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Die Zukunft der Dinge. Über Unfälle und Sicherheit, in

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Verlag Walter de Gruyter ISSN 1886-2447 DOI 10.1515/behemoth.2011.011<br />

Das Licht des Unfalls<br />

<strong>Über</strong> <strong>Unfälle</strong>, so ist oft gesagt worden, kann man nur im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> etwas wissen. Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

nachträglichen Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Ablaufs, erst im Erzählen <strong>und</strong> damit Anordnen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Momente, die zum Unfall geführt haben, kann man sich e<strong>in</strong>es Geschehens gewiss werden, das man<br />

nie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er blitzhaften Gegenwart erleben o<strong>der</strong> beobachten kann. „Schon e<strong>in</strong>en Augenblick vorher<br />

war etwas aus <strong>der</strong> Reihe gesprungen, e<strong>in</strong>e quer schlagende Bewegung“ (Musil 1994, 10), so beg<strong>in</strong>nt,<br />

gänzlich unvermittelt, Musils berühmte kle<strong>in</strong>e Unfall-Erzählung aus dem ersten Kapitel des Mann<br />

ohne Eigenschaften. Der Unfall geschieht stets „e<strong>in</strong>en Augenblick vorher“, ist immer schon geschehen.<br />

<strong>Die</strong>se „epistemologische Nachträglichkeit“ des Unfalls (Kassung 2009, 9) speist e<strong>in</strong>e Fülle des<br />

Wissens über ihn. Denn kaum geschehen, setzt e<strong>in</strong>e Unzahl von Wissensformen <strong>und</strong> -praktiken<br />

an, um an den Resten, Trümmern, Leichen, Wracks <strong>und</strong> Ru<strong>in</strong>en jenen unverfügbaren Augenblick<br />

aufzuschlüsseln, <strong>in</strong> dem alles geschehen ist. Aber diese Nachträglichkeit, so populär sie gegenwärtig<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Flut von forensischen Unterhaltungsformaten se<strong>in</strong> mag, so enorme Mühen <strong>und</strong> Kosten<br />

sie for<strong>der</strong>t – ist nur die e<strong>in</strong>e Seite des Unfalls. <strong>Die</strong> an<strong>der</strong>e ist se<strong>in</strong>e Zukünftigkeit. Je<strong>der</strong> Unfall<br />

verweist auf e<strong>in</strong>en weiteren, noch nicht geschehenen, noch kommenden, noch möglichen Unfall.<br />

Indem je<strong>der</strong> geschehene Unfall e<strong>in</strong>e machtvolle Demonstration all dessen ist, was an e<strong>in</strong>em D<strong>in</strong>g,<br />

e<strong>in</strong>er Technologie, e<strong>in</strong>er Praktik unsicher <strong>und</strong> gefährlich ist, ist <strong>der</strong> Unfall die ‚<strong>Zukunft</strong>sform‘ e<strong>in</strong>er<br />

jeden Technologie, e<strong>in</strong>er Praktik o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>gs. „Der Schiffbruch“, so Paul Virilio, „ist also die<br />

‚futuristische‘ Erf<strong>in</strong>dung des Schiffs <strong>und</strong> <strong>der</strong> Flugzeugabsturz jene des <strong>Über</strong>schallflugzeugs, genauso<br />

wie Tschernobyl jene des Kernkraftwerks ist.“ (Virilio 2009, 17) In e<strong>in</strong>em Wortspiel mit dem französischen<br />

accident <strong>und</strong> dem Aristotelischen Akzidenz ist für Virilio <strong>der</strong> Unfall das Akzidentielle, e<strong>in</strong><br />

zur Substanz H<strong>in</strong>zukommendes o<strong>der</strong> H<strong>in</strong>zustoßendes. Akzidenz ist e<strong>in</strong>e Eigenschaft, e<strong>in</strong> Zustand,<br />

den die Substanz annehmen kann. So gesehen, ist <strong>der</strong> Unfall e<strong>in</strong>e Möglichkeit, die jedem D<strong>in</strong>g, je<strong>der</strong><br />

Technologie, je<strong>der</strong> Praktik immer schon anhaftet als ihre latente Eigenschaft o<strong>der</strong> ihr Potential.<br />

„Jede Technik produziert, provoziert <strong>und</strong> programmiert e<strong>in</strong> spezifisches Akzidens, e<strong>in</strong>en spezifischen<br />

Unfall.“ (Virilio/Lothr<strong>in</strong>ger 1990, 72) E<strong>in</strong>e solche ‚futuristische‘ Perspektive auf <strong>D<strong>in</strong>ge</strong> o<strong>der</strong><br />

Technologien muss nicht notwendig bedeuten, <strong>in</strong> jene aufgeregte Technophobie zu verfallen, die<br />

das Werk Paul Virilios seit Jahren prägt. Es heißt vielmehr, <strong>D<strong>in</strong>ge</strong> <strong>und</strong> Technik unter dem Aspekt<br />

ihrer Störung, ihrer Unsteuerbarkeit, ihrer Dysfunktionalität o<strong>der</strong> ihres Missbrauchs zu betrach-<br />

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BEHEMOTH A Journal on Civilisation<br />

2011 Volume 4 Issue No. 2

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