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Die Leonidow-Kugel. Zur technischen Paßfähigkeit moderner ... - WZB

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Schriftenreihe der Abteilung „Organisation und Technikgenese"<br />

des Forschungsschwerpunktes Technik-Arbeit-Umwelt<br />

am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung<br />

FS II 97-102<br />

DIE LEONIDOW-KUGEL<br />

<strong>Zur</strong> <strong>technischen</strong> <strong>Paßfähigkeit</strong> <strong>moderner</strong> Architektone<br />

POESIE DER VERGANGENHEIT<br />

Ein Essay zum Anlauf der »Masterplan«-Debatte<br />

Lutz Marz<br />

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (<strong>WZB</strong>)<br />

Reichpietschufer 50, 10785 Berlin<br />

Telefon (030) 25491-0, Fax (030) 25491-684


Das vorliegende Dokument ist die pdf-Version zu einem Discussion Paper des <strong>WZB</strong>.<br />

Obschon es inhaltlich identisch zur Druckversion ist, können unter Umständen<br />

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<strong>Die</strong>se Effekte sind softwarebedingt und entstehen bei der Erzeugung der pdf-Datei.<br />

Sie sollten daher, um allen Missverständnissen vorzubeugen, aus diesem Dokument<br />

in der folgenden Weise zitieren:<br />

Marz, Lutz: <strong>Die</strong> <strong>Leonidow</strong>-<strong>Kugel</strong>. <strong>Zur</strong> <strong>technischen</strong> <strong>Paßfähigkeit</strong> <strong>moderner</strong><br />

Architektone./ Poesie der Vergangenheit. Ein Essay zum Anlauf der ‚Masterplan’-<br />

Debatte. Discussion Paper FS-II 97-102. Berlin : Wissenschaftszentrum, Berlin<br />

1997.<br />

URL: http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/1997/ii97-102.pdf<br />

gesichtet am: ...


Abstract<br />

1927 legte der junge Architekt Iwan lljitsch <strong>Leonidow</strong> in Moskau eine Diplomarbeit vor,<br />

die sowohl in der Sowjetunion als auch in Westeuropa starke Beachtung fand. Bei<br />

dieser Diplomarbeit handelte es sich um einen Instituts-Entwurf, der eine Strömung der<br />

sowjetischen und westeuropäischen Avantgarde-Architektur, nämlich den menschzentrierten<br />

Funktionalismus, auf paradigmatische Art und Weise verkörperte. <strong>Leonidow</strong><br />

war einer der konsequentesten Vertreter dieses Funktionalismus. Nach einer ebenso<br />

steilen wie kurzen Karriere wurde die „<strong>Leonidow</strong>erei" alsbald vom „Zuckerbäckerstil"<br />

verdrängt und fiel weitestgehend der Vergessenheit anheim. <strong>Die</strong> „<strong>Leonidow</strong>-<strong>Kugel</strong>" ist<br />

der Versuch, diesen Verdrängungsprozeß aus einem Blickwinkel zu untersuchen, in<br />

dem eine historisch-soziologische und eine technik-soziologische Perspektive<br />

miteinander verbunden werden. <strong>Die</strong> historisch-soziologische Perspektive stützt sich auf<br />

Peter Wagners Theorie der organisierten Moderne, speziell der dort vorgenommenen<br />

Ortsbestimmung des Sozialismus. Der technik-soziologischen Perspektive liegt eine<br />

bislang wenig beachtete forschungsprogrammatische Skizze Michel Foucaults<br />

zugrunde, in der dieser zwischen Ding-, Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken<br />

unterscheidet. Betrachtet man die „<strong>Leonidow</strong>erei" vor dem Hintergrund der<br />

Herausbildung der organisierten Moderne und aus der von Foucault angeregten Sicht,<br />

zeigt sich zum einen, daß die Verdrängung des mensch-zentrierten Funktionalismus<br />

keine ding-<strong>technischen</strong>, sondern bedeutungs-, macht- und selbst-technische Ursachen<br />

hatte. Zum anderen ist zu vermuten, daß diese Verdrängung nicht auf den Sozialismus<br />

beschränkt blieb, sondern auch in den westlichen Gesellschaften der organisierten<br />

Moderne nachhaltig Raum griff. <strong>Die</strong>ser Vermutung wird in dem Essay „Poesie der<br />

Vergangenheit" nachgegangen, das dem Anlauf der Berliner »Masterplan«-Debatte<br />

gewidmet ist.<br />

Abstract<br />

In 1927 the young architect Ivan lljitsch Leonidov in Moscow presented a master's<br />

thesis which received a great deal of attention both in the Soviet Union and in Western<br />

Europe. This master's thesis was a design for an institute which embodied an essential<br />

feature of the Soviet and Western European avant-garde architecture namely the<br />

people-centered functionalism. Leonidov was one of the most consistent<br />

representatives of this functionalism. After a steep and short career the "Leonidoverei"<br />

was replaced by the "confectioner style". The paper "Leonidov ball" is an attempt to<br />

examine this process by linking a historical-sociological with a technologicalsociological<br />

perspective. The historical-sociological perspective is based on Peter<br />

Wagner's theory of organized modernity and the characterization of the socialism in<br />

this theory. The technological-sociological perspective is based on a research<br />

programm outlined by Michel Foucault in which he distinguishes between thing-,<br />

meaning-, power- and self-techniques. If one looks at the "Leonidoverei" in light of the<br />

genesis of organized modernity and of Foucault's approach, it becomes clear that the<br />

displacement of the people-centered functionalism had meaning-, power- and selftechnical,<br />

but definitely not thing-technical causes. Furthermore, it appears that this<br />

displacement was not confined to socialism but took place also in the western societies<br />

of organized modernity. This assumption is examined in the essay "Poetry of the past<br />

which explores the beginning of the Berlin "masterplan"-debate.


DIE LEONIDOW-KUGEL<br />

<strong>Zur</strong> <strong>technischen</strong> <strong>Paßfähigkeit</strong> <strong>moderner</strong> Architektone


Inhalt<br />

1. Moderne Architektone: Visionen, Bannflüche und »Poesie der Zukunft«........... 11<br />

2. <strong>Die</strong> Institute-Konstruktion <strong>Leonidow</strong>s: Architekt und Architekten ...................... 16<br />

2.1. Der Architekt: Iwan lljitsch <strong>Leonidow</strong> - der „Poet der reinen Form" ........................16<br />

2.2. Das Architekton: Gesamtensemble und <strong>Kugel</strong>projekt ...........................................18<br />

3. <strong>Die</strong> Geschichte der Konstruktion: Aufstieg und Verdrängung der <strong>Kugel</strong> ........... 22<br />

3.1. Der Aufstieg: Revolutionen und Utopien..............................................................22<br />

3.2. <strong>Die</strong> Verdrängung: „<strong>Leonidow</strong>erei" und „Zuckerbäckerstil".....................................25<br />

4. <strong>Die</strong> technische <strong>Paßfähigkeit</strong> der Konstruktion: Fragen, Chancen und<br />

Grenzen der Realisierbarkeit ................................................................................. 31<br />

4.1. <strong>Die</strong> Fragen: Architektonische Stile und technische <strong>Paßfähigkeit</strong> ...........................31<br />

4.2. <strong>Die</strong> Chancen: Ding-technische Voraussetzungen der Realisierung.......................35<br />

4.3. <strong>Die</strong> Grenzen: Technische Barrieren der Palast-Architektur...................................41<br />

4.3.1. <strong>Die</strong> bedeutungs-technische Barriere: <strong>Die</strong> Monumentalisierung der Bauten........42<br />

4.3.2. <strong>Die</strong> macht-technische Barriere: <strong>Die</strong> Instrumentalisierung des Raumes...............49<br />

4.3.3. <strong>Die</strong> selbst-technische Barriere: <strong>Die</strong> Ornamentierung der Fassaden ...................54<br />

5. <strong>Die</strong> Bilanz: Vergleich und Spezifik der Passungsprofile ......................................61<br />

5.1. Der Vergleich: Gemeinsamkeiten und Gegensätze...............................................61<br />

5.2. <strong>Die</strong> Spezifik: Funktionalismus und Antifunktionalismus........................................ 64<br />

6. <strong>Die</strong> Nachgeschichte: Untergang und Verwandlung der Paläste ..........................73


1. Moderne Architektone: Visionen, Bannflüche und »Poesie der Zukunft«<br />

„Ist das ein Blick in den siebenten Höllenkreis Dantes?", fragte sich Charles-Eduard<br />

Jeanneret in der Randnotiz einer Luftaufnahme von Paris und antwortete, „Nein, das<br />

ist die gräßliche Behausung von 100 000 Städtern.... <strong>Die</strong>se Gesamtansicht wirkt wie<br />

ein Keulenschlag. Folgen wir bei unseren Spaziergängen dem Labyrinth der<br />

Straßen, so entzücken sich unsere Augen an der malerischen Welt dieser<br />

verschnörkelten Szenarien, die die Geister der Vergangenheit beschwören ... <strong>Die</strong><br />

Tuberkolose, Demoralisierung, Elend, Schande triumphieren in dieser Hölle." (Le<br />

Corbusier 1929, S. 238).<br />

Für den in der Schweiz geborenen Architekten, der unter dem<br />

angenommenen Namen Le Corbusier bekannt wurde, wuchsen die Großstädte des<br />

angelaufenen 20. Jahrhunderts nicht, sondern verwucherten. „<strong>Die</strong> Unordnung, die<br />

sich in ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend: ihre Entartung verwundet unsere<br />

Eigenliebe und kränkt unsere Würde. Sie sind des Zeitalters nicht würdig: Sie sind<br />

unserer nicht würdig", appellierte Le Corbusier in der 1925 publizierten Schrift<br />

»Urbanisme« (ebd., S. VII) an seine Zeitgenossen und forderte, diesem unhaltbaren<br />

Zustand endlich ein Ende zu setzen, und zwar mit radikalen Einschnitten in den<br />

todkranken Stadtorganismus.<br />

Das „Zentrum der Großstadt" und die „schmierigen Gürtel der Vorstädte"<br />

(ebd., S. 83) müßten komplett niedergerissen werden, damit „das ganze Gewimmel,<br />

das sich bisher wie eine starre Kruste am Erdboden festklammerte, nun abgekratzt,<br />

weggeschafft und durch reine Glaskristalle ersetzt wird, die 200 m in die Höhe<br />

steigen, weitab voneinander und an ihren Füßen umspielt von dem Laubwerk der<br />

Bäume" (ebd., S. 236). So entstünde eine „Hochstadt, eine Stadt, die ihre auf dem<br />

Boden zermalmten Einzelteile zusammenrafft und sie fern vom Boden, in Licht und<br />

Luft, zu neuer Ordnung zusammenfügt" (ebd., S. 235). Und in einer solchen Stadt<br />

gäbe es überall „Gärten, Spiel- und Sportplätze. Alles beherrscht der Himmel, weit<br />

und frei" (ebd., S. 144).<br />

Eine solche grüne, lichtdurchflutete Stadt erwiese sich dann nicht nur ihrer<br />

Einwohner und dem neuen Zeitalter würdig, sie wäre auch eine „Quelle der Poesie"<br />

(ebd., S. VII). „Schon in dem Blau der Ferne sich lösend", träumte Le Corbusier,<br />

„erheben die Wolkenkratzer ihre großen geometrischen, ganz aus Glas gebildeten<br />

Flächen. In dem Glase, das ihre Fassaden von oben bis unten bekleidet, leuchtet<br />

11


der Azur und funkelt der Himmel. Ein einziger Glanz! Riesige aber strahlende<br />

Prismen" (ebd. 1929, S. 144).<br />

Derartige Visionen waren umstritten. <strong>Die</strong> projektierten Architektone erregten<br />

nicht nur großes Aufsehen, sondern auch erhebliches Unbehagen. Grammatik und<br />

Ästhetik der von Le Corbusier und anderen Avantgarde-Architekten entwickelten<br />

neuen städtebaulichen Poesie wurden stets auch vehement kritisiert. Ernst Bloch<br />

beispielsweise gestand in seinem »Prinzip Hoffnung« den luftigen Kristallstadt-<br />

Entwürfen auch nicht den leisesten Aufschein eines „Traums nach vorwärts" (Bloch<br />

1970, S. 11) zu. Der im zweiten Teil des mit »Bauten, die eine bessere Welt<br />

abbilden« betitelten Kapitels 38 erhobene Vorwurf, die Architektur-Avantgarde hätte<br />

sich mehr im Schema festgerannt „als je eine Stilkopie im schlimmen neunzehnten<br />

Jahrhundert" (ebd., S. 860), gipfelt in drei Bannflüchen: „Extreme Kiste",<br />

„Schwindelfrische" und „Lichtkitsch" (ebd. S. 860, 862, 863).<br />

<strong>Die</strong>ses Verdikt läßt aufhorchen. Nicht nur, weil es laut und überdeutlich ist,<br />

sondern vor allem deshalb, weil es in ihm ein beharrliches Schweigen gibt, das sich<br />

in den 30er Jahren auszubreiten begann und heute, am Ende unseres Jahrhunderts,<br />

größer denn je ist. Genau jene Strömung der Avantgarde nämlich, die in ihren<br />

Projekten all das, was Blochs Widerwillen erregte, in komprimierter, ja geradezu<br />

idealtypischer Form zu verkörpern und zu verräumlichen suchte, wird von ihm nicht<br />

mit einem Wort erwähnt. Bei den Haus- und Stadt-Konstrukteuren, die der große<br />

Deutungsexperte kollektiver Träume so hartnäckig überschweigt, handelt es sich um<br />

eine Gruppe sowjetischer Architekten, in deren Arbeiten die „extremen Kisten", die<br />

„Schwindelfrische" und der „Lichtkitsch" in einer baulichen und ästhetischen<br />

Radikalität projektiert wurden, die in den Entwürfen ihrer westeuropäischen Kollegen<br />

nur selten oder gar nicht zu finden war.<br />

Mit Blick auf solche Pioniere des westeuropäischen Funktionalismus, wie<br />

etwa Adolf Loos, der indirekt den Bannsatz »Ornament ist Verbrechen!« formulierte<br />

(Loos 1972; Kühne 1985, S. 47), Walter Benjamin, der die „Zertrümmerung der<br />

Aura" und die „Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle" (Benjamin 1963, S.<br />

19) forderte oder Bruno Taut, der die Dekoration als „Schmutzkruste" des<br />

Gegenstandes (Taut 1977, S. 48) bezeichnete, mag es zunächst übertrieben<br />

erscheinen, die Entwürfe der sowjetischen Architektur-Avantgarde als »radikal« zu<br />

charakterisieren. Dennoch ist diese Bezeichnung gerechtfertigt und nicht überhöht.<br />

12


<strong>Die</strong> Projekte der sowjetischen Avantgarde-Architektur der 20er Jahre<br />

wurzelten in einer doppelten Hoffnung, nämlich einem noch ungebrochenen<br />

Glauben an die Entwicklungspotentiale der sozialistischen Gesellschaft und der<br />

kapitalistischen Technik sowie der festen Überzeugung, daß es gelänge, beide<br />

Potentiale in einer Art soziotechnischer Kernfusion miteinander zu verschmelzen,<br />

was Sowjetrußland binnen kürzester Zeit vom Hinterbänkler zum Vorreiter der<br />

Moderne hochkatapultieren sollte. <strong>Die</strong> sowjetischen Avantgarde-Architekten<br />

verstanden sich als Pioniere einer längst überfälligen Revolution, die nach Marx<br />

„ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft"<br />

(Marx 1975, S. 117) beziehen konnte. Aus diesem Selbstverständnis heraus sahen<br />

sie ihre ästhetische Hauptaufgabe darin, mit ihren Architektonen eine »Poesie der<br />

Zukunft« zu entfalten, die diese Revolution vorantreiben und jedweder<br />

rückwärtsgerichteten „Poesie der Erinnerung" (Marx 1974a, S. 527) eine<br />

unmißverständliche und endgültige Abfuhr erteilen sollte.<br />

Gewiß, die Architekten träumten. „Aber wie sie träumen", schrieb 1928 Anatoli<br />

Lunatscharski nach dem Besuch einer Ausstellung der Architektursektion des<br />

Moskauer »WChUTEIN«-lnstituts begeistert, „mit bisher unerhörter praktischer<br />

Erfindungsgabe, mit genauester wissenschaftlicher Berechnung" (zit. nach Chan-<br />

Magomedow 1983, S. 284). <strong>Die</strong>se Einschätzung des Volkskommissars war nicht aus<br />

der Luft gegriffen. Sie benannte einen wesentlichen Charakterzug der von den<br />

sowjetischen Haus- und Stadt-Konstrukteuren entworfenen »Poesie der Zukunft«,<br />

und zwar deren wissenschaftlich-technische Orientierung und Fundierung, die auch<br />

in der formelhaften Namensgebung der führenden Architekturinstitutionen des<br />

Landes zum Ausdruck kam.<br />

<strong>Die</strong> 1920 in Moskau durch die Zusammenlegung der ersten und zweiten<br />

„Staatlichen Künstlerischen Freien Werkstätten" (GSChM) entstandenen „Höheren<br />

Staatlichen Künstlerisch-Technischen Werkstätten" (WChuTEMAS) wurden 1927<br />

zum „Höheren Staatlichen Künstlerisch-Technischen Institut" (WChUTEIN)<br />

umgebildet. Viele der auf dem Weg von den »künstlerischen Werkstätten« zum<br />

»künstlerisch-<strong>technischen</strong> Institut« entstandenen Entwürfe repräsentierten das, was<br />

Le Corbusier als Charakteristikum modernen Haus- und Städtebaus ansah, auf<br />

beispielhafte Art und Weise, denn „die moderne Architektur", so betonte er immer<br />

wieder, sei „beseelt von einem Geist, der der Entwicklung der Maschine entspricht"<br />

(zit. nach Hilpert 1984, S. 21). Es ist dies ein „Geist der Geometrie, ein Geist der<br />

13


Konstruktion und der Synthese", ein Geist, der auf „Exaktheit und Ordnung" gründet<br />

(Le Corbusier 1929, S. 34). Ein besonders einprägsames Beispiel dafür, wie sich<br />

dieser wissenschaftlich-technische Geist in der am WChUTEIN entwickelten<br />

»Poesie der Zukunft« entfaltete, sind die Entwürfe »schwebender Städte«. <strong>Die</strong>se<br />

Projekte zeichnen sich nicht nur durch eine vergleichsweise sehr hohe<br />

Utopiehaltigkeit aus, in ihnen kommt auch das Maschinenhafte der Haus- und<br />

Stadtkonstruktion zugleich abstrakt und sinnfällig zum Ausdruck.<br />

In einer noch sehr allgemeinen Form taucht das Projekt »schwebender<br />

Städte« bereits 1914 in den frühen suprematistischen Kompositionen von Kasimir<br />

Malewitsch auf (Chan-Magomedow 1983, Abb. 761- 764). Hier war die schwebende<br />

Stadt eine kosmische Stadt, die durch die Weite des Universums glitt. Anfang der<br />

20er Jahre nahm dieses Projekt konkretere architektonische Gestalt an. Ähnlich wie<br />

seine Witebsker Kollegen hoffte der Moskauer Architekt Nikolai Ladowski bereits<br />

1921 darauf, daß es zukünftig technisch möglich sei, Gebäude herzustellen, die im<br />

Schwerefeld unseres Planeten hoch über der Erde schweben. 1928 entwarf dann<br />

sein Schüler Georgi Krutikow eine „fliegende Stadt", die damals große Beachtung<br />

fand (Chan-Magomedow 1983, Abb. 791-801; Chan-Magomedow 1995; S. 207).<br />

Er ging bei seinem Projekt davon aus, daß es die Atomenergie alsbald<br />

ermöglichen werde, Häuser schweben und fliegen zu lassen. In seinem Stadtentwurf<br />

ist die Erde von Wohn- und Gesellschaftsbauten befreit und dient ausschließlich der<br />

Arbeit und Erholung. <strong>Die</strong> Verbindung zwischen dem in der Luft schwebenden<br />

vertikalen Wohnkomplex und dem auf der Erde befindlichen horizontalen<br />

Produktionstrakt wurde durch ein Universaltransportmittel hergestellt. Dabei<br />

handelte es sich um Ein-Personen-Kabinen, die sich auf der Erde, in der Luft, im und<br />

unter Wasser bewegen sollten. <strong>Die</strong>se Kabinen konzipierte Krutikow als<br />

Verkehrsmittel und Wohnraum. Sie waren nicht nur mit Wandklappmöbeln und<br />

anderem Komfort ausgestattet, sondern auch so konstruiert, daß sie sich problemlos<br />

in die schwebenden Kommunehäuser, Hotels und öffentlichen Gebäude eindocken<br />

ließen. <strong>Die</strong> Kabinen waren zugleich wohnlicher Verkehrs- und mobiler Wohnraum.<br />

Angeregt durch Krutikows Projekt entwarfen Ladowskis Schüler 1929 weitere<br />

fliegende Gebäudekomplexe. So projektierte Wiktor Kalmykow um den Äquator eine<br />

Ring-Stadt „Saturn" (Chan-Magomedow 1983, Abb. 805), die die gleiche<br />

Umdrehungsgeschwindigkeit wie die Erde haben sollte und Isaak Josefowitsch<br />

konstruierte ein „Haus der Kongresse" (Chan-Magomedow 1983, Abb. 806) als<br />

14


fliegenden Sitzungssaal, der dafür gedacht war, an Türmen anzulegen, die über das<br />

ganze Land verteilt waren.<br />

<strong>Die</strong> Konstruktion »schwebender Städte« war zwar ein Sonder-, aber kein<br />

Einzelfall. Der wissenschaftlich-technische Geist, der von den sowjetischen<br />

Avantgarde-Architekten entwickelten »Poesie der Zukunft« kommt auch in anderen<br />

Architektonen in einer ähnlich anschaulichen Art und Weise zum Ausdruck. So<br />

beispielsweise in der von Anton Lawinski 1921 projektierten „Stadt auf<br />

Stoßdämpfern" (Chan-Magomedow 1983, Abb. 746-749), in der die Wohnhäuser<br />

durch eine spezielle Technik so um ihre vertikale Achse gedreht werden sollten, daß<br />

alle Räume direkte Sonneneinstrahlung erhielten oder in den Entwürfen „Stadt auf<br />

Stützen" und „Stadt über Wasser" von Lasar Chidekel (Chan-Magomedow 1983,<br />

Abb. 771-778), die von 1924 bis 1929 entstanden und in denen Verkehrs- und<br />

Fußgängerströme erfindungsreich voneinander getrennt wurden (hierzu auch<br />

Knie/März 1997).<br />

Der das WChUTEIN auszeichnende wissenschaftlich-technische Geist zeigte<br />

sich jedoch nicht nur in den fliegenden, schwebenden, schwimmenden,<br />

abgefederten und drehbaren Architektonen. Er entfaltete sich auch und gerade in<br />

der unmittelbar praxisorientierten »Poesie der Zukunft«. So etwa in den Planungen<br />

zur Rekonstruktion Moskaus, an der sich viele Architekten beteiligten, darunter Le<br />

Corbusier, Ernst May, Hannes Meyer und Kurt Meyer (Chan-Magomedow 1995, S.<br />

208). Aus den vorgelegten Rekonstruktionsentwürfen ragen zwei besonders heraus,<br />

insbesondere deshalb, weil sie zeigen, daß sich der maschinelle Geist der<br />

sowjetischen Architektur-Avantgarde nicht auf monotone Typisierungen und<br />

uniforme Raumstrukturen reduzieren läßt.<br />

Der erste Entwurf stammt von Ladowski, dem bereits erwähnten Mentor der<br />

»fliegenden Städte«. Er ging davon aus, daß das Stadtzentrum die Möglichkeit<br />

haben muß, „nicht nur in der dritten Dimension, nach oben, zu wachsen, sondern<br />

auch in horizontaler Richtung" (Ladowski 1930, S. 20). Daraus zog er den Schluß:<br />

„Folglich darf das Stadtzentrum nicht ein statischer Punkt, es muß eine dynamische<br />

Linie, eine Achse sein." (ebd.) Ausgehend davon entwickelte er eine »Parabel«-<br />

Planung, durch die ein Netz von Ring- und Radialstraßen kontinuierlich aufgebogen<br />

und in eine dynamische Struktur mit einseitiger Ausdehnung verwandelt werden<br />

sollte (Chan-Magomedow 1983, Abb. 883-884). <strong>Die</strong> »Parabel«-Planung ermöglichte<br />

nicht nur, sondern erzwang geradezu eine große Raum- und Formenvielfalt (runde<br />

15


Viertel, diagonale und strahlenförmige Bebauungen, Häuser unterschiedlicher Höhe<br />

und Gestalt usw.). Der zweite Entwurf wurde von einem Architektenteam erarbeitet,<br />

das unter der Leitung von Wladimir Kratjuk stand. <strong>Die</strong>ses Vorhaben hatte einen<br />

ähnlichen Ansatz wie Ladowskis Projekt, ging jedoch insofern über dessen Plan<br />

hinaus, als es die Ausweitung der Stadt nicht nur in eine, sondern in verschiedene<br />

Richtungen vorsah (Chan-Magomedow 1983, Abb. 885).<br />

<strong>Die</strong> Planungen zur Rekonstruktion Moskaus waren Teil einer groß angelegten<br />

urbanen Um- und Neuorganisation des gesamten Landes. Der erste sowjetische<br />

Fünfjahrplan (1928-1932) sah den Neubau von 200 Industrie- und 1.000<br />

Agrarstädten vor (Chan-Magomedow 1983, S. 333). Nicht schlechthin das Haus, die<br />

Stadt sollte in Serie gehen. Eine Grundbedingung, um sich einer solchen Aufgabe<br />

überhaupt stellen zu können, formulierte Moissej Ginsburg bereits 1924, als er<br />

forderte, daß sich der Architekt „nicht als Dekorateur, sondern als Organisator des<br />

Lebens" zu begreifen hätte (zit. nach Chan-Magomedow 1983, S. 581).<br />

<strong>Die</strong>ser Aufgabe stellte sich ein junger Architekt der sowjetischen Avantgarde,<br />

dessen Namen alsbald zum „Synonym für Formalismus und Phantasterei" (Chan-<br />

Magomedow 1983, S. 234) werden sollte, in herausragender und in einem seiner<br />

Projekte in geradezu paradigmatischer Art und Weise. Der Architekt ist Iwan lljitsch<br />

<strong>Leonidow</strong>. Bei dem Projekt handelt es sich um seinen 1927 in Moskau am<br />

WChUTEMAS eingereichten Diplomentwurf des Lenin-Instituts.<br />

2. <strong>Die</strong> Instituts-Konstruktion <strong>Leonidow</strong>s: Architekt und Architekton<br />

2.1. Der Architekt: Iwan lljitsch <strong>Leonidow</strong> - der „Poet der reinen Form"<br />

Es war kein Geringerer, als Le Corbusier selbst, der den 1902 auf dem Gehöft<br />

Wlassicha im Gouvernement Twer in der Familie eines Waldhüters geborenen und<br />

1959 in Moskau verstorbenen Iwan lljitsch <strong>Leonidow</strong> „einen Poeten und die<br />

Hoffnung des russischen Konstruktivismus in der Architektur" (Chan-Magomedow<br />

1983, S. 234) nannte. Der darauf bezugnehmende und von Selim Chan-Magomedow<br />

sehr treffend geprägte Begriff „Poet der reinen Form" (ebd., S. 234) kommt nicht von<br />

ungefähr. Wenn nämlich Le Corbusier 1923 in seinen »Drei Ordnungsrufen an die<br />

Herren Architekten« die Forderung aufstellte, daß künftig die sechs Elementarkörper<br />

16


Würfel, Kegel, <strong>Kugel</strong>, Zylinder, Pyramide und Quader die Architektur beherrschen<br />

müßten (Le Corbusier 1923, S. 16, 22; siehe auch Vogt 1990, S. 87f., 196f.), so<br />

dürfte es schwerfallen, jemanden zu finden, in dessen Entwürfen dieses Programm<br />

so ideenreich und vollständig umgesetzt wurde, wie in den Projekten <strong>Leonidow</strong>s.<br />

Neben dem hier noch im Detail zu diskutierenden Projekt des Lenin-Instituts<br />

zeigt sich dies besonders deutlich in seinem „Wettbewerbsentwurf für den<br />

Kulturpalast des Proletarischen Bezirks in Moskau" von 1930. (Chan-Magomedow<br />

1983, Abb. 1238-1240). Aber auch in den „Experimentellen Entwurfsvarianten für<br />

einen Klub neuen, sozialistischen Typs" (1928), den Wettbewerbsentwürfen für das<br />

„Haus der Industrie in Moskau" (1929-1930), dem „Gebäude des Zentrosojus in<br />

Moskau" (1928), der Stadt „Magnitogorsk" (1930), dem „Gebäude des<br />

Narkomtjashprom in Moskau" (1934) und den unter seiner Leitung erarbeiteten<br />

Wettbewerbsentwürfen für ein Studenten-Kommunehaus von Leonid Nikolajewitsch<br />

und Nikolai Pawlow sowie Alexander Maximow und Sanwil Korsunski (1929-1930)<br />

läßt sich dies beispielsweise erkennen. (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1232-1236,<br />

1158-1161, 1149-1150, 855-861, 704-706, 972-974; siehe auch Vogt 1990, S.<br />

199f.).<br />

In diesen und anderen Projekten ging es dem ehemaligen Gehilfen eines<br />

Ikonenmalers stets um weit mehr, als nur darum, Bauten zu entwerfen, die eine<br />

bessere Welt abbilden. <strong>Leonidow</strong>s Forderung, daß ein Architekt „die Möglichkeit der<br />

Bautechnik philosophisch erfassen" muß (<strong>Leonidow</strong> 1934, S. 33), war nicht einfach<br />

so daher gesagt, sondern zielte in eine grundsätzliche, gesellschaftsgestalterische<br />

Richtung, die den Kern der Moderne betrifft. Wenn Hegel das eigentliche Novum der<br />

demokratischen und industriellen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts,<br />

die in mancher, wenngleich nicht in jeder Hinsicht den Beginn der Moderne<br />

markieren (Wagner 1995, S. 11), darin sah, daß „der Mensch sich auf den Kopf, d. i.<br />

auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut" (Hegel 1970, S.<br />

529), dann war der »Poet der reinen Form« ein <strong>moderner</strong> Architekt im<br />

ursprünglichen und besten Sinne des Wortes.<br />

<strong>Leonidow</strong> sah in der Architektur eine Art Universalinstrument, mit dessen Hilfe<br />

sich „jede beliebige Kulturarbeit organisieren" (<strong>Leonidow</strong> 1929a, S. 110) ließ. Aus<br />

dieser Perspektive war es für ihn mehr als kurzsichtig, mit diesem Instrument nur in<br />

„beschränkter Kulturtümelei" (<strong>Leonidow</strong> 1929b, S. 103) herumzuwerkeln, um bei den<br />

Menschen diese oder jene Emotionen, Gefühle oder Seheindrücke zu erzeugen. <strong>Die</strong><br />

17


Arbeit der Architekten mußte aus seiner Sicht „geschlossen organisiert werden"<br />

(<strong>Leonidow</strong> 1930, S. 1), um das Problem der Gesellschaftsgestaltung an der Wurzel<br />

zu packen. „<strong>Die</strong> Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst." (Marx 1974b,<br />

S. 385). An ihm und dessen Alltagspraxen sollten die Architekten ansetzen. Das war<br />

der archimedische Punkt, von dem aus die soziale Welt aus den Angeln gehoben<br />

und von grundauf umorganisiert werden sollte. Und zwar mit naturwissenschaftlicher<br />

Akribie und ingenieurtechnischem Geschick.<br />

<strong>Leonidow</strong>s Entwürfe bauten auf die Moderne und den neuen Menschen. Mit<br />

einer logischen Konsequenz und ästhetischen Formenvielfalt, die ihres Gleichen<br />

sucht, waren sie aus den Menschen heraus und in diese hinein projektiert. Seine<br />

Bauten sollten der „Organisierung ihres Bewußtseins", und zwar „ihres Bewußtseins<br />

überhaupt" (<strong>Leonidow</strong> 1929a, S. 111) dienen. Aus diesen grundsätzlichen<br />

Überlegungen heraus stellte sich für <strong>Leonidow</strong> die Frage, wie ein modernes<br />

Architekton konstruiert sein muß, das genau dies leistet. <strong>Die</strong> poetische Antwort, die<br />

er darauf gab, war sein Entwurf des Lenin-Instituts.<br />

2.2. Das Architekton: Gesamtensemble und <strong>Kugel</strong>projekt<br />

Das Lenin-Institut sollte die geplante Zentralbibliothek des Landes beherbergen.<br />

Allein mit Blick auf die Alphabetisierungsprobleme einerseits und die<br />

kulturrevolutionären Ansprüche sowie die daraus abgeleiteten bildungspolitischen<br />

Ziele andererseits lag es auf der Hand, daß es bei diesem Projekt von Anfang an um<br />

erheblich mehr ging als die bloße Einhausung einer x-beliebigen<br />

Foliantensammlung. Hier war kein Bücherspeicher zu projektieren, sondern ein<br />

programmatischer Raum des Wissens, ein Raum des Bewußtseins, ein Raum des<br />

bewußten Seins und Werdens, der sich weit in die Zukunft öffnet. <strong>Leonidow</strong> löste<br />

diese Aufgabe so (Chan-Magomedow 1983, Abb. 597-603, S. 234f.; Vogt 1990, S.<br />

93ff, 204ff.; Major 1984, S. 481f.):<br />

Das streng funktional gegliederte Gesamtensemble sollte nahe der südlichen<br />

Moskwa auf den Lenin-Bergen errichtet werden, von wo aus sich ein weiter Blick auf<br />

die Stadt eröffnet. Es besteht aus fünf Hauptelementen, die eine Art doppeltes<br />

Koordinatensystem mit Kontrapunkt bilden. Es gibt zwei y-Achsen: zum einen den für<br />

die Unterbringung von fünfzehn Millionen Bänden ausgelegten Bücherturm, der<br />

18


einen Zugriff auf Gedrucktes beziehungsweise Geschriebenes ermöglicht; zum<br />

anderen einen für den Empfang und die Ausstrahlung von Sendungen projektierten<br />

Antennenmast. Beide Elemente sind - auch untereinander - mit Drahtseilen<br />

verspannt und fixiert. Auf der x-Achse liegen östlich ein flacher Trakt mit Hörsälen,<br />

Lese-, Arbeits- und Seminarräumen und westlich - leicht versetzt - vier Wohnhäuser<br />

für die Angestellten. <strong>Die</strong> z-Achse kommt als Hochbahntrasse aus dem Stadtkern,<br />

trifft in der Bahnstation den Schnittpunkt von Arbeitstrakt und Bücherturm und endet<br />

kurz dahinter in einem kreisrunden Glaspavillion.<br />

Zwischen diesem Pavillion und der Wohnhauslinie befindet sich der<br />

Kontrapunkt des Gesamtensembels, und zwar ein Architekton, das sowohl als<br />

Auditorium maximum als auch als Planetarium dienen sollte. Es handelt sich dabei<br />

um eine nach oben verglaste und meridianförmig verstrebte <strong>Kugel</strong>, die so in einen<br />

Stahlgittertrichter eingebettet ist, daß ihr unterer nichtverglaster Teil, in dem sich ein<br />

Amphitheater für viertausend Besucher befindet, genau in diesem auf einer<br />

stumpfen Spitze stehenden Kegel liegt. <strong>Die</strong>se <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion ist<br />

dann, wie der Antennenmast und der Bücherturm, mit Drahtseilen verspannt, die in<br />

der Erde verankert sind.<br />

Mit Ausnahme des Würfels sind in <strong>Leonidow</strong>s doppeltem Koordinatensystem<br />

mit Kontrapunkt unschwer alle anderen von Le Corbusier genannten<br />

architektonischen Elementarkörper auszumachen: Der Quader (Bücherturm,<br />

Arbeitstrakt, Wohnhäuser, Hochbahnstation), der Zylinder (Glaspavillion), die<br />

Pyramide (Antennenmast mit seinen Drahtseilverspannungen), die <strong>Kugel</strong><br />

(Auditorium maximum/Planetarium) und der Kegel (Stahlgittertrichter). Und<br />

selbstredend verzichtete der »Poet der reinen Form« in seinem Instituts-Entwurf auf<br />

jegliche Ornamentierung dieser Körper.<br />

In seinem Projekt gab es nichts, an dem sich irgendeine „Poesie der<br />

Erinnerung" auch nur ansatzweise festmachen, geschweige denn verankern konnte.<br />

Sie fand keinen ästhetischen Halt, sondern wurde durch die architektonische<br />

Komposition baulich abgewiesen und räumlich aufgelöst. <strong>Leonidow</strong>s Instituts-<br />

Konstruktion verstellte jedweder »Poesie der Vergangenheit« den Weg und<br />

eröffnete einer »Poesie der Zukunft« weite Spielräume. Daß und wie weit sich dieser<br />

Raum des Wissens in die Zukunft öffnete, machen zwei Elemente seines Ensembels<br />

besonders anschaulich deutlich, nämlich der Antennenmast und die<br />

<strong>Kugel</strong>konstruktion.<br />

19


Bei der Projektierung des Antennenmastes hatte der Meisterschüler der<br />

WChUTEMAS 1927 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr im Auge,<br />

als nur den Empfang beziehungsweise die Ausstrahlung von Rundfunksendungen.<br />

In einer Notiz über seinen Entwurf für ein Kolumbusdenkmal in Santo Domingo aus<br />

dem Jahre 1929 spricht <strong>Leonidow</strong> mit einer großen Selbstverständlichkeit mehrfach<br />

über das „Lichtbild aus der Ferne", und zwar im Sinne einer interkontinentalen,<br />

weltumspannenden Fernsehtechnik, und er formuliert dort auch das „Ziel, die<br />

Probleme der interplanetarischen Verbindungen mit Hilfe der neuesten<br />

Errungenschaften von Wissenschaft und Technik zu lösen" (<strong>Leonidow</strong> 1929c, S.<br />

148). Sein Raum des Wissens war perspektivisch über die Grenzen des Landes in<br />

die Welt, und weit darüber hinaus in das All geöffnet. Der Antennenmast sollte die<br />

Kommunikation zwischen allen Menschen des Universums nicht nur metaphorisch<br />

verkünden, sondern technisch ermöglichen.<br />

Darüber hinaus hatte der Funkmast auch eine symbolische Bedeutung.<br />

Zunächst war sicherlich, worauf Lothar Kühne hinwies, „Das «Völker hört die<br />

Signale»" durch die Antennen-Konstruktion „architektonisch phrasenlos objektiviert"<br />

(Kühne 1981, S. 153). Doch vieles spricht dafür, daß es dem »Poeten der reinen<br />

Form« auch auf der symbolischen Ebene um weit mehr ging, als um das bloße<br />

Intonieren der »Internationale«. Angesichts der universellen Perspektive <strong>Leonidow</strong>s<br />

läßt sich sein Antennenmast auch als eine Art universelle Schnittstelle zur sozialen<br />

Raum-Zeit interpretieren.<br />

Während im Bücherturm Daten aus der Vergangenheit abgespeichert werden,<br />

ist der Mast zunächst eine Art Input/Output-Schnittstelle zu regionalen, nationalen<br />

und globalen Sozialräumen, über die im Echtzeitbetrieb mit anderen Menschen<br />

kommuniziert werden kann und über die sich auch solche im Institut selbst nicht<br />

vorhandenen Daten aus der Vergangenheit und Gegenwart beschaffen lassen.<br />

Sodann manifestiert sich in diesem Kommunikations-Architekton - Stichwort<br />

„interplanetare Verbindungen" und Relativitätstheorie - auch der Anspruch, Signale<br />

in die Zukunft kosmischer Sozialräume zu senden beziehungsweise solche Signale<br />

aus deren Vergangenheit zu empfangen. So gesehen symbolisiert dieses Element<br />

des Ensembles eine dreifache Schnittstelle und zwar zur Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft, mithin zu den Sozialzeiten der Menschen.<br />

Wie weit <strong>Leonidow</strong>s Raum des bewußten Seins und Werdens auch noch in<br />

einer anderen Richtung in die Zukunft geöffnet war, zeigt seine <strong>Kugel</strong>-Konstruktion.<br />

20


Sowohl die Konstruktion selbst als auch deren räumliche Lage unterstützen<br />

wesentliche Momente menschlicher Wissensaneignung und Bewußtwerdung,<br />

nämlich den (Selbst-)Zweifel, das Infragestellen scheinbar endgültiger Wahrheiten<br />

und das Nachdenken über die Fundamente, in denen das eigene und das kollektive<br />

Wissen verankert sind. <strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong> ermöglicht Reflexion. Mehr noch, sie ist in ihr<br />

architektonisch eingeschrieben, sie verkörpert Reflexion. <strong>Leonidow</strong>s Architekton<br />

erzeugt Reflexion durch das Zusammenspiel folgender vier Irritationen.<br />

Erstens, die Material-Irritation: <strong>Leonidow</strong> verwendet bei seinem<br />

<strong>Kugel</strong>/Gitterkegel ausschließlich Glas und Metall. Beide Materialien haben die<br />

Fähigkeit zum Reflex, das heißt, sie können auftreffendes Licht spiegelartig<br />

zurückwerfen. Glas besitzt darüber hinaus noch die Eigenschaft der Transparenz, es<br />

läßt auch Licht hindurchtreten. Der obere Teil der <strong>Kugel</strong> hat mithin eine<br />

Doppeleigenschaft, er ist transparent und/oder reflektierend zugleich.<br />

Zweitens, die Form-Irritation: <strong>Die</strong>ser zunächst auf der Materialebene ins Spiel<br />

gebrachte Effekt der Mehrfachreflexion wird durch die Formgebung potenziert. Der<br />

extreme Regularkörper <strong>Kugel</strong> vermag Licht - man denke etwa nur an Diskotheken -<br />

in höchst irregulärer Art und Weise zu reflektieren. Aber auch der Metallgitterkegel,<br />

durch den Lichtstrahlen von allen Seiten hindurchtreten können, erzeugt einen -<br />

auch teilweise sehr diffusen - Brechungs- und Spiegelungsraum.<br />

Drittens, die Natur-Irritation: <strong>Die</strong>ser potenzierte Reflexionseffekt des<br />

<strong>Kugel</strong>konstrukts wird nun aufgrund seiner freistehenden Lage innerhalb des<br />

Gesamtensembles durch die jeweilige Jahres- und Tageszeit sowie die gerade<br />

vorherrschende Witterung nochmals verstärkt. Strömender Regen oder gleißender<br />

Sonnenschein verändern die Szenerie ebenso wie zartes Grün oder frisch gefallener<br />

Schnee.<br />

Viertens schließlich, und das ist das wohl sensibelste Problem des gesamten<br />

Projektentwurfs, die Raum-Irritation: <strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong> ruht nicht einfach in dem Gitterkegel<br />

wie ein Ei in seinem Becher, sie scheint zu schweben. Optisch wird dieser Eindruck<br />

durch zwei gegensinnige, architektonisch punktgenau ausbalancierte Effekte<br />

erzeugt. Einerseits sieht es so aus, als hebe die <strong>Kugel</strong> jeden Augenblick ab und<br />

steige in die Lüfte, denn die meridianförmigen Verstrebungen der Oberkugel, das<br />

Gitternetz des Kegels und die Stahlseilverspannungen der Gesamtkonstruktion<br />

verleihen dem Ganzen etwas Fesselballonartiges. Andererseits wird sie durch ihre<br />

tief im Erdreich verankerte Seilverspannung fest auf ihrem Platz gehalten. Und da<br />

21


überdies auch die den Kegel fixierenden Trossen in genau diesen Verankerungen<br />

ruhen, besitzt jedes Oberkugelseil eine Art Sicherungsleine für den Fall, daß es sich<br />

aus seiner Erdverankerung lösen sollte. <strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong> steigt nicht, sie fällt nicht, sie<br />

schwebt.<br />

<strong>Die</strong>se vier Irritationen entstehen zeitgleich und verschmelzen bei jedem, der<br />

diese <strong>Kugel</strong>konstruktion betrachtet, sei es aus der Hochbahn, dem Bücherturm, den<br />

Verwaltungsgebäuden oder dem Glaspavillion, zu einer grundlegenden<br />

Verunsicherung. Es wird ihm unmöglich gemacht, ein für alle mal Gestalt und Lage<br />

der <strong>Kugel</strong> in diesem Großraum des Wissens exakt und zweifelsfrei für sich oder<br />

andere zu bestimmen. In dem wechselnden Spiel der Reflexionen, das diese<br />

schwebende <strong>Kugel</strong> umgibt und durchdringt, muß sie jedem, der sich ihr nähert,<br />

immer wieder im ursprünglichen Wortsinn utopisch, also ohne Ort erscheinen. Oder,<br />

wer es anders und kürzer will: Der „Lichtkitsch" der „extremen Kiste" erzeugt<br />

„Schwindelfrische".<br />

3. <strong>Die</strong> Geschichte der Konstruktion: Aufstieg und Verdrängung der <strong>Kugel</strong><br />

3.1. Der Aufstieg: Revolutionen und Utopien<br />

Zweifellos ragte die Instituts-Konstruktion des 25-jährigen <strong>Leonidow</strong>, die damals<br />

auch international stark beachtet wurde, nicht nur schlechthin aus der sowjetischen<br />

Architekturlandschaft, sondern auch aus der Vielzahl ihrer avantgardistischen<br />

Projekte heraus. Es wäre indes zu kurz gegriffen, in ihr lediglich einen zwar<br />

markanten, letztlich jedoch nur singulären Orientierungspunkt zu sehen. Das<br />

Architekton des jungen WChUTEIN-Dozenten war kein genialer Fremdkörper, der<br />

isoliert und beziehungslos im Entwurfsraum <strong>moderner</strong> Architektur stand. Seine<br />

Konstruktion war sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne ein<br />

Kristallisationspunkt dieses Raumes.<br />

Im engeren Sinne zunächst deshalb, weil sich in dem durch die Februar- und<br />

Oktober-Revolutionen des Jahres 1917 aufgespannten architektureilen Utopie-<br />

Horizont sowohl im Hinblick auf einzelne Teilkompositionen des Gesamtensembles<br />

als auch in bezug auf die <strong>Kugel</strong>-Konstruktion vor, neben und nach <strong>Leonidow</strong>s<br />

Entwurf eine ganze Reihe von Studien und Projekten finden lassen, in denen<br />

22


estimmte charakteristische Motive seines Architektons auftauchen. Was die<br />

Teilkompositionen des Gesamtensembels betrifft, gehören hierzu beispielsweise<br />

eine anonym gebliebene Studie aus dem „propädeutischen Kurs - Lehre vom<br />

«Raum»" des WChUTEMAS, die zu Beginn der zwanziger Jahre entstand, der<br />

Entwurf des Moskauer Zentralbahnhofs von Andrej Burow (1925), Lidija Komarowas<br />

Projekt für das Komintern-Gebäude (1929) oder Wiktor Paschkows Arbeiten zum<br />

Lenin-Institut (1927) (Chan-Magomedow 1983, Abb. 170, 506, 1098, 1392).<br />

Und was das <strong>Kugel</strong>motiv anbelangt, reizte es zwar niemand der sowjetischen<br />

Architekten soweit aus, wie es der „Poet der reinen Form" in seinem Entwurf tat,<br />

dennoch läßt sich dieses Motiv zweifelsfrei auch in vielen anderen Projekten dieser<br />

Zeit ausmachen. <strong>Die</strong>s zeigen unter anderem Nikolai Ladowskis „Experimentelle<br />

Entwürfe" (1919), Alexej Babitschews „Denkmal für Swerdlow in Moskau" (1924),<br />

eine, nur unter ihrem Wahlspruch bekannt gebliebene Arbeit für das „Lenin-<br />

Mausoleum", der Entwurf für das „Schaumjan-Denkmal in Jerewan" (1925) von Karo<br />

Alabjan, Geworg Kotschar, Michail Masmanjan und Ara Sarkisjan, das von Georgi<br />

Krutikow, Trifon Warenzow und Andrej Bunin projektierte „Kolumbusdenkmal in<br />

Santo Domingo" (1929) oder Alexander Nikolskis „Badeanstalt" (1928) (Chan-<br />

Magomedow 1983, Abb. 200, 203, 204, 123, 248, 694, 802, 803, 1355, 1356).<br />

Darüber hinaus tauchte das <strong>Kugel</strong>motiv auch in Studien auf, die über die Sphäre der<br />

Architektur hinausgingen, so etwa in Alexander Rodtschenkos „Malerisch-<br />

graphischer Komposition" (1919) und, besonders klar, in einem „Stoffmusterentwurf",<br />

dessen genaues Entstehungsjahr nicht bekannt ist. (Chan-Magomedow 1983, Abb.<br />

235, 405).<br />

Über diesen unmittelbaren Entstehungskontext hinaus kann jedoch<br />

<strong>Leonidow</strong>s Architekton, speziell dessen Kontrapunkt, die <strong>Kugel</strong>-Konstruktion, noch<br />

in einem erweiterten Sinne als ein Kristallisationspunkt der Architektur der Moderne<br />

angesehen werden. Vor allem die Arbeiten Vogts ermöglichen es, den <strong>Kugel</strong>-Entwurf<br />

nicht nur auf die russische Februar- und Oktober-Revolution, sondern darüber<br />

hinaus auch auf die demokratischen und industriellen Revolutionen des<br />

ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts - insbesondere die französische Revolution<br />

- und deren ambivalente (architektur-)geschichtlichen Folgewirkungen zu beziehen.<br />

(Vogt 1969; Vogt 1990).<br />

Von 1770 bis 1820 gab es in der französischen Architektur eine starke<br />

geometrische Tendenz, die in einer ganzen Reihe von <strong>Kugel</strong>entwürfen ihren<br />

23


konsequentesten und sichtbarsten Ausdruck fand (Vogt 1969). <strong>Die</strong> markantesten<br />

und in der Architekturgeschichte bis dahin einmaligen Entwürfe waren Etienne-Louis<br />

Boullees „Newton-Denkmal" (1784), Claude Ledouxs „Friedhof für Chaux" sowie sein<br />

„Wandbild" und sein „<strong>Kugel</strong>haus" (um 1790). Zu diesen Entwürfen könnte auch der<br />

„Altar der Agathe Tyche" (1777) gezählt werden, den Johann Wolfgang von Goethe<br />

und der Herzog von Weimar haben errichten lassen. In der Folgezeit nahmen dann<br />

auch andere europäische und nordamerikanische Architekten, so etwa Thomas<br />

Jefferson, der dritte Präsident der USA, das <strong>Kugel</strong>motiv in ihren Arbeiten auf.<br />

Durchsetzen indes konnte es sich nicht. Im Gegenteil, es wurde<br />

zurückgedrängt. 1807 beispielsweise griff Napoleon persönlich mit einem Dekret in<br />

den Wettbewerb um die Pariser „Madeleine" ein, stieß einen Jury-Entscheid um und<br />

setzte ein Projekt durch, das der geometrischen Tendenz im allgemeinen und dem<br />

<strong>Kugel</strong>motiv im besonderen diametral gegenüberstand. In den nächsten einhundert<br />

Jahren war dann eine spürbare Rückbildung dieser architektonischen Figur zu<br />

beobachten. Sie ließ sich nur noch als Rudiment beziehungsweise überhaupt nicht<br />

mehr ausmachen. Vogt diskutiert diesen Rückzug der <strong>Kugel</strong> am Beispiel der vom<br />

Ledoux-Schüler Thomas de Thomon entworfenen „Börse auf der Strelka in St.<br />

Petersburg" (1805) - ein Architekton, auf das sich <strong>Leonidow</strong> in seinem<br />

„Wettbewerbsentwurf für das Gebäude des Narkomtjashprom in Moskau" (1934) in<br />

einer anderen aber ebenso unzweideutigen Poetik der reinen Form bezog (Chan-<br />

Magomedow 1983, Abb. 704-706).<br />

Betrachtet man die Karriere des <strong>Kugel</strong>-Architektons vor dem Hintergrund der<br />

von Peter Wagner entworfenen »Soziologie der Moderne« (Wagner 1995),<br />

insbesondere im Hinblick auf die dort skizzierten gesellschaftlichen Öffnungs- und<br />

Schließungsphasen, und im Lichte der in diesen Phasen jeweils entwickelten Sozial-<br />

und Architektur-Utopien, dann liegt eine doppelte Vermutung nahe. Zum einen, daß<br />

das Auftauchen der <strong>Kugel</strong> Öffnungs- und ihr Verschwinden Schließungsphasen der<br />

Moderne signalisiert. Zum anderen, daß sie eine Vergrößerung respektive<br />

Verkleinerung des gesellschaftlichen Utopiepotentials anzeigt.<br />

Vieles spricht dafür, daß überall dort, wo der mathematisch-physikalische<br />

Idealkörper als Architekton Raum greift, ein Frage- und ein Ausrufungszeichen in die<br />

Welt gesetzt wird: Ein Fragezeichen im Hinblick auf bestehende Ordnungen, des<br />

Denkens, Träumens, Fühlens und Handelns; ein Ausrufungszeichen, was die<br />

Aufforderung anbelangt, diese Ordnungen (selbst-)kritisch zu hinterfragen, um sie<br />

24


nicht nur punktuell architektonisch, sondern generell alltagsweltlich aufzuheben.<br />

Beides zusammen symbolisiert, gewollt oder nicht, einen revolutionären<br />

Schöpfungsanspruch par excellence. Und da ein <strong>Kugel</strong>-Bau dieses zweifache<br />

Zeichen im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert, und zwar unverrückbar, sichtbar<br />

und für jedermann, bedroht es Ordnungen, die Gestalt annehmen, sich verfestigen<br />

und beanspruchen, auch baulich versteinern und räumlich auskristallisieren zu<br />

können.<br />

Von daher hat Vogt zunächst nicht Unrecht, wenn er vermutet, Lenin und<br />

Lunatscharski - hinzuzufügen wären hier sicherlich auch noch Bucharin, Trotzki, und<br />

Stalin - hätten eine tiefsitzende Angst gegenüber der Avantgarde-Architektur im<br />

allgemeinen und den <strong>Kugel</strong>-Konstrukteuren im besonderen gehabt, die daher rührte,<br />

„daß einer das >ParadiesReich der Freiheit< bereits baut, bevor es<br />

gekommen ist" (Vogt 1990, S. 241), doch die Angst gegenüber einer Architektur, die<br />

Ordnung permanent zur Diskussion und zur Disposition stellt, blieb nicht auf die<br />

führenden Köpfe der Sowjetordnung beschränkt, sondern griff erheblich weiter und<br />

tiefer.<br />

3.2. <strong>Die</strong> Verdrängung: „<strong>Leonidow</strong>erei" und „Zuckerbäckerstil"<br />

In den ästhetischen Richtungs- und machtpolitischen Flügelkämpfen der Architekten<br />

äußerte sich diese Angst alsbald unmißverständlich, und zwar in den Attacken der<br />

„Allunionsvereinigung proletarischer Architekten" (WOPRA). <strong>Die</strong> Mitglieder dieser<br />

1929 gegründeten und 1932 bereits wieder aufgelösten Gruppierung „machten als<br />

einen der ersten l. <strong>Leonidow</strong> zur Zielscheibe ihrer Kritik, gegen ihn wurde ein<br />

regelrechtes Kesseltreiben inszeniert" (Chan-Magomedow 1983, S. 238f.). In den<br />

Schlachtrufen der WOPRA wurde zum Kampf gegen jedwede „<strong>Leonidow</strong>erei" in der<br />

Architektur geblasen. Dem „selbstgefälligen Formalismus und Technizismus" mit<br />

seiner „«revolutionären» Wichtigtuerei" setzten die WOPRA-Deklarationen „eine<br />

proletarische Klassenarchitektur" entgegen, die sich durch „die Aneignung der Kultur<br />

der Vergangenheit" und „die Berücksichtigung einer größtmöglichen Anzahl von<br />

Elementen" auszeichnen sollte. (WOPRA-Deklarationen 1929, S. 25/26).<br />

Und es blieb nicht bei Deklarationen. <strong>Die</strong> geforderte proletarische<br />

Klassenarchitektur nahm in den Folgejahren in den Köpfen, auf den Reißbrettern<br />

25


und in den Alltagswelten zunehmend eine konkrete Gestalt an, die dann später als<br />

„Zuckerbäckerstil" oder „stalinistischer Empire" (Chan-Magomedow 1995, S. 209) in<br />

die Architekturgeschichte einging. <strong>Die</strong> Verdrängung der „<strong>Leonidow</strong>erei" durch den<br />

„Zuckerbäckerstil" kam in der Verdrängung des <strong>Kugel</strong>-Architektons sehr anschaulich<br />

zum Ausdruck. <strong>Die</strong> tragische Ambivalenz dieses Verdrängungsprozesses bestand<br />

darin, daß er der Architektur-Avantgarde nicht nur über politische, ideologische und<br />

professionelle Zwänge aufgenötigt, sondern von ihr selbst entscheidend und<br />

einfallsreich vorangetrieben wurde. Sie setzte sich an die Spitze eines Prozesses,<br />

dem sie schließlich selbst zum Opfer fiel.<br />

Neben einigen bereits erwähnten Projekten, in denen vor, neben und nach<br />

<strong>Leonidow</strong>s Instituts-Konstruktion das <strong>Kugel</strong>motiv aufgenommen wurde, um es<br />

architektonisch zu entfalten, gab es andere Entwürfe, in denen dieses Motiv zwar<br />

auch auftauchte, bei deren Betrachtung sich jedoch das Gefühl einstellt, sie<br />

signalisierten nicht mehr den architektonischen Vor-, sondern Rückmarsch des<br />

<strong>Kugel</strong>-Architektons. <strong>Die</strong>ser Rückmarsch erfolgte auf drei Wegen, nämlich auf der<br />

Raum-, der Form- und der Materialebene.<br />

Den Rückzug auf der Raumebene machen drei Projekte exemplarisch<br />

deutlich, und zwar zwei Entwürfe der Gebrüder Alexander und Leonid Wesnin, die<br />

beide am WChUTEMAS lehrten und von 1923 bis 1933 „als die anerkannten Führer<br />

der neuen Richtung in der sowjetischen Architektur" (Chan-Magomedow 1983, S.<br />

155) galten und eine Arbeit von Alexander Grinberg, einem Mitglied der ARU, der<br />

„Assoziation der Architekten-Urbanisten". Im einzelnen handelt es sich dabei um den<br />

"Kulturpalast des Proletarischen Bezirks in Moskau" (1931), das "Theater<br />

musikalischer Massenvorführungen in Charkow" (1930-1931) und das "Synthese-<br />

Panorama-Planetarium-Theater in Nowosibirsk" (1931) (Chan-Magomedow 1983,<br />

Abb. 1243, 1266, 1274).<br />

Während bei <strong>Leonidow</strong> die Auditoriumskonstruktion räumlich vollständig frei<br />

steht und selbst der im Gittertrichter liegende kleinere Teil der <strong>Kugel</strong> immer noch<br />

sichtbar bleibt, sind hier die riesigen Veranstaltungskugeln tief in die Betonkörper<br />

und teilweise auch die Erde versenkt. Nicht nur die Größe, Geometrie und zentrale<br />

Lage sowie das Ebenmaß der sich aus diesen Steinsärgen quälenden<br />

<strong>Kugel</strong>schalen, sondern auch die Kreisförmigkeit dieser Sarkophage selbst, nötigt<br />

dem Betrachter eine solche Perspektive geradezu auf. Der am Bauwerk hin und her<br />

gleitende Blick wird immer wieder von der <strong>Kugel</strong>schale festgehalten, nicht mehr los<br />

26


gelassen und so ins Innere des Architekturkörpers gezogen, daß sich im Kopf die<br />

Schale zu einer imaginären Vollkugel vergrößert. Auffällig ist ferner, daß in allen drei<br />

Entwürfen selbst die <strong>Kugel</strong>schale nicht mehr räumlich frei liegt, sondern in einer<br />

Richtung durch einen Betonkörper - in den beiden Projekten der Wesnin Brüder<br />

durch eine große Betonwand - abgeschirmt wird.<br />

Ein Beispiel für den Rückzug der <strong>Kugel</strong> auf der Form-Ebene ist der bereits<br />

erwähnte, im WChUTEIN-Atelier Alexander Wesnins 1929 entstandene<br />

Wettbewerbsentwurf Lidija Komarowas zum „Gebäude der Komintern". Ein Vergleich<br />

dieses Projekts mit <strong>Leonidow</strong>s Arbeit bietet sich aus zwei Gründen an. Zum einen,<br />

weil es als Gesamtensemble (Hochaus, <strong>Kugel</strong>, Arbeitstrakt) gewisse Ähnlichkeiten<br />

mit <strong>Leonidow</strong>s Lenin-Institut hat. Zum anderen, weil es im Hinblick auf seine<br />

Funktion (Sitz der Komintern) auch darum ging, architektonisch einen exklusiven<br />

Raum des Wissens zu organisieren. Der Unterschied beider Wissenskugeln springt<br />

dem Betrachter deutlich ins Auge.<br />

In Komarowas Entwurf ist die obere Halbkugel wie mit einem Rasiermesser<br />

völlig plan weggeschnitten. <strong>Die</strong> untere, ein Stück weit in die Erde eingelassene<br />

Hälfte ist in Form überhängender, nach oben hin immer größer werdender<br />

Kreisscheiben ausgebildet, zwischen denen es keine weichen Übergänge gibt und<br />

die dem ganzen Gebilde ein kantiges, stark segmentiertes und hierarchisiertes<br />

Aussehen verleihen. Durch die, diese aufeinander lastenden <strong>Kugel</strong>etagen<br />

rundherum abstützenden Architekturkörper, ist dieser Raum des Wissens fest<br />

arretiert. Vielleicht eine „extreme Kiste", aber keine, in der „Schwindelfrische''<br />

entsteht.<br />

Auf der Materialebene läßt sich der Rückzug der <strong>Kugel</strong> sehr gut an einem<br />

Projekt beobachten, das hinsichtlich seiner räumlichen Gesamtkomposition starke<br />

Ähnlichkeiten mit dem „Synthese-Panorama-Planetarium-Theater" und den beiden<br />

Entwürfen der Gebrüder Wesnin aufweist. Es handelt sich hier um das von Grinberg<br />

und anderen Architekten entworfene und dann auch tatsächlich gebaute „Theater in<br />

Nowosibirsk" (Plan 1931) (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1275, 1276). Neben einer,<br />

die <strong>Kugel</strong>schale wieder nach einer Richtung abschirmenden großen Betonmauer<br />

und der käfigartigen Säulenfassade des Gebäudes, ist es hier vor allem die<br />

Oberfläche der Schale, die die Blicke des Betrachters auf sich zieht. Während sie in<br />

den anderen Projekten noch glatt ist, panzert hier eine dicht geschuppte<br />

Ornamentkruste die <strong>Kugel</strong>schale nach außen ab. <strong>Die</strong> Transparenz der <strong>Kugel</strong>haut ist<br />

27


damit ebenso unzweideutig wie unwiderruflich beseitigt. Das Ornament versiegelt<br />

die <strong>Kugel</strong> lichtdicht und frißt sich in sie hinein.<br />

Während sich in solchen einzelnen, wenn auch nicht vereinzelten<br />

architektonischen Signalen die Verdrängung der „<strong>Leonidow</strong>erei" durch den<br />

„Zuckerbäckerstil" in einer behutsamen und vielfach avantgardistischen Sprache<br />

ankündigte, in der sich die Eigentümlichkeit des „stalinistischen Empire" noch nicht<br />

klar ausdrückte, wurden die baulichen und räumlichen Beschwörungen einer „Kultur<br />

der Vergangenheit" in einem der wichtigsten sowjetischen Architekturwettbewerbe<br />

dieser Zeit, und zwar dem „Wettbewerb um den Palast der Sowjets", zunehmend<br />

unüberhörbarer und unübersehbarer.<br />

<strong>Die</strong>ser Wettbewerb, der in insgesamt vier Durchgängen von 1931 bis 1933<br />

stattfand, nahm „einen besonderen Platz innerhalb der Entwicklung eines neuen<br />

Typs des Regierungsgebäudes ein, innerhalb der Versuche, einen künstlerischen<br />

Ausdruck für das «Oberste Gebäude» des Landes zu finden, und innerhalb des<br />

Werdegangs der sowjetischen Architektur überhaupt" (Chan-Magomedow 1983, S.<br />

403). An diesem Wettkampf beteiligte sich eine Vielzahl von Architekten. Allein im<br />

zweiten, dem offenen Wettbewerbsdurchgang, an dem beispielsweise auch Walter<br />

Gropius und Le Corbusier teilnahmen, wurden hundertsechzig Entwürfe aus<br />

vierundzwanzig Ländern eingereicht. Unter diesen Projekten gab es auch viele, in<br />

denen das <strong>Kugel</strong>motiv auftauchte.<br />

Eine Arbeit ist dabei zunächst von besonderem Interesse, weil sie dieses<br />

Motiv auf sehr eindringliche Weise hervorhebt und insgesamt wohl auch aus dem<br />

Rahmen fällt. Es ist der Entwurf eines anonym gebliebenen Arbeiters, in dem es<br />

neben einem Turm mit Sowjetstern eine große, schräg gestellte <strong>Kugel</strong> gibt, auf der<br />

sich deutlich Kontinente und Meridiane abzeichnen und die unzweifelhaft die Erde<br />

symbolisieren soll (Vogt 1990, S. 211). Aber es sind auch international renommierte<br />

Architekten, wie etwa Erich Mendelsohn und Le Corbusier, die sich in ihren<br />

Projekten des <strong>Kugel</strong>motivs bedienten, und in eine ähnliche symbolische Richtung<br />

zielten, wie der unbekannte Arbeiter (Vogt 1990, S. 201f). Darüber hinaus brachten<br />

schließlich eine ganze Reihe anerkannter sowjetischer Architekten mit ihren<br />

Entwürfen die <strong>Kugel</strong> ins Spiel. In diesen Arbeiten zeigte sich deutlich, wie das<br />

<strong>Kugel</strong>motiv, auch, ja gerade dort, wo es architektonisch zentral gesetzt ist, in einem<br />

Rückzug begriffen war, der zunehmend zu einer <strong>Kugel</strong>-Flucht wurde.<br />

28


Erster Durchgang: Das Projekt der Brigade der WOPRA (Chan-Magomedow<br />

1983, Abb. 1101) - eine monumentale <strong>Kugel</strong>, fest eingespannt in einem<br />

halbkreisförmigen Baukörper. Das Projekt der Brigade der SASS (Chan-Magomedow<br />

1983, Abb. 1103) - eine auf den Leninbergen plazierte riesige Halbkugel. Das<br />

Projekt von Ladowski (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1104-1106) - eine große<br />

Halbkugel, die durch die schräg gesetzte, den Architekturkörper außen umlaufende<br />

Balkonborte den Eindruck vermittelt, als wolle sie sich aus dem Erdreich<br />

herausarbeiten.<br />

Zweiter Durchgang (insgesamt hundertsechzig Entwürfe): Das Projekt von<br />

Iwan Lamzow (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1114) - die Betonkugel ist zu drei<br />

Viertel im Boden versenkt. Das Projekt von llja Weinstein, Lidija Komarowa und Juri<br />

Muschinski (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1115) - von einer, in einem kreisförmigen<br />

Baukörper fast vollständig eingeschlossenen, eiförmigen Halbkugel bleibt durch<br />

einen schräg gesetzten Längsschnitt nur noch ein deformiertes <strong>Kugel</strong>segment übrig.<br />

Dritter Durchgang (insgesamt dreizehn Entwürfe): Das Projekt von Moissej<br />

Ginsburg, G. Gassenpflug und Solomon Lissagor (Chan-Magomedow 1983, Abb.<br />

1121) - ein abgeplatteter, stark segmentierter und eingeschnittener Halbkugelkörper.<br />

Das Projekt von Ladowski (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1120) - nur durch die<br />

immer wieder betonten Kreislinien und Rundungen wird der Betrachter auf den<br />

Gedanken gebracht, daß es sich bei diesem Bauwerk um ein extrem verformtes<br />

Halbkugelgebilde handeln könnte. Ein Vergleich der beiden Entwürfe Ladowskis für<br />

den ersten und dritten Durchgang zeigt, wie stark hier das <strong>Kugel</strong>motiv<br />

zurückgenommen wurde.<br />

Vierter Durchgang (insgesamt fünf Entwürfe): <strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong> ist verschwunden. In<br />

diesem letzten Durchgang, schreibt Chan-Magomedow, „wurde der Palast der<br />

Sowjets in allen Entwürfen als ein im Grundriß einheitliches Monumentalgebäude<br />

gestaltet, ganz gleich, welche Stilmerkmale er trug: verwandt wurden moderne<br />

Formen (die Brüder Wesnin), vereinfachte Formen im Geist monumentalisierter<br />

Neoklassik (B. lofan, K. Alabjan, J. Dodiza und andere) und traditionelle Formen (W.<br />

Stschuko und W. Helfreich, A. Stschussew)" (Chan-Magomedow 1983, S. 404).<br />

Gerade das Projekt der Gebrüder Wesnin zeigt, wenn man es mit ihren zuvor<br />

andiskutierten Entwürfen vergleicht, besonders eindrucksvoll, wie das <strong>Kugel</strong>motiv<br />

aus dem Architekturkörper verschwand. (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1125, 1126).<br />

<strong>Die</strong> Verdrängung der „<strong>Leonidow</strong>erei" durch den „Zuckerbäckerstil" blieb jedoch nicht<br />

29


auf die Verdrängung des <strong>Kugel</strong>-Architektons beschränkt, sondern ging weit darüber<br />

hinaus.<br />

Der Ort, den <strong>Leonidow</strong> für sein Lenin-Institut vorgesehen hatte, nämlich die<br />

Leninberge, wurde architektonisch besetzt. Dort entstand von 1948 bis 1952 die<br />

»Lomonossow-Universität« (Major 1984, Abb. 469). <strong>Die</strong>ser von Lew Rudnjew, Sergej<br />

Tschernyschew, Pawel Abrossimow und anderen Architekten entworfene, um einen<br />

zentralen Turmbau symmetrisch gruppierte Gebäudekomplex erstreckt sich bis zu<br />

450 Metern in die Breite und erreicht eine Höhe von 240 Metern. Er gilt als ein<br />

Paradebeispiel des „stalinistischen Empire".<br />

Eine Lenin-Bibliothek wurde tatsächlich gebaut, und zwar von 1928 bis 1941,<br />

nach einem Projekt von Stschuko und Helfreich (Major 1984, S. 465). „<strong>Die</strong> niedrige,<br />

durch einfache Wandpfeiler vertikal betonte Hauptmasse", schreibt Mate Major,<br />

„wurde mit edlen Materialien verkleidet und erhielt durch eine Statuenreihe einen<br />

wirkungsvollen oberen Abschluß." Und weiter, „... der schlichte hohe Kubus des<br />

Lesesaals fügt sich in das städtebauliche Ensemble zwischen Kreml und Paschkow-<br />

Haus mit ihren reicheren Formen gut ein" (Major 1984, S. 493).<br />

<strong>Die</strong> Idee, der kollektiven Wissensproduktion ihr gemäße besondere Räume<br />

zu schaffen, wurde zwar bei der Lomonossow-Universität und der Lenin-Bibliothek<br />

konsequent in die Tat umgesetzt, aber in einer <strong>Leonidow</strong>s Intentionen direkt<br />

entgegengesetzten architektonischen Poetik. Deutlicher noch als bei diesen beiden<br />

Bauten zeigt sich dies bei der von 1932 bis 1937 gebauten und von Rudnjew und<br />

Munz entworfenen »Frunse-Akademie in Moskau« (Major 1984, Abb. 76). <strong>Die</strong> hier im<br />

Innern des Gebäudes herrschende Raumdisziplin präsentiert sich unmißverständlich<br />

bereits in dessen äußerer Erscheinung. <strong>Die</strong> Fensterzellen des von einer dicken,<br />

mehr als 10 Meter hohen Betonmauer eingeschlossenen mächtigen<br />

Akademiequaders sind nicht nur alle exakt gleich groß, sondern rechtwinkelig und<br />

millimetergenau in Reih und Glied ausgerichtet. Wenn diese Kasernenfronten<br />

überhaupt zu etwas einladen, dann zu eiserner militärischer Disziplin. Wenn sie<br />

einen Rhythmus ausstrahlen, dann den des Gleich- und Stechschritts. Der<br />

Betrachter nimmt Haltung an - oder senkt den Blick. Nein, die zu jener Zeit so viel<br />

geschmähte „<strong>Leonidow</strong>erei" läßt sich diesem Raum des Wissens gewiß nicht<br />

nachsagen.<br />

Bliebe schließlich noch nachzutragen, daß <strong>Leonidow</strong>s Projekt in einer Phase,<br />

in der der Sozialismus sich vom Stalinismus und dessen architektonischen Empire<br />

zu verabschieden suchte, in einer postfunktionalistischen Art und Weise (Knie/März<br />

30


1997) zitiert wurde, und zwar in der 1969 abgeschlossenen Rekonstruktion des<br />

Berliner Alexanderplatzes. Allerdings so, daß sich der bauliche und<br />

raumgestalterische Richtungssinn der Instituts-Konstruktion ins Gegenteil verkehrte.<br />

In dem Areal um das »Intecta«- und »Berolina«-Haus wurden alle Architektone<br />

<strong>Leonidow</strong>s versammelt, angefangen von den administrativen Gebäuden (»Haus der<br />

Elektrotechnik«) und Wohntrakten (»Neubaublöcke«) über den Bücherturm (»Haus<br />

des Lehrers«) und den Versammlungsraum (»Kongreßhalle«) bis hin zur Hochbahn-<br />

Station (S-Bahnhof) und dem Antennenmast (»Fernsehturm«). Selbst seine<br />

Glas/Metall-<strong>Kugel</strong>, fand sich in der Konstruktion des »Telespargels« wieder.<br />

Allerdings sprechen sowohl die Gestalt, in der sich die Architektone hier<br />

wiederfanden als auch die Art und Weise, in der sie versammelt waren, dem „Poeten<br />

der reinen Form" Hohn, insbesondere was den Raumumgang anbetraf.<br />

Im Gegensatz zu <strong>Leonidow</strong>s Entwurf, in dem sich die Behutsamkeit der<br />

sowjetischen Avantgarde-Architekten gegenüber der Erde und dem Raum<br />

paradigmatisch aussprach, demonstrierte der postfunktional umgebaute Komplex<br />

eine urbane Dialektik, in der die Besetzung, Verstellung und Todlegung von Räumen<br />

vorbildlich ineinandergriffen. Wer täglich den Alexanderplatz über- oder unterquerte,<br />

um vom S-Bahnhof zum »Haus des Reisens« und von dort weiter in seine<br />

Wohnzelle zu gelangen, machte schnell die Erfahrung, wie auch der entleerte Raum<br />

eine Last sein kann.<br />

4. <strong>Die</strong> technische <strong>Paßfähigkeit</strong> der Konstruktion: Fragen, Chancen und<br />

Grenzen der Realisierbarkeit<br />

4.1. <strong>Die</strong> Fragen: Architektonische Stile und technische <strong>Paßfähigkeit</strong><br />

In der zuvor skizzierten Geschichte des Aufstiegs und der Verdrängung des <strong>Kugel</strong>-<br />

Architektons wurde bereits deutlich, daß es falsch wäre, die Verdrängung der<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" durch den „Zuckerbäckerstil" hauptsächlich oder gar ausschließlich<br />

einer einzigen Person, nämlich Stalin, und/oder einer Gruppe ihm ergebener<br />

„stalinistischer Empire"- Architekten zuzurechnen.<br />

<strong>Die</strong>s bedeutet natürlich nicht, daß Stalin den architektonischen<br />

Gestaltungskonzepten keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Genügend spricht<br />

31


dafür, daß er sich sehr wohl dafür interessierte (Major 1984, S. 489, 491). Und wenn<br />

beispielsweise der von der Regierung für den Wettbewerb um den Sowjet-Palast<br />

eingesetzte Baurat im zweiten, offenen Durchgang nicht nur die Entwürfe von<br />

Gropius und Le Corbusier, sondern gerade auch jene Projekte sowjetischer<br />

Architekten, in denen das <strong>Kugel</strong>motiv aufschien, unbeachtet ließ, während er die<br />

raum- und baukünstlerisch ähnlich ausgerichteten Arbeiten von lofan und Iwan<br />

Sholtowski sowie den Entwurf des Amerikaners Hector Hamilton (Chan-Magomedow<br />

1983, Abb. 1111, 1109, 1110, 1113) mit ersten Preisen auszeichnete, so waren die<br />

führenden „Zuckerbäcker"-Architekten an dieser Entscheidung gewiß nicht<br />

unbeteiligt.<br />

Was jedoch die soziale Reichweite und die Verankerungstiefe des<br />

„Zuckerbäckerstils" betrifft, ist zunächst das zu bedenken, was Vogt mit Blick auf<br />

Napoleons und Stalins Eingriffe in Architekturwettbewerbe schreibt: „Sie können als<br />

Machthaber nicht architektonische >Stile< schaffen. Sondern sie können höchstens<br />

aus dem schon bereitliegenden Angebot die eine Formkonzeption fördern und die<br />

andere zum (zeitweiligen) Ersticken bringen" (Vogt 1990, S. 113). Und was darüber<br />

hinaus die konkreten ideologischen und machtpolitischen Mittel der Stil-Förderung<br />

und -Erstickung anbelangt, derer sich Stalin bediente, wäre eine allgemeine<br />

Überlegung Heiner Müllers zu durchdenken, der sagte: „Trotzki war ein Terrorist,<br />

Stalin die Ordnungsmacht. ... Der Terror eines Stalin war defensiv; Stalin war<br />

grundsätzlich defensiv. Seine Strategie war die der Ausgrenzung und Befestigung ...<br />

Stalin war krankhaft auf Stabilität fixiert ... Er war also das Gegenteil eines<br />

Fundamentalisten - ein Hausvater, der sein Haus verbarrikadiert und sauber halten<br />

will" (Müller 1990, S. 48).<br />

Um die baulich-räumliche Spezifik des „stalinistischen Empire" in den Blick zu<br />

bekommen und sein gesellschaftliches Quellgebiet verorten zu können, um zu<br />

verstehen, warum und wie der „Zuckerbäckerstil" die „<strong>Leonidow</strong>erei" so erfolgreich<br />

und nachhaltig hatte verdrängen können, kann es hilfreich sein, beide Stile als eine<br />

architektureile Ordnungstechnik zu untersuchen und aus diesem Gesichtswinkel<br />

miteinander zu vergleichen. Eine solche Perspektive ermöglichte zweierlei. Zum<br />

einen könnte danach gefragt werden, wie diese Stile jeweils mit anderen Techniken<br />

der Gesellschaft verwoben und im herrschenden „Stand der Technik" (Knie 1991, S.<br />

35ff.) verankert sind. Zum anderen wäre ausgehend davon zu prüfen, ob und<br />

32


inwieweit jeder dieser Stile mit anderen Techniken kompatibel ist und in den<br />

herrschenden Stand der Technik hineinpaßt.<br />

Der neuralgische Punkt einer solchen analytischen Perspektive ist der Begriff<br />

der Technik. Aus einer dinglich zentrierten Perspektive wird die technische<br />

Dimension der beiden architektonischen Stile nur rudimentär und letztlich verzerrt<br />

erkennbar. <strong>Die</strong> »Poesie der Zukunft« und die »Poesie der Vergangenheit« entfalten<br />

sich zwar im Dinglichen, lassen sich jedoch nicht auf die physikalisch-stofflichen<br />

Parameter der Architekturkörper herunterbuchstabieren. Eine Möglichkeit, die<br />

Technik-Perspektive zu öffnen, ohne dabei die raum-physikalischen und stofflich-<br />

gegenständlichen Eigenschaften der projektierten Architektone aus den Augen zu<br />

verlieren, besteht darin, sich auf eine erstmals 1988 publizierte, bisher jedoch wenig<br />

beachtete, forschungsprogrammatische Skizze Michel Foucaults zu stützen.<br />

In dieser Skizze unterscheidet Foucault folgende vier verschiedene<br />

Techniktypen: „1. Technologien der Produktion, die es uns ermöglichen, Dinge zu<br />

produzieren, zu verändern oder auf sonstige Weise zu manipulieren; 2.<br />

Technologien von Zeichensystemen, die es uns gestatten, mit Zeichen,<br />

Bedeutungen, Symbolen oder Sinn umzugehen; 3. Technologien der Macht, die das<br />

Verhalten von Individuen prägen und sie bestimmten Zwecken oder einer Herrschaft<br />

unterwerfen, die das Subjekt zum Objekt machen; 4. Technologien des Selbst, die<br />

es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe<br />

von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem<br />

Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu<br />

verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit,<br />

der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt." (Foucault 1993, S. 26)<br />

Stichwortartig zusammengefaßt lassen sich diese vier Techniktypen als Ding-,<br />

Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken bezeichnen. Foucault verweist ferner<br />

darauf, daß diese Techniken im Hinblick auf ihr Funktionieren nicht voneinander zu<br />

trennen sind (Foucault 1993, S. 27).<br />

<strong>Die</strong>se forschungsprogrammatische Skizze Foucaults eröffnet eine<br />

Technikperspektive, die nicht nur (Marz 1996; Marz 1997) aber auch und vielleicht<br />

gerade für die Untersuchung der beiden architektonischen Stile und ihres<br />

widerspruchsvollen Verhältnisses erfolgversprechend sein könnte. Wenn nämlich<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" und „Zuckerbäckerstil" jeweils eine ding-, bedeutungs-, macht- und<br />

selbst-technische Dimension besitzen, dann kann das Besondere und Einmalige<br />

33


dieser Stile, also das, was sie untereinander und von anderen architektonischen<br />

Stilen vor, neben und nach ihnen unterscheidet genauer und präziser bestimmt<br />

werden. Foucaults Ansatz bietet die Möglichkeit, den harten Kern der<br />

architekturellen Ordnungstechniken aus drei Richtungen zu fokussieren: erstens<br />

durch die Untersuchung der in ihnen zusammenlaufenden charakteristischen Ding-,<br />

Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken; zweitens durch die Analyse der<br />

besonderen Art und Weise in der diese Techniken in der „<strong>Leonidow</strong>erei" und im<br />

„Zuckerbäckerstil" miteinander verflochten waren; drittens schließlich durch die<br />

Bestimmung der dabei jeweils dominanten Dimension. Aus diesem dreifachen<br />

Spezifizierungspotential ergibt sich die Möglichkeit, den Sieg des „stalinistischen<br />

Empire" über die „<strong>Leonidow</strong>erei" aus der Perspektive ihrer <strong>technischen</strong> <strong>Paßfähigkeit</strong><br />

zu untersuchen.<br />

Der „Zuckerbäckerstil" paßte in den herrschenden Stand der Technik, die<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" nicht. <strong>Die</strong> »Poesie der Vergangenheit« war in ein weitverzweigtes<br />

Netz von Ding-, Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken eingewoben, auf das sie<br />

sich stützen und aus dem heraus sie sich entfalten konnte. Der „stalinistische<br />

Empire" kollidierte nicht mit diesen Techniken. Mehr noch, er bezog aus ihnen seine<br />

bauliche Durchschlagskraft, brachte sie raumgestalterisch zum Ausdruck und stützte<br />

sie architektonisch ab. <strong>Die</strong> »Poesie der Zukunft« hingegen war mit den meisten -<br />

allerdings nicht mit allen - dieser Techniken unvereinbar. Im Unterschied zum<br />

„Zuckerbäckerstil" konnte sich die „<strong>Leonidow</strong>erei" ihrer nur im Ausnahme- und nicht<br />

im Regelfall bedienen. Doch damit nicht genug. <strong>Die</strong> »Poesie der Zukunft« stand mit<br />

vielen dieser Techniken in einem mehr oder weniger offenen Konfrontations- und<br />

Ausschließungsverhältnis. Der herrschende Stand der Technik verweigerte sich<br />

nicht nur der „<strong>Leonidow</strong>erei", sondern entzog ihr zunehmend Gestaltungsräume und<br />

-energien. Während sich die technische Basis für den „stalinistischen Empire"<br />

erweiterte, schrumpfte sie für die Architektone der reinen Form zusammen. Der<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" wurden immer engere Grenzen gezogen.<br />

Und diese Grenzziehung war eine doppelte, sie teilte die<br />

Architekturlandschaft und die Architektone. <strong>Die</strong> ordnungs<strong>technischen</strong> Barrikaden,<br />

die der „Zuckerbäckerstil" gegen die Poeten und die Poetik der reinen Form<br />

errichtete und die tief im herrschenden Stand der Technik verankert waren, grenzte<br />

die „<strong>Leonidow</strong>erei" als Projektgruppe aus der Architekturlandschaft und als<br />

Stilelement aus den Architektonen aus. <strong>Die</strong> beiden entgegengesetzten<br />

34


architektureilen Ordnungstechniken prallten nicht nur als alternative Entwürfe<br />

aufeinander, sie stießen auch in den Architekturkörpern selbst zusammen. <strong>Die</strong><br />

Unterordnung und schließliche Verdrängung der „<strong>Leonidow</strong>erei" durch den<br />

„Zuckerbäckerstil" vollzog sich zwischen und in den Architektonen.<br />

Um nun die technische <strong>Paßfähigkeit</strong> des „stalinistischen Empire" und seine<br />

doppelte Grenzziehung gegenüber der „<strong>Leonidow</strong>erei" näher in den Blick zu<br />

bekommen, ist es hilfreich, sich zunächst jenen Techniken zuzuwenden, auf die<br />

beide architektonischen Stile zurückgreifen konnten und mußten, nämlich die Ding-<br />

Techniken.<br />

4.2. <strong>Die</strong> Chancen: Ding-technische Voraussetzungen der Realisierung<br />

<strong>Die</strong> Ding-Techniken, also jene Techniken, von denen Foucault sagte, daß sie es<br />

„ermöglichen, Dinge zu produzieren, zu verändern oder auf sonstige Weise zu<br />

manipulieren", sind eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung<br />

für die Projektierung und Realisierung von Architektonen. Bauten, die physikalischen<br />

Gesetzen widersprechen oder für deren Ausführung es keine Geräte, Materialien<br />

und Technologien gibt, lassen sich zwar denken und zu Papier bringen, aber nicht<br />

errichten. Architektone, die die vorhandenen ding-<strong>technischen</strong> Möglichkeiten<br />

überschreiten, können nicht gebaut werden.<br />

Nur was ist zu einem gegebenen Zeitpunkt ding-technisch tatsächlich möglich<br />

und was nicht? <strong>Die</strong> Meinungen darüber gehen erheblich auseinander, und zwar<br />

nicht nur, wenn es darum geht, ding-technische Trends zu prognostizieren, sondern<br />

auch im Nachhinein, wenn sich bestimmte Ding-Techniken bereits herausgebildet<br />

haben und andere auf der Strecke geblieben sind. Allein mit Blick auf die<br />

Ergebnisse der Technikgeneseforschung (Knie 1991; Marz/<strong>Die</strong>rkes 1993; Buhr/Knie<br />

1993; <strong>Die</strong>rkes/Knie 1994) läßt sich der Möglichkeitshorizont der Ding-Techniken<br />

auch retrospektiv nicht nach der Faustformel vermessen: Das Gute und<br />

Funktionsfähige setzt sich durch und das Schlechte und Funktionsunfähige bleibt<br />

auf der Strecke. <strong>Die</strong> ding-technische Entwicklung reguliert sich nicht selbst durch<br />

ein, wie auch immer geartetes, »Survival of the fitest«.<br />

<strong>Die</strong> Unsicherheiten darüber, was ding-technisch realisierbar ist, und was<br />

nicht, sind gerade in Phasen, in denen Innovationsschübe nicht nur in den<br />

35


Experten-, sondern auch in den Alltagswelten der Menschen rasant Raum greifen,<br />

naturgemäß besonders groß. Aus heutiger Sicht mögen die oben erwähnten<br />

Projekte der fliegenden, schwebenden, schwimmenden, abgefederten und<br />

drehbaren Architektone völlig unrealistisch und wirklichkeitsfremd anmuten, damals<br />

jedoch sahen viele sowjetische Avantgarde-Architekten die ding-<strong>technischen</strong><br />

Möglichkeiten, auf die hin sie ihre Architektone projektierten, in einem anderen Licht.<br />

Vielfach mußte sich ihnen der Eindruck aufdrängen, von der ding-<strong>technischen</strong><br />

Entwicklungsdynamik überrollt zu werden und ihr schon in der Entwurfsphase<br />

hinterherzuhinken. Nicht die ding-<strong>technischen</strong> Möglichkeiten überschritten, sondern<br />

sie in ihren Projekten nicht ausgeschöpft zu haben, wurde ihnen vorgeworfen.<br />

Hannes Meyer, der nach seinem Hinauswurf aus dem Bauhaus Dessau vom<br />

Obersten Volkswirtschaftsrat der UdSSR als Hauptarchitekt des Trustes<br />

»Giprowtus« und Professor des »WASI«-Architektur- und Bauinstituts in die<br />

sowjetische Hauptstadt berufen wurde, berichtete damals von einer Begegnung, die<br />

dies sehr anschaulich deutlich machte:<br />

„Noch im September 1934 stand ich mit einem hohen Kommandeur der Roten<br />

Armee auf der Birobidshaner Sopka und legte ihm die Eigenarten des<br />

Verkehrssystems der künftigen jüdischen Hauptstadt dar. «Genösse Professor»,<br />

sagte er, «warum rechnet ihr Städtebauer immer nur mit Autobus und Tramway. <strong>Die</strong><br />

Kapitalisten fliegen doch auch in der Luft spazieren und zu ihren Fabriken. Warum<br />

sollen unsere Werktätigen denn nicht durch die Luft von der Wohnstadt zur<br />

Arbeitsstätte fliegen?» Er hatte recht, dieser ehemalige Schriftsetzer aus Riga, und<br />

er beschämte mich durch seinen eisernen Glauben an die ungeahnten<br />

schöpferischen Möglichkeiten im Sozialismus." (Meyer, H. 1980, S. 187) Und nicht<br />

nur Meyer, sondern beispielsweise auch Henry Ford, dem beileibe keine<br />

Sozialismusfreundlichkeit nachgesagt werden konnte, und dessen Mitarbeiter<br />

zeigten sich in ähnlicher Weise beeindruckt (Hughes, Th. 1991, S. 279ff.).<br />

Aber auch dort, wo es nicht um die Ausschöpfung potentieller, sondern die<br />

Nutzung etablierter Ding-Techniken ging, hatten Architekten das Gefühl, nicht auf<br />

der Höhe der Zeit zu sein. „Oft", schrieb Meyer, „reichte auch meine<br />

baufachmännische Erfahrung nicht aus, um dem Entwicklungstempo der geforderten<br />

Bauaufgaben gerecht zu werden. Verstärkt wurde diese Einsicht in meine<br />

Unzulänglichkeit, als ich in den Städtebauinstituten Giprogor und Standardgorprojekt<br />

36


egann, mich an der Planung solcher Giganten wie Molotowo, Ishewsk und Perm<br />

städtebaulich zu betätigen" (Meyer, H. 1980, S. 185).<br />

Vor diesem Hintergrund und im Vergleich mit den fliegenden, schwimmenden,<br />

abgefederten und drehbaren Konstruktionen der „<strong>Leonidow</strong>erei", zeichnete sich das<br />

Instituts-Projekt des „Poeten der reinen Form" im Hinblick auf die zu seiner baulich-<br />

räumlichen Umsetzung notwendigen Ding-Techniken durch einen<br />

überdurchschnittlich großen Realismus, fast möchte man sagen Konservatismus<br />

aus. Seine »Poesie der Zukunft« war tief in den Ding-Techniken der Gegenwart<br />

verankert. Ding-technisch war <strong>Leonidow</strong>s Architekton hochgradig paßfähig. Sowohl<br />

im Hinblick auf den Standort als auch in bezug auf die Architektone, die er entlang<br />

der vier Achsen seines doppelten Koordinatensystems projektiert hatte, war diese<br />

technische <strong>Paßfähigkeit</strong> hundertprozentig.<br />

Der Standort. Er war in dreifacher Hinsicht ideal. Erstens gab es im Großraum<br />

Moskau aus funktechnischer Sicht keinen besseren Platz für den Antennenmast als<br />

den höchsten Punkt der Stadt, die Lenin-Berge. Zweitens hätten diese, wenn sie<br />

nicht unter der Last der Lomonossow-Universität zusammenbrachen, auch unschwer<br />

das Lenin-Institut getragen. Drittens schließlich war dies ein guter Baugrund für die<br />

tiefreichenden Fundamente des Bücherturms und die feste Arretierung der<br />

Drahtseilverspannungen, die dem Turm, dem Antennenmast und der<br />

<strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion die nötige Stabilität verliehen.<br />

<strong>Die</strong> x-Achse. Mit der Realisierung sämtlicher auf dieser Achse plazierten<br />

Architektone, angefangen von den Hörsälen über die Lese-, Arbeits- und<br />

Seminarräume bis hin zu den westlich leicht versetzten Wohnhäusern für die<br />

Angestellten forderte <strong>Leonidow</strong> den Baufachleuten lediglich ein Gesellenstück und<br />

keine ingenieurtechnische Meisterleistung ab. Konstruktion, Projektierung und Bau<br />

solcher Gebäude war eine Routineaufgabe.<br />

<strong>Die</strong> erste und die zweite y-Achse. Im Vergleich zu den x-Achsen-<br />

Architektonen stellten der Bücherturm und der Funkmast zwar eine größere<br />

bautechnische Herausforderung dar, doch auch zu ihrer Errichtung waren alle ding-<br />

<strong>technischen</strong> Voraussetzungen gegeben. Was die Funkmast-Technologie betrifft,<br />

zeigt dies beispielsweise der nach einem Entwurf von Wladimir Schuchow 1922<br />

gebaute „Sendeturm in Moskau" (Chan-Magomedow 1983, Abb. 516). Und im<br />

Hinblick auf den Bücherturm veranschaulicht nicht nur der 240 Meter hohe Turmbau<br />

der Lomonossow-Universität die vorhandenen ding-<strong>technischen</strong> Möglichkeiten, denn<br />

37


„für weitere acht Hochhäuser wurde anläßlich der Achthundertjahrfeier Moskaus<br />

1947 der Grundstein gelegt. Sieben von ihnen konnten bis Mitte der fünfziger Jahre<br />

fertiggestellt werden. Das eine, nahe dem Roten Platz am Ufer der Moskwa<br />

angelegte Hochhaus sollte mit 275 m nach dem Sowjetpalast das zweithöchste<br />

Gebäude der Stadt werden. Da aber zu befürchten war, daß seine riesige Baumasse<br />

die Harmonie des Kremls erheblich stören würde, wurde hier ein Teil des bereits<br />

errichteten Stahlskeletts wieder demontiert" (Major 1984, S. 497).<br />

<strong>Die</strong> z-Achse. Auch für die Errichtung aller drei Architektone dieser Achse, der<br />

Hochbahntrasse, der Bahnstation und dem Pavillon, gab es eine solide ding-<br />

technische Basis. <strong>Die</strong>s zeigten allein schon die Moskauer Untergrundbahn (Metro)<br />

und die Ingenieurbauten. Was die reine bautechnische Seite betrifft, hat Major<br />

zweifellos recht, sie zu den „große(n) Leistungen der sowjetischen Architektur"<br />

(Major 1984, S. 495) in den dreißiger Jahren zu zählen. Zwischen 1935 und 1938<br />

wurde mit dem Bau von 21 Metro-Stationen begonnen, die, wie etwa die Station<br />

»Komsomolskaja-Kolzewaja«, nicht nur ästhetisch, sondern auch räumlich Palästen<br />

glichen. Ding-technisch war die Errichtung dieser Untergrund-Schlösser nicht<br />

unkompliziert, denn „die unterirdischen Gegebenheiten mit den langen und<br />

gedrungenen Bauformen stellten neue, ungewohnte und schwer zu lösende<br />

Aufgaben dar" (Major 1984, S. 495). Aber solche bau<strong>technischen</strong> Aufgaben wurden,<br />

wie auch bei der Errichtung der Ingenieurbauten erfolgreich bewältigt, wovon nicht<br />

nur der Wolga-Don-Kanal oder der Dnepr-Staudamm ein beredtes Zeugnis ablegen.<br />

Hierzu gehörten auch die Konstruktionen, die der Elektrifizierung des Landes<br />

dienten und die im Verlaufe der Realisierung des von Lenin stark vorangetriebenen<br />

GOELRO-Planes entstanden. Ding-technisch hätte also dem Bau der von <strong>Leonidow</strong><br />

projektierten Hochbahntrasse, des Bahnhofs und des Pavillions nichts im Wege<br />

gestanden.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion. Im Unterschied zu den zuvorgenannten<br />

Architektonen war die ding-technische <strong>Paßfähigkeit</strong> dieses architektonischen<br />

Kontrapunktes nicht hundertprozentig. <strong>Die</strong>s bedeutet allerdings nicht, daß sie nahe<br />

oder gleich Null war. Zwar hätte die Realisierung der Auditorium/Planetarium-<strong>Kugel</strong><br />

die größte bau- und ingenieurtechnische Herausforderung des Gesamtensembels<br />

dargestellt, aber der Bau eines verglasten <strong>Kugel</strong>-Architektons war vom<br />

physikalischen Prinzip her machbar und verlangte den Ding-Technikern nichts<br />

Unmögliches ab, wie der Kino/Diskothek-Bau unweit der Berliner Gedächtniskirche<br />

38


oder das im Pariser Park der Cité des Sciences gelegene Panorama-Kino »La<br />

Géode« zeigen. Das ding-technische Hauptproblem der <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-<br />

Konstruktion lag weniger in der <strong>Kugel</strong>, als in der stumpfen Spitze des Kegels, denn<br />

nur durch sie hätten die Besucher des Auditoriums/Planetariums in das Innere der<br />

<strong>Kugel</strong> gelangen können. Und genau dort lag zweifellos der Beförderungs-Engpaß.<br />

<strong>Die</strong> Kegelspitze war ein potentieller Stauraum, weshalb auch Werner Hegemann,<br />

der Herausgeber von »Wasmuths Monatsheften« 1929 fragte, wie denn wohl die<br />

Zuhörermenge den „Engpaß" der „trichterförmigen Gestalt" des Zugangs bewältigen<br />

werde" (zit. nach Vogt 1990, S. 217).<br />

So unausweichlich und unüberwindlich, wie es zunächst schien, war der<br />

Transportengpaß bei Lichte besehen jedoch nicht. Sieht man sich nämlich einmal<br />

die <strong>Kugel</strong>/Kegel-Konstruktion näher an und verliert dabei deren Größenordnungen<br />

und Proportionen nicht aus dem Blick, dann war die stumpfe Kegelspitze zwar ein<br />

Nadelöhr der Beförderung, aber keines, durch das die Besucher nur einzeln oder<br />

gar nicht gelangen konnten. Sie bot hinreichend Raum für maschinelle Lösungen<br />

des Transportproblems. Da ohnehin klar war, daß die Menschen nicht per pedes<br />

und via Leitern ins Innere der Auditorium/Planetariums-<strong>Kugel</strong> gelangen konnten,<br />

kam von vornherein nur eine maschinelle Lösung für die Personenbeförderung in<br />

Frage. Und eine solche Lösung lag nicht jenseits des ding-technisch Machbaren.<br />

<strong>Die</strong>s belegen sowohl die Aufzüge im Turmbau der Lomonossow-Universität als auch<br />

die Metro und ihr Rolltreppensystem, das die Menschen gerade im Areal der Lenin-<br />

Berge aus beachtlicher Tiefe zügig und sicher ans Tageslicht befördert.<br />

Wie immer man die ding-technische <strong>Paßfähigkeit</strong> der <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-<br />

Konstruktion im einzelnen bewerten mag, eine realistische Verwirklichungschance<br />

läßt sich ihr schwerlich absprechen. Und das diese Chance nicht wahrgenommen, ja<br />

nicht einmal ernsthaft durchkalkuliert wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht auf eine<br />

berechnungsgestützte Scheu vor baulichen, ingenieur<strong>technischen</strong> oder<br />

wissenschaftlichen Experimenten zurückführen. Angesichts der erheblichen,<br />

personellen, wirtschaftlichen, finanziellen und auch natürlichen Ressourcen, die in<br />

der Sowjetunion mit ungebrochener Ausdauer immer wieder in solche Experimente<br />

gesteckt wurden, kann von durchkalkulierten ding-<strong>technischen</strong> Bedenken beim<br />

besten Willen keine Rede sein. In der Gesellschaft, in der <strong>Leonidow</strong> lebte, wurde -<br />

mit wechselndem Erfolg - um die Lösung ganz anderer ding-technischer Engpässe<br />

39


gerungen, als um ein maschinelles Transport- und Aufzugssystem für 4.000<br />

Menschen.<br />

Und selbst wenn der vorhandene Transportengpaß nicht durch maschinelle<br />

Lösungen zu beseitigen gewesen wäre, hätte sich durch eine geringfügige<br />

konstruktive Änderung problemlos eine hundertprozentige ding-technische<br />

<strong>Paßfähigkeit</strong> des <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Architektons erzielen lassen: Durch ein bloßes<br />

Tiefersetzen des Kegels ließ sich nämlich die Schnittfläche Kegel/Erde vergrößern<br />

und der für maschinelle Transportlösungen zur Verfügung stehende Raum soweit<br />

erweitern, daß dort eine gewöhnliche Metrostation mit ihren Rolltreppensystemen<br />

hineingebaut werden konnte. Und vergegenwärtigt man sich dann noch die<br />

Beförderungsleistung eines Metrozuges, den Fahrtakt der Züge und die Kapazität<br />

der Rolltreppensysteme, dann hätten die maximal 4.000 Besucher des<br />

Auditorium/Planetariums schnell und zuverlässig in der <strong>Leonidow</strong>-<strong>Kugel</strong> Platz finden<br />

können.<br />

Nein, an einer mangelnden ding-<strong>technischen</strong> <strong>Paßfähigkeit</strong> litt <strong>Leonidow</strong>s<br />

Instituts-Projekt nicht. Sowohl die Architektone des doppelten Koordinatensystems<br />

als auch die <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion waren nicht nur annähernd, sondern<br />

hundertprozentig mit den damals vorhandenen Ding-Techniken kompatibel. Das<br />

Gesamtensembel und seine einzelnen Elemente fügten sich nahtlos in jene<br />

Techniken ein, die es nach Foucault „ermöglichen, Dinge zu produzieren, zu<br />

verändern oder auf sonstige Weise zu manipulieren". Vom physikalischen und ding-<br />

<strong>technischen</strong> Prinzip her waren der Realisierung dieses Entwurfs keine Grenzen<br />

gesetzt. Das Lenin-Institut hätte gebaut werden können, ohne seine konstruktive,<br />

funktionale und ästhetische Gestalt zu verbiegen.<br />

Mehr noch, im Vergleich zu den Modell-Projekten des „Zuckerbäckerstils"<br />

besaß die Instituts-Konstruktion eine größere ding-technische <strong>Paßfähigkeit</strong>, als die<br />

projektierten und dann zum Teil auch gebauten Architektone des „stalinistischen<br />

Empire". <strong>Die</strong>s wird deutlich, wenn man sich diesen Projekten und damit den<br />

architektonischen Barrieren zuwendet, die der „Zuckerbäckerstil" gegen die<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" errichtete.<br />

40


4.3. <strong>Die</strong> Grenzen: Technische Barrieren der Palast-Architektur<br />

<strong>Die</strong> <strong>technischen</strong> Grenzen, die der „<strong>Leonidow</strong>erei" im allgemeinen und <strong>Leonidow</strong>s<br />

Instituts-Konstruktion im besonderen gesetzt waren, lagen auf der bedeutungs-,<br />

macht- und selbst-<strong>technischen</strong> Ebene. Im Gegensatz zu den Ding-Techniken<br />

besaßen hier die Architektone der »Poesie der Zukunft« und des „Poeten der reinen<br />

Form" gar keine <strong>Paßfähigkeit</strong>. Sie lagen quer zu diesen Techniken und standen ihrer<br />

Entwicklung entgegen.<br />

Demgegenüber war der „stalinistische Empire" nicht nur hundertprozentig in<br />

die Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken eingepaßt und tief in ihnen<br />

verankert, sondern stellte eine, wenn man so will, architektonische „end-of-pipe"-<br />

Technologie dieser Techniken dar. „<strong>Leonidow</strong>erei" und „Zuckerbäckerstil" standen<br />

deshalb nicht nur in einem allgemein-ästhetischen, sondern auch in einem baulich-<br />

konkreten Gegensatz- und Ausschließungsverhältnis zueinander. Mit dem<br />

Vormarsch des „stalinistischen Empire" wurden die Konstruktionen der<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" aus der Architekturlandschaft und ihre baulich-räumlichen<br />

Gestaltungstechniken aus den Architektonen verdrängt.<br />

Beides, die fehlende bedeutungs-, macht- und selbsttechnische <strong>Paßfähigkeit</strong><br />

der »Poesie der Zukunft« und die doppelte Grenzziehung des „Zuckerbäckerstils"<br />

gegenüber der „<strong>Leonidow</strong>erei" werden sehr anschaulich deutlich, wenn man das<br />

Modell-Projekt der Poesie der reinen Form - also <strong>Leonidow</strong>s Instituts-Konstruktion,<br />

speziell dessen Kontrapunkt, das <strong>Kugel</strong>-Architekton - mit jenem Modell-Projekt des<br />

„stalinistischen Empire" vergleichend in Beziehung setzt, das in dem Wettbewerb um<br />

den „Palast der Sowjets" immer klarer Gestalt annahm und dann letztendlich auch<br />

den Sieg davon trug. Bei diesem Modell-Projekt handelt es sich um<br />

Entwurfsvarianten von Wladimir Helfreich, Boris lofan und Wladimir Stschuko, die<br />

viele Ähnlichkeiten miteinander aufwiesen, architektonisch in die gleiche Richtung<br />

zielten und in dem Projekt lofans, das dann schließlich das Rennen machte,<br />

zusammenliefen.<br />

Bei einem solchen Modellvergleich fallen vor allem drei bedeutungs-, macht-<br />

und selbst-technische Barrieren ins Auge, die die Palast-Architektur in und zwischen<br />

den Architektonen gegenüber der „<strong>Leonidow</strong>erei" errichtete, nämlich die<br />

Monumentalisierung der Bauten, die Instrumentalisierung der Räume und die<br />

Ornamentierung der Fassaden.<br />

41


4.3.1. <strong>Die</strong> bedeutungs-technische Barriere: <strong>Die</strong> Monumentalisierung der Bauten<br />

Was zunächst die Bedeutungs-Techniken betrifft, also jene, wie Foucault es<br />

formulierte „Technologien von Zeichensystemen, die es uns gestatten, mit Zeichen,<br />

Bedeutungen, Symbolen oder Sinn umzugehen", kommen die fehlende <strong>Paßfähigkeit</strong><br />

und radikale Querlage des von <strong>Leonidow</strong> entworfenen <strong>Kugel</strong>-Architektons bereits in<br />

dessen äußerer Gestalt eindringlich zum Ausdruck, und zwar in der oben<br />

beschriebenen Raum-Irritation, die die <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion durch die<br />

architektonisch punktgenaue Ausbalancierung der Aufstiegs- und<br />

Verankerungseffekte bei den Menschen hervorruft: Das Auditorium/Planetarium<br />

scheint zu schweben.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong> war ein Symbol und ihr Schweben ein Zeichen. Ein Zeichen,<br />

dessen Bedeutung sich den Menschen geradezu intuitiv erschloß. Der Traum vom<br />

Fliegen ist ein alter Menschheitstraum (Ott-Koptschalijski 1993). Er verband sich<br />

stets mit dem Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, dem Gedanken, die<br />

unsichtbaren Kräfte, die einen an die Erde fesseln überwinden, endlich aufsteigen<br />

und die gewohnte Welt aus einer anderen Perspektive sehen zu können sowie dem<br />

Wunsch, zu neuen, bislang unbekannten Horizonten aufzubrechen. Und als die<br />

Gebrüder Montgolfiere am 4. Juni 1783 mit ihrem Heißluftballon in die Luft<br />

schwebten und über die Erde glitten, signalisierte dies den Menschen, daß die<br />

physikalische und ding-technische Seite ihres Traumes erfüllbar war. Mit der<br />

französischen und der industriellen Revolution wurden <strong>Kugel</strong> und Fesselballon zu<br />

einem Symbol der Hoffnung, daß sich dieser Traum auch in den irdischen<br />

Alltagswelten erfüllen ließ. Von daher hat Vogt zunächst recht, wenn er den<br />

Aufstiegseffekt der Auditorium/Planetarium-Konstruktion hervorhebt. Für ihn bezeugt<br />

diese Konstruktion „eine dezidierte Bodenflucht", sie gilt ihm als<br />

architekturgeschichtliches Muster-, ja Extrembeispiel für die, eine „Architektur der<br />

Hoffnung" charakterisierende „bodenflüchtige Tendenz" (Vogt 1990; 114, 232, 114).<br />

Mit der Hervorhebung des Aufstiegseffektes allein ist jedoch die bedeutungs-<br />

technische Spezifik der <strong>Kugel</strong>-Konstruktion nur einseitig und damit letztlich auch<br />

ungenau erfaßt. <strong>Die</strong> große architektonische Leistung <strong>Leonidow</strong>s gegenüber anderen<br />

Entwürfen, wie etwa Boullées Newton-Denkmal, Ledouxs Friedhof oder dessen<br />

<strong>Kugel</strong>haus bestand nicht darin, eine bodenflüchtige Tendenz ins Extrem getrieben,<br />

sondern Bodenhaftung und Bodenflucht mit äußerster Präzision so ausbalanciert zu<br />

42


haben, daß sie sich gegeneinander im scheinbaren Schwebezustand des<br />

Architekturkörpers aufheben.<br />

<strong>Leonidow</strong>s Architekton der Hoffnung entfloh nicht der Erde, sondern war in ihr<br />

verankert. <strong>Die</strong> »Poesie der Zukunft« wurde an die prosaische Gegenwart und die<br />

prosaische Gegenwart an die »Poesie der Zukunft« gebunden. <strong>Die</strong> <strong>Kugel</strong>-<br />

Konstruktion war somit zugleich hoffnungsgetrieben (Aufstiegseffekt) und<br />

realitätsgebremst (Abstiegseffekt). Dadurch entstand dort, wo sich beide Effekte<br />

trafen, im Inneren des Auditorium/Planetarium, ein besonderer Raum, der Raum<br />

einer topischen Utopie und utopischen Topik. <strong>Die</strong>s war ein paradoxer, aber kein<br />

widersinniger oder unlogischer Raum. Er war paradox im Sinne der mathematischen<br />

Logik, denn „eine Paradoxie erhält man bei der Herleitung eines Resultats, das der<br />

landläufigen Meinung oder der Anschauung widerspricht, aber keinen logischen<br />

Widerspruch bedeutet" (Bachmann 1983, S. 147). Insofern war dieser utopisch-<br />

topische und topisch-utopische Raum eine Aufforderung, in ihm Wissen zu<br />

produzieren, das sich nicht den landläufigen Meinungen, Anschauungen und<br />

(Selbst-)Gewißheiten andient und anpaßt, sondern sie mit eiserner Logik hinterfragt.<br />

Der paradoxe Raum duldete nicht schlechthin den Widerspruch, sondern forderte<br />

ihn heraus. Er war ein öffentlicher Raum des kollektiven Widersprechens.<br />

Darüber hinaus signalisierte die Tatsache, daß die <strong>Kugel</strong>-Konstruktion den<br />

Boden nur an einigen wenigen Punkten, nämlich an der stumpfen Kegelspitze und<br />

den Seilverankerungen berührte, noch etwas anderes. Sie war kein Zeichen von<br />

bloßer Bodenscheu oder Bodenflucht, sondern von höchster, mit den Mitteln<br />

architektonischer Bedeutungs-Technik kaum noch zu überbietender Behutsamkeit<br />

gegenüber der Erde. Weder ding-, noch bedeutungs-technisch besteht das absolute<br />

Maß für die Festigkeit und Stabilität einer Bodenverankerung darin, wie breit sich ein<br />

Architekturkörper auf der Erde macht oder wie tief er sich in sie hineinpflügt.<br />

Gemessen an einem solchen Maßstab muß <strong>Leonidow</strong>s Verankerungslösung<br />

flüchtend, letztlich phantastisch anmuten. Gemessen an Krutikows „fliegender<br />

Stadt", in der jede Bodenhaftung restlos aufgehoben war oder an Alexander<br />

Rodtschenkos Projekt der „oberen Fassade" (Chan-Magomedow 1983, Abb. 756-<br />

760) aus dem Jahre 1920, in der die Stadt die Form einer auf der Spitze stehenden<br />

Pyramide hatte, die nur mit wenigen Gebäudeteilen die Erde berührt, ist <strong>Leonidow</strong>s<br />

Architekton von einer geradezu urwüchsigen Bodenständigkeit.<br />

43


Sowohl die wissensstrukturelle als auch die ökologische Bedeutung des<br />

Auditorium/Planetarium waren ihm nicht äußerlich architektonisch angeheftet,<br />

sondern erwuchsen aus seiner inneren konstruktiven Logik. Der <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-<br />

Bau bezog die argumentative Energie seiner Symbol- und Zeichensprache weder<br />

aus Fassadenzitaten noch aus einer ihm auftätowierten Ornamentik, sondern aus<br />

den physikalischen Gesetzen der Statik und damit letztlich aus der Gravitationskraft<br />

unseres Himmelskörpers. <strong>Die</strong> schwebende <strong>Kugel</strong> war eine in reine Formen<br />

gegossene universelle Naturgesetzlichkeit. <strong>Die</strong> architektonisch eindringliche<br />

Aufforderung zum kollektiven Widersprechen und zur ökologischen Behutsamkeit<br />

erschien so als unabweisbare Notwendigkeit. Und sie war universell gesetzt. Sie<br />

reichte weit über Moskau, die Sowjetunion und die Welt hinaus. Das<br />

Kommunikations-Architekton, der Funkmast, der der interplanetarischen Verbindung<br />

dienen sollte, sandte diese Aufforderung in die Tiefen des Alls.<br />

Von einer solchen Technologie, „mit Zeichen, Bedeutungen, Symbolen oder<br />

Sinn umzugehen", grenzte sich der „stalinistische Empire" nicht nur schlechthin ab,<br />

sondern gegenüber dieser „<strong>Leonidow</strong>erei" errichteten die Zuckerbäcker-Architekten<br />

monumentale Barrieren. Um einen Einblick in die Bedeutungs-Techniken zu<br />

bekommen, derer sie sich dabei bedienten, ist es hilfreich, sich jenem größten<br />

sowjetischen Architekturwettbewerb zuzuwenden, in dem jegliche kugelähnlichen<br />

Architektone Schritt um Schritt verdrängt wurden, und zwar dem „Wettbewerb um<br />

den Palast der Sowjets". In einer gemeinsam von Helfreich, lofan und Stschuko<br />

vorgelegten Entwurfsvariante, die auf den Zeitraum „1933-1935" datiert ist (Chan-<br />

Magomedow 1983, Abb. 710), werden die Spezifik der Bedeutungs-Technik der<br />

Palast-Architektur und deren Frontstellung gegenüber der „<strong>Leonidow</strong>erei" sehr<br />

anschaulich deutlich.<br />

Jedem Betrachter dieser Entwurfsvariante springt sofort die Monumentalität<br />

des projektierten Palastes ins Auge, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist<br />

der vorgestellte Palast massig, wuchtig und gigantisch. Zum anderen ist er ein<br />

Monument und Denkmal. Auf einem gewaltigen Sockel steht eine überdimensionale<br />

Figur. Das Architekton dient der Verkündung, andere Funktionen sind seiner<br />

äußeren Gestalt nicht abzulesen. Welche Räume der Sockel beherbergen und wozu<br />

diese im einzelnen dienen sollen, ist nicht erkennbar. Und es ist letztlich auch<br />

gleichgültig, denn alle möglichen oder denkbaren Funktionen sind der<br />

44


Verkündungsfunktion von vornherein unwiderruflich untergeordnet. Sie müssen sich<br />

ihr fügen oder außen vor bleiben.<br />

Einen Zugang zu dieser alles dominierenden Verkündungsfunktion findet sich<br />

in einer bedeutungs-<strong>technischen</strong> Quelle des „stalinistischen Empires", nämlich in<br />

Vorlesungen »Über die Grundlagen des Leninismus«, die Stalin 1924 an der<br />

Swerdlow-Universität gehalten hatte. Dort unternahm er es, in einer damals oft<br />

zitierten Formel, den Kern des Leninismus auf einen populären Begriff zu bringen.<br />

<strong>Die</strong> Formel lautete: „Vereinigung des russischen revolutionären Schwungs mit<br />

amerikanischer Sachlichkeit - darin liegt das Wesen des Leninismus in der Partei-<br />

und in der Staatsarbeit" (Stalin 1952, S. 166).<br />

Auch wenn dieser Zugang möglicherweise aus heutiger Perspektive und auf<br />

den ersten Blick irreführend erscheinen mag, insbesondere was die Amerikanismus-<br />

Orientierung Stalins betrifft, so führt er doch unmittelbar in das bedeutungs-<br />

technische Zentrum des von Helfreich, lofan und Stschuko entworfenen Palastes. So<br />

sieht beispielsweise auch Vogt in dieser Entwurfsvariante, wenn auch offensichtlich<br />

eher verwundert, deutlich einen gewissen Amerikanismus verkörpert, und zwar wenn<br />

er schreibt, daß man dieses Vorhaben „merkwürdigerweise als eine >Summe aus<br />

New York< bezeichnen kann, denn es wird ja von lofan die Idee des amerikanischen<br />

Wolkenkratzers mit der Erinnerung an die amerikanische Freiheitsstatue kombiniert<br />

und umgesetzt" (Vogt 1990, S. 65/66).<br />

Merkwürdig indes ist weniger die „>Summe aus New York


Menschen in Tausenderkästen im Gleichschritt und auf Schulterschluß am Sockel<br />

des Denkmals vorbeimarschieren, wirkt sein architektonischer Auftritt<br />

entsachlichend. Das da oben ist unverwechselbar Wladimir lljitsch Uljanow. Ein<br />

Standbild, freilich - aber ein besonderes, wie aus einem Dokumentarfilm. In bezug<br />

auf den Pyramidenturm, um den sich etagenweise Skulpturen wie in einer<br />

erzgebirgischen Weihnachtspyramide ranken, wirkt er versachlichend. Da ist nichts,<br />

was ihn aufschmückt. Er wirft sich auf seinem Sockel in Positur, sicher - aber in<br />

seine eigene.<br />

Und dann ist da vor allem dieser ausgestreckte rechte Arm mit der geöffneten<br />

Hand. <strong>Die</strong> Geste ist eindeutig: In ihr vereinigen sich der versachlichte revolutionäre<br />

Schwung und der entsachlichte Amerikanismus des gesamtem Architektons. <strong>Die</strong><br />

Geste ist doppeldeutig: Sie lenkt den Blick sowohl in die programmierte Zukunft als<br />

auch auf die imaginäre Freiheitsfackel. <strong>Die</strong> Geste ist vieldeutig: Was symbolisiert die<br />

amerikanische Sachlichkeit: die Suche nach der Freiheit oder der Traum von einem<br />

besseren Morgen? Was symbolisiert den revolutionären Schwung: der Griff nach der<br />

Fackel oder die Orientierung nach vorn? Oder, anders herum gefragt, was bedeutet<br />

die Handbewegung: Amerikanismus und/oder Revolution? Versachlicht oder<br />

entsachlicht die Geste? In dieser Verkehrungsspirale wird der Betrachter nicht auf<br />

sich oder auf andere Menschen, sondern nur auf das Monument, und damit auf die<br />

Formel, die es verkündet, verwiesen. <strong>Die</strong> Formel kann lediglich interpretiert, nicht<br />

diskutiert oder gar in Frage gestellt werden. Dafür gibt es in diesem Palast-Entwurf<br />

keinen Raum.<br />

<strong>Die</strong>se Entwurfsvariante entsprang keinem plötzlichen Gedankenblitz. Ihre<br />

motivgeschichtlichen Spuren lassen sich sowohl in früheren Projekten Helfreichs,<br />

lofans und Stschukos als auch in den Arbeiten vieler ihrer Kollegen ausmachen. Zu<br />

diesen Spuren gehören beispielsweise Fotomontagen und Architektone von<br />

Malewitsch. Hier ist die Absicht, revolutionären Schwung und amerikanische<br />

Sachlichkeit zu vereinigen in abstrakter und zugleich sehr anschaulicher Weise zu<br />

erkennen. In einer Fotomontage, die vermutlich Mitte der 20er Jahre entstand, setzt<br />

Malewitsch einen seiner Architekton-Entwürfe zwischen die Wolkenkratzer New<br />

Yorks (Chan-Magomedow 1983, Abb. 40). Und seine 1923 projektierten horizontalen<br />

(Chan-Magomedow 1983, Abb. 39, 41-43), noch mehr jedoch die Mitte der 20er<br />

Jahre entworfenen vertikalen (Chan-Magomedow 1983, Abb. 45-48), Architektone<br />

muten wie Destillate amerikanischer Großstadt-Architekturen an. Das Motiv<br />

46


schlanker, hochaufragender Wolkenkratzer ist bis hin in die Vasen-Gestaltungen<br />

Nikolai Sujetins aus dem Jahre 1931 erkennbar (Chan-Magomedow 1983, Abb. 59-<br />

61). Ob El Lissitzkys „Horizontale Wolkenkratzer für Moskau" (1923-1925) oder Gleb<br />

Glustschenkos „Haus der Kongresse der UdSSR" (1928), ob Ladowskis<br />

Wettbewerbsentwurf für ein „Kolumbusdenkmal in Santo Domingo" (1929) oder<br />

Sergej Lopatins „Gebäude des WSNCh in Moskau" (1925), ob Iwan Wolodkos<br />

„Wolkenkratzer - produktive Aufgabe zur Demonstration von Dynamik, Rhythmus,<br />

Wechselbeziehung und Proportion - in der Vertikalen" (1924) oder <strong>Leonidow</strong>s<br />

Projekt für das „Gebäude des Narkomtjashprom in Moskau" (1934), dieses Motiv<br />

findet sich in unzähligen Arbeiten sowjetischer Architekten aus dieser Zeit wieder<br />

(Chan-Magomedow 1983, Abb. 752-755, 1095, 1135, 1134, 306, 704-706).<br />

Aber nicht nur im professionellen Umfeld Helfreichs, lofans und Stschukos,<br />

sondern auch in ihren eigenen Arbeiten lassen sich frühe, wenngleich auch ganz<br />

andere Spuren ihres Variantenmotivs entdecken. Da ist etwa Stschukos „Entwurf<br />

eines Denkmals für Lenin in Leningrad" (1924) (Chan-Magomedow 1983, Abb. 243),<br />

in dem dieser, hoch auf einem Stahlträgerturm stehend, den rechten Arm steil in den<br />

Himmel reckt, wo eine Flugzeugkette der angewiesenen Richtung folgend in die<br />

Zukunft fliegt. Oder der gemeinsame Entwurf von Stschuko und Helfreich für ein<br />

„Mausoleum für Lenin und die Helden der Revolution in Odessa" (1925) (Chan-<br />

Magomedow 1983, Abb. 250), in dem klar erkennbar das Motiv der zu<br />

Marschblöcken formierten Ameisenmenschen auftaucht. Und lofans „Wohnkomplex<br />

am Bersenewka-Kai in Moskau" (1928-1930) (Chan-Magomedow 1983, Abb. 1001-<br />

1003) weist in seiner Fassaden- und Portalgestaltung deutliche Ähnlichkeiten mit<br />

der Palastvariante auf und zeigt nebenbei gesagt auch sehr plastisch, wie lofan das<br />

<strong>Kugel</strong>motiv bereits vor den großen Palast-Wettbewerben eigenhändig beerdigte<br />

(Chan-Magomedow 1983, Abb. 1001).<br />

Den letzten und entscheidenden Schliff bekommt die Bedeutungs-Technik<br />

des „Zuckerbäckerstils" jedoch im letzten Wettbewerbsdurchgang, aus dem lofans<br />

eingereichtes Projekt als Sieger hervorging. Einige nebensächliche Details einmal<br />

beiseite gelassen, unterscheidet sich diese Arbeit (Chan-Magomedow 1983, Abb.<br />

1127) von der gemeinsam mit Helfreich und Stschuko entworfenen Variante lediglich<br />

durch drei, allerdings bemerkenswerte Einzelheiten, die alle den Turm des Palastes<br />

betreffen: Erstens gibt es nun nicht mehr fünf, sondern nur noch drei Zylinder;<br />

zweitens sind diese drei Restzylinder alle gleich hoch; drittens schließlich bleibt der<br />

47


den Turm krönende Denkmalssockel leer, stattdessen steht neben ihm ein Podest,<br />

von dem aus eine vergleichsweise sehr kleine Gallionsfigur auf den Vorplatz des<br />

Gebäudes blickt. <strong>Die</strong> Unterschiede sind eklatant.<br />

Der Turm wirkt wie abgeschnitten, nicht einmal mehr der Stumpf strebt in den<br />

Himmel. <strong>Die</strong> zuvor schon erheblich entsachlichte Wolkenkratzersymbolik bricht hier<br />

vollends in sich zusammen. <strong>Die</strong> amerikanische Sachlichkeit ist bis zur<br />

Unkenntlichkeit versteinert und bleibt nur noch für das an den Vor- beziehungsweise<br />

Alternativentwürfen lofans (Chan-Magomedow 1983, Abb. 710, 1111) geschulte<br />

Auge erkennbar. Der Architekturkörper schließt den Amerikanismus tief in sich ein<br />

und läßt ihn nicht mehr an seine Oberfläche dringen. <strong>Die</strong>, wie ein- oder vieldeutig<br />

auch immer, in der Gestalt Lenins symbolisierte Vereinigung von revolutionärem<br />

Schwung und amerikanischer Sachlichkeit ist in diesem Entwurf architektonisch<br />

aufgegeben. Sie bleibt baulich nur noch in der Nippesfigur als peinliches, im Grunde<br />

störendes, auf jeden Fall schwer entzifferbares Zitat erhalten.<br />

In lofans Monument wird die Verkündungsfunktion der Palast-Architektur<br />

radikal auf ihren harten und eigentlichen Kern reduziert. Das Denkmal verkündet<br />

nicht mehr das von Stalin verformelte Wesen des Leninismus, es verkündet<br />

überhaupt keine Formeln mehr, sondern nur noch eines: Macht, Ordnung und<br />

Selbstgewißheit an sich. Eine Macht, die nicht nur revolutionären Schwung<br />

abbremst, sondern jegliche Bewegung zum Stillstand bringt. Eine Ordnung, die nicht<br />

auf amerikanischer oder sonstiger Sachlichkeit, sondern ausschließlich auf<br />

Stabilisierung und Widerspruchsfreiheit gründet. Eine Selbstgewißheit, die keiner<br />

zukunftsweisenden Verformelungen mehr bedarf, weil ihr die Gegenwart als die<br />

beste aller möglichen Welten gilt.<br />

<strong>Die</strong>se architektonische Verewigung der Gegenwart ist nicht nur die<br />

konsequenteste und sicherste, sondern zugleich auch die bedeutungs-technisch<br />

ökonomischste Form der »Poesie der Vergangenheit«. Durch die Verherrlichung des<br />

Hier und Heute braucht sich der „Zuckerbäckerstil" weder auf die Zukunft noch auf<br />

die Vergangenheit, weder auf das Universum noch auf das Individuum, sondern<br />

immer nur auf sich selbst zu beziehen. Mit diesem Versuch, ein Zeichensystem zu<br />

schaffen, das nicht dem zeitlichen Verschleiß unterliegt, verbarrikadiert der<br />

„Stalinistische Empire" die Gesellschaft architektonisch gegen jegliche bedeutungs-<br />

technische „<strong>Leonidow</strong>erei". Und durch diese Art „mit Zeichen, Bedeutungen,<br />

48


Symbolen oder Sinn umzugehen", läßt sich jedwede »Poesie der Zukunft«<br />

erfolgreich aus den Architektonen herausreinigen.<br />

Doch lofans Palast-Entwurf verkündet nicht nur die Macht an sich, er schafft<br />

ihr auch einen ihr gemäßen Raum, und zwar einen Raum, der der „<strong>Leonidow</strong>erei" im<br />

allgemeinen und dem <strong>Kugel</strong>-Architekton im besonderen diametral entgegensteht.<br />

4.3.2. <strong>Die</strong> macht-technische Barriere: <strong>Die</strong> Instrumentalisierung des Raumes<br />

<strong>Die</strong>s wird deutlich, wenn man sich den Macht-Techniken zuwendet, also jenen<br />

Techniken, die nach Foucault „das Verhalten von Individuen prägen und sie<br />

bestimmten Zwecken oder einer Herrschaft unterwerfen, die das Subjekt zum Objekt<br />

machen". Im Hinblick auf diese Techniken kommt das Ausschließungsverhältnis<br />

zwischen „<strong>Leonidow</strong>erei" und „Zuckerbäckerstil" vor allem in der gegensätzlichen<br />

Organisation des Raumes zum Ausdruck.<br />

Wie <strong>Leonidow</strong>s Forderung zu verstehen ist, die „Möglichkeit der Bautechnik<br />

philosophisch zu erfassen" und die Arbeit des Architekten „geschlosssen zu<br />

organisieren", um das Bewußtsein der Menschen, und zwar ihr „Bewußtsein<br />

überhaupt" zu beeinflussen zeigt seine <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion auf geradezu<br />

paradigmatische Art und Weise. Der Auditorium/Planetarium-Raum soll sehr wohl<br />

das Verhalten der Individuen nachhaltig prägen, aber in einer ganz bestimmten<br />

Richtung. <strong>Die</strong>ser Raum ist nicht darauf ausgelegt, Menschen bestimmten Zwecken<br />

oder einer Herrschaft zu unterwerfen, die das Subjekt zum Objekt macht. Im<br />

Gegenteil, es ist ein Raum, der es ermöglichen soll, eine solche Herrschaft zeitweilig<br />

aufzulösen und generell in Frage zu stellen.<br />

Geraten bereits bei der Annäherung an und dem Eintritt in die<br />

Auditorium/Planetarium-<strong>Kugel</strong> die gewohnten und eingeübten Orientierungsmuster<br />

durch den Anblick der <strong>Kugel</strong> und das damit verbundene Zusammenspiel der<br />

eingangs skizzierten Material-, Form-, Natur- und Raum-Irritationen notgedrungen<br />

ins Wanken, so werden sie dann beim Betreten derselben durch deren<br />

Innenarchitektur in ihren Grundfesten erschüttert. Hier gibt es kein Links oder<br />

Rechts, kein Vorne oder Hinten. Gewiß existiert, allein schon aufgrund der<br />

Schwerkraft, ein Oben und ein Unten. Nur ist es hier architektonisch so eingesetzt,<br />

daß es die sozial erfahrene und verinnerlichte Orientierungsachse vertikaler<br />

49


Arbeitsteilung - und zwar wie immer sie beschaffen sein mag - radikal und<br />

irreversibel umkehrt und schließlich auch auflöst.<br />

<strong>Die</strong> radikale und irreversible Umkehrung dieser Orientierungsachse zeigt sich<br />

sinnfällig in der Position, die einem Redner in dem <strong>Kugel</strong>-Raum architektonisch<br />

zugewiesen wird. Jeder Referent, ob Staatsoberhaupt oder Künstler, ob<br />

Parteifunktionär oder Professor, steht, worauf auch immer sein tatsächlicher oder<br />

vermeintlicher Ruhm gründen mag, in <strong>Leonidow</strong>s Auditorium maximum ganz unten<br />

am Boden der <strong>Kugel</strong>. Noch vom tiefsten Rang des Amphitheaters sehen die Zuhörer<br />

auf ihn herab. <strong>Die</strong> Menschen sitzen ringsum und der Referent bekommt nie eine<br />

Wand in den Rücken, es sei denn, sie wird für ihn dort hingestellt. Und sie sitzen<br />

über ihm, bis hinauf zur Glaskuppel, wo die letzten Reihen im Spiel der Lichtreflexe<br />

mit dem Himmel verschmelzen.<br />

Und der Boden auf dem er steht, schwebt dutzende Meter über der Erde.<br />

Licht, das von der Sonne, dem Mond, den Sternen und/oder der in den<br />

Meridianverstrebungen eingelassenen künstlichen Beleuchtung herrührt, durchflutet<br />

den <strong>Kugel</strong>-Raum. Jeder kann den Redner in seinen Selbstinszenierungen sehen<br />

und durch die Amphitheater-Akustik auch ohne Verstärkungsapparaturen hören.<br />

Selbst demjenigen, der - einmal diesen absurden Fall unterstellt - die Absicht hätte,<br />

dieser Raum-Macht zu entgehen, indem er sich wie ein Zirkusartist nach oben hiefen<br />

läßt, wäre damit nicht viel geholfen, denn er hinge dort in einer noch viel<br />

dramatischeren oder lächerlicheren Art und Weise zwischen Himmel und Erde. Ob,<br />

was und wie hier jemand reden sollte, muß zuvor gut be- und durchdacht werden -<br />

von den Einladenden und vom Redner selbst.<br />

Aber die Orientierungsachse vertikaler Arbeitsteilung wird in <strong>Leonidow</strong>s<br />

<strong>Kugel</strong>-Konstruktion nicht nur radikal und irreversibel umgekehrt, sie wird auch<br />

aufgelöst. <strong>Die</strong> Architektur organisiert mehr als einen bloßen Tausch sozialer Rollen,<br />

einen schlichten Platzwechsel zwischen Beobachtenden und Beobachteten.<br />

Zunächst wirkt sie aus den zuvor genannten Gründen als stummer Filter. All jenen<br />

Menschen, denen es in Fleisch und Blut übergegangen ist, sich in ihrer Rede mehr<br />

auf ihr Rollenkapital als auf eigene Gedanken und überzeugende Argumente zu<br />

stützen, wird in <strong>Leonidow</strong>s <strong>Kugel</strong> kein räumliches Angebot gemacht, das dieser<br />

Gewohnheit entgegen käme. Viele werden dies instinktiv spüren und es von sich aus<br />

vorziehen, in Architekturen auszuweichen, in denen sie sich heimisch fühlen. <strong>Die</strong><br />

anderen, die diesen Filter aus Unachtsamkeit oder Größenwahn passieren, um sich<br />

50


dort in gewohnter Manier in Positur zu werfen, richten sich selbst. <strong>Die</strong>ses<br />

Auditorium/Planetarium macht es weder nötig noch möglich, in irgendeiner Form<br />

Hand an den Redner zu legen. Wie sich ein Mensch am Boden dieser <strong>Kugel</strong> auch<br />

spreizen mag, was immer er sagen und wie sehr er die Zuhörer auch verletzen<br />

sollte, seine Hilflosigkeit wird räumlich fatal in Szene gesetzt. Er verdient<br />

schlimmstenfalls Mitleid. <strong>Die</strong> Architektur legt den Haß- und Unmutsgefühlen der<br />

Menschen sanfte aber feste Zügel an. Hier verbietet sich jede rhetorische<br />

Lynchjustiz.<br />

Zuhörer, die, gepeinigt von der ihnen zugemuteten Rede, die Augen<br />

verdrehen und nach oben schauen, sehen ins Universum. Und das macht in aller<br />

Regel gelassen. Aber auch der Redner profitiert von dieser Raumordnung. Jeder,<br />

dem seine soziale Rolle noch nicht ins Hirn gewachsen ist und der sich schwer<br />

damit tut, wie er seine Gedanken entwickeln soll, ohne Gefahr zu laufen, sogleich<br />

etikettiert und in einem geistigen Setzkästchen beerdigt zu werden, findet in der<br />

Raumdisziplin der <strong>Leonidow</strong>-<strong>Kugel</strong> Hilfe und Unterstützung. Es gibt hier keine<br />

architektonischen Verführungen oder Zwänge, logische und dialogische<br />

Schwächeanfälle zu überspielen. Gerade die räumlich organisierte Hilflosigkeit<br />

bietet ihm, wenn er willens und in der Lage ist, sie anzunehmen und sich darauf<br />

einzulassen, Schutz und Geborgenheit. Nicht nur, daß die Amphitheater-<br />

Konstruktion Redner und Zuhörer akustisch auf besondere Weise einander nahe<br />

bringt, sie verweist auch Diskurspolizisten und Schwadroneure jeden Ranges auf<br />

ihre Plätze. Und, falls es dennoch ein Zuhörer partout nicht unterlassen kann, sich<br />

ins rechte Licht zu rücken, so steht es auch dem Redner frei, die Augen nach oben<br />

zu schlagen. Und er sieht das Universum wie kein anderer.<br />

In <strong>Leonidow</strong>s schwebenden Auditorium/Planetarium wird jede Herrschaft, die<br />

Menschen zum Objekt machen und bestimmten Zwecken unterwerfen will, räumlich<br />

abgewiesen. Ob die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur der Vernunft, ob die<br />

Herrschaft des Nationalgefühls oder die des Glaubens, sie alle finden dort keinen<br />

Halt. Ihnen wird keine architektonische Möglichkeit geboten, sich zu behaupten,<br />

geschweige denn auszubreiten.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Leonidow</strong>-<strong>Kugel</strong> ist nicht nur in bedeutungs-, sondern auch in macht-<br />

technischer Hinsicht ein paradoxer Raum. Das Auditorium/Planetarium ist ein macht-<br />

technischer Raum, der gegen die Macht-Techniken gerichtet ist. Ein Raum, in dem<br />

angefangen von der Antike (Amphitheater) über die neuesten Materialien (Stahl und<br />

51


Glas) bis hin zum Universum alles mobilisiert wird, um Macht-Techniken zu<br />

blockieren und aufzulösen. Mit seiner <strong>Kugel</strong> gibt <strong>Leonidow</strong> den Menschen ein<br />

Instrument in die Hand, mit dem sie sich vor ihrer Instrumentalisierung schützen<br />

können. Das Auditorium/Planetarium ist, um es in der machtpolitischen Terminologie<br />

des „russischen revolutionären Schwungs" zu formulieren, Schild und Schwert der<br />

Revolution, und zwar einer Revolution, die dagegen gerichtet ist, daß Menschen<br />

bestimmten Zwecken unterworfen und zum Objekt gemacht werden.<br />

<strong>Die</strong>ser räumlichen „<strong>Leonidow</strong>erei" sagt der „Zuckerbäckerstil" den Kampf an.<br />

In seinen Palast-Projekten ruft er die totale architektonische Mobilmachung aus, um<br />

derartige machtbedrohenden Räume zu vernichten und im Keim zu ersticken. Auch<br />

dies kommt in den verschiedenen Entwürfen Helfreichs, Stschukos und lofans<br />

unzweideutig zum Ausdruck.<br />

Zunächst besetzen die projektierten Paläste gnadenlos die Grundfläche des<br />

Raumes. Während die Architektone des „Poeten der reinen Form", die Erde nur<br />

berühren (<strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion, Funkmast) oder minimal beanspruchen<br />

(Bücherturm), machen sich die Palast-Monumente schonungslos auf ihr breit.<br />

<strong>Leonidow</strong>s Gesamtensembel und sein Auditorium/Planetarium sind flächenschonend<br />

und flächenerhaltend, die Versammlungs-Denkmäler des „Zuckerbäckerstils"<br />

flächenvernichtend.<br />

Auch in der Vertikalen fällt dieser Gegensatz unschwer ins Auge. <strong>Leonidow</strong>s<br />

Bauten beanspruchen hier ebenfalls nur den unbedingt notwendigen Platz: die<br />

beiden y-Achsen-Architektone, der schlanke Bücherturm und der schmale Funkmast,<br />

schmiegen sich der Vertikalen an; von allen denkbaren Körpern ist die <strong>Kugel</strong><br />

derjenige, der mit der geringsten Oberfläche das größte Volumen umschließt; und<br />

die Kommunikationspyramide gibt gar Raum frei, weil die Antennenkonstruktion nur<br />

das Lot (Funkmast) und die Kanten (Drahtseilverspannungen) der Pyramide<br />

räumlich belegt. Im Gegensatz dazu besetzt die Palastpyramide lofans massiv den<br />

Raum, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen als Baumasse. <strong>Die</strong> wuchtigen<br />

Zylinder des Denkmalssockels schmiegen sich nicht an ihre Rotations-Achse an,<br />

sondern blähen sich um diese Vertikale räumlich auf. Das Höhen/Breiten-Verhältnis<br />

der Wolkenkratzer-Simulation ist im Vergleich zu <strong>Leonidow</strong>s Bücherturm oder<br />

Funkmast ebenso raumtötend, wie das Oberflächen/Volumen-Verhältnis der Palast-<br />

Konstruktion im Vergleich zur <strong>Leonidow</strong>-<strong>Kugel</strong>. Zum anderen vernichtet lofans<br />

Entwurf durch die überdimensionale Umplatzung des Versammlungs-Monuments<br />

52


Raum. Damit sich die Hauptfunktion des Denkmals - also die Verkündung von<br />

Macht, Ordnung und Selbstgewißheit an sich - räumlich voll entfalten kann, muß das<br />

Palast-Areal weitläufig von anderen Architektonen frei gehalten werden, die den<br />

Blick auf diese Verkündung verstellen könnten. <strong>Die</strong>se Umplatzung legt den Raum in<br />

der Grundfläche und in der Vertikale großvolumig architektonisch tot. Der Palast-<br />

Sockel beansprucht nicht nur seinen eigenen Raum, sondern auch den entleerten<br />

Raum, dessen Grundfläche durch den Platz gebildet wird.<br />

<strong>Die</strong> weiträumige Umplatzung des Palastes hat eine Doppelfunktion. Während<br />

sie in der Vertikalen großvolumig Raum tot legt, instrumentiert sie den verbleibenden<br />

Restraum der horizontalen Grundfläche, und zwar genau im Sinne Foucaults, um<br />

Menschen bestimmten Zwecken zu unterwerfen und das Subjekt zum Objekt zu<br />

machen. Auch dies belegen die Entwürfe Helfreichs, lofans und Stschukos<br />

unmißverständlich.<br />

<strong>Die</strong> Palast-Plätze sind überdimensionale Fließbänder. Auf ihnen werden<br />

Menschenmassen in präzis abgezirkelten und gleich großen Marschblöcken an den<br />

Palast-Sockel herangeführt. <strong>Die</strong> Menschenblöcke sind fahnen- und<br />

transparentgeschmückt. Sie haben einen exakten Abstand voneinander und werden<br />

taktweise dem Hauptportal zugeleitet. In jedem dieser Blöcke marschieren, soweit zu<br />

erkennen, ungefähr eintausend Menschen im Gleichschritt und auf Schulterschluß.<br />

Das will eingeübt sein. Augen links! Augen rechts! Links schwenkt marsch! Halt!<br />

Rechts schwenkt marsch! Abteilung kehrt! Wenn hier eine Menschmaschine aus der<br />

Reihe tanzt, gerät ihr Marschblock ins Stolpern und der Maschinenmensch läuft<br />

nicht mehr im Takt. Nur wenn der Schwung des einzelnen exakt auszirkuliert und<br />

synchronisiert ist, bleibt die Menschenmasse in Schwung.<br />

Jedes Subjekt ist in dem kilometer- und stundenlangen Anmarsch auf das<br />

Monument schonungslos seiner Verkündungsfunktion ausgesetzt. Das Palast-Areal<br />

unterwirft sich die Individuen räumlich und zeitlich. Und es unterwirft sie sich auch<br />

körperlich. Zum einen, weil der Platz kein monströser Boulevard, sondern ein<br />

Aufmarschgebiet ist, das auch einzelnen Individuen architektonisch nahelegt, es im<br />

Sturmschritt zu durchqueren, weil es alle Spazier- oder gar Flanierwünsche baulich<br />

strikt abweist. Zum anderen, weil die Ameisenmenschen, ob einzeln oder in 1.000er<br />

Blöcken, auf der riesigen Freifläche schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert sind.<br />

Hier mobilisiert auch der „Zuckerbäckerstil" das Universum - allerdings gegen den<br />

Menschen. Gesetzt den Fall, ein Demonstrationsblock geriete bei einer<br />

53


Anmarschübung ins Stolpern, dann genügte es, ihn vom Fließband zu nehmen,<br />

zurück auf Los zu setzen und neu Anlauf nehmen zu lassen. Sonne, Wind und<br />

Regen unterstützten dann auf ganz natürliche Weise die räumliche, militärische und<br />

ideologische Disziplinierung.<br />

<strong>Die</strong>se Instrumentierung des Raumes verstärkt und stabilisiert die Achse der<br />

vertikalen Arbeitsteilung architektonisch und ist mit der räumlichen „<strong>Leonidow</strong>erei"<br />

der Auditorium/Planetarium-<strong>Kugel</strong> unvereinbar. Aber die Palast-Architektur unterwirft<br />

sich nicht nur die Menschen, sie dient sich ihnen auch an und gibt ihnen Halt. <strong>Die</strong>s<br />

wird deutlich, wenn man sich den selbst-<strong>technischen</strong> Barrieren der Palast-<br />

Architektur und der Zuckerbäcker-Seite des „stalinistischen Empire" zuwendet.<br />

4.3.3. <strong>Die</strong> selbst-technische Barriere: <strong>Die</strong> Ornamentierung der Fassaden<br />

Bei den Selbst-Techniken handelt es sich nach Foucault um jene Techniken, „die es<br />

dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von<br />

Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem<br />

Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu<br />

verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit,<br />

der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt."<br />

Im Unterschied zu den Macht-Techniken stellt <strong>Leonidow</strong>s Instituts-<br />

Konstruktion der Entwicklung und Entfaltung der Selbst-Techniken viele und auch<br />

sehr unterschiedliche Räume zur Verfügung. Nicht nur der Bücherturm, auch die<br />

Lese- und Arbeitsräume gestatten es dem Einzelnen, seine Seele, sein Denken,<br />

sein Verhalten und seine Existenzweise aus eigener Kraft zu verändern. Auf die<br />

Hilfe anderer Menschen kann er dabei nicht nur im Auditorium/Planetarium, sondern<br />

auch in den Hörsälen und Seminarräumen zurückgreifen. Und das Kommunikations-<br />

Architekton bietet ihm die Chance, diese Hilfe nicht nur in seiner näheren<br />

Umgebung, sondern weltweit zu suchen. Über den Funkmast kann der Einzelne auf<br />

die Menschheit zurückgreifen.<br />

Und auch was die Veränderung des Körpers betrifft, bietet <strong>Leonidow</strong>s<br />

Gesamtensemble dem Einzelnen viele Möglichkeiten sich zu verändern. <strong>Die</strong><br />

vielleicht bedeutsamste besteht darin, daß der Mensch sich hier als Naturwesen<br />

erleben und erfahren kann. Im Gegensatz zur Palast-Architektur, die nicht nur<br />

54


Naturraum okkupiert, sondern ihn mit ihren bodenversiegelnden Umplatzungen<br />

zerschneidet und abtötet, öffnet sich die Instituts-Konstruktion in vierfacher Hinsicht<br />

der Natur: erstens durch die große architektonische Behutsamkeit gegenüber der<br />

Erde; zweitens durch den Standort, die Lenin-Berge, von denen aus sich eine weite<br />

Sicht in die Landschaft eröffnet, besonders, wenn sich der Einzelne im Bücherturm<br />

befindet und sein Blick von den Schriften aus dem Fenster in die Ferne gleitet;<br />

drittens durch die flachen Hörsäle, Lese-, Arbeits- und Seminarräume, von denen<br />

aus die Menschen mit wenigen Schritten ins Freie gelangen; und schließlich viertens<br />

durch das Auditorium/Planetarium, das sich dem Universum öffnet. All dies<br />

ermöglicht es dem Einzelnen in der Tat, einen gewissen Zustand des Glücks, der<br />

Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit zu erlangen.<br />

Allerdings halten weder das Gesamtensemble noch seine einzelnen Elemente<br />

irgendeine architektonische Anweisung bereit, wie und in welcher Richtung die<br />

Menschen diesen ihnen zur Verfügung stehenden selbst-<strong>technischen</strong><br />

Möglichkeitsraum nutzen sollen. Mehr noch, wer auf der Suche nach solchen<br />

Anweisungen ist, sieht sich nicht nur enttäuscht, sondern auch sanft aber<br />

konsequent umgelenkt, weil ihn <strong>Leonidow</strong>s Architekton immer wieder zurück auf sich<br />

selbst und andere Menschen verweist. <strong>Die</strong> Material-, Form-, Natur- und Raum-<br />

Irritation der <strong>Kugel</strong>/Gitterkegel-Konstruktion, die Umkehrung und Auflösung der<br />

Achse der vertikalen Arbeitsteilung im Auditorium/Planetarium, die Tatsache, das die<br />

administrativen Gebäude dem Gesamtensembel unter- und in die x-Achsen-<br />

Architektone eingeordnet sind, all dies und vieles mehr verschiebt die Suche nach<br />

den Nutzungsformen des selbst-<strong>technischen</strong> Möglichkeitsraumes weg von den<br />

Bauten und hin zu den Menschen.<br />

Selbst der Außenhaut der Architektone sind keine selbst-<strong>technischen</strong><br />

Unterweisungen abzulesen. Nirgendwo gibt es auch nur den leisesten Aufschein<br />

einer Ornamentik. <strong>Die</strong> Baukörper sind schmutzkrustenfrei. Bis in ihre Oberfläche<br />

hinein weigert sich die Instituts-Konstruktion des „Poeten der reinen Form" den<br />

Menschen eine bestimmte Nutzung der bereitgestellten Möglichkeitsräume<br />

vorzuschreiben oder gar aufzunötigen. <strong>Die</strong>se Weigerung kann - und muß unter<br />

bestimmten selbst-<strong>technischen</strong> Verhältnissen - leicht als Verweigerung empfunden<br />

werden. Da auch hier die Entscheidungsfreiheit für die Menschen nicht nur eine<br />

Lust, sondern immer auch eine Last ist, fühlen sie sich, wenn diese Last Überhand<br />

nimmt, von der Architektur abgewiesen und allein gelassen. <strong>Die</strong> funktionale<br />

55


Sachlichkeit und Kühle der Architektone wird dann als Eiseskälte erlebt. In diesem<br />

Fall kann jedoch vom konstruktiven Prinzip her architektonisch keine Entlastung<br />

einsetzen, denn jedwede ornamentierende Bekunstung würde die »Poesie der<br />

Zukunft« syntaktisch und semantisch in eine »Poesie der Vergangenheit«<br />

verwandeln.<br />

Während <strong>Leonidow</strong>s Architektone den Menschen lediglich ihren<br />

Entscheidungsfrust als baulichen Frost zurückspiegeln, strahlen die Palast-Areale<br />

durch den in den Monumenten eingefrorenen Amerikanismus und die durch die<br />

Umplatzung abgetöteten Räume aus ihrem architektonischen Kern heraus<br />

Grabeskälte ab. Und im Gegensatz zur „<strong>Leonidow</strong>erei" hat der „stalinistische<br />

Empire" von seinem architektonischen Prinzip her die Möglichkeit hier Abhilfe zu<br />

schaffen, denn die bedeutungs-technische Verkündungs- und die macht-technische<br />

Unterwerfungsfunktion der Paläste werden durch Ornamentierungen nicht<br />

geschwächt, sondern verstärkt. Mehr noch, die Palast-Architektone bedürfen<br />

geradezu der Schmutzkruste des Gegenstandes, um diese Funktionen zu entfalten.<br />

Den bedeutungs- und macht-<strong>technischen</strong> Abstoßungskräften muß der „stalinistische<br />

Empire" eine selbst-technische Anziehungskraft entgegensetzen, die diese<br />

überkompensiert. Er tut dies durch die Ornamentierung der Fassaden, in denen sich<br />

der Palast seinen Ameisenmenschen andienert. Das selbst-technische<br />

Zuckerbäcker-Angebot lindert nicht nur den Schmerz, den die bedeutungs-<br />

technische Verkündungs- und die macht-technische Unterwerfungspeitsche den<br />

Menschen zufügt, es versüßt ihn auch.<br />

In dem von Helfreich, lofan und Stschuko vorgelegten Palast-Entwurf wird<br />

dieses Spannungsverhältnis zwischen Zuckerbäckerbrot und Empirepeitsche sehr<br />

deutlich erkennbar. Aus dem Grundgebäude des weiträumig umplatzten Palastes<br />

wächst der fünfzylindrige, sich nach oben hin verjüngende Denkmalssockel in den<br />

Himmel. Jeder dieser Zylinder ist von Säulen umkränzt. <strong>Die</strong> auf jeder Zylindergalerie<br />

thronenden Skulpturen laufen wie Nippesschnüre um den Wolkenturm, der sich<br />

darüber hinaus noch durch Friese, Türmchen und allerlei Zierat den an seinem Fuß<br />

vorbeidefilierenden Menschmaschinen anzuheimeln sucht. Was die architektonische<br />

Frisierkunst hergibt, wird hier aufgeboten, um die bei ihnen durch das Palast-Areal<br />

hervorgerufenen Distanz- und Kältegefühle nicht nur zu mildern, sondern in wohlige<br />

Wärme zu verwandeln. Urgemütlich soll das Verkündungs- und Unterwerfungs-<br />

56


Architekton sein. Ihm entsteigt die Aura der guten Stube der kleinen Leute. In ihr<br />

können sie sich leicht wiedererkennen und heimisch fühlen.<br />

<strong>Die</strong> Operationen, die er aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer an seinem<br />

Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner<br />

Existenzweise vorzunehmen hat, sind dem Einzelnen durch die bedeutungs-<br />

technische Verkündungs- und die macht-technische Unterwerfungs-Funktion des<br />

Palast-Architektons vorgeschrieben. Im Gegensatz zu <strong>Leonidow</strong>s Instituts-<br />

Konstruktion fallen hier die selbst-<strong>technischen</strong> Freiräume, in denen sich die<br />

Menschen bewegen können, entweder sehr klein aus oder gänzlich weg. Dafür<br />

bürdet der „stalinistische Empire" dem Einzelnen allerdings auch nicht die aus<br />

großen und differenzierten selbst-<strong>technischen</strong> Möglichkeitsräumen zwangsläufig<br />

erwachsenden Entscheidungslasten auf. Das Palast-Areal weist den Menschen die<br />

Richtung (Vereinigung des russischen revolutionären Schwungs mit der<br />

amerikanischen Sachlichkeit) und den Weg (das getaktete Demonstrationsband der<br />

im Gleichschritt und auf Schulterschluß marschierenden Ameisenmenschen) ihrer<br />

Selbstveränderung. Bewegen sich die Operationen, die der Einzelne an sich<br />

vornimmt im Rahmen dieser selbst-<strong>technischen</strong> Konstruktionsvorgaben, kann er in<br />

der vertrauten Aura der guten Stube, die der Palast ausdünstet, einen gewissen<br />

Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der<br />

Unsterblichkeit erlangen.<br />

<strong>Die</strong> Begriffe „Zuckerbäckerstil" und „stalinistischer Empire" bezeichen somit<br />

zwei wesentliche und nicht voneinander zu trennende Seiten dieser, gegen die<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" gerichteten architektureilen Ordnungstechnik. <strong>Die</strong> bedeutungs-<br />

technische Verkündungs- und macht-technische Unterwerfungsfunktion des<br />

„stalinistischen Empire" kann sich erst über die selbst-technische<br />

Ornamentierungsfunktion des „Zuckerbäckerstils" voll entfalten. Es lohnt daher,<br />

diese Ornamentierungsfunktion etwas näher zu betrachten.<br />

Der „Zuckerbäcker-Effekt ist kein Neben- oder Abfallprodukt der Palast-<br />

Architektur, sondern eine der entscheidenden Barrieren, die diese gegen die<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" errichtet. Und dieser Effekt entsteht nicht zufällig, sondern ist das<br />

Ergebnis eines konsequent eingesetzten architektonischen Erwärmungsverfahrens:<br />

Ein im Kern kaltes Architekton wird solange von außen und innen baukünstlerisch<br />

aufgeheizt, bis seine Gestalt zu zerfließen beginnt und Wärme abstrahlt.<br />

57


<strong>Die</strong>ses Erwärmungsverfahren blieb nicht auf die Palast-Konstruktionen<br />

beschränkt. <strong>Die</strong> Zuckerbäcker/Empire-Architekten bedienten sich seiner auch, um<br />

andere Architektone aufzutauen, deren Kälte nicht aus ihren bedeutungs- oder<br />

macht-, sondern aus ihren ding-<strong>technischen</strong> Funktionen erwuchs. <strong>Die</strong>s machen zwei<br />

bereits erwähnte Bauten, nämlich die 1952 eröffnete „Metrostation Komsomolskaja-<br />

Kolzewa" in Moskau und der im gleichen Jahr fertiggestellte „Wolga-Don-Kanal"<br />

sehr anschaulich deutlich.<br />

<strong>Die</strong> von Schtschussew gestaltete Metrostation wurde vor allem von innen<br />

baukünstlerisch aufgeheizt und sah so aus: „Den Eingang bildet ein weißer,<br />

kuppelgedeckter Block. <strong>Die</strong> unterirdische Halle stellt eine Apotheose der<br />

Nationalhelden und des Heldentum des Volkes dar. <strong>Die</strong> dreischiffige Halle gliedern<br />

gedrungene, mit Volkskunstmotiven dekorierte Pfeiler, die einfache Kapitelle<br />

besitzen und Segmentbögen aufnehmen. Ein kräftiges Gesims rahmt das flache<br />

Gewölbe, dessen Flächen eine Überfülle an Stuck- und Mosaikverzierungen<br />

besitzen. Prunkvolle Kristallleuchter hängen herab" (Major 1984, S. 495). <strong>Die</strong><br />

geschwätzige »Poesie der Vergangenheit« umdienert hier die kleinen Leute nach<br />

allen Regeln eklektizistischer Baukunst. <strong>Die</strong> Fahrgäste werden als heldenhafte und<br />

volksverbundene Stubenhocker angesprochen und als Herren des Landes gefeiert,<br />

die fest auf den Schultern vergangener Geschlechter stehen und von dort aus die<br />

Welt überblicken. <strong>Die</strong>s kann natürlich einen gewissen Zustand des Glücks, der<br />

Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erzeugen. Und<br />

es kann den Fahrgast der Mühe entheben, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer<br />

Operationen an sich vorzunehmen, um auf anderen Wegen einen solchen Zustand<br />

zu erreichen. Auf jeden Fall ist es das flehentliche Anerbieten, sich keine weiteren<br />

selbst-<strong>technischen</strong> Umstände zu machen, insbesondere was das Ziel und die Art<br />

dieser Operationen betrifft.<br />

Der von Leonid Poljakow entworfene „Wolga-Don-Kanal" wurde von außen<br />

baukünstlerisch aufgeheizt und strahlte eine ähnliche Wärme ab, wie die<br />

»Metrostation Komsomolskaja-Kolzewa«. Der Ingenieurbau sah so aus: „Der aus<br />

verschiedenartigen Anlagen und Bauten bestehende Komplex besitzt zum Beispiel<br />

turmartige Aufbauten an den Schleusen und Kopfstationen (Triumphbögen) an den<br />

Kanalmündungen und am Zimljansker See. ... Hinzu kamen pathetische Statuen,<br />

Embleme und Siegestrophäen. ... So präsentieren sich die Leuchttürme an den<br />

Kanalmündungen in dekorativer Fülle, das Turmpaar der neunzehnten Schleuse<br />

58


verfügt über Reiterstandbilder, der Triumphbogen der ersten Schleuse besitzt viele<br />

Details, wie Obelisken, Tympana und Trophäenschmuck (Major 1984, S. 496/496).<br />

Der volkseigentümliche Kanal huldigte so nicht nur seinen Ding-Technikern, den<br />

Arbeitern und Ingenieuren, die ihn erbauten, sondern allen kleinen Leuten, die sich<br />

aus den zaristischen Verhältnissen in die Zukunft aufgemacht hatten, um dort einen<br />

gewissen Zustand des Glücks zu erreichen.<br />

Der „stalinistische Empire" verdrängte jedoch mit seiner<br />

Ornamentierungsoffensive nicht nur die Architektone der „<strong>Leonidow</strong>erei", die sich<br />

gegenüber derartigen baukünstlerischen Aufheizungsverfahren verschlossen, er<br />

zersetzte damit auch die „<strong>Leonidow</strong>erei" von innen heraus und vertrieb sie aus ihren<br />

eigenen Entwürfen. Ein eindringliches Beispiel dafür, wie selbst Vorreiter der<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" versuchten, ihren eigenen Architektonen die Kälte auszutreiben und<br />

sich bei den kleinen Leuten einzuschmeicheln, sind zwei Lehrer <strong>Leonidow</strong>s, und<br />

zwar die Gebrüder Wesnin. In einer ganzen Reihe ihrer in den 30er Jahren<br />

entstandenen Entwürfe ist immer wieder der verzweifelte Versuch erkennbar, die<br />

eiskalte Sachlichkeit des eigenen Projekts durch Bekunstung des Architekturkörpers<br />

wieder aufzutauen, um es auf die im Lande herrschende selbst-technische<br />

Durchschnittstemperatur zu erwärmen.<br />

Sehr deutlich zeigt dies ein Projekt der Wesnin-Brüder, das unter<br />

Konsultation von Ginsburg entstand, also jenes Avantgarde-Architekten, der noch<br />

zehn Jahre zuvor forderte, seine Berufskollegen sollten sich nicht als Dekorateure,<br />

sondern als Organisatoren des Lebens begreifen. Bei dem Projekt, von dem hier die<br />

Rede ist, handelt es sich um das „Gebäude des Narkomtjashprom in Moskau" (1934)<br />

(Chan-Magomedow 1983, Abb. 702). Auf einem glatten Grundquader stehen vier<br />

verglaste Hochhaustürme. <strong>Die</strong> Erwärmung von außen: Auf der Eingangsebene wird<br />

um das gesamte Bauwerk ein säulengestützter Wandelgang herumgelegt - eine<br />

Synthese von Polis-Kultur und Gartenlaubenidylle. Um das kühle Ebenmaß der<br />

Fassade aufzuheizen, ziehen die Architekten aus dem Grundquader immer wieder<br />

Vorsprünge heraus, an deren Stirnseiten Skulpturen Szenen aus dem Arbeitsleben<br />

darstellen - hier sind weithin sichtbar die Alltagsgeschäfte der Menschen in Stein<br />

gehauen. <strong>Die</strong> Erwärmung von innen: <strong>Die</strong> vier Glashäuser werden so untereinander<br />

torbogenartig verstrebt, daß der Eindruck entsteht, hier hätte man es nicht nur mit<br />

einem, sondern gleich mit drei Triumphbögen zu tun. Und zwar von einer solchen<br />

Größe, daß ihr Pariser Urbild in jedem von ihnen gleich mehrere Male Platz fände.<br />

59


<strong>Die</strong> Wesnin-Brüder und Ginsburg waren zwar ein Sonder- aber beileibe kein<br />

Einzelfall. <strong>Die</strong>s zeigen andere, im gleichen Wettbewerb eingereichten Entwürfe. So<br />

etwa das von Iwan Fomin, Pawel Abrossimow und Michael Minkus projektierte<br />

Gebäude (Chan-Magomedow 1983, Abb. 709). Hier ist der bei den Gebrüdern<br />

Wesnin angedeutete dreifache Triumphbogen architektonisch voll in Szene gesetzt.<br />

In diesem Entwurf gibt es ebenfalls genügend alltagsweltliche und<br />

ideengeschichtliche Sicherungssymbole, an denen sich der an den glatten Flächen<br />

abgleitende Blick des Betrachters fest machen kann. Der solcherart durch eine<br />

»Poesie der Vergangenheit« wohltemperierte Baukörper wird geradezu anhänglich.<br />

Noch besser erkennbar wird die eine solche Anhänglichkeit erzeugende<br />

architektonische Erwärmungstechnik, wenn man das Projekt der Wesnin-Brüder mit<br />

dem Narkomtjashprom-Entwurf ihres Schülers <strong>Leonidow</strong> vergleicht. Unter anderem<br />

deshalb, weil auch <strong>Leonidow</strong> dort auf Geschichte Bezug nimmt. So erinnern etwa die<br />

Auskragungen an seinem zylinderförmigen Hochhaus an die Schiffsschnäbel der<br />

beiden Rostrasäulen der Börse auf der Strelka (Vogt 1990, S. 131f.). Aber gerade<br />

diese Anspielung zeigt, daß <strong>Leonidow</strong> sich im Gegensatz zu den Wesnin's nicht<br />

einer symbolischen Erwärmungstechnik bedient. Im Gegenteil, denn dieser<br />

architektonische Fingerzeig wirkt eher abkühlend, weil er damit, wie bereits oben<br />

erwähnt, auf ein besonderes architektonisches Motiv, nämlich das der<br />

<strong>Kugel</strong>verdrängung Bezug nimmt. Hinzu kommt die von <strong>Leonidow</strong> entwickelte<br />

räumliche Gesamtkomposition, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt.<br />

Unmittelbar hinter der Basilius-Kathedrale stehend, überragt sein Projekt diese um<br />

ein Vielfaches. Seine beiden schlanken, in den Himmel strebenden Hochhäuser<br />

dominieren nicht nur diesen geschichtsträchtigen Bau, sondern auch den Roten<br />

Platz und den Kreml, indem sie sie links unten liegen lassen. Sie ordnen sich das<br />

Areal en passant unter und dienen sich weder ihm noch den kleinen Leuten an.<br />

Überflüssig zu erwähnen, daß <strong>Leonidow</strong>s Projekt zu dieser Zeit nicht mehr die<br />

geringsten bedeutungs-, macht- und selbst-<strong>technischen</strong> Realisierungschancen<br />

hatte.<br />

<strong>Die</strong>ser kurze Einblick in die Karriere der Zuckerbäcker-Technologie und die<br />

Barrieren, die diese gegenüber der „<strong>Leonidow</strong>erei" zwischen und in den<br />

Architektonen errichtete, ermöglicht es, Bilanz zu ziehen und die technische<br />

<strong>Paßfähigkeit</strong> der gegensätzlichen und einander ausschließenden architektureilen<br />

Poesien miteinander in Beziehung zu setzen.<br />

60


5. <strong>Die</strong> Bilanz: Vergleich und Spezifik der Passungsprofile<br />

<strong>Die</strong>se Bilanzierung erfolgt in zwei Schritten. Im ersten Schritt werden die<br />

<strong>technischen</strong> Passungsprofile der „<strong>Leonidow</strong>erei" und des „Zuckerbäckerstils" im<br />

Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Gegensätze miteinander verglichen.<br />

Ausgehend davon wird in einem zweiten Schritt deren jeweilige Spezifik<br />

herausgearbeitet.<br />

5.1. Der Vergleich: Gemeinsamkeiten und Gegensätze<br />

Um nun die unterschiedliche technische <strong>Paßfähigkeit</strong> der „<strong>Leonidow</strong>erei" und des<br />

„Zuckerbäckerstils", ihre Gemeinsamkeiten und Gegensätze, herauszuarbeiten,<br />

bieten sich im Hinblick auf ihr jeweiliges technisches Profil drei Ebenen des<br />

Vergleichs an, und zwar ein Vergleich zwischen beiden Profilen, ein Vergleich ihrer<br />

inneren Kohärenz und ein Vergleich dieser Profile mit dem herrschenden Stand der<br />

Technik.<br />

Bei einem Vergleich zwischen den <strong>technischen</strong> Passungsprofilen der<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" und des „Zuckerbäckerstils" fallen zunächst ihre Gemeinsamkeiten in<br />

bezug auf die Ding-Techniken und ihre Gegensätze im Hinblick auf die Bedeutungs-,<br />

Macht- und Selbst-Techniken ins Auge. Was die Ding-Techniken anbetrifft, stellte<br />

die Instituts-Konstruktion <strong>Leonidow</strong>s an sie keine höheren, sondern eher geringere<br />

Ansprüche als die Palast-Architektur. Deren Projekte verlangten den potentiell<br />

vorhandenen und wirtschaftlich verfügbaren Ding-Techniken tendenziell mehr ab,<br />

denn die Monumentalisierung der Bauten, die Instrumentalisierung des Raumes und<br />

die Ornamentierung der Fassaden stellte an die Nutzung dieser Techniken<br />

quantitativ und fallweise auch qualitativ höhere Anforderungen als <strong>Leonidow</strong>s<br />

Instituts-Entwurf. <strong>Die</strong>se Unterschiede einmal beiseite gelassen, besaßen<br />

„<strong>Leonidow</strong>erei" und „Zuckerbäckerstil" ein ähnliches, annähernd gleiches ding-<br />

technisches Passungsprofil. Im Hinblick auf die Bedeutungs-, Macht- und Selbst-<br />

Techniken unterschieden sich ihre Profile jedoch grundsätzlich voneinander.<br />

Auf der bedeutungs-<strong>technischen</strong> Ebene entfaltete der Instituts-Entwurf im<br />

Hinblick auf den einzelnen Menschen, die Menschheit und die Natur ein raum-<br />

zeitlich universelles, Grenzen sprengendes Zeichensystem, das architektonisch die<br />

61


Form eines Vorschlages hatte. Demgegenüber entwickelte die Palast-Architektur ein<br />

raum-zeitlich partikuläres, Grenzen ziehendes Zeichensystem, das architektonisch<br />

die Form einer massiven Nötigung, ja eines Befehls annahm.<br />

Auf der macht-<strong>technischen</strong> Ebene stellte das Instituts-Projekt den Menschen<br />

insgesamt machtschwächende beziehungsweise machtabweisende und mit der<br />

<strong>Kugel</strong>-Konstruktion auch machtverkehrende und machtauflösende Räume zur<br />

Verfügung, die ebensotief in der Erde wie im Universum verankert waren und die es<br />

den Menschen gestatteten sollten, von dort aus jedwede Macht-Technik zur<br />

Diskussion und gegebenenfalls auch zur Disposition zu stellen. Im Gegensatz dazu<br />

projektierte die Palast-Architektur mit ihren raumbesetzenden und<br />

raumvernichtenden Monumenten sowie deren großflächiger Umplatzung<br />

machtstabilisierende und machtverstärkende Räume, die sich die Menschen und die<br />

Natur schonungslos unterwarfen.<br />

Auf der selbst-<strong>technischen</strong> Ebene bot die Instituts-Konstruktion den<br />

Menschen eine Vielzahl großer und differenzierter Möglichkeitsräume an, die sie<br />

immer wieder von den Architektonen weg auf sich und andere Menschen verwiesen<br />

und die es ihnen erlauben sollten, die Techniken ihrer individuellen und kollektiven<br />

Selbstproduktion frei zu wählen. Dagegen entfaltete die Palast-Architektur durch die<br />

Ornamentierung der Fassaden eine Aura, die sich den Menschen andiente, ihre<br />

Aufmerksamkeit von sich selbst und ihresgleichen abzog, magisch auf das<br />

Architekton focussierte und ihnen den Blick für die eng bemessenen<br />

beziehungsweise nicht vorhandenen selbst-<strong>technischen</strong> Spielräume verstellte.<br />

Bilanziert man die ding-technisch ähnlichen aber bedeutungs-, macht- und<br />

selbst-technisch gegensätzlichen Profile der „<strong>Leonidow</strong>erei" und der<br />

„Zuckerbäcker"/„Empire"-Architektur im Hinblick auf ihre jeweilige innere Kohärenz,<br />

dann wird auch auf dieser Ebene sehr schnell deutlich, daß sich beide<br />

architekturellen Ordnungs-Techniken diametral gegenüberstanden und einander<br />

wechselseitig ausschlössen, insbesondere dann, wenn man diese Profile<br />

dahingehend betrachtet, ob und inwiefern sie eine »Poesie der Zukunft« respektive<br />

eine »Poesie der Vergangenheit« verkörperten.<br />

In <strong>Leonidow</strong>s Instituts-Konstruktion besaßen die in ihr verkörperten Ding-,<br />

Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken den selben architektonischen<br />

Richtungssinn. Alle vier wiesen gleichermaßen über die Gegenwart hinaus weit in<br />

die Zukunft hinein und wiesen jegliche »Poesie der Vergangenheit« strikt ab. Und<br />

62


sie hatten dabei die gleiche Intensität und Reichweite. <strong>Die</strong> globale und<br />

interplanetare Kommunikation, das raum-zeitlich universelle Zeichensystem, die<br />

temporäre Auflösung und generelle Infragestellung der Macht und die freie Wahl der<br />

Selbst-Techniken zielten gleich stark und gleich weit in eine menschenwürdige und<br />

naturgerechte Zukunft, in die alle Lebewesen eingeschlossen seien sollten. <strong>Die</strong><br />

ding-, bedeutungs-, macht- und selbst-<strong>technischen</strong> Seiten des Instituts-Projektes<br />

waren vier sich ergänzende Ausdrucksformen der selben »Poesie der Zukunft«. Und<br />

als solche stellten sie sich den Menschen zur Verfügung und drängten sich ihnen<br />

nicht auf. Der Instituts-Entwurf war ding-, bedeutungs-, macht- und selbst-technisch<br />

in sich kohärent und kongruent. In der „Poesie der reinen Form" nahm die »Poesie<br />

der Zukunft« eine klare und unzweideutige Gestalt an.<br />

Eine derartige innere Kohärenz besaß das technische Profil der Palast-<br />

Architektur nicht. Seine ding-, bedeutungs-, macht- und selbst-<strong>technischen</strong> Seiten<br />

waren hauptsächlich komplementär und nur teilweise kongruent organisiert. <strong>Die</strong><br />

ding-technische Dimension war in der Gegenwart verankert und blieb ihr fest<br />

verhaftet. <strong>Die</strong> bedeutungs-technische Dimension wies mit ihrem raum-zeitlich<br />

partikularen und große Menschengruppen ausgrenzenden Zeichensystem, das auf<br />

die Vereinigung des russischen revolutionären Schwungs mit der amerikanischen<br />

Sachlichkeit ausgerichtet war einerseits auf eine nahe Zukunft, andererseits verwies<br />

es durch die symbolische Verewigung der Gegenwart auf eine permanente<br />

Vergangenheit. <strong>Die</strong> macht-technische Dimension zielte auf die sofortige,<br />

vollständige und endgültige Unterwerfung der Menschen unter die bedeutungs-<br />

technisch verformelten Zwecke. <strong>Die</strong> selbst-technische Dimension, die ihre »Poesie<br />

der Vergangenheit« sowohl aus dem Dunkel der Geschichte als auch aus der<br />

ewigen Gegenwart bezog, war darauf ausgerichtet, in einer großangelegten<br />

Ornamentierungsoffensive den umplatzten Monumenten eine auratische<br />

Anziehungskraft zu verleihen, die die von ihnen ausgehenden bedeutungs- und<br />

macht-<strong>technischen</strong> Abstoßungskräfte überkompensieren sollte.<br />

<strong>Die</strong> Kohärenz des <strong>technischen</strong> Profils der Palast-Architektur bestand in der<br />

wechselweisen Abstützung, Ausbalancierung und Synthese der verschiedenen, von<br />

den Ding-, Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken aufgespannten<br />

architektonischen Kräfteparallelogramme. Und die Stabilität dieser Kohärenz ist<br />

nicht zu unterschätzen. Erst in einer »Poesie des reinen Eklektizismus« vermag sich<br />

die »Poesie der Vergangenheit« voll zu entfalten, um mit ihren irrlichtigen Gestalten,<br />

63


die sich in immer wieder wechselnde Gewänder hüllen, den Menschen den Blick auf<br />

mögliche Zukünfte architektonisch zu verstellen.<br />

Und auch auf der dritten Bezugsebene, nämlich bei dem Vergleich dieser<br />

Profile mit dem herrschenden Stand der Technik, wird ihre Gegensätzlichkeit schnell<br />

erkennbar. Im Hinblick auf den herrschenden Stand der Ding-Techniken war<br />

<strong>Leonidow</strong>s Instituts-Projekt hundertprozentig paßfähig. <strong>Die</strong> Entwürfe der Palast-<br />

Architektur besaßen keine größere, sondern eher eine geringere ding-technische<br />

<strong>Paßfähigkeit</strong>. In bezug auf den herrschenden Stand der Bedeutungs-, Macht- und<br />

Selbst-Techniken allerdings war <strong>Leonidow</strong>s Projekt Ende der 20er/Anfang der 30er<br />

Jahre zunehmend weniger und schließlich überhaupt nicht mehr paßfähig,<br />

wohingegen sich die bedeutungs-, macht- und selbst-technische <strong>Paßfähigkeit</strong> der<br />

Palast-Architektur Zug um Zug erhöhte, bis sie mit dem herrschenden Stand dieser<br />

Techniken vollständig kompatibel war.<br />

5.2. <strong>Die</strong> Spezifik: Funktionalismus und Antifunktionalismus<br />

Es wäre jedoch entschieden zu kurz gegriffen, diesen herrschenden Stand der<br />

Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken nur in der Sowjetunion zu verorten. Er<br />

bildete sich nämlich am Ende eines Prozesses heraus, der auch als „erste Krise der<br />

Moderne" (Wagner 1995, S. 71) beschrieben wird und der raum-zeitlich weit über<br />

die Sowjetunion hinausreichte. In dieser Krise vollzog sich der Übergang von der<br />

klassisch liberalen zur organisierten Moderne (Wagner 1995, S. 71ff.).<br />

<strong>Die</strong> Versuche, die liberale Utopie, so, wie sie urprünglich konzipiert war, in die<br />

Tat umzusetzen, führte zu zwiespältigen Resultaten. Einerseits setzten die<br />

ökonomischen, politischen und sonstigen »invisible hands« des Liberalismus eine<br />

hohe soziale Entwicklungsdynamik in Gang. Andererseits drohten die Menschen<br />

dieser Dynamik nicht mehr Herr zu werden. Der Aufbruch in eine neue soziale Welt<br />

schien im Zusammenbruch jedweder sozialen Welt zu enden. Es schwand die<br />

Hoffnung, daß die »invisible hands« die Gesellschaft automatisch stabilisieren und<br />

harmonisieren würden, wenn man sie nur gewähren ließe und ihnen ausreichend<br />

Raum verschaffte. Stattdessen wuchs die Überzeugung, daß sich die Ordnung des<br />

Sozialen nicht von selbst einstellt, sondern hergestellt, erarbeitet, kurzum organisiert<br />

werden mußte, und zwar bedeutungs-, macht- und selbst-technisch.<br />

64


Bei der Herausbildung dieser Überzeugung spielten die Gedanken des<br />

Sozialismus und der sozialistischen Revolution nicht nur eine gewichtige, sondern<br />

eine zentrale Rolle, denn sie „stehen im Mittelpunkt der Geschichte der Moderne,<br />

der Moderne des neunzehnten Jahrhunderts, ihrer restringiert liberalen<br />

Konfiguration. Sie gründen sich auf zentrale Anschauungen der Aufklärung wie etwa<br />

auf die Möglichkeit der Menschen, Gesellschaft zu erschaffen, statt sie als natürlich<br />

gegeben zu akzeptieren, oder der Maßgabe, daß eine solche Erschaffung<br />

Traditionen und Privilegien beseitigen und sich auf Wissen und Vernunft stützen<br />

sollte" (Wagner 1995, S. 158).<br />

Und dies „zu sagen, konstituiert den Sozialismus aber gerade nicht als das<br />

gleichzeitig Andere der Moderne, das die entgegengesetzten Prinzipien verkörpert,<br />

sondern es erlaubt Vergleichbarkeit durch die Suche nach Unterschieden im<br />

Ausmaß. Wenn diese kurze Charakterisierung in beiden Beziehungen zutrifft,<br />

Gleichheit der Richtung und Unterschiedlichkeit in der zurückgelegten Entfernung,<br />

dann scheint es angemessen, den Sozialismus im Vergleich zu den westlichen<br />

Gesellschaften als die organisiertere Moderne anzusehen." (Wagner 1995, S. 161)<br />

So gesehen zielten die Reorganisationsinitiativen, wie sie in den Gesellschaften der<br />

organisierten Moderne, angefangen vom amerikanischen New Deal über die<br />

französische Volksfront, den deutschen Faschismus und das schwedische<br />

Volksheim bis hin zum sowjetischen Sozialismus Ende der 20er/Anfang der 30er<br />

Jahre entwickelt wurden, in eine ganz ähnliche bedeutungs-, macht- und selbst-<br />

technische Richtung.<br />

Betrachtet man den zuvor skizzierten Vergleich der <strong>technischen</strong><br />

Passungsprofile der „<strong>Leonidow</strong>erei" und des „Zuckerbäckerstils" vor diesem<br />

Hintergrund, werden der harte ordnungstechnische Kern dieser beiden<br />

Architekturstile, das bedeutungs-, macht- und selbst-technische Gegensatz- und<br />

Ausschließungsverhältnis, in dem sie standen, und der Platz, den sie in der<br />

modernen Architektur des 20. Jahrhunderts einnehmen, besser verständlich.<br />

Am Ende der ersten Krise der Moderne spitzte sich Ende der 20er/Anfang der<br />

30er Jahre der Konflikt zwischen zwei weltanschaulich und gestalterisch<br />

gegensätzlichen Hauptströmungen in der Architektur zu. In diesem Konflikt, der die<br />

organisierte Moderne bis heute durchzieht, standen sich eine »Poesie der Zukunft«<br />

und eine »Poesie der Vergangenheit« zunehmend unversöhnlicher gegenüber.<br />

65


<strong>Die</strong> »Poesie der Zukunft« verstand und artikulierte sich wesentlich als<br />

Funktionalismus. Ihre Projekte kreisten um die Formierung der Funktion. <strong>Die</strong><br />

Architektone sollten auskristallisierte Funktionen sein - nicht mehr, aber auch nicht<br />

weniger. <strong>Die</strong>ser Funktionalismus entwickelte sich in zwei Richtungen, die in den<br />

Projekten und Gründungsdokumenten seiner Vorreiter, wie beispielsweise bei Le<br />

Corbusier, noch sehr eng ineinander verwoben waren, die jedoch alsbald deutlich<br />

auseinandertraten.<br />

Zum einen entwickelte sich ein mensch-zentrierter Funktionalismus, dessen<br />

Formierung der Funktion sich in erster Linie am Bild des neuen, zukünftigen<br />

Menschen orientierte. Dessen vorgestellte Bedürfnisse bildeten den Ausgangs- und<br />

Zielpunkt der Entwürfe. <strong>Die</strong>ser mensch-zentrierte Funktionalismus wurzelte in einer<br />

Grunderfahrung, die viele Menschen in der ersten Krise der Moderne machten,<br />

nämlich der Erfahrung, „All That Is Solid Melts Into Air" (Berman 1982). Ihm ging es<br />

darum, mit der Dynamik der Moderne Schritt zu halten und heute jene<br />

architektonischen Möglichkeitsräume zu entwerfen, derer die Menschen morgen<br />

bedurften.<br />

Zum anderen entwickelte sich ein maschinen-zentrierter Funktionalismus,<br />

dessen Formierung der Funktion sich vor allem am Modell der exakt<br />

durchkonstruierten und präzis arbeitenden Maschine orientierte. Das minutiöse und<br />

reibungslose Zusammenspiel ihrer Teile zu einem Ganzen bildete hier den<br />

Ausgangs- und Zielpunkt der Entwürfe. <strong>Die</strong>ser maschinen-zentrierte<br />

Funktionalismus war ebenfalls in einer Grunderfahrung verankert, nämlich der<br />

Erfahrung, daß sich in der ersten Krise der Moderne „<strong>Die</strong> Herrschaft der<br />

Mechanisierung" (Giedeon 1982) entfaltete und Maschinen auf breiter Front Einzug<br />

in die Alltags-, Denk- und Gefühlswelten der Menschen hielten. In ihnen<br />

vergegenständlichte sich nicht nur die überbordende Entwicklungsdynamik, sie<br />

waren auch eine ebenso idealtypische wie anschauliche Verkörperung von Stabilität,<br />

Berechenbarkeit und Ordnung. Von daher lag es nahe, zu versuchen, die Häuser,<br />

Räume und Städte, an denen die Herrschaft der Mechanisierung bis dato<br />

vorbeigegangen war, nach dem Vorbild der Maschine zu projektieren. <strong>Die</strong> Zeit der<br />

„Staats-Maschine" (Stollberg-Rillinger 1986; Smid 1988) und der „Klassen-<br />

Maschine" (Süß 1985), des „Richter-Automaten" (Jhering 1893, S. 394; Ogorek<br />

1986) und der „Denkmaschine" (Jevons 1870; Poincaré 1914, S. 133; Neurath 1931,<br />

S. 404), der „Tanz-Maschine" (Fülöp-Miller 1926, S. 243; Giese 1925; Kracauer<br />

66


1963, S. 50) und der „Menschenmaschine" (Weber 1924, S. 414; Ermanski 1925, S.<br />

187; Bucharin 1971, S. 40-41; Ehrenburg 1976, S. 199/200) verlangte nach der<br />

„Stadtmaschine" (Knie/März 1997) und der „Wohnmaschine" (Le Corbusier zit. nach<br />

Lampugani 1993, S. 10).<br />

<strong>Die</strong> »Poesie der Vergangenheit« verstand und artikulierte sich wesentlich als<br />

ein gegen die »Poesie der Zukunft« mit ihren „extremen Kisten", ihrem „Lichtkitsch"<br />

und ihrer „Schwindelfrische" gerichteter Antifunktionalismus. Auch dieser<br />

Antifunktionalismus war in den Erfahrungen der Menschen verankert, die diese in<br />

der ersten Krise der Moderne machten, allerdings auf einer anderen Ebene. <strong>Die</strong><br />

Erfahrung, daß sich sozial bindende Normen, Werte und Ideale, die als<br />

unerschütterlich galten, auflösten (Hughes, H. 1958; Rosenberg 1967; Kondylis<br />

1991) und vertraute Maßstäbe des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Handelns<br />

ihre Gültigkeit verloren (Asendorf 1984; Asendorf 1989; Burckhardt 1994: 246-305),<br />

erzeugte nicht nur frische, sondern auch dumpfe Schwindelgefühle, die der<br />

Funktionalismus weder bedienen konnte noch wollte, nämlich eine Sehnsucht nach<br />

der guten alten Zeit und ein Heimweh nach der ehemals heilen Welt. <strong>Die</strong>sem<br />

Gefühl, und dem daraus erwachsenden Wunsch, das Entwicklungstempo zu<br />

verlangsamen und das Rad der Geschichte stillzustellen, verlieh der<br />

Antifunktionalismus architektonisch Ausdruck. Er zitierte und beschwor<br />

Vergangenheit. Der Antifunktionalismus trat in zwei charakteristischen Formen in<br />

Erscheinung, und zwar einem historisch-zentrierten und einem gegenwarts-<br />

zentrierten Antifunktionalismus.<br />

Der historisch-zentrierte Antifunktionalismus schöpfte seine Zitate aus dem<br />

Dunkel der (Architektur-)Geschichte. Er war tendenziell aristokratisch. Dorische<br />

Kapitelle, korinthische Säulen und romanische Basiliken wurden aus ihren<br />

Entstehungskontexten herausgebrochen und in geschwätziger Gelehrsamkeit<br />

repetiert. Der Baukörper verwandelte sich in ein Kollektaneen-Heft für das<br />

Bildungsbürgertum. Über das eklektische Menü kunsthistorischer Sentenzen, sollte<br />

das Architekton so fest mit venezianischen Palästen, gotischen Kathedralen,<br />

mittelalterlichen Trutzburgen und barocken Schlössern vertäut werden, daß es der<br />

Sturm der Moderne nicht mit sich reißen konnte. Erst wenn diese Vertäuungsarbeit<br />

geleistet war, wandten sich die Poeten der Historie lust- und kraftlos der prosaischen<br />

Gegenwart zu, sprich dem Hineinquentschen alltagsweltlicher Funktionen in das<br />

sakrale Architekton.<br />

67


Der gegenwarts-zentrierte Antifunktionalismus bezog seine Zitate aus dem<br />

ewigen Hier und Heute. Er verklärte die bestehende als die beste aller Welten, in<br />

der die Geschichte nun zur Vernunft kommen und ihre wohlverdiente Ruhe finden<br />

konnte. <strong>Die</strong>ser Antifunktionalismus war tendenziell volkstümelnd. Er diente sich nicht<br />

den Bildungseliten, sondern den kleinen Leuten an. Er setzte sie und ihr tägliches<br />

Tun und Treiben architektonisch in Szene. Er huldigte ihrem Fleiß und ihren<br />

Tugenden, ihren Sitten und Gebräuchen. Und vor allem ermunterte er sie dazu, so<br />

zu bleiben, wie sie waren und ihr nationales, kulturelles, klassenmäßiges oder<br />

sonstiges Wesen zu bewahren. <strong>Die</strong> Architektone des gegenwarts-zentrierten<br />

Antifunktionalismus spiegelten über ihre volkstümelnde Ornamentik den kleinen<br />

Leuten deren Verharrungsängste als Beharrungskräfte zurück, auf die sie stolz sein<br />

konnten und derer sie sich bedienen sollten, um den Wogen der Modernisierung zu<br />

trotzen. Im Unterschied zum historisch-zentrierten suchte sich der gegenwarts-<br />

zentrierte Antifunktionalismus nicht in der vergangenen Bewegung, sondern im<br />

endgültigen Stillstand der Geschichte zu verankern, indem er seine Architektone an<br />

die Trägheit der Massen fesselte. Aber wie den Poeten der Historie, war auch den<br />

Poeten der ewigen Gegenwart die profane Nutzung ihrer Bauten letztlich<br />

gleichgültig.<br />

Im Verlaufe der Entstehung (30er Jahre), Festigung (40er und 50er Jahre)<br />

und schließlich beginnenden Auflösung (60er Jahre) der organisierten Moderne,<br />

machten zwei dieser Strömungen in deren westlichen Gesellschaften steil Karriere,<br />

und zwar der maschinen-zentrierte Funktionalismus, der als »Modernismus« und der<br />

historisch-zentrierte Antifunktionalismus, der als »Postmodernismus« in die<br />

Architekturgeschichte einging.<br />

Auf den ersten Blick schienen beide nichts miteinander gemein zu haben,<br />

denn nicht nur begrifflich, auch programmatisch gab sich der »Postmodernismus«<br />

offen als Feind und Überwinder der Stadt- und Wohnmaschinen-Architektur zu<br />

erkennen, die in der Blütezeit der organisierten Moderne alltagsweltlich Gestalt<br />

annahm. Gegen die Monotonie der Räume, die Einförmigkeit der Wohnsilos und die<br />

Öde der Satellitenstädte, gegen die ganze Tristes und Kahlheit des »Modernismus«<br />

zog der »Postmodernismus« mit einem, wie Charles Jencks es nennt, „radikalen<br />

Eklektizismus" (Jencks 1980, S. 17) zu Felde, in dem die Ornamentik nicht nur<br />

rehabilitiert, sondern inthronisiert wurde. Dabei überboten sich die verschiedenen<br />

Spielarten des »Postmodernismus« in ihrer baukünstlerischen <strong>Die</strong>nstbeflissenheit<br />

68


gegenüber bildungsbürgerlichen Wahrnehmungserwartungen und „es gibt keinen<br />

Wert, dessen Signatur nicht feilgeboten wird" (Kühne 1985, S. 188).<br />

<strong>Die</strong>se vordergründige Frontstellung beider Architekturfiguren kann leicht<br />

darüber hinwegtäuschen, daß sie de facto Hand in Hand arbeiteten. „Modernismus<br />

und Postmodernismus sind Zwillinge. Der eine ist ein verschwiegener und getarnter,<br />

der andere ein redseliger Feind des Funktionalismus" (Kühne 1985, S. 188),<br />

genauer, des mensch-zentrierten Funktionalismus. In jener Phase, in der sich die<br />

»Poesie der Zukunft« vorwiegend auf der projektiven und publizistischen Ebene mit<br />

Entwürfen und Manifesten Aufmerksamkeit und Gehör verschaffte, waren ihr<br />

mensch-zentrierter und maschinen-zentrierter Funktionalismus zunächst noch eng<br />

miteinander verflochten, um sich dann schrittweise als gleichberechtigte und ding-<br />

technisch gleichwertige Strömungen zu profilieren.<br />

<strong>Die</strong>ses Gleichstellungsverhältnis verschob sich in dem Maße, wie die Projekte<br />

des mensch-zentrierten Funktionalismus in der organisierten Moderne bedeutungs-,<br />

macht- und selbst-technisch blockiert und die des maschinen-zentrierten<br />

Funktionalismus auf die Realisierungsschiene gesetzt und angeschoben wurden.<br />

<strong>Die</strong> Abschottung der Alltagswelten vor dem mensch-zentrierten Funktionalismus<br />

einerseits und die urbane Karriere des maschinen-zentrierten Funktionalismus<br />

andererseits führten dazu, daß der Funktionalismus mit seiner maschinen-<br />

zentrierten Strömung gleichgesetzt und die »Poesie der Zukunft« auf<br />

»Modernismus« herunterbuchstabiert wurde.<br />

Damit hatte der »Postmodernismus«, der sich mit Vorliebe vor den Fehl- und<br />

Mißgeburten des maschinen-zentrierten Funktionalismus spreizte, die in den 50er<br />

Jahren das Licht der Welt erblickten, ein leichtes Spiel, seinen historisch-zentrierten<br />

Antifunktionalismus gegen den Funktionalismus schlechthin und seine radikal-<br />

eklektische »Poesie der Vergangenheit« gegen jedwede »Poesie der Zukunft« zu<br />

mobilisieren. <strong>Die</strong> Architektone des »Modernismus« und des »Postmodernismus«<br />

verstellten gleichermaßen, wenn auch aus gegensätzlichen Perspektiven, den Blick<br />

für den mensch-zentrierten Funktionalismus. Sie ließen ihn im blinden Fleck der<br />

Kontroversen verschwinden und dem Vergessen anheim fallen.<br />

Im Vergleich zu dem in den westlichen Gesellschaften der organisierten<br />

Moderne geführten »Modernismus«/»Postmodernismus«-Streit prallten<br />

Funktionalismus und Antifunktionalismus in der Sowjetunion härter, grundsätzlicher<br />

und früher aufeinander. Auch hier erwies sich der Sozialismus als die organisiertere<br />

69


Moderne, und zwar sowohl im Hinblick auf die Moderne als auch in bezug auf die<br />

Organisiertheit. <strong>Die</strong>s wird in dem Gegensatz zwischen <strong>Leonidow</strong>s Instituts-Entwurf<br />

und der Palast-Architektur exemplarisch erkennbar.<br />

<strong>Leonidow</strong>s Instituts-Konstruktion verkörperte auf idealtypische Art und Weise<br />

einen mensch-zentrierten Funktionalismus, der nicht nur jedweden historisch- oder<br />

gegenwarts-zentrierten Antifunktionalismus ausschloß, sondern auch jeden<br />

maschinen-zentrierten Funktionalismus konsequent abwies. Sein Projekt war nicht<br />

nur über das <strong>Kugel</strong>-Architekton tief im Quellgebiet der Moderne verankert, es wies<br />

sowohl als Gesamtensemble als auch in einzelnen Elementen und<br />

Teilkompositionen weit über die sich formierende organisierte Moderne mit ihren<br />

internen und externen Grenzziehungen hinaus. Und zwar nicht nur was die<br />

Sowjetunion, sondern auch was die westlichen Gesellschaften der organisierten<br />

Moderne betraf.<br />

<strong>Leonidow</strong>s Architekton war grenzenaufhebend und grenzensprengend. Es<br />

öffnete sich nicht nur der Arbeiterklasse, der Bauernschaft oder einer bestimmten<br />

Nation, sondern jedem Menschen, der Menschheit und allen menschlichen Wesen<br />

im All. Es war im besten und ursprünglichsten Sinne des Wortes universell und<br />

liberal. <strong>Die</strong> Instituts-Konstruktion sollte es nicht nur auserwählten, sondern allen<br />

Menschen ermöglichen, sich, um mit Hegel zu sprechen, auf den Kopf, das ist auf<br />

den Gedanken zu stellen, um die Wirklichkeit nach diesem zu erbauen, und zwar die<br />

Ding-Welt, die Gesellschaft und sich selbst.<br />

Und dieser von <strong>Leonidow</strong> projektierte universell offene Möglichkeitsraum war<br />

weder eine Fata Morgana noch ein Paradies. Er war keine Fata Morgana, weil er<br />

ding-technisch realisierbar war und in einer ganz konkreten bedeutungs-, macht-<br />

und selbst-<strong>technischen</strong> Funktionalität des Architektons auskristallisierte. Er war kein<br />

Paradies, weil die Nutzung dieses Möglichkeitsraumes die Menschen immer wieder<br />

auf sich und aufeinander verwies und ihnen ebenso unweigerlich wie dauerhaft<br />

Ungewißheiten, Entscheidungslasten und Selbstdisziplinen aufbürdete, derer sie<br />

sich nicht leichter Hand entledigen konnten.<br />

Gerade weil in <strong>Leonidow</strong>s Projekt die universelle Öffnung der Moderne nicht<br />

als tröstliche Verheißung am Zukunftshorizont schwebte, sondern in bedeutungs-,<br />

macht- und selbst-<strong>technischen</strong> Arrangements verankert war, die sofort ding-<br />

technisch realisierbar waren, stand er den Schließungsprozessen und<br />

Grenzziehungen der organisierten Moderne im Wege.<br />

70


Von daher kann die Palast-Architektur als der überaus erfolgreiche Versuch<br />

angesehen werden, die architektonischen Hindernisse, die die „<strong>Leonidow</strong>erei" der<br />

Einhegung und Abschottung der Moderne entgegen zu stellen gedachte, rechtzeitig<br />

und gründlich aus dem Weg zu räumen. Dabei verdankte sich dieser Erfolg nicht<br />

allein der Tatsache, daß die Palast-Architektur die sich ausbreitenden Bedeutungs-,<br />

Macht- und Selbst-Techniken der organisierten Moderne im Rücken hatte, sondern<br />

auch einer eigenen Leistung, deren Bedeutung keinesfalls unterschätzt werden<br />

sollte.<br />

Dem „Empire"/„Zuckerbäcker"-Stil gelang es nämlich drei<br />

Architekturströmungen gegen die „<strong>Leonidow</strong>erei" zu mobilisieren und auf eine<br />

mustergültige Art und Weise in sich zu verschmelzen. Bei der Monumentalisierung<br />

der Bauten und der Instrumentalisierung der Räume stützte sich die „Empire"-Seite<br />

der Palast-Architektur wesentlich auf den maschinen-zentrierten Funktionalismus,<br />

während sich ihre „Zuckerbäcker"-Seite bei der Ornamentierung der Fassaden<br />

sowohl des historisch- als auch des gegenwarts-zentrierten Antifunktionalismus<br />

bediente. Hinter dem naiven und pompösen Eklektizismus der Palast-Architektone<br />

verbarg sich mindestens in vierfacher Hinsicht eine ordnungstechnische<br />

Meisterleistung.<br />

Erstens konnte die Palast-Architektur auf das reichhaltige Reservoir<br />

funktionalistischer Entwürfe zurückgreifen und sich deren Formensprache zu Nutze<br />

machen, um den eigenen Architektonen eine funktionalistische Pose zu verleihen,<br />

die eine »Poesie der Zukunft« bezeugen sollte. So schimmerte etwa durch die<br />

ornamentbekrusteten Palast-Entwürfe von Helfreich, Stschuko und lofan oder den<br />

baukünstlerisch aufgeheizten Turm der Lomonossow-Universität immer wieder der<br />

technoide Skyscraper hindurch.<br />

Zweitens betrat die Palast-Architektur mit der Entfaltung des gegenwarts-<br />

zentrierten Antifunktionalismus ein bis dahin noch wenig erschlossenes Neuland.<br />

<strong>Die</strong> Vergötterung des Arbeiters, die Anbetung des Bauern, die Verehrung des<br />

Intellektuellen und die Vergötzung der Aktivisten konnte zwar diverse Anleihen in<br />

der Architektur- und Kunstgeschichte machen, mußte jedoch letztlich eine eigene<br />

Formensprache und Symbolik entwickeln, in der der Kotau vor den kleinen Leuten<br />

und das Paradiesische der Gegenwart allgemeinverständlich und unzweideutig zum<br />

Ausdruck kamen.<br />

71


Drittens gelang der Palast-Architektur eine, fast möchte man sagen<br />

grandiose, Synthese von historisch- und gegenwarts-zentriertem<br />

Antifunktionalismus. In den Figuren der Alltagshelden verschmolzen Fürst Newski,<br />

Iwan der Schreckliche, Budjonny, Kosak und Mushik zu einer Person. <strong>Die</strong> bebilderte<br />

Beschwörung der Qualen zaristischer Leibeigenschaft ging nahtlos in die Verklärung<br />

ihrer ländlichen Idyllen über. Im Emblem der Traktoristin schlug Mütterchen Rußland<br />

höchstpersönlich die Ernteschlachten. In dieser Synthese konnte sich die Palast-<br />

Architektur nicht nur gleichermaßen dem Professor und dem Analphabeten<br />

andienen, sondern sich auch plebejisch-liberal in Positur werfen.<br />

Viertens schließlich profitierte die Palast-Architektur davon, daß Architekten,<br />

die den mensch-zentrierten Funktionalismus in den 20er Jahren wesentlich<br />

beeinflußt und befördert hatten, wie beispielsweise die Gebrüder Wesnin, seit Beginn<br />

der 30er Jahre zunehmend dazu übergingen, sowohl dem maschinen-<br />

zentrierten Funktionalismus als auch dem historisch- und gegenwarts-<br />

zentrierten Antifunktionalismus in ihren Projekten breiten Raum zu geben und auf<br />

eigene Weise ideenreich miteinander zu verbinden. Der oben erwähnte, unter<br />

Mitarbeit von Ginsburg entstandene Narkomtjashprom-Entwurf mit seinen<br />

ornamentierten Triumphbogen-Glashochhäusern machte dies drastisch deutlich.<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse dieser Synthetisierungsarbeit konnte die Palast-Architektur<br />

übernehmen und in ihre Projekte einarbeiten, was es ihr ermöglichte, sich auch<br />

Bruchstücke der mensch-zentrierten Variante des Funktionalismus phrasierend<br />

einzuverleiben.<br />

Fest verankert im herrschenden Stand der Bedeutungs-, Macht- und Selbst-<br />

Techniken der organisierten Moderne und vierfach abgestützt in der »Poesie der<br />

Zukunft« und der »Poesie der Vergangenheit«, war die „Empire"/„Zuckerbäcker"-<br />

Architektur im Vergleich zum »Modernismus« und »Postmodernismus« in der Tat die<br />

organisiertere Form, in der sich die Moderne gegen die „<strong>Leonidow</strong>erei" abschottete.<br />

<strong>Die</strong>ser höhere Organisiertheitsgrad verlieh der Palast-Architektur nicht nur Stabilität,<br />

sondern auch eine große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Veränderungen im<br />

herrschenden Stand der Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken konnte sie<br />

durch Balance-Verschiebungen zwischen Funktionalismus und Antifunktionalismus<br />

zunächst grob und durch ein Austarieren ihrer jeweiligen Strömungen dann auch fein<br />

ausgleichen.<br />

Bereits viele Male tot gesagt, verlieh ihr diese hohe Adaptionsfähigkeit ihres<br />

ding-, bedeutungs-, macht- und selbst-<strong>technischen</strong> Passungsprofils ein langes und<br />

72


zähes Leben. Nicht nur auf dem Gipfelpunkt ihrer architekturgeschichtlichen<br />

Karriere, sondern auch und gerade in ihrem Untergang war sie dynamisch und<br />

erfinderisch. Und es steht zu befürchten, daß sie nach ihrem Tod in neuen<br />

architektonischen Verkleidungen aufersteht. <strong>Die</strong>se Befürchtung stützt sich zunächst<br />

auf die Nachgeschichte der Palast-Architektur und die Verwandlungskünste, die sie<br />

in ihrem Untergang entwickelte.<br />

6. <strong>Die</strong> Nachgeschichte: Untergang und Verwandlung der Paläste<br />

Der Untergang der Paläste vollzog sich in zwei Richtungen, die von anfang an sehr<br />

eng zusammenspielten. <strong>Die</strong> erste betraf den Palast als exklusiven und zentralen<br />

Versammlungsraum des Landes, in dem sich die kleinen Leute symbolisch als<br />

Delegierte der Partei-, Staats-, Gewerkschafts- und Massenorganisationen oder<br />

ganz irdisch als Besucher von Theater-, Opern-, Ballett- und sonstigen Kultur- und<br />

Festveranstaltungen zusammenfinden sollten. <strong>Die</strong> zweite betraf den Versuch, allen<br />

kleinen Leuten in der sozialistisch organisierten Moderne Paläste zur Verfügung zu<br />

stellen, in denen sie sich tagtäglich aufhalten konnten.<br />

Der Untergang des Palastes als sakrales und profanes<br />

Versammlungszentrum des Volkes begann mit seiner Errichtung. Ein Palast-Bau,<br />

dem das Projekt lofans zugrunde lag, wurde noch vor dem zweiten Weltkrieg in<br />

Angriff genommen, jedoch nie ausgeführt. Während der Belagerung Moskaus mußte<br />

das bereits aufgeführte Stahlskelett abgetragen werden. Nach Kriegsende wurde<br />

dann die Bauaufgabe erneut aber ergebnislos diskutiert. In dem ausgebluteten und<br />

zerstörten Land hatten zunächst andere repräsentative Wohnungs-, Wissenschafts-,<br />

Verkehrs- und Industriebauten, wie etwa die Moskauer Hochhäuser, die<br />

Lomonossow-Universität, die Metro-Stationen oder der Wolga-Don-Kanal, Vorrang.<br />

Ad acta gelegt indes wurde das Projekt eines Zentral-Palastes nicht. Es gab<br />

nämlich eine zwar späte, nichtsdestoweniger sehr aufschlußreiche architektonische<br />

Antwort auf all die Projekte und Entwürfe, die in den 20er Jahren zunächst um den<br />

„Palast der Arbeit" und dann seit den 30er Jahren um den „Palast der Sowjets"<br />

kreisten. Es war dies der „Kongreßpalast im Moskauer Kreml" (1961) (Vogt 1990, S.<br />

66). <strong>Die</strong>ses im Hinblick auf die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der<br />

Oktoberrevolution projektierte und gebaute Architekton wurde von einem<br />

73


Architektenteam entworfen, das unter der Leitung von Michail Possochin stand.<br />

Neben dem Kernstück, einem Kongreß- und Theatersaal, der sechstausend<br />

Menschen Platz bietet, gab es einen darüberliegenden großen Bankettsaal sowie<br />

eine Vielzahl von Tagungs- und Versammlungsräumen. Ein Vergleich dieses<br />

Palastes mit den zuvor genannten Zentral-Palästen ist nicht nur im Hinblick auf<br />

seine Funktion und Größe gerechtfertigt, sondern auch in bezug auf den Standort,<br />

die Lage und die Fassade sehr instruktiv.<br />

Der Standort: Im Gegensatz zu den Projekten für die anderen Zentral-Paläste<br />

befand sich der Kongreßpalast nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der<br />

Kremlmauern. Der zentrale Versammlungs- und Kulturraum der kleinen Leute war<br />

vollständig in die bedeutungs- und macht-technische Geschäftszentrale des Landes<br />

integriert.<br />

<strong>Die</strong> Lage: Um zu verhindern, daß dieser Raum, einschließlich der<br />

dazugehörigen Infrastruktur, in seiner Dimensionierung übermächtig wurde und den<br />

Kreml architektonisch dominierte oder gar aufsprengte, war der Palast in den Boden<br />

versenkt. <strong>Die</strong> Versammlungen und Kulturveranstaltungen fanden unter den<br />

Eßtischen im Erdreich statt und waren somit räumlich konsequent in das<br />

Gesamtensemble eingeordnet. Ein architektonischer Tatbestand, der sich auch so<br />

ausdrücken ließ: „<strong>Die</strong> schwierige Aufgabe, im historischen Ensemble des Kremls ein<br />

heutigen Anforderungen entsprechendes, repräsentatives Bauwerk zu schaffen,<br />

meisterten die Architekten auf überzeugende Weise. Eine Pfeilerreihe gliedert den<br />

rechteckigen Baukörper. Das Erdgeschoß wurde um eine halbe Geschoßhöhe<br />

abgesenkt, so daß der Besucher nach unten in die Vorhalle geführt wird. Von dort<br />

gelangt er über Treppen oder mit Aufzügen zum sechstausend Personen fassenden<br />

Kongreß- und Theatersaal oder zu den Nebenräumen." (Major 1994, S. 501).<br />

<strong>Die</strong> Fassade: Hier überwog Sachlichkeit - der Amerikanismus wagte sich aus<br />

dem Inneren des Gebäudes, sprich aus der Erde, wieder an die Oberfläche hervor.<br />

Das war dem Vereinigungssymbol von revolutionärem Schwung und amerikanischer<br />

Sachlichkeit, also der Figur Lenins, nicht beschieden, denn ihr blieb es vorbehalten,<br />

die Stirnseite des Kongreßsaals zu zieren.<br />

Der Zentral-Palast der kleinen Leute verkroch sich im Kreml in die Erde. In<br />

der von künstlichem Licht erhellten Katakombe traf sich die politische Avantgarde in<br />

der architektonischen Illegalität. Im Vergleich zu lofans Projekt war hier der Palast<br />

versunken. Nur das Dach des Architektons lugte über die Kreml-Mauern hinaus.<br />

74


<strong>Die</strong> zweite Richtung, in der der Palast unterging und die gerade in der DDR<br />

sehr anschaulich zu Tage trat, vollzog sich in dem Versuch, jedem Bewohner des<br />

„Arbeiter-und-Bauern-Paradieses" einen kleinen Palast zur Verfügung zu stellen Der<br />

Begriff des Paradieses ist hier nicht ironisch oder gar zynisch eingesetzt. Gewiß,<br />

wann immer die DDR von ihren Gegnern oder ihren eigenen Bürgern als „Arbeiter-<br />

und-Bauern-Paradies" bezeichnet wurde, schwang in solchen Reden zumeist ein<br />

sarkastischer Unterton mit. Dennoch, völlig schief war dieses Bild nicht. Im Vergleich<br />

mit vielen anderen sozialistischen und nichtsozialistischen Gesellschaften der<br />

organisierten Moderne besaß diese „Gesellschaft der kleinen Leute" (Gaus 1987, S.<br />

31 ff.) in der Tat paradiesische Züge. Und zwar nicht nur was die propagandistischen<br />

Verheißungen, sondern auch was die Alltags-, insbesondere die Arbeitswelten der<br />

Menschen (Marz 1991; Marz 1993a) und deren freiwilligen und unblutigen Auszug<br />

aus ihrer sozialen Welt anbetraf (Marz 1993b).<br />

Im Arbeiter-und-Bauern-Paradies sollten und wollten die Knechte von gestern<br />

wie Herren leben und wohnen. <strong>Die</strong> vorhandenen Schlösser, Villen, Palais, Burgen<br />

und Gutshäuser der ehemals Mächtigen reichten dafür nicht aus. An diesem Mangel<br />

setzte der „Empire u /„Zuckerbäcker"-Stil an und machte es sich zur Aufgabe, den<br />

kleinen Leuten den ihnen gemäßen Raum zu verschaffen. Platzfragen spielten kaum<br />

eine, im Grunde gar keine Rolle. Wo kein Platz war, konnte er geschaffen werden.<br />

Was sich der neuen Sakralarchitektur baulich entgegenzustemmen drohte, lies sich<br />

mit Hinweis auf die ohnehin zerstörten Städte und die elementaren Wohn- und<br />

Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschen niederwalzen oder wegsprengen.<br />

Vom sozialen Prinzip her konnten die neuherrschaftlichen Architektone ungehindert<br />

die Erde besetzen und sich in alle Himmelsrichtungen breit machen. <strong>Die</strong>s verführte<br />

dazu, mit dem Raum verschwenderisch umzugehen und ihn großflächig totzulegen.<br />

<strong>Die</strong>se Seite des „Zuckerbäckerstils" wurde in der Berliner Stalin-Allee sehr<br />

schnell spürbar: <strong>Die</strong> später auch teilweise als Paradierstraße genutzte Magistrale<br />

wurde ursprünglich als Arbeiter-und-Bauern-Boulevard projektiert. Wer sich hier<br />

jedoch zu einem Einkaufsbummel anschickte, sah sich zu ausgedehnten<br />

Fußmärschen genötigt, um den Geschäften seiner Wahl einen Besuch abzustatten.<br />

Und wer dort abends zu flanieren gedachte, war in aller Regel allein. Spätestens ab<br />

19. 30 Uhr, spottete der Volksmund, würden hier die Bürgersteige hochgeklappt.<br />

<strong>Die</strong>se, außenräumlich verschwenderische und innenräumlich großzügige Art<br />

des Palast-Wohnungsbaus stieß jedoch seit Ende der 50er Jahre zunehmend an<br />

75


eine Reihe bedeutungs-, macht- und selbst-technischer Grenzen. <strong>Die</strong> handwerklich-<br />

unikathafte wich der industriell-serienmäßigen Großplatten-Produktion von Arbeiter-<br />

und-Bauern-Palästen, allerdings um den Preis einer drastischen Verringerung ihrer<br />

Größe. Der Wohnpalast mutierte zur Wohnzelle. <strong>Die</strong> von den kleinen Leuten heiß<br />

ersehnten Neubauwohnungen wurden von ihnen „Arbeiterschließfächer" (Müller<br />

1990, S. 92) oder, drastischer, „Fickzellen mit Fernheizung" (Müller 1996, S. 7)<br />

genannt. <strong>Die</strong>se Bezeichnungen waren in mehrfacher Hinsicht analytisch treffsicher.<br />

Im Vergleich zu den Anfang der 50er Jahre in der früheren Stalin- und<br />

späteren Karl-Marx-Allee gebauten Wohnungen, schrumpften die Zimmer in den in<br />

den 70er und vor allem 80er Jahren in Hellersdorf oder Marzahn errichteten Serien-<br />

Unterkünften in der Tat auf Zellen zusammen, was etwa in dem Bild „Fließfertigung"<br />

von Ulf Raecke (IX. Kunstausstellung 1982/83, S. 251) deutlich zum Ausdruck<br />

gebracht wurde. Und zwar auf Zellen, in deren räumlicher Enge sich die Menschen<br />

der Gefahr ausgesetzt sahen, sich letztlich nur noch begatten oder schlagen zu<br />

können, wie das Bild »Wände« von Wolfgang Peuker (IX. Kunstausstellung<br />

1982/83, S. 84) dem Betrachter in bestürzender Eindringlichkeit vor Augen führte.<br />

<strong>Die</strong> Menschen spürten, daß ihre Lebensräume zugleich einer Über- und<br />

Unterfunktionalisierung unterlagen. In die Wohnzellen wurden so viele Funktionen<br />

hineingestopft, daß sich deren Entfaltungsversuche, wechselseitig blockierten oder<br />

im Keim erstickten. Der Aufgabe, über ihre elementarsten Grundfunktionen hinaus<br />

zugleich auch noch als botanischer Garten, Nähstube, Hobbywerkstatt,<br />

Studierzimmer, Jugendclub, Vorratsspeicher, Abstellkammer, Versammlungssaal,<br />

Herberge, Gaststätte oder Pflegeheim zu dienen, war die Wohnzelle trotz des<br />

innenarchitektureilen Erfindungsreichtums seiner Bewohner beim besten Willen<br />

räumlich nicht gewachsen. Sehr kraß kam die Unterfunktionalisierung des seriellen<br />

Arbeiter-und-Bauern-Palastes darin zum Ausdruck, daß er seiner demographischen<br />

Basisfunktion immer weniger Raum gab, denn in den Wohnzellen überstauten sich<br />

die Gegenstände und Menschen und nachts dirigierten die räumlichen Distanzen zu<br />

den Zellengenossen und -nachbarn die Umarmung der Liebenden.<br />

Während der „Empire"/„Zuckerbäcker"-Stil den kleinen Leuten ursprünglich<br />

nur wenig Gelegenheit gab, selbst aktiv raumgestalterisch und raumkünstlerisch<br />

wirksam zu werden, bot und erzwang die Palastzellen-Ärchitektur größere<br />

Spielräume. <strong>Die</strong>se Spielräume wurden durch eine Massenbewegung im<br />

ursprünglichsten Sinne des Wortes, und zwar eine von »oben« und »unten«<br />

76


gleichermaßen engagiert und initiativreich vorangetriebene Zellenbekunstung,<br />

genutzt. Der in der Palastzelle erlittene eklatante Raumverlust zwang die meisten<br />

Menschen sich auf „Prothesen der Raumbewältigung" (Kühne 1985, S. 175) zu<br />

stützen. Drei Prothesen verliehen dem Schmerz der Raumamputation besonders<br />

eindringlich Ausdruck.<br />

<strong>Die</strong> erste Prothese war das Zitieren von Naturräumen. Von »oben« und<br />

außen wurden die Fassaden der Gebäude mit Landschaftsgemälden oder<br />

Tierdarstellungen bebildert, wie beispielsweise ein Wohnhaus in Leipzig mit der<br />

Malerei „Volkssport" von Thomas Liebscher (IX. Kunstausstellung 1982/83, S. 136),<br />

oder ein Kindergarten in Marzahn mit der Zeichnung „Tiere der Mark" von Horst<br />

Göhler (IX. Kunstausstellung 1982/83, S. 132). Von »unten« und innen beklebten<br />

die Bewohner die Wände ihrer Zellen mit Landschaftstapeten, auf denen zumeist<br />

Wälder, Wiesen oder Wasserfälle dargestellt waren.<br />

<strong>Die</strong> zweite Prothese war das Zitieren von Raumweite. Auf der Außenhaut<br />

wurden den Architektonen Wandbilder wie etwa „Reflexion" von Lutz Brandt (IX.<br />

Kunstausstellung 1982/83, S. 136), „Phantastische Welt von morgen" von Siegfried<br />

Schütze und Bernd Martin (IX. Kunstausstellung 1982/83, S. 131) oder<br />

„Straßenbahn" von Lothar Scholz (X. Kunstausstellung 1987/88, S. 210)<br />

auftätowiert, die Raumperspektive und Raumgröße simulierten. In den Baikonen der<br />

Neubaublöcke ließen die Einwohner kein Mittel unversucht, um die<br />

Wohnzellenvorsprünge optisch zu Veranden hochzustylen.<br />

<strong>Die</strong> dritte Prothese schließlich war das Zitieren von Palastigkeit. „Wo dem<br />

Individuum harmonischer Raum versagt ist", schrieb Lothar Kühne, „weicht es in die<br />

Gegenständlichkeit aus und diese blüht paradiesisch auf (Kühne 1985, S. 175). Der<br />

erhoffte Palast schrumpfte auf Schließfach-Größe zusammen und die<br />

Inneneinrichtung sollte den Raumverlust kompensieren. Der Einsatz ausladender<br />

Schrank- und Sitzmöbel stieß selbstredend schnell an Grenzen. Wo diese erreicht<br />

und überschritten waren, mußte auf kleinere Gegenstände zurückgegrifffen werden,<br />

beispielsweise auf Gläser mit fürstlichem Schliff und Dekor, die in der Vitrine der<br />

Schrankwand ausgestellt wurden. Auch hier arbeiteten die kleinen Leute »oben«<br />

und »unten« Hand in Hand. In einer Besprechung des nichtornamentierten<br />

Preßglassortiments »EUROPA« wies Dagmar Lüder 1975 darauf hin, „daß es ein<br />

Preßglas wie EUROPA für den Binnenhandel nicht gibt, daß zur Zeit überhaupt kein<br />

undekoriertes und ungeschliffenes Glas angeboten wird" (Lüder 1975, S. 13).<br />

77


Sowohl in der Schrumpfung des Wohnpalastes zur Wohnzelle als auch in der<br />

palastigen Bekunstung dieser Zellen feierte der „Empire"/„Zuckerbäcker"-Stil seinen<br />

bislang letzten architektonischen Triumph. Aber es war auch ein Pyrrhussieg, denn<br />

nicht wenige DDR-Bürger verbanden in der ersten Wende 1989 mit ihrem Abschied<br />

vom großen Arbeiter-und-Bauern-Paradies die Hoffnung, auch den kleinen Raum-<br />

Paradiesen ihrer Palastzellen entrinnen zu können. Und ihrem Wunsch, dies<br />

möglichst schnell, verlustarm und endgültig zu tun, verliehen sie in der zweiten<br />

Wende 1990 nachhaltig und unmißverständlich Ausdruck: Der Schlachtruf »Wir sind<br />

das Volk« wich der Losung »Wir sind ein Volk«.<br />

Mit der Selbstauflösung der DDR und dem kollektiven Beitritt ihrer Bürger zur<br />

Bundesrepublik fand die Palast-Architektur ein vorläufiges, aber möglicherweise<br />

nicht endgültiges Ende. Mit Blick auf den Start der im November 1996 angelaufenen<br />

Berliner »Masterplan«-Debatte wäre es nicht ganz unwahrscheinlich, daß zumindest<br />

ein wesentlicher Charakterzug dieser Architektur, nämlich der historisch-zentrierte<br />

Antifunktionalismus und die durch ihn beschworene »Poesie der Vergangenheit« im<br />

21. Jahrhundert wieder beachtliche Triumphe feiert. Aber dies ist ein neues und<br />

gegenwärtig noch weitgehend offenes Kapitel der Architekturgeschichte.<br />

78


POESIE DER VERGANGENHEIT<br />

Zum Anlauf der »Masterplan«-Debatte


Um die Losung »Wir sind ein Volk«, unter der die DDR-Deutschen ihren Beitritt zur<br />

Bundesrepublik erzwangen, kreiste der Start einer Debatte, die sieben Jahre nach<br />

der legendären Wende und sechs Jahre nach der Selbstauflösung der DDR im<br />

November 1996 anlief. Anlaß dieser Debatte war das, auch als „Cityplan" (Berliner<br />

Zeitung) oder „Masterplan" (Tagesspiegel) bezeichnete „Planwerk Innenstadt" (die<br />

tageszeitung/scheinschlag). <strong>Die</strong>ses Planwerk wurde unter der Schirmherrschaft des<br />

Berliner Senators für Stadtentwicklung, Peter Strieder, vom Staatssekretär Hans<br />

Stimmann in Auftrag gegeben und von <strong>Die</strong>ter Hoffmann-Axthelm und Bernd Albers<br />

für die City Ost und Fritz Neumeyer und Manfred Ortner für die City West erarbeitet.<br />

Daß die Debatte zunächst nicht nur kontrovers, sondern teilweise auch<br />

erbittert und verbittert geführt wurde, resultierte zum einen aus der unmittelbaren<br />

Vor- und Entstehungsgeschichte des Cityplanes. Bereits 1991 wurde unter<br />

Federführung von Stimmann und Mitarbeit von Hoffmann-Axthelm ein Regelwerk zur<br />

„kritischen Rekonstruktion der Stadt" erarbeitet, das sich „von vornherein als<br />

Kreuzzug gegen den DDR-Städtebau" erwies, „der als »Störung« des<br />

Stadtgrundrisses betrachtet wurde" (Bodenschatz 1996). Als dann bei den auf<br />

diesem Regelwerk fußenden Masterplanungen „wesentliche Teile fachlich<br />

Qualifizierter und politisch Engagierter fast konspirativ von diesem Prozeß<br />

ausgeschlossen wurden" (Dreyer 1996), war „frontaler Widerstand programmiert"<br />

(Klemann 1996) und es stand zu befürchten, daß nicht wenige Menschen das<br />

Planwerk Innenstadt „als Aggressionsakt erleben" (Hain 1996) würden. <strong>Die</strong>se<br />

„bemerkenswerte Überheblichkeit bei der Planung" (Kleemann 1996) führte in Ost-<br />

wie West-Berlin und quer durch alle Parteien und Parteiungen zu erheblichen<br />

Verstimmungen. <strong>Die</strong> Erbitterung erwuchs jedoch nicht nur aus der Form, in der das<br />

Planwerk Innenstadt das Licht der Öffentlichkeit erblickte, sondern vor allem aus<br />

dessen Inhalten, genauer, aus dem sozialpsychologischen Punkt, an dem es bei den<br />

Menschen ansetzte und den architektonischen Hebeln, mit denen es sie ins 21.<br />

Jahrhundert zu dirigieren gedachte.<br />

Was zunächst den sozialpsychologischen Ansatzpunkt des Cityplanes<br />

anbelangte, verriet der Streit sehr schnell, daß die Masterplaner mit ihrem Projekt<br />

nicht nur viele Menschen verfahrenstechnisch und demokratisch unangenehm<br />

berührten, sondern damit bei ihnen direkt in eine offene Wunde stießen, nämlich in<br />

ihr tiefes und ungestilltes Verlangen nach der deutschen Einheit. Der Schmerz, den<br />

81


dieser Vorstoß verursachte, war nicht nur erheblich und parteiübergreifend, er<br />

verband auch Protagonisten und Kritiker des Planwerkes.<br />

„Nun wächst zusammen, was zusammen gehört?" (Hain 1996, S. 8) war die<br />

analyseleitende Frage, die sich die Kunsthistorikerin Simone Hain bei ihrer<br />

grundsätzlichen Kritik und kategorischen Abweisung des Masterplanes stellte. Aber<br />

genau darauf ziele doch das Planwerk, erklärten seine geistigen Väter. Es ginge<br />

doch gerade darum, Berlin „zur Szene der Vereinigung" (Hoffman-Axthelm/Albers<br />

1996a, S. 6) zu machen und „nach der administrativen Vereinigung auch das<br />

mentale Zusammenwachsen Berlins voranzutreiben" (Strieder 1997). <strong>Die</strong>ses Ziel<br />

nicht nur verfehlt, sondern mit den Masterplanungen geradezu konterkariert zu<br />

haben, bescheinigte der Bau- und Verkehrssenator Jürgen Klemann (CDU) seinem<br />

SPD-Kollegen, indem er darauf verwies, daß dieser „völlig verkannt (habe), welche<br />

Empfindungen und Sensibilitäten gerade im Ostteil der Stadt ausgelöst werden,<br />

wenn man Planern, Architekten und Bürgern in dieser Weise mit einem solchen Plan<br />

zu nahe tritt" (Kleemann 1996). Mit seiner Auffassung, daß man damit das Planwerk<br />

zu einem „Schubladenprojekt" (Kleemann 1996) mache, stand Kleemann nicht allein.<br />

So meinte Sabine Ritter von den Bündnisgrünen, daß der Masterplan zum großen<br />

Teil „ein Ding fürs Klo" (zit. nach Lautenschläger 1997) sei und Thomas Flierl, der<br />

kulturpolitische Sprecher der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus, forderte<br />

„Stadtvertrag vor Planwerk" und rief dazu auf, „die kulturelle Einigung der Stadt<br />

diskursiv zu vollziehen" (Flierl Th. 1996). Für einen solchen Diskurs plädierte auch<br />

der Architekturtheoretiker Bruno Flierl, „damit wir als geteilte Stadt in die Zukunft<br />

hinein eine gemeinsame Identität suchen und finden" (Flierl B. 1996).<br />

Es war auffällig, daß sich in der ansonsten thematisch breit gefächerten und<br />

inhaltlich tief gestaffelten Planwerk-Debatte immer dann, wenn von „mentalem<br />

Zusammenwachsen", „Vereinigung" oder „kultureller Identitätsfindung" die Rede war,<br />

die Argumentationsperspektive rapide auf die deutsch/deutschen Befindlichkeiten<br />

verengte. <strong>Die</strong> Diskussion öffnete sich nur wenig und bei manchen Diskutanten<br />

überhaupt nicht den Ausländern, dem Ausland und dem Fremden. Auch die<br />

akademisch profiliertesten und politisch engagiertesten Wortmeldungen machten da<br />

keine Ausnahme. So referierte beispielsweise Simone Hain ausführlich Tourains<br />

„These von der 80:20 Ausgrenzung als möglichem neuen europäischen<br />

Gesellschaftsmodell" (Hain 1996, S. 9), was sie zum „Problem der Integration"<br />

führte, um es dann - alle in der Stadt lebenden Ausländer überspringend und nicht<br />

82


mit einem Wort erwähnend - sofort mit Hilfe des Psychotherapeuten der deutschen<br />

Einheit, Hans-Joachim Maaz, auf die Ostberliner Ausgrenzungserfahrungen und -<br />

ängste herunterzubuchstabieren, kleinzuargumentieren und bis zum letzten Satz<br />

nicht mehr zu verlassen.<br />

Während hier noch das Fremde sang- und klanglos zwischen den Zeilen<br />

verschwand, tauchte es in anderen Wortmeldungen sehr wohl auf, allerdings in eher<br />

bedrohlicher Gestalt, wie etwa in der Vokabel „Städtekonkurrenz" (Mönniger 1996).<br />

Peter Strieder, der versicherte, daß er und seine Masterplaner mit dem „Planwerk<br />

auf Integration und nicht auf Kulturkampf Ost-West" setzten, wollte stattdessen viel<br />

lieber „die Konkurrenzfähigkeit Berlins im europäischen Vergleich gestärkt" sehen<br />

(Strieder 1997). Und für <strong>Die</strong>ter Hoffmann-Axthelm und Bernd Albers war der heutige<br />

Zustand des Zentrums „im Rahmen internationaler Städtekonkurrenz ein<br />

Entwicklungshindernis" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 6). Nach Begriffen wie<br />

„Städtekooperation" und „Städtepartnerschaft", oder gar argumentativen<br />

Fingerzeigen, die in eine solche Richtung wiesen, suchte man in diesen<br />

Wortmeldungen vergeblich.<br />

Gegenüber den Ausländern in der Stadt dominierte Selbstvergessenheit,<br />

gegenüber dem Ausland Rivalitätsangst. Beides, die ost-westliche Sehnsucht nach<br />

der mentalen Vereinigung und die gemeinsame Furcht im vorgestellten Wettlauf der<br />

Städte zu unterliegen, legte die Versuchung nahe, in Berlin Deutschland und die<br />

Nation zu mobilisieren, um in ihnen Trost und Kraft zu finden. <strong>Die</strong> Westberliner<br />

Planer für die Ostcity, <strong>Die</strong>ter Hoffmann-Axthelm und Bernd Albers wollten, daß<br />

Berlin nicht nur „zum politischen Bezugspunkt für die Gesamtheit der 80 Millionen<br />

Bundesbürger", sondern generell zum „Hauptort der neuen Bundesrepublik" wird<br />

(Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 6). Und für Innensenator Jörg Schönbohm war<br />

Berlin „nicht mehr länger die Summe seiner Kieze, sondern repräsentiert die Mitte<br />

Deutschlands in der Weltöffentlichkeit" (zit. nach Rada 1996, S. 2).<br />

Zum Schauplatz der architektureilen Mobilisierung der Nation hatten sich die<br />

Masterplaner die Mitte des Hauptortes auserkoren, genauer, „die Historische Mitte -<br />

insbesondere den Kernbereich Alt-Berlin, Alt-Cölln und südlichen Friedrichswerder"<br />

(Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 6). Damit die Deutschen in diesem Zentrum<br />

des Zentrums der Nation tatsächlich mental zusammenwachsen, darf es ihnen<br />

selbstredend nicht äußerlich oder gar fremd bleiben. Es muß vielmehr zu ihrem<br />

„kulturellen und emotioneilen Mittelpunkt" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 6)<br />

83


werden. Und genau darum, ob und wie dies am besten gelingen kann, drehte sich<br />

der Start des deutschzentrierten Masterplan-Streites.<br />

Für Hoffmann-Axthelm und Albers stellte sich die gegenwärtige und für sie<br />

völlig unhaltbare Situation so dar: Da die Mitte zum „Beziehungsobjekt für die<br />

gesamte Bundesrepublik" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996b) avancierte und der<br />

Regierungsumzug „repräsentativ für das Ankommen der achtzig Millionen<br />

Bundesbürger" (ebd.) ist, drängte sich ihnen zwangsläufig die Frage auf, was denn<br />

die achtzig Millionen Deutschen sehen, wenn sie endlich in ihrem Beziehungsobjekt<br />

angekommen sind. „<strong>Die</strong>se gehen also in das Historische Zentrum und finden dort<br />

keine Mitte, sondern Großwohnanlagen, Schnellstraßen, Freiflächen, dazwischen<br />

einige signifikante Gebäude. Es hilft nichts, dies den Besuchern als Denkmal eines<br />

Staates oder als eines der großen Ensembles der städtebaulichen Moderne zu<br />

erklären" (ebd.), denn „dies sind Nachrichten an eine kognitiv gesteuerte Intelligenz,<br />

der jede einigermaßen selbstbewußte Wahrnehmung widerspricht" (Hoffmann-<br />

Axthelm/Albers 1996a, S. 6).<br />

Und damit sich die selbstbewußte Wahrnehmung der Deutschen von ihrer<br />

kognitiv gesteuerten Intelligenz nicht unterkriegen läßt, muß ihnen nach Ansicht der<br />

beiden Masterplaner ihr emotioneller Mittelpunkt handgreiflich vor Augen geführt<br />

werden. Hoffmann-Axthelm und Albers schlugen deshalb vor, ihn auszugraben und<br />

aufzustellen, „denn jeder Ort, auch wenn er leergeräumt ist, besteht aus der<br />

Überlagerung unterschiedlicher historischer Zustände - der mittelalterlichen, der<br />

barocken, der wilhelminischen Stadt, der Stadt zwischen 1920 und 1945, der ost-<br />

westgeteilten Nachkriegsstadt" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996b). Um den<br />

Deutschen ihre Historische Mitte aufzuzeigen, gelte es deshalb, „wesentliche<br />

Schichten wieder zur Geltung zu bringen" (ebd.).<br />

Solche wesentlichen Schichten waren beispielsweise: „die mittelalterliche<br />

Altstadt, genauer, die um 1240 erfolgte Erweiterung der ältesten Berliner<br />

Stadtsiedlung um ein neues Viertel mit eigener Kirche - der Marienkirche - und<br />

eigenem Markt" (Hoffmann-Axthelm 1997); die „Doppelstadt Berlin/Cölln aus dem<br />

Jahre 1650" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 7); der „Stadtgrundriß der<br />

ehemaligen Königstadt" (ebd.); die „alte Schloßfreiheit, die 1897 dem Denkmal<br />

Wilhelm des l. weichen mußte" (ebd.); der „Fischerkiez" auf der Fischerinsel, an den<br />

durch eine „Umbauung der sechs Hochhäuser mit einer niedrigen Schicht von<br />

kleinen Stadthäusern auf historischem Grundriß" erinnert werden soll (ebd.); das<br />

84


„Berlin innerhalb der Zollmauer des 18. und frühen 19. Jahrhundert" (Hoffmann-<br />

Axthelm/Albers 1996b). Und damit nicht nur die selbstbewußte Wahrnehmung der<br />

Deutschen in Erinnerungen schwelgen kann, sondern auch ihre kognitiv gesteuerte<br />

Intelligenz etwas zu beißen bekommt, wollten die Cityplaner am Marx-Engels-Forum<br />

einen Bau auferstehen lassen, „der an das bis in die 50er Jahre geplante »Zentrale<br />

Gebäude« der DDR erinnern soll" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 7).<br />

Zwar wiesen die beiden Masterplaner der Erinnerung völlig zu recht darauf<br />

hin, daß „es einem nicht frei steht, sich die Geschichte auszusuchen, die einem<br />

gefällt" (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996b), aber das galt für sie nicht in bezug auf die<br />

Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich an der Historischen Mitte der Deutschen<br />

auf unverzeihliche Weise versündigte, indem sie „das Irrationale jahrhundertelangen<br />

<strong>Zur</strong>echtrückens und Gebrauchs weggeschnitten und damit den Stadtplan seiner<br />

Bildfähigkeit entkleidet" hatte (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 6). Um dem<br />

weggeschnittenen Irrationalen wieder eine architektonische Wirkungsmacht zu<br />

verleihen, die der selbstbewußten Wahrnehmung der Deutschen Nahrung<br />

verschafft, mußte nach Ansicht der beiden Master-Poeten der Erinnerung die<br />

„leergelaufene bildlose Mitte" so schnell als möglich „neu aufgefüttert werden, um<br />

als Mitte überhaupt verständlich zu den Menschen reden zu können" und „das für<br />

historische Städte so wesentliche Spiel von Zeigen und Verdecken" wieder in Gang<br />

zu setzen (Hoffmann-Axthelm/Albers 1996a, S. 6).<br />

Das Spiel von Zeigen und Verdecken, das Hoffmann-Axthelm und Albers mit<br />

ihrer Poesie der Vergangenheit zu inszenieren gedachten, kollidierte nun allerdings<br />

mit einer anderen Poesie der Erinnerung. Mehr noch, es zerstörte sie. <strong>Die</strong><br />

historische Mitte, die die Masterplaner ausgraben, aufrichten und bebildern wollten,<br />

zerschnitt, besetzte und zerstörte Erinnerungsräume, in denen sich andere<br />

Deutsche auf ihre historische Mitte besannen. Exemplarisch zeigte sich der<br />

Aufeinanderprall unterschiedlicher Poetiken deutscher Vergangenheit im Areal um<br />

den Fernsehturm.<br />

Hier wollten die Masterplaner die älteste Berliner Stadtsiedlung wieder<br />

aufleben lassen. Aber diese „liegt unter dem heutigen Pflaster. Sie ist in der<br />

Marienkirche und im Rathaus repräsentiert." (Hoffmann-Axthelm 1997) Ansonsten<br />

erinnerte nach Meinung der Cityplaner nichts an sie. Zunächst fehlte ihres<br />

Erachtens vor allem der die alte Stadtsiedlung auszeichnende charakteristische<br />

Markt. Deshalb wünschten sie sich, daß zwischen Rotem Rathaus und dem<br />

85


Hochhaus an der Karl-Liebknecht-Straße „ein weiträumiger Bürgermarkt" (ebd.)<br />

entstehen würde. „Er sollte in zwei Teile getrennt sein, der eine für öffentliche<br />

Kundgebungen oder Versammlungen geeignet, auf dem anderen könnte ein<br />

Wochenmarkt stattfinden. Dazwischen schlagen wir eine Markthalle vor. Das Marx-<br />

Engels-Forum soll ein großer Stadtgarten bleiben. Neben die einsamen Figuren von<br />

Karl Marx und Friedrich Engels sollte ein Volkshaus treten, als Repräsentant des<br />

einst von den DDR-Planern hier vorgesehenen zentralen Gebäudes." (ebd.)<br />

Gegen diese Stadtsiedlungs-Poesie im Herzen der City gab es zunächst ganz<br />

prosaische Einwände. Rita Keil vom Bündnis 90/Grüne fragte, warum die<br />

Masterplaner vor das Rote Rathaus eine Markthalle setzen wollten, „da ist doch<br />

schon ein wunderschöner offener Markt, wozu da noch eine Markthalle? Ein<br />

Stückchen weiter steht übrigens eine Markthalle. Das war mal die größte und älteste<br />

Berlins. <strong>Die</strong> ist 1991 umgebaut worden - zum Shopping Center." (Keil 1996) <strong>Die</strong> von<br />

der PDS nominierte Baustadträtin des Bezirks Mitte, Karin Baumert, sah das ganz<br />

ähnlich: „Eine Markthalle hat die Wohnungsbaugesellschaft Mitte vor einiger Zeit<br />

gerade in ein mittelmäßiges Kleinstadtzentrum umgewandelt. Man verschone uns<br />

mit einem zweiten Versuch. Auch ein Volkshaus brauchen wir nicht. Es gibt das<br />

Volkshaus Palast der Republik, er muß nur wieder eröffnet werden" (Baumert 1997).<br />

Aber gegen die Dorfplanung wurden auch andere Gründe ins Feld geführt,<br />

und zwar ganz poetische „Ihr Plan ist vor allem deshalb so problematisch", warf<br />

Simone Hain den Master-Poeten der Erinnerung vor, „weil er unter anderem den mit<br />

Erinnerungen gefüllten Raum der kleinen urbanen Alltagsroutinen verdichtend<br />

aufzehrt: <strong>Die</strong> Sommerabende der Anwohner im großen Freiraum am Neptunbrunnen<br />

oder an den Parkanlagen an der Friedrichsgracht, die verregneten Sonntage im<br />

»Palast« ebenso wie die Erinnerung an die Momente öffentlich gelebten Glücks auf<br />

dem Alexanderplatz im November '89 oder im »Treibhaus der Demokratie« am Fuße<br />

des Fernsehturms" (Hain 1996, S. 9) Und: „Eben das wird jetzt im Osten eingeklagt -<br />

mit der Faust auf den Tisch und nicht in Unterwerfungshaltung" (ebd.).<br />

<strong>Die</strong> ostdeutsche Palast-Poesie begehrte gegen die westdeutsche Dorf-Poesie<br />

auf. Und da die Macht im administrativ vereinigten Hauptort Deutschlands ungleich<br />

verteilt ist, suchte sie sich vor dieser zu schützen. Eine Möglichkeit dies zu tun,<br />

zeigte der Architekt Peter Meyer auf, dessen Architekturbüro vom Stadtbezirk Mitte<br />

den Auftrag erhielt, eine „Alternativplanung für das Wohngebiet Karl-Marx-Allee"<br />

(Meyer, P. 1996) zu entwerfen. Unter dem Leitgedanken „<strong>Die</strong> Moderne als<br />

86


historische Leistung respektieren" (ebd.) schlug er vor, sie unter Denkmalsschutz zu<br />

stellen. Zum Beispiel die Alexanderstraße. „<strong>Die</strong> frei gestaffelten Giebel der vier<br />

schlichten Wohnscheiben dort bringen das Stadtideal der Moderne von »Licht, Luft<br />

und Sonne« so symbolhaft zum Ausdruck, daß man sich fragt, warum ihnen nicht<br />

längst der gleiche Denkmalswert zugemessen wird wie den überladenen<br />

Triumpharchitekturen der frühen Stalinallee." (ebd.) Der Kompromißvorschlag<br />

könnte Schule machen: In den kleinen Mausoleen der Moderne kann die Palast-<br />

Poesie ihren Erinnerungen fröhnen, während nebenan die Dorf-Poetiker in ihren<br />

imaginierten frühmittelalterlichen Siedlungen lustwandeln.<br />

Während die beiden deutschen Poesien der Vergangenheit in der Mitte der<br />

Mitte Deutschlands hart aufeinander prallten, weil sich hier ihre Geschichten<br />

wechselseitig im Wege stehen, ließ sich eine der Ursachen, die dafür verantwortlich<br />

zeichneten, nämlich die Mauer, dazu benutzen, dem Beziehungsobjekt aller<br />

Deutschen an seinen Rändern klare Konturen zu verleihen und es vor<br />

Ausfransungen zu schützen. Berlin war nämlich in den letzten Jahrzehnten nicht nur<br />

in der Mitte geteilt, sondern auch zu einem gut Teil ummauert. Und mit diesem Pfund<br />

ließ sich in der Städtekonkurrenz wuchern, denn der Hauptort der Deutschen hat<br />

gegenüber anderen deutschen Neben- und europäischen Hauptorten den Vorzug<br />

„eine klar definierte Stadtkante zu besitzen: ein wertvolles Pfand, das keine andere<br />

europäische Metropole aufweist. Es hat nicht nur ökologische Vorteile. Städtisches<br />

Leben wird intensiver und die vielbeschworene großstädtische Lebensweise erhält<br />

eine reale Grundlage" (Strieder 1997). Und auch diese Mauer-Poesie hatte eine<br />

reale Grundlage, nämlich den von manchen Ost- und West-Deutschen gehegten<br />

„Wunsch, daß die Mauer besser stehengeblieben wäre" (Hoffmann-Axthelm/Albers<br />

1996b) und die sich darum rankenden Erinnerungen an die guten alten Zeiten, wo<br />

die Welten hüben und drüben noch in Ordnung waren.<br />

In der Mitte Deutschlands entwickelten die verschiedenen deutschen Poetiken<br />

der Vergangenheit eine ganz eigentümliche gemeinsame Symbolkraft. In der Mitte<br />

der Mitte ließ die Dorf-Poesie die alten Zollmauern wieder auferstehen, während<br />

sich die Palast-Poesie in die Sarkophage der Moderne einzumauern gedachte. Und<br />

an den Rändern der Mitte zog die Mauer-Poesie den antifaschistischen Schutzwall<br />

respektive den eisernen Vorhang wieder hoch.<br />

Wer sich in diesen symbolischen Verbarrikadierungen der deutschen Poesien<br />

der Vergangenheit nicht heimisch fühlt und wen die Kulturkämpfe der Mitte<br />

87


Deutschlands weder begeistern noch begeisten, findet in Jacques Derridas Vortrag<br />

„Das andere Kap" (Derrida 1992) alternative Hauptstadtperspektiven. Derrida hielt<br />

diesen Vortrag am 20. Mai 1990 in Turin anläßlich eines Kolloquiums über die<br />

»kulturelle Identität Europas«. Für ihn stellte sein Diskussionsbeitrag „den Anfang<br />

einer vergleichenden Untersuchung dar, die Valérys, Husserls und Heideggers<br />

Diskurse über »die Krise oder die Entmachtung des Geistes als Krise oder<br />

Entmachtung des europäischen Geistes« zum Gegenstand hat" (ebd., S. 61).<br />

Der Begriff des »Kap«, um den er seine Überlegungen kreisen läßt,<br />

bezeichnet für Derrida Vielerlei, so etwa: einen Titel, den „Kopf eines Kapitels, ein<br />

Kopf im Sinne der Überschrift" (ebd., S. 15); „den Kopf, das Haupt, das äußerste<br />

Ende eines Außengliedes" (ebd.); „»faire cap« (»ansteuern, Kurs nehmen«)" oder<br />

„»changer de cap« (»den Kurs ändern«) (ebd.); Europa, als „ein »kleines<br />

[geographisches] Kap«, ein Ausläufer oder »Anhängsel« des »asiatischen<br />

Kontinents« und Körpers" (ebd., S. 20); oder „das Kapital (Marxens Werk und das<br />

Kapital im allgemeinen)" (ebd., S. 43). Und eben »Kap« im Sinne der Kapitale (ein<br />

anderes Wort für Hauptstadt)" (ebd., S. 30).<br />

Gleich zu Beginn seines Vortrages vertraut Derrida, der kein gebürtiger<br />

Europäer ist, seinen Zuhörern ein Gefühl und eine Erinnerung an, die auch seinen<br />

Hauptstadtperspektiven zugrundeliegen und die gerade vielen DDR-Bürgern sicher<br />

nicht ganz fremd sind. Er sagt, daß er sich mit zunehmenden Alter „immer mehr für<br />

eine Art über-kolonisierten Mischling hält, für einen Mischling, den eine übermäßige<br />

Akkulturation charakterisiert" (ebd., S. 10). „Vielleicht", meint Derrida, „ist es das<br />

Gefühl eines Menschen, der, seitdem er im französischen Algerien zur Schule ging,<br />

versuchen mußte, das hohe Alter Europas zu kapitalisieren und sich dabei zugleich<br />

etwas von der ungerührten und unempfindlichen Jugend des anderen Ufers, der<br />

anderen Seite zu bewahren" (ebd.).<br />

Und er schließt seine Rede mit einer Empfindung und einem Bekenntnis.<br />

Zweifellos sei er ein Europäer erklärt Derrida, „doch bin und fühle ich mich nicht<br />

durch und durch europäisch. Damit will ich sagen (mir liegt daran, ich muß es<br />

sagen), daß ich nicht durch und durch europäisch sein möchte und sein darf" (ebd.,<br />

S. 60). Derrida begründet dieses Empfinden mit einer Möglichkeit. Es sei machbar,<br />

mit einem Teil, und zwar „»mit einem ganzen Teil seiner selbst«", Europäer zu sein,<br />

ohne deshalb zwangsläufig „»durch und durch«" Europäer sein zu müssen (ebd.).<br />

88


<strong>Die</strong>ses Verhältnis zwischen »ganzem Teil« und »durch und durch«, das<br />

Derrida hier beschreibt und auf dem er so konsequent besteht, macht ihn nicht zu<br />

einem „schwachen", „unechten" oder „halben" Europäer. Es ist kein<br />

Prozentverhältnis, in dem 20 Prozent europäischer Derrida 80 Prozent<br />

nichteuropäischem Derrida gegenüber stehen oder das sich darauf bezieht, daß er<br />

im Herzen 100 Prozent Afrikaner und im Kopf 100 Prozent Europäer wäre. Wenn<br />

Derrida sich dagegen wehrt »durch und durch« europäisch sein zu müssen,<br />

beansprucht er damit nicht, irgend ein Stückchen seines Ichs „clean" zu halten und<br />

gegen das Europäische abzudichten. Das »ganze Teil« ist der ganze Derrida. Mit<br />

dem »ganzen Teil« verhält es sich wie mit der Schwere bei einem Stein. Im<br />

Gravitationsfeld der Erde hat der Stein die Eigenschaft schwer zu sein und es gibt<br />

kein Stückchen an ihm, daß nicht schwer wäre. Dennoch ist der Stein nicht »durch<br />

und durch« schwer. Er ist nicht die reine Schwere, sondern besteht aus einem<br />

bestimmten Material, hat eine besondere Form, besitzt eine charakteristische<br />

Färbung und vieles mehr. Wenn Derrida fordert, mit einem »ganzen Teil« seiner<br />

selbst etwas sein zu können, ohne es »durch und durch« sein zu müssen, dann<br />

enthält diese Forderung eine Abweisung und eine Chance.<br />

<strong>Die</strong> Abweisung bezieht sich auf jeden, wie auch immer gearteten oder<br />

getarnten Fundamentalismus, der beansprucht, den Menschen »durch und durch«<br />

zu besetzen und restlos in seine Gewalt zu bringen. Ein Fundamentalismus begnügt<br />

sich nie mit einem »ganzen Teil«, er beansprucht alle. Dem Nationalismus<br />

beispielsweise reicht es nicht, daß ein Ingenieur deutsch fühlt oder deutsch denkt,<br />

auch nicht, daß er mit einem »ganzen Teil« seiner selbst deutsch ist, ihm geht es<br />

darum, daß der »ganze Ingenieur« und der »ganze Mann« und alle seine »ganzen<br />

Teile« »durch und durch« deutsch werden bis es nichts mehr in ihm gibt, was nicht<br />

deutsch ist. <strong>Die</strong> Diktatur der Vernunft gibt sich nicht damit zufrieden, daß der<br />

Ingenieur vernünftig denkt, auch nicht, daß der »ganze Ingenieur« vernünftig ist, sie<br />

ist darauf aus, daß alle seine »ganzen Teile« Zug um Zug vernünftig werden, und<br />

zwar so lange, bis er »durch und durch« vernünftig ist und es nichts Unvernünftiges<br />

mehr an ihm gibt.<br />

Der Fundamentalismus okkupiert zunächst einen »ganzen Teil« eines<br />

Menschen, um sich dann von dort aus Schritt um Schritt alle anderen »ganzen<br />

Teile« zu unterwerfen, bis er den Menschen »durch und durch« beherrscht. Dadurch<br />

wird eine homogene Identität erzeugt. Der Mensch ist als Ingenieur vernünftig, als<br />

89


Vater vernünftig, als Ehemann vernünftig, als Liebender vernünftig, als<br />

Musikliebhaber vernünftig, er ist rundherum und »durch und durch« vernünftig. Und<br />

da alle seine »ganzen Teile« vernünftig sind, kann auch keines mit dem anderen in<br />

Kollision geraten. Weil alle vernünftig sind, gerät nicht der Ehemann mit dem<br />

Liebenden oder der Ingenieur mit dem Vater in Konflikt. <strong>Die</strong> »ganzen Teile« sind<br />

untereinander identisch, der Mensch als Ganzes ist mit jedem seiner Teile identisch<br />

und ruht so »durch und durch« in sich. Differenzen, Gegensätze und Widersprüche<br />

sind damit aus seinem Ich verbannt.<br />

Gegen eine solche homogene, in sich abgeschlossene Identität, die »durch<br />

und durch« mit sich identisch ist und jede Differenz aus ihrem Inneren<br />

ausgeklammert hat, setzt nun Derrida eine andere, offene Identität, nämlich eine,<br />

„die mit sich selber nicht identisch ist" (ebd., S. 12), die „mit sich differiert" (ebd., S.<br />

13) und somit Unterschiede zwischen den verschiedenen »ganzen Teilen« eines<br />

Menschen nicht nur als mißliches und schnell zu beseitigendes Übel, sondern als<br />

identitätsstiftende kulturelle Leistung ansieht. <strong>Die</strong>s eröffnet eine Reihe von Chancen.<br />

So könnte sich etwa der Ingenieur „über die Ordnung der Vernunft hinausbewegen,<br />

ohne darum bereits unvernünftig zu sein oder gar dem Irrationalismus zu verfallen"<br />

(ebd., S. 58) oder er könnte sich über die Ordnung des Deutschen hinausbewegen,<br />

ohne darum bereits undeutsch zu sein oder gar dem Antideutschen zu verfallen.<br />

Und er könnte sich beispielsweise auch über die Ordnung der Geschichte<br />

hinausbewegen, ohne darum bereits ungeschichtlich zu sein oder gar dem<br />

Antigeschichtlichem zu verfallen.<br />

Sich solcherart über die Ordnungen der Vernunft, des Deutschen oder der<br />

Geschichte hinauszubewegen, würde zunächst die Bereitschaft voraussetzen,<br />

homogene Identitäten zu öffnen, Ambivalenzen in sich einzulassen und mit ihnen zu<br />

leben. Im Hinblick auf den zuvor diskutierten Masterplan-Streit verlangte eine solche<br />

grundsätzliche Bereitschaft den Menschen unter anderem folgendes ab: DDR- und<br />

Alt-BRD-Bürger könnten und müßten jeweils mit einem »ganzen Teil« ihrer selbst<br />

DDR- und Alt-BRD-Bürger bleiben, ohne das dieser »ganze Teil« so übermächtig<br />

ist, daß er ihr Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Entscheiden »durch und durch«<br />

beherrscht; den Erinnerungen an das Dorf oder den Palast sollten sich Menschen<br />

mit einem »ganzen Teil« ihrer selbst hingeben dürfen, ohne das dieser »ganze Teil«<br />

sie so »durch und durch« gefangen nimmt, daß es ihnen unmöglich wird, sich<br />

alternative Architekturen, jenseits von Dorf und Palast überhaupt noch vorstellen zu<br />

90


können; alle Bundesbürger könnten und sollten sich mit einem »ganzen Teil« ihrer<br />

selbst als Deutsche fühlen, ohne daß dieser »ganzen Teil« zu einer emotionalen,<br />

kognitiven oder sonstigen Mitte wird, die sie so »durch und durch« beherrscht, daß<br />

sie für Fremdes nicht mehr offen sind und allem Nichtdeutschen reserviert oder gar<br />

feindlich gegenüber stehen. Ein solche Öffnung homogener Identitäten erweist sich,<br />

wie der Streit um die Hauptstadt-Architektur zeigt, aus mehreren Gründen als<br />

schwierig.<br />

Zum einen neigen Menschen dazu, jenen »ganzen Teil« ihrer selbst, von dem<br />

sie besonders ergriffen sind, also etwa die Dorf-Poesie, anderen Menschen<br />

aufzunötigen und, wenn sie sich in machtstärkeren Positionen befinden, auch<br />

trickreich aufzuherrschen. <strong>Die</strong>s kann dann bei den Menschen, die dadurch einen für<br />

sie wichtigen »ganzen Teil« ihrer selbst, also etwa die Palast-Poesie, bedroht<br />

sehen, leicht dazu führen, daß die Rettung dieses angegriffenen »ganzen Teils« sie<br />

so »durch und durch« gefangen nimmt, daß sie nicht mehr in der Lage sind mögliche<br />

andere Poesien wahrzunehmen, geschweige denn sich darauf einzulassen.<br />

Zum anderen ist allen Bundesbürgern, ob sie nun der Dorf-, Mauer-, Palast-<br />

oder irgendeiner sonstigen Poesie ergeben sind, ein bestimmter »ganzer Teil« ihrer<br />

selbst, nämlich ihre Nationalität, gemeinsam. Und genau über diesen gemeinsamen<br />

»ganzen Teil« dient sich ihnen eine Rhetorik der „Mitte", des „Zentrums", des<br />

„Hauptortes" oder des „emotionalen Mittelpunktes" an, die ihren Kontroversen eine<br />

falsche Bedeutsamkeit verleiht und in ihnen über die Zusatzformel der<br />

„Städtekonkurrenz" überdies noch nationale Existenzängste weckt, die diesen<br />

gemeinsamen »ganzen Teil« über Gebühr stärken.<br />

Aber auch wenn dieses wenig ergiebige und vermeidbare Herumzerren an<br />

den verschiedenen »ganzen Teilen« der Menschen unterbliebe und die<br />

Aufmerksamkeit mehr auf die Öffnung homogener Identitäten gelenkt würde, als<br />

darauf, wie im Zentrum des Hauptortes der Deutschen deren kognitiv gesteuerte<br />

Intelligenz am schnellsten und wirksamsten städtebaulich in den Ruhestand<br />

geschickt werden kann, wäre eine solche Öffnung auch so schon schwierig genug.<br />

Derrida sieht dafür eine ganze Reihe von Gründen, unter anderem folgende zwei:<br />

Erstens wirft Derrida die Frage nach dem Ort einer Hauptstadt auf. Kann es<br />

heute für eine Kapitale, im Sinne „des vorherrschenden Mittelpunktes" (ebd., S. 31),<br />

des Hauptortes, des Zentrums überhaupt „einen Ort (ebd., S. 30) geben? Müßten<br />

uns nicht die veränderten „technisch-wissenschaftlich-wirtschaftlichen<br />

91


Gegebenheiten" dazu zwingen, endlich „zur Kenntnis zu nehmen, was heute der<br />

Stadt widerfährt" (ebd., S.31)? <strong>Die</strong>se, von Derrida im Hinblick auf eine europäische<br />

Kapitale gestellte Frage, ist auch für die Berliner Masterplan-Debatte nicht ohne<br />

Interesse.<br />

Wenn etwa Hoffmann-Axthelm und Albers versicherten, sie würden ihre<br />

ausgegrabene historische Mitte natürlich nicht altmodisch, sondern zeitgemäß<br />

bebildern und deshalb beispielsweise den Menschen „die Peinlichkeit eines 500-<br />

Zimmer-Hotels mit historisierender Aufmachung" (Hoffmann-Axthelm 1996b)<br />

ersparen, heißt das noch lange nicht, daß sie es nicht riskieren würden, ihnen unter<br />

Umständen noch viel größere Peinlichkeiten zuzumuten.<br />

„<strong>Die</strong> City", meinten nämlich die beiden Masterplaner, „ist der Schnittpunkt von<br />

Finanzdienstleistungen, Handel, Politik, Kultur und städtebaulicher Dichte"<br />

(Hoffmann-Axthelm 1996a, S. 6). Allein mit Blick auf die Globalisierung der<br />

internationalen Finanz- und Arbeitsmärkte sowie die Datennetze mit ihren virtuellen<br />

Kommunikations- und Handlungsräumen wäre vielleicht die Frage nicht ganz<br />

unbotmäßig, ob diese City-Definition nicht allzusehr der dörflichen Idylle verhaftet<br />

ist, wo sich die Wege von Wechsler, Kaufmann, Schultheiß und Schausteller am<br />

Ziehbrunnen auf dem Markt schnitten. Gesetzt den Fall, im 21. Jahrhundert<br />

verschöbe sich der Schnittpunkt der monetären, merkantilen, administrativen und<br />

musischen Handlungsketten aus der städtebaulichen Dichte heraus, dann würde<br />

diese Verschiebung die Master-City doch immer mehr einem Potemkinschen Dorf<br />

anähneln.<br />

Eine zweite Frage, die Derrida auch im Hinblick auf Europa aufwirft, die aber<br />

ebenfalls die Masterplan-Debatte über die bundesrepublikanische Kapitale berührt,<br />

ist die Frage nach der Bewältigung eines Widerspruchs, der unvermeidlich wird,<br />

wenn die Menschen die Möglichkeit und den Willen haben, homogene Identitäten zu<br />

öffnen. „Auf der einen Seite kann sich die kulturelle Identität... nicht zersplittern und<br />

zerstreuen ... sie kann und sie darf sich nicht einer Zerstreuung überantworten, die<br />

eine Unzahl nichtiger Provinzen hervorbringt... die, von Eifersucht erfüllt, sich nicht<br />

ineinander überführen, wechselseitig übersetzen lassen" (Derrida 1992, S. 31/32).<br />

Auf der anderen Seite indes kann und darf sie nicht die Kapitale einer<br />

vereinheitlichten Autorität hinnehmen" (ebd., S. 32).<br />

Ausgehend davon meint Derrida: „<strong>Die</strong> Verantwortung scheint heute darauf<br />

hinauszulaufen, daß man auf keinen der beiden widersprüchlichen Imperative<br />

92


verzichtet. Man muß demnach versuchen, politisch-institutionelle Gesten, Diskurse<br />

und Praktiken zu erfinden, die das Bündnis zwischen diesen beiden Imperativen,<br />

zwischen diesen beiden Versprechen, zwischen diesen beiden Verträgen markieren:<br />

das Bündnis zwischen der Kapitale und der A-Kapitale, dem anderen der<br />

Hauptstadt" (ebd., S. 35).<br />

Eine solche Verantwortung können weder einzelne Menschen, noch<br />

bestimmte auserwählte oder gewählte Menschengruppen allein tragen. Hier sind alle<br />

Stadtbürger gefordert. Viele müßten sich gemeinsam um solche politisch-<br />

institutionellen Gesten, Diskurse und Praktiken bemühen. Und die Stadtplaner und<br />

Architekten hätten die große Chance, Vorschläge zu machen, mit welchen<br />

Architektonen und städtebaulichen Ensembeln diesen vielen kleinen und großen<br />

Gesten, Diskursen und Praktiken so Raum gegeben werden könnte, daß sie, für<br />

jeden sichtbar, zur Kapitale der Hauptstadt werden.<br />

93


Literatur<br />

IX. Kunstausstellung der DDR 1982/83. Dresden<br />

X. Kunstausstellung der DDR 1987/88. Dresden<br />

Asendorf, Ch. (1984): Batterien der Lebenskraft. <strong>Zur</strong> Geschichte der Dinge und ihrer<br />

Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Gießen<br />

Asendorf, Ch. (1989): Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der<br />

Materie um 1900. Gießen<br />

Bachmann, H. (1983): Der Weg der mathematischen Grundlagenforschung.<br />

Bern/Frankfurt a.M./New York<br />

Baumert, K. (1997): Zunächst in Ruhe nachdenken. In: Tagesspiegel. 19. 1. 1997, S.<br />

10<br />

Benjamin, W. (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner <strong>technischen</strong><br />

Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.<br />

Berliner Zeitung. 28. 1 1 . 1996. Beilage S. 1<br />

Berman, M. (1982): All That Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity.<br />

New York<br />

Bloch, E. (1970): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.<br />

Bodenschatz, H. (1996): Annäherung statt Rekonstruktion. Auf der Suche nach<br />

einem Leitbild für das verlorene Zentrum. In: die tageszeitung/Scheinschlag.<br />

Gemeinsame Beilage. Dezember 1996, S. 10<br />

Bucharin, N. (1971): Proletarische Revolution und Kultur. Frankfurt/M.<br />

Buhr, R.; Knie, A. (1993): Hätten die mechanischen Schreibmaschinen früher besser<br />

sein können? In: Historische Bürowelt, Nr. 35/1993, S. 11-12<br />

Burckhardt, M. (1994): Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der<br />

Wahrnehmung. Frankfurt/New York<br />

Chan-Magomedow, S. 0. (1983): Pioniere der sowjetischen Architektur. Dresden<br />

Chan-Magomedow, S. O. (1995): Moskauer Architektur von der Avantgarde bis zum<br />

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Berlin 1900-1950. München/New York. S. 205-209<br />

Derrida, J. (1992): Das andere Kap. <strong>Die</strong> vertagte Demokratie. Zwei Essays zu<br />

Europa. Frankfurt a. M.<br />

95


<strong>Die</strong>rkes, M.; Knie, A. (1994): Geräte und ihr Sinn. Technikgenese im institutionellen<br />

Geflecht mächtiger Verständigungen. In: Zapf, W.; <strong>Die</strong>rkes, M. (Hrsg.):<br />

Institutionenvergleich und Institutionendynamik. <strong>WZB</strong>-Jahrbuch 1994. Berlin<br />

die tageszeitung/Scheinschlag. Gemeinsame Beilage. Dezember 1996, S. 1<br />

Dreyer, G. (1996): Diskussionsbeitrag auf dem Stadtforum. In: die<br />

tageszeitung/Scheinschlag. Gemeinsame Beilage. Dezember 1996, S. 8<br />

Ehrenburg, l. (1976): Das Leben der Autos. In: Ehrenburg, l.: <strong>Die</strong> Verschwörung der<br />

Gleichen. Berlin<br />

Ermanski, J. (1925): Wissenschaftliche Betriebsorganisation und Taylor-System.<br />

Berlin<br />

Flierl, Th. (1996): Stadtvertrag vor Planwerk. In: die tageszeitung/Scheinschlag.<br />

Gemeinsame Beilage. Dezember 1996, S. 2<br />

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Kondylis, P. (1991): Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. <strong>Die</strong><br />

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Kongreß der OSA. In: Sowremennaja architektura, Nr. 3/1929, S. 103-110. (zit. nach<br />

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<strong>Leonidow</strong>, l. (1930): Erklärende Bemerkungen zum Wettbewerbsprojekt »Haus der<br />

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Süß, W. (1985): <strong>Die</strong> Arbeiterklasse als Maschine. Ein Industrie-soziologischer<br />

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Taut, B. (1977): Architekturlehre. Grundlagen, Theorie und Kritik aus der Sicht eines<br />

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die tageszeitung/Scheinschlag. Gemeinsame Beilage. Dezember 1996, S. 1<br />

Vogt, A. M. (1969): Boullées Newton-Denkmal - Sakralbau und <strong>Kugel</strong>idee.<br />

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nach Chan-Magomedow 1983, S. 598/599)<br />

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