen und Theorien führen.<br />
Er hört von einer fünfmaligen Vergletscherung unseres Landes und möchte<br />
z.B. wissen, wie lange die grösste derselben gedauert hat. Penck und Brückner<br />
fordern für die gesamte glaziale Aufschüttung der Poebene mindestens<br />
300'000-400'000 Jahre, aber einzelne Perioden der Eiszeit sind unmöglich auch<br />
nur mit rohesten Zahlen abzugrenzen. Dagegen schätzt Heim die Zeit des<br />
Alluviums, in der wir leben, also die seit der letzten Vergletscherung<br />
verflossene Zeit auf 15'000 Jahre, Penck und der Amerikaner Upham auf<br />
20'000 Jahre, Werth für Südschweden auf zirka 16'000 Jahre. <strong>Die</strong> erste<br />
Rechnung stützt sich auf die jährlichen Schlammablagerungen, die mittelst auf<br />
den Boden des Vierwaldstättersees versenkten Blechkisten erhalten und mit<br />
der Mächtigkeit der gesamten, dem Moränenmaterial der Nähe an- und<br />
aufgelagerten Schuttalluvionen verglichen wurden. Gewiss sind solche Zahlen<br />
von hohem Interesse, aber sie können naturgemäss nur bedingten<br />
vergleichsweisen Wert haben, denn die Versuche, aus der Geschwindigkeit<br />
oder Langsamkeit, mit der sich jetzt neue Ablagerungen bilden, die <strong>Dauer</strong><br />
eines früheren Vorganges zu berechnen, beruhen auf zu wenig sichern<br />
Voraussetzungen, und die Ergebnisse müssen notgedrungen an allerlei<br />
Unzuverlässigkeiten leiden.
- 7 -<br />
Wie alt ist ein Kalkberg der obern Juraperiode oder des Muschelkalkes?<br />
Welche Zeiten waren für die Bildung des Buntsandsteins in den roten<br />
Dünenwüsten der mittlern Trias, oder für das ganze Kohlengebirge der<br />
Karbonzeit nötig? Wer so fragt, der überfragt, da er immer eine einigermassen<br />
sichere Grundlage für die Berechnungen voraussetzt. Betrachten wir einmal<br />
die für die Kohlenzeit gestellte Frage daraufhin, auf was alles es dabei<br />
ankommt.<br />
Das Kohlengebirge ist im Maximum 7000 m mächtig, von denen aber nur ein<br />
paar hundert Meter produktive Steinkohle, das andere Kohlenschiefer,<br />
Kohlenkalk, Sandsteine und riesenhafte Massen von Konglomeraten sind, die<br />
im Perm abschliessen. Ein breites Faltensystem, das variszische Gebirge, zog<br />
sich damals vom südlichen F rankreich durch ganz Mitteleuropa zwischen<br />
Belgien und den Alpen hin und tauchte als flachwelliges Mittelgebirge aus der<br />
Niederung auf, die während der Oberdevon- und Unterkarbonzeit durch<br />
Zufüllung des Meeres entstanden war. <strong>Die</strong> in der grossen Sammelmulde<br />
übereinander geschichteten Sedimentmassen sanken in die Tiefe, verkitteten<br />
sich und erhärteten, dann wurden das tiefere Karbon und alle darunter<br />
liegenden Schichtengebilde samt dem Grundgebirge vom Faltungsprozess<br />
ergriffen. Darauf begann aber die Verwitterung und Abtragung des<br />
S. 303: Gebirges, das alte Faltenland wurde während der Oberkarbon- und Permzeit<br />
niedergehobelt und eingeebnet bis zur Plattform des untern Stockwerkes im<br />
Schichtenbau Deutschlands, auf dem sich die nachfolgenden Sedimente<br />
diskordant absetzten. Walther schreibt diese gewaltige Abtragung und die mit<br />
ihr verknüpfte Anhäufung so ungeheurer Schuttmassen im Becken den<br />
Wirkungen eines uralten Wüstenklimas mit seinen riesigen<br />
Temperaturgegensätzen zu. Im Oberkarbon setzte die Faltung abermals ein.<br />
Ober die Mächtigkeiten der Schichtablagerungen und die Aufeinanderfolge der<br />
angedeuteten Ereignisse kann man also genauere Auskunft geben, aber das<br />
würdigt der Laie weit weniger als das Problem der Jahrmillionen, die darüber<br />
vergangen sein müssen. Doch kein Geologe vermag hier auch nur annähernd<br />
die Zeiten zu schätzen, weder für die Bildung der Schichten des Unter- und<br />
Oberkarbons, noch für die Bildung der in ihnen eingeschlossenen<br />
Steinkohlenflöze der einstigen sumpfigen Becken, und noch viel weniger für<br />
die Abtragung der variszischen Faltungen, die <strong>Dauer</strong> der Faltung im<br />
Oberkarbon usw. <strong>Die</strong> Bildung der Steinkohlen und eines Teiles ihrer<br />
Zwischenschichten kann uns der Geologe erklären, aber vergebens späht er
- 8 -<br />
nach den Ursachen, die zu so riesenhaften Ansammlungen von Geröllen,<br />
Schutt und Pflanzenmoder in der Karbonzeit führten, wenn er es auch<br />
wahrscheinlich machen kann, dass die Geröll- und Sandmassen durch<br />
stürmische Gewässer von den abwitternden Bergen herabgetragen und darauf,<br />
in der Permzeit, mit Aschen von Porphyrstaub zu Letten und Sanden<br />
zusammengeschwemmt wurden.<br />
Für den Geologen ist das Fossil, das er in der Hand hält, hochwichtig als<br />
Dokument einer Entwicklungsstufe im Organischen und des Zustandes der<br />
Zeitepoche und des Ortes, da sich das Gestein seiner Hülle absetzte. Aber er<br />
kann dem Fragenden keine Auskunft darüber geben, welcher Zeitraum die<br />
Lebenszeit des versteinerten Schaltieres von der unserigen trennte. <strong>Die</strong><br />
Neugier möchte namentlich auch erfahren, um welche Jahressumme es sich<br />
seit dem ersten Auftreten des Menschen in der Erdgeschichte handeln könnte.<br />
Ein Buch O. Hausers über den Menschen von Le Moustier trägt den Titel: Der<br />
Mensch vor 100'000 Jahren." Aber der Heidelbergerkiefer ist, wenn diese Zahl<br />
auch als völlig unsicher gelten muss, viel älter, und wenn der Mensch gar<br />
schon im Tertiär aufgetreten sein sollte, so müsste sein Alter wohl jenseits der<br />
Jahrmillion verlegt werden.<br />
Neuestens versucht man, die <strong>Dauer</strong> <strong>geologischer</strong> Perioden durch die<br />
Radioaktivität der Gesteine zu berechnen. Man benutzt für diesen Zweck den<br />
Betrag des jährlichen Zerfalls des Uranpecherzes über die Stufen Radium und<br />
Helium weg wahrscheinlich zu Blei, was unter den verschiedensten<br />
Strahlungen erfolgt. Ähnliches geschieht in der Thor- und Aktiniumreihe. So<br />
hat Hirschi gefunden, dass die Intrusion (das Eindringen in glut-flüssigem<br />
Zustand) des prae-granitischen Kalisyenits am Piz Giuf im Bündner Oberland<br />
ein Alter von 100 Millionen Jahren habe und seit dem Aufsteigen des tertiären<br />
Bergellergranits 1 Million Jahre verflossen seien. Nach solchen Verfahren sind<br />
die ältesten (archäischen) Gesteine Norwegens und Ceylons zu 1700-2200<br />
Millionen Jahren berechnet worden. <strong>Die</strong>se Zahlen erscheinen den Geologen<br />
jedoch zu klein, obwohl es nicht möglich ist, sie mit Grund zu widerlegen.<br />
<strong>Die</strong> geologischen Erscheinungen der Gegenwart führen uns aus der Enge<br />
unseres Zeitbegriffes hinaus und leiten, wie Walther sich ausdrückt, "in<br />
Kausalreihen, die sich nach der Vergangenheit und nach der Zukunft in<br />
unbegrenzte Fernen verlieren." Aber eine Einheit des Zeitmasses gibt es in der<br />
Geologie nicht. Wir wissen nicht, vor welcher Zeit die höchsten Strandlinien in<br />
Süditalien und die höchsten Muschelbänke der Küsten Norwegens, die eine
- 9 -<br />
Hebung der Küste oder vielmehr ein Zurückweichen des Meeres bekunden,<br />
angelegt wurden. <strong>Die</strong> Höhe des Strandes hat sich oft verändert, wann aber und<br />
von welcher <strong>Dauer</strong> ist sie jedesmal gewesen? Wie lange währte die Periode des<br />
Silur, der Trias, der Juraablagerungen? Wo fänden wir den Masstab für die<br />
Zeiten des Auferstehens der Alpen und Anden, für die Abrasion alter<br />
Faltengebirge und Kontinente und die nachfolgende Auflagerung mächtiger<br />
Sedimente auf den abgehobelten Gebirgssockeln?<br />
S. 304: <strong>Die</strong> messbaren zeitlichen Veränderungen auf der Erde betreffen. wie E. Suess<br />
zusammenfasst, fast nur den Landverlust durch Unterspülung, Landgewinn<br />
durch Anschwemmung, bruchstückweises Absinken grösserer Schollen von<br />
Schwemmland und örtliche Schwankungen in der Nähe von Vulkanen. Und<br />
allzu oft nur versagt die beweisende Kraft der Beispiele, mit denen zeitliche<br />
Veränderungen nachgewiesen werden sollen. <strong>Die</strong>se sind äusserst geringfügig,<br />
so dass sie ohne Schulung des Beobachters oft gar nicht sichtbar sind.<br />
Unmerklich aber und sich kaum bewusst, wird unser Geist von ihnen in die<br />
ferne Vergangenheit und Zukunft gelenkt, und wir kommen zur Einsicht von<br />
der Unermesslichkeit der Bildungszeiten für die Ablagerungen und<br />
Veränderungen der Stoffe auf der Erde. Kein Blick dringt hinüber in die<br />
Anfänge, keine Brücke trägt· zu ihrem Ende. Was sind da Jahrtausende in der<br />
Flucht des Geschehens, was ist ein Menschenleben?<br />
Aber kläglich wäre dabei eine Betrachtungsweise, die uns unsere Existenz<br />
verschwindend klein erscheinen liesse. Haben uns doch die Strahlen der<br />
Wahrheit des Naturgeschehens getroffen. So sei denn mit den Worten<br />
geschlossen, die Ad. Stahr bei der Betrachtung Roms sprach: "Ich fühle mich<br />
ebenso erhoben, wenn ich daran denke, dass dieses verschwindende Punktuelle<br />
meines Ich die ganze Weltentwicklung, deren Werksteine hier von<br />
Jahrtausenden zerstreut liegen, betrachtend zu verfolgen und begreifend zu<br />
fassen vermag, und dass überhaupt dieser Dinge Leben und Bedeutung nur für<br />
und durch den einzelnen betrachtenden Geist existiert."<br />
Internet-Bearbeitung: K. J. Version 01/2010<br />
- - - - - - - -