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Die Zukunft der Dinge. Über Unfälle und Sicherheit, in

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Verlag Walter de Gruyter ISSN 1886-2447 DOI 10.1515/behemoth.2011.011<br />

lichen Resonanzen bearbeitet wird. Der Unfall ist pure Zukünftigkeit: Modell <strong>und</strong> Projektionsfigur,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong> die Euphorie <strong>der</strong> technischen Innovation das Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Katastrophe unmittelbar<br />

e<strong>in</strong>geschrieben ist. Im Unfall wird Technik-Erfahrung <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Geschehens modelliert, das<br />

zunächst e<strong>in</strong>mal als doppelter Entzug von Kausalität ersche<strong>in</strong>t: Er ist we<strong>der</strong> die von Gott verhängte,<br />

apokalyptische große Katastrophe, noch ist er auf den bösen Willen e<strong>in</strong>es menschlichen Täters<br />

zurückzuführen (vgl. Mül<strong>der</strong>-Bach 2002). Der Unfall ist e<strong>in</strong> Geschehen ohne Akteur <strong>und</strong> Intention<br />

– er ‚stößt zu‘. Se<strong>in</strong> eigentlicher Akteur sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e bestimmte Technologie o<strong>der</strong> Praktik zu se<strong>in</strong>:<br />

das mo<strong>der</strong>ne Verkehrswesen für die Auto- <strong>und</strong> Eisenbahnunfälle, Großtechnologie wie Luftfahrt,<br />

Chemie, Schifffahrt o<strong>der</strong> Atomkraft, aber auch die täglichen kle<strong>in</strong>en Verrichtungen des Alltags, die<br />

plötzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Desaster umschlagen. Der Unfall kommt nicht aus e<strong>in</strong>em für den Menschen unverfügbaren<br />

Außen, son<strong>der</strong>n aus dem Kern <strong>der</strong> Zivilisation, genauer gesagt: aus ihrer technischen,<br />

logistischen, praktischen Basis, die überhaupt erst durch den Störfall dramatisch <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong><br />

tritt. Dabei hat <strong>der</strong> Unfall, so wie er ke<strong>in</strong>en Täter hat, auch ke<strong>in</strong>e Gegenwart. Se<strong>in</strong>e Blitzartigkeit<br />

o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Komplexität, das hebt schon die frühe Unfallforschung zum ‚railway sp<strong>in</strong>e‘ <strong>und</strong> Aufprall-<br />

Trauma immer wie<strong>der</strong> hervor, machen den Unfall unüberschaubar, unerlebbar <strong>und</strong> unbeobachtbar<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktualität se<strong>in</strong>es Vollzugs – aber dafür um so <strong>in</strong>sistenter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Langzeitfolgen [2].Er<br />

existiert nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachträglichkeit se<strong>in</strong>er mühevollen Rekonstruktion o<strong>der</strong> <strong>in</strong> den traumatischen<br />

Er<strong>in</strong>nerungsspuren, die er im Opfer h<strong>in</strong>terlässt. O<strong>der</strong> aber er wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukünftigkeit se<strong>in</strong>er Prävention<br />

durch <strong>Sicherheit</strong>smaßnahmen <strong>und</strong> <strong>der</strong> hypothetischen Ermessung se<strong>in</strong>er Spätfolgen ausgelotet.<br />

<strong>Die</strong> Unfall-Imag<strong>in</strong>ationen, die Literatur <strong>und</strong> Film zu Tausenden vorgelegt haben, s<strong>in</strong>d dagegen<br />

Fiktionen, die genau diese Lücke <strong>der</strong> Unbeobachtbarkeit von <strong>Unfälle</strong>n ausfüllen <strong>und</strong> damit nicht<br />

nur e<strong>in</strong>e ästhetische <strong>und</strong> soziale ‚Erlebbarkeit‘ ermöglichen, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e eigene Analytik des<br />

Unfalls vorlegen. In <strong>der</strong> erzählenden o<strong>der</strong>, im K<strong>in</strong>o, bildhaften Unfall-Imag<strong>in</strong>ation können nicht<br />

nur das Zustandekommen, <strong>der</strong> Verlauf <strong>und</strong> die Folgen des Unfalls im E<strong>in</strong>zelnen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gelegt<br />

werden, hier kann <strong>der</strong> Verunfallte se<strong>in</strong> – wie auch immer fragmentarisches – Erlebnis narrativ entfalten,<br />

hier können die Zeugen sich darüber klar werden, was sie gesehen o<strong>der</strong> eben auch nicht<br />

gesehen haben. Im imag<strong>in</strong>ierten Unfall können Regelhaftigkeiten auf das e<strong>in</strong>zelne, unverfügbare<br />

Ereignis bezogen werden, sei es als Statistik, die jedem Unfall e<strong>in</strong>e bestimmte Häufigkeit zuweist, sei<br />

es als theologische Figur, die im Unfall die immer gleiche Strafe für menschlich-technische Hybris<br />

erblickt, sei es als Frage nach den Formen <strong>der</strong> Kausalität, die zu e<strong>in</strong>em komplexen <strong>und</strong> unwahr-<br />

31<br />

BEHEMOTH A Journal on Civilisation<br />

2011 Volume 4 Issue No. 2<br />

[2] <strong>Über</strong> das Rätsel dieser nicht auf e<strong>in</strong>e physische Verletzung<br />

zurückführbaren Folgen diskutiert die Traumaforschung<br />

von Anfang an <strong>in</strong>tensiv (vgl. dazu gr<strong>und</strong>legend<br />

Fischer-Homberger 1975).

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