"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
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Prof. Dr. Jutta M. Bott<br />
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Potsdam, 06.11.2012<br />
REITHALLE IM HANS-OTTO-THEATER - NACHTBOULEVARD<br />
KREBSSTATION VON ALEXANDER SOLSCHENIZYN (1963 – 1966)<br />
Liebe Besucher des Nachtboulevards,<br />
Sie sind gekommen und dafür danke ich Ihnen, denn es ist wohl nicht<br />
selbstverständlich zu einem Vortrag zu gehen, der sich mit einem Thema wie einer<br />
„Krebsstation“ <strong>aus</strong>einander setzt. Heute heißt so eine Station im Krankenh<strong>aus</strong> etwas<br />
weniger brutal „Onkologische Station“. Dass Ihr Kommen nicht selbstverständlich<br />
sein würde, wurde mir so klar als ich verschiedenen Bekannten erzählte, dass heute<br />
Abend dieser Vortrag sei und fragte, ob sie kommen mögen? Teilweise waren sie<br />
hier im letzten Jahr im Vortrag zu „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams<br />
gewesen. Die Botschaft war rundweg, „das höre ich mir besser nicht an; das ist<br />
glaube ich ist nichts für mich.“<br />
Unter „Krebs“ verstehen wir heute Dutzende von Krankheiten, die verschiedene<br />
Ursachen, Behandlungen und Heilungschancen haben. Jeder kennt Menschen, die<br />
mit der Erkrankung zu kämpfen haben, jeder kennt über einige Ecke Menschen, die<br />
daran gestorben sind und je älter man selbst wird, desto mehr kennt man. Und wir<br />
kennen wahrscheinlich auch alle Menschen, die scheinbar davon kommen, die nach<br />
5 Jahren in der Medizin als „sie haben es überwunden“ gelten, wo weitgehende<br />
Normalität eingekehrt ist, aber vermutlich ein Rest an Unruhe bleibt, wird „der Krebs“,<br />
evtl. als Neuerkrankung – also eine andere Zellart – wiederkehren.<br />
Krebserkrankungen brechen scheinbar wie eine Geisel über uns herein, wobei völlig<br />
unberechenbar ist, wen es zu welchem Zeitpunkt ereilt. Aber Krebs hat es immer<br />
schon gegeben. Mit dem Älterwerden – wir haben ja gegenüber den Generationen<br />
vorher das Privileg, dass viele von uns eine hohe Lebenserwartung haben, also mit<br />
dem Älterwerden verringert sich die Fähigkeit des Organismus nicht korrekt<br />
<strong>aus</strong>gebildete Zellen zu identifizieren und zu vernichten. Der Prozess der nicht korrekt<br />
gelingenden Zellteilung besteht über das ganze Leben hinweg, nur unsere<br />
körpereigene „Polizei“ – wenn man das so sagen darf – ist agiler und verlässlicher.<br />
Wenn also die Anzahl der Krebserkrankungen als Todesursache im Vergleich zu den<br />
anderen gestiegen ist, dann hat es in unseren westlichen Industrienationen auch<br />
etwas mit unserer langen Lebenserwartung zu tun. Aber ich möchte all diese<br />
Aspekte so stehen lassen, denn ich bin keine Medizinerin, keine Epidemiologin und<br />
will auch keinen medizin- oder psychoimmunologisch orientierten Vortrag halten über<br />
1
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Prognosen, Heilbarkeit, neue Forschungsperspektiven und -hoffnungen von<br />
Krebserkrankungen. Die Krebserkrankungen in Alexander Solschenizyns Roman<br />
sind sowohl real und sehr unterschiedlich als auch eine Metapher. Sie sind das<br />
große Gemeinsame der vielen Personen, die in dem Kaleidoskop der „Krebsstation“<br />
auftreten.<br />
Für diejenigen, die noch nicht das Theaterstück im HOT gesehen haben – und die<br />
das hoffentlich noch tun werden –, eine kurze Zusammenfassung: Solschenizyn hat<br />
diese mehr oder minder geschlossene Gesellschaft, eine Krebsstation fern von<br />
Moskau, irgendwo in Zentralrussland im Februar 1955 „placiert – zwei Jahre nach<br />
Stalins Tod, als die Zeit der Rehabilitierung, die Zeit der großen Hoffnung begann.“ 1<br />
Der Roman, geschrieben zwischen 1963 und 67, erschien 1968 im Westen. Eine<br />
geschlossene Gesellschaft – man könnte auch von einer totalen Institution sprechen<br />
– zeichnet sich dadurch <strong>aus</strong>, dass eigene Regeln und Normen herrschen und<br />
entstehen, die Menschen auf einander bezogen, abhängig voneinander leben und<br />
die eine Seite, also Insassen bzw. Patienten – je nachdem um welche Institution es<br />
sich handelt – nicht einfach weggehen, <strong>aus</strong>weichen können. Sie sind von der<br />
herrschenden Seite – und seien es noch so bescheidene Berufe – abhängig.<br />
Typische totale Institutionen sind Lager, KZs, ehemalige psychiatrische Anstalten<br />
(ehemalige …), <strong>aus</strong> denen Patienten viele Jahre, oft Jahrzehnte nicht hin<strong>aus</strong> kamen<br />
und die Verfügungsgewalt, ob sie hin<strong>aus</strong> kamen, auf der anderen Seite bzw. bei<br />
Administrationen außerhalb der Institution lag.<br />
„Der Roman beschreibt (sehr differenziert) den Tagesablauf in (einer) Krebsklinik,<br />
den Krankheitsverlauf (…) und die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten (zu<br />
jener Zeit), die einzelnen Patienten und deren Angehörigen, die Ärzte,<br />
Krankenschwestern“, Putzfrauen, Besucher, „die Gedanken der Figuren und deren<br />
Geschichten.“ 2<br />
Im Mittelpunkt stehen zwei Antipoden: Pawel Rusanow – Funktionär, Denunziant und<br />
Spießer wird in diese chronisch überfüllte Krebsstation eingewiesen. Seiner<br />
Privilegien plötzlich verlustig, muss er nun Leben und Leiden mit anderen Kranken<br />
teilen, unter ihnen auch der Sträfling und Verbannte Oleg Kostoglotow, der lange<br />
unschuldig in einem Lager inhaftiert war. Sie beide und die anderen Menschen, die –<br />
man kann schon sagen – den Roman bevölkern, vergewissern sich angesichts ihres<br />
drohenden Todes ihres Lebens, ihrer Zukunft und ihrer Vergangenheit.<br />
Viele Wochen habe ich den ersten Band des Romans – auf ihn beziehe ich mich –<br />
hin- und hergetragen, mühselig mich durch ein paar Seiten gekämpft und unter<br />
1<br />
Böll, Heinrich: Vorwort. In: Solschenizyn, Alexander: Krebsstation. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 6 – 8,<br />
hier S. 6.<br />
2<br />
http://www.krümel.com/?p=835 15. Juli 2009 [Zugriff: 01.11.2012]. Änderungen in Klammern JMB.<br />
2
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
anderem gedacht „auf was habe ich mich denn da wieder eingelassen; will ich das<br />
wirklich hier im Urlaub lesen, will ich es jetzt wirklich in der Bahn auf dem Weg nach<br />
Dessau, an diesem Wochenende usw. lesen?“ Als es dann nicht mehr zu umgehen<br />
war – irgendwann wird ja die Zeit eng – habe ich den ersten Band an einem<br />
verlängerten Wochenende komplett durchgelesen und war begeistert. Der Roman<br />
atmet eine philosophische, auch poetische Intensität. Ethische und politische, Wert-<br />
und Haltungsfragen wechseln sich unentwegt ab und verlangen vom Leser oder<br />
Betrachter Mitdenken, sich selbst diese Fragen zu stellen und/ oder zu beantworten.<br />
Viele Fragen, viele Denkanstöße sind so aktuell – ich hätte es nicht für möglich<br />
gehalten. Oft hat man den Eindruck, als habe Solschenizyn in die Zukunft geschaut<br />
und klarsichtig vorweg genommen, mit was wir uns auch im neuen Jahrt<strong>aus</strong>end<br />
weiterhin herum zu plagen haben, wo wir eine Antwort, zumindest eine Haltung für<br />
uns finden müssen. Dabei habe ich den Roman nicht als niederziehend, depressiv<br />
machend oder traurig, larmoyant empfunden. Er ist klar, zeigt Zwänge, beschönigt<br />
nichts, aber geht wohlwollend, schonend, differenzierend mit seinen Protagonisten<br />
um. Es gibt heitere, verführerische, schöne, schnöde, freche, diskrete, ärgerliche und<br />
„na, das kennen wir doch“-Szenen, es geht um Un<strong>aus</strong>weichliches, Traurigkeit über<br />
die Endlichkeit, das Nicht-Heilen-Können. Aber es gibt auch Hoffnung für die, die<br />
noch nicht dran sind, Hoffnung, dass man selbst in schwierigen, sehr begrenzten<br />
Lebenszeiten ein Recht auf Selbstbestimmung über sein Leben hat, diese sich<br />
nehmen muß oder zumindest sie sich nehmen kann. Und dahinter steht die Frage an<br />
uns: „Wie wollen wir leben?“ – darauf werde ich zurückkommen.<br />
Solschenizyns Klarsichtigkeit, die vermutlich keine bewusste oder wirklich wissende<br />
gewesen sein wird, ist erstaunlich und wahrscheinlich von großen persönlichen und<br />
politischen Hoffnungen angetrieben gewesen. Zum Ende seines Lebens,<br />
insbesondere nach seiner Rückkehr nach Rußland im Jahre Mai 1994 war nicht nur<br />
immer enttäuschter und resignierter über die politischen Verhältnisse, sondern galt<br />
als jemand, der sich künstlerisch und moralisch, ethisch „verrannt“ hatte, rückwärts<br />
gewandt argumentierte und viele vor den Kopf stoß. 3<br />
Der Roman „Krebsstation“ ist aber sein zweiter Roman, in dem sich<br />
Autobiographisches widerspiegelt, verarbeitet wird. Geboren am 11. Dezember 1918,<br />
kämpfte er während des II. Weltkriegs 1941 – 45 in der Roten Armee. Unter anderem<br />
nahm S. als Offizier an der Schlacht bei Kursk und an der Weichsel-Oder-Operation<br />
in Ostpreußen teil. 4 In den letzten Kriegsmonaten – Solschenizyn war 26, 27 Jahre<br />
3 Er übte „harsche Kritik an den seiner Meinung nach dekadenten und materialistischen Demokratien“,<br />
betitelte einzelne Literaturkollegen als „verwestlicht“, gottfern und menschenfeindlich, so dass er auch ihm<br />
nahe stehende Freunde gegen sich aufbrachte.<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Issajewitsch_Solschenizyn [Zugriff: 01.11.2012].<br />
4 „Seine Erlebnisse als Offizier während der Einnahme Ostpreußens schrieb er in Gedichtform im Band<br />
‚Ostpreußische Nächte’ und als Erzählung … nieder.“ Die biographischen Angaben des Abschnitts – auch<br />
3
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
alt – wurde er „von der militärischen Spionageabwehr verhaftet und in das Moskauer<br />
Gefängnis Lubjanka überstellt, weil er, Leninist, in den Briefen an einen Freund Kritik<br />
an Stalin geübt hatte.“ Acht Jahre Haft brachte ihm das ein, die er in einem<br />
Sonderlager für Wissenschaftler verbrachte, wo er Lew Kopelew kennen lernte.<br />
Später wurde er nach Kasachstan verlegt, wo er in der Gießerei eines Lagers<br />
arbeitete. Die zunächst im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte Scheidung,<br />
um seine Frau Natascha vor Repressalien des stalinistischen Systems zu schützen,<br />
endete darin, dass sie sich wirklich von ihm abwandte und einen anderen Mann bei<br />
sich einziehen ließ. Solschenizyn war zuvor an Krebs erkrankt – mit 33, 34 Jahren.<br />
Er wurde operiert und die Hoffnung bestand, dass sich keine Metastasen gebildet<br />
hatten. Wegen dieser Erkrankung ließ seine Frau ihm erst etwas später <strong>aus</strong>richten,<br />
dass er sein Leben nun unabhängig von ihr gestalten könnte. Hunger, Aufstände,<br />
unerfüllbare Arbeitsnormen, der Kampf ums Überleben waren Alltag.<br />
Im Februar 1953 wurde er <strong>aus</strong> der Lagerhaft entlassen, jedoch bis ans Lebensende<br />
verbannt in die Steppe Kasachstans (Kok-Terek). Stalin starb am 5. März 1953.<br />
Hatte Solschenizyn zunächst als sog. „Politischer“ keine Arbeit erhalten, konnte er<br />
dann eine Anstellung als Lehrer für Mathematik, Physik und Astronomie finden.<br />
Physik/ Mathematik hatte er im Direkt- und Philosophie/ Literaturwissenschaft im<br />
Fernstudium vor dem II. Weltkrieg studiert. Dieses Lehrer-sein-können hat er als<br />
Befreiung, als die Wiedereinsetzung in die Staatsbürgerrechte erlebt: „Alles, was<br />
sonst noch zur Verbannung gehörte, bemerkte ich nicht mehr.“ Schon im Dezember<br />
desselben Jahres musste er sich aufgrund eines Tumors in der Bauchhöhle erneut<br />
einer Krebsbehandlung, Bestrahlungen unterziehen. „Die Überlebenschance lag<br />
dabei zunächst bei unter 30%.“ Diese Erfahrungen hat er im Roman „Krebsstation“<br />
verarbeitet. 1957 wurde Solschenizyn offiziell rehabilitiert, die Verbannung<br />
aufgehoben – man konnte davon <strong>aus</strong>gehen, dass er als sehr kranker Mensch nicht<br />
lange überleben würde.<br />
Alles, was ich im Folgenden an den Personen und Interaktionen her<strong>aus</strong>arbeiten<br />
werde, bezieht sich auf den ersten Band des Romans. Ich habe das Theaterstück<br />
gesehen; mir persönlich hat es gefallen, ich konnte ihm gut folgen, fand die<br />
Sch<strong>aus</strong>pieler überzeugend. Ich habe die sehr gegensätzlichen Kritiken gelesen und<br />
in diesen Reigen der Theaterkritiker möchte ich mich nicht einreihen. Ich fühle mich<br />
mit meiner Profession der Psychologie, Psychotherapie und Sozialpädagogik nicht<br />
berufen da mitzutun.<br />
die folgenden Zitate – beziehen sich auf http://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Issajewitsch_Solschenizyn<br />
[Zugriff: 01.11.2012].<br />
4
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
1. Pawel Rusanow oder es ist leicht, ihn abzulehnen …<br />
Die Person mit der Solschenizyn das Buch eröffnet ist Pawel Nikolajewitsch<br />
Rusanow – er wird auf die Krebsstation Nr. 13 in der Provinz eingewiesen, da es<br />
keine Behandlungsmöglichkeiten in Moskau mehr für ihn gab. Er glaubt nicht, dass<br />
er Krebs hat, er will es nicht hören, er will unentwegt die Bestätigung, dass er keinen<br />
hat. Seine Geschwulst sitzt am Hals und wird täglich, fühlbar, spürbar, für alle sehbar<br />
größer. Die ganze Situation empfindet er als Zumutung. Er verkörpert zusammen mit<br />
seiner Frau, Kapitalina, die Ausgeburt eines Systems, das seine Aufsteiger im Chor<br />
einer vermeintlich konstruktiven Anpassung begünstigt hat – in einem System, das<br />
sich Kommunismus und Sozialismus nannte. Sie erhalten Privilegien, wissen wie<br />
man trotzdem rechtschaffen wirkt, deutlich macht, wie man auch nur einer unter<br />
ihresgleichen sei, sich an Recht und Gesetz hält und doch immer ein bisschen<br />
gleicher sein will.<br />
Was sehr offensichtlich hier geschieht, ist, dass im Roman ein Vergleich aufgemacht<br />
wird: Wie ist das, wenn auf einer Krebsstation alle gleich untergebracht werden, alle<br />
das Gleiche zu essen bekommen, die Toiletten für alle gleich schlimm, öffentlich und<br />
ohne diskrete Privatheit sind, alle eine Einheitskleidung tragen – Rusanow darf aber<br />
seinen nagelneuen Schlafanzug sehr wohl tragen – und es zwischen Herkunft und<br />
Rang keine Unterschiede gibt. Der kommunistische Gedanke, der letztlich nicht<br />
getragen hat und nicht tragen wird, wird hier von Solschenizyn Mitte der 60er Jahre<br />
zu Diskussion gestellt.<br />
Rusanow jammert: „Wenn ich wenigstens eine Einzeltoilette benützen könnte! Ich<br />
leide! Was für eine Toilette das hier ist! Keine Trennwände, alle sind offen!“ (Die<br />
Benutzung eines öffentlichen Bades und einer öffentlichen Toilette untergräbt<br />
unweigerlich die Autorität eines Funktionärs. An seinem Arbeitsplatz stand Rusanow<br />
eine Toilette zur Verfügung, die der Allgemeinheit nicht zugänglich war.) (160) 5 Seine<br />
Frau – sie ist der Inbegriff an mondäner, neureicher Schönheit, da scheint es<br />
zwischen Ost und West keinen Unterschied gegeben zu haben – will für ihn<br />
Privilegien erreichen: „Hören Sie, er ist gewohnt, umsorgt zu werden, und jetzt hat er<br />
diese schwere Krankheit. Kann man nicht eine ständige Schwester für ihn<br />
organisieren?“ (11) … „’Schwester, ich bitte Sie dennoch, Sie kennen Ihre Leute, Sie<br />
können alles leichter organisieren. Sprechen Sie mit einer Schwester oder einem<br />
Sanitäter, damit Pawel Nikolajewitsch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit<br />
entgegengebracht wird.’ Und schon öffnete sie ihr großes schwarzes Ridikül 6 und<br />
zog drei Fünfzig-Rubel-Scheine her<strong>aus</strong>. Der in einiger Entfernung stehende Sohn mit<br />
5 Solschenizyn, Alexander: Krebsstation. Reinbek b. Hamburg 1968, Taschenbuch 1971/ 1993, S. 160. Alle<br />
Zahlen (in Klammern gesetzt) im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe und geben die Seitenzahl<br />
des betreffenden Zitats bzw. der Paraphrasierung an.<br />
6 Andere Namen Pompadour, Réticule, Ridicule, Ridikül oder Handgelenksbeutel. Der kleine Beutel diente<br />
seit dem <strong>aus</strong>gehenden 18. Jahrhundert Damen der höheren Gesellschaft zur Aufbewahrung von kleinen<br />
Alltagsgegenständen, die man immer bei sich haben wollte. http://de.wikipedia.org/wiki/Pompadour_Handtasche<br />
5
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
seinem widerspenstigen hellen Haarschopf wandte sich schweigend ab. Schwester<br />
Mita versteckte beide Hände hinter dem Rücken. ‚Nein, nein! Solche Aufträge …’<br />
‚Aber das ist doch nicht für Sie!’ Kapitalina Matwejewna hielt ihr die<br />
<strong>aus</strong>einandergefalteten Papierchen vor die Brust. ‚Aber da sich das nicht in offizieller<br />
Form erledigen lässt … Ich bezahle doch nur für die Arbeit! Und bitte Sie nur um die<br />
Liebenswürdigkeit, das Geld weiterzugeben!’“ (12)<br />
Es ist leicht, sich über diesen Aspekt des Rusanowschen Verhaltens zu echauffieren,<br />
aber ich glaube, in jedem von uns steckt zumindest ein wenig davon. Aber<br />
spätestens wenn unsere alten Eltern ins Heim, unser Kind ins Krankenh<strong>aus</strong> kommt,<br />
denken wir auch darüber nach, wie wir es hinbekommen können, dass der<br />
Angehörige gut wahrgenommen und behandelt wird, vielleicht in ein besseres<br />
Zimmer verlegt wird ohne Privatpatient zu sein usw. Die 20 oder 50 € für die<br />
Kaffeekasse des Personals ist uns allen vertraut. Wie weit wir gehen, eine kleine<br />
Gefälligkeit, Gefügigkeit an einzelnen Personen in Gang zu setzen – das ist sicher<br />
unterschiedlich. Das ist nichts grundsätzlich anderes als was Rusanows machen.<br />
Uns stößt vermutlich ihr offensichtlicher Stil ab, der auf einer Selbstüberzeugung<br />
beruht, dass man mehr wert ist, es besser verdient hat, es einem nicht zuzumuten<br />
mit dem „gemeinen Volk“ zusammen zu sein.<br />
„Die Rusanows liebten das Volk – ihr großes Volk! Sie dienten ihm und waren bereit,<br />
ihm ihr Leben zu opfern. Doch die Bevölkerung konnten sie ihm Laufe der Jahre<br />
immer weniger <strong>aus</strong>stehen – diese aufsässige Bevölkerung, die sich ewig drückte,<br />
aufbegehre und obendrein noch Forderungen stellte.“ (175) So halten sie Distanz,<br />
machen einen Bogen, Miliz und Gesetz schützen die Rusanows, aber halt mit<br />
Verspätung: Bei dem eigentlichen Zusammenstoß ist er schutzlos – „weder seine<br />
Position noch seine Verdienste können ihn schützen.“ (175) Der Flegel, der Mob<br />
kann ihn grundlos beleidigen, beschimpfen, mir nichts dir nichts mit der F<strong>aus</strong>t ins<br />
Gesicht schlagen. Das bedrückt ihn.<br />
Wir leben mit unseren Differenzen und wollen uns von einander unterscheiden, wir<br />
wollen auch nicht alle Gewohnheiten der Menschen um uns herum <strong>aus</strong>halten, weil<br />
wir einen Teil als Zumutung und nicht gut <strong>aus</strong>haltbar finden. Es gibt dafür keine<br />
Lösung. Sich moralisch zu echauffieren führt zu gar nichts; dieser Prozess läuft offen<br />
oder subtil, aber er läuft. (Beispiel Carola Stern und ihr Professortitel) Oft sind die<br />
Privilegien an Geld gekoppelt, wer viel oder mehr zahlt, kriegt andere<br />
Umgebungsbedingungen, gleichgültig wie er/sie dieses Geld verdient hat und ob<br />
andere die gleichen Chancen haben. Ich denke an die Bonizahlungen für Manager<br />
und Banker, die Arbeitsplätze vernichten und für solchermaßen Rentabelmachen von<br />
Betrieben und damit Aktien erhebliche Boni bekommen.<br />
6
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Aber die Rusanows fordern die Vorrechte, weil sie Leistungen der Anpassung und<br />
Denunziation vollbracht haben und in einem hierarchisch organisierten<br />
Herrschaftssystem, was Gleichheit predigt, eine besondere Position erreicht haben.<br />
Pawel Rusanow hat Leichen im Keller. Seine Träume werden von Albträumen<br />
regiert. Die, die er denunzierte sollen rehabilitiert werden, werden zurückkehren,<br />
vielleicht ihre Wohnräume fordern, ihn konfrontieren, was er ihnen angetan hat. Er<br />
denunzierte, um die Wohnung der anderen zu kriegen, mehr Platz zu haben – nur<br />
sein Name hatte draußen bleiben sollen. Aber es kam her<strong>aus</strong>, weil Roditschew, der<br />
beseitigt werden sollte, einen Fürsprecher hatte, den Sekretär des Parteikomitees in<br />
der Fabrik, Gusun. Dieser setzte sich für Roditschew ein, er sei zuverlässig, forderte<br />
wahre Beweise der Unverlässlichkeit. Aber Rusanow war so vernetzt, dass auch<br />
Gusun nachts verhaftet wurde und beide „als Mitglieder einer konterrevolutionären<br />
Untergrundorganisation“ <strong>aus</strong> der Partei <strong>aus</strong>geschlossen, zu Lagerhaft verurteilt<br />
wurden. (162, 169)<br />
Die einzige Sorge, die Rusanow quält, ist, dass sein ehemaliger Nachbar Roditschew<br />
erfahren hat, wer ihn denunziert hatte. Er sieht es bis heute nicht als ehrlos, was er<br />
getan hat, auch „damals wäre doch niemandem der Gedanke gekommen, dass an<br />
seinem Verhalten etwas Ehrloses sei! In jener herrlichen, anständigen Zeit, den<br />
Jahren 1937-38, war die gesellschaftliche Atmosphäre endlich einmal von allem<br />
Schmutz gereinigt, damals konnte man frei atmen! Alle Lügner, Verleumder,<br />
Anhänger der eilfertigen Selbstkritik oder superklugen Intellektuellen waren<br />
verschwunden, zum Schweigen gebracht, und prinzipientreue, zuverlässige<br />
Staatsbürger wie Rusanow und seine Freunde gingen würdevoll mit erhobenem Kopf<br />
einher.“ (170)<br />
Aber damit nicht genug, Solschenizyn beschreibt akribisch, wie Rusanow neben der<br />
geheim zu haltenden, feigen Denunziation auch die Manipulation, die Bedrohung<br />
anderer, ihm zum Teil vertrauender Menschen, Arbeiter und Genossen, intellektuell<br />
Überlegener beherrschte. Er spielte seine selbstgerechte Selbstsicherheit <strong>aus</strong>, ließ<br />
sie im Ungewissen, verbreitet kultivierte Angst, die die Menschen klein macht.<br />
Fragten sie ängstlich, warum sie erst morgen kommen sollten, gab er keinen Grund<br />
zur Beruhigung an, sondern nur ein „nein, es geht nicht“. (172) Sie sollten schmoren,<br />
sich Gedanken machen, ihre Taten im Kopfkino durchgehen. Erinnern sie solche<br />
Situationen <strong>aus</strong> Ihrer Kindheit oder dem Arbeitsleben, wenn es bezüglich<br />
irgendwelcher Autoritätspersonen hieß oder heißt, „Du sollst zu … kommen.“ Frauen<br />
brachte er dazu, sich von ihren in Haft sitzenden Männern scheiden zu lassen.<br />
Umfassende Fragebögen holten <strong>aus</strong> den Menschen die persönlichsten Dinge<br />
her<strong>aus</strong>. Sie waren so <strong>aus</strong>gefeilt, dass die Personen sich in Widersprüche verwickeln<br />
mussten, wenn sie versuchten, etwas zu verbergen. (188 f)<br />
7
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Während seine Geschwulst wächst und ihm von der Seite auf den Hals drückt,<br />
ziehen die Verunglimpften, Denunzierten, die Verurteilten und in Lagern<br />
Weggesperrten vor seinem inneren Auge vorbei. Er wird vorgeführt. Er rechtfertigt<br />
innerlich, dass er den Mann anzeigen müssen, weil er ihm im Wege stand, die Frau,<br />
weil sie schwätzte, diese hatte ihm aber die Tochter anvertraut, weil sie glaubte, er<br />
sei gut, er aber diese dann auch anzeigte – weswegen kann er sich nicht mehr<br />
erinnern. Und nun ist sie halt tot, weil sie sich vor Angst umgebracht hat. So ist er<br />
nach dem fast erfolglosen Bemühen auf der Krebsstation Privilegien zu erhalten,<br />
beschäftigt mit seinem inneren Kaleidoskop. Seine Geschwulst wächst. Er soll vor<br />
das neue Gericht kommen, von dem er niemandem mehr kennt, denn die Zeiten<br />
sich, Russland säubert gerade einmal wieder seine Kader und seine ihm Gunst<br />
gewährenden Gönner werden abgesetzt, während er sich auf der Krebsstation<br />
befindet.<br />
Rusanow ist bedrückt, er sehnt seine nicht an Zweifeln leidende potente Ehefrau,<br />
seine viel versprechende, heitere und zuversichtliche Tochter herbei, die ihren Weg<br />
als zukünftige Schriftstellerin machen wird. Die starken Frauen sollen ihm die<br />
Hoffnung geben, dass „alles, alles <strong>aus</strong>gezeichnet“ wird und er sich „gar keine<br />
Sorgen“ machen muß, er „um die Gesundheit“ kämpfen soll. (252) Alle Grübeleien<br />
führen zu keiner Einkehr, dass er Unrecht getan hat. Psychoanalytiker würden<br />
sagen, die Abwehr und Verdrängung bleibt intakt.<br />
Ich will hier nicht anfangen, über ähnliche Strukturen in der DDR nachzudenken,<br />
auch wenn sich das aufdrängt, da es um den gesellschaftspolitischen Anspruch der<br />
Gleichheit in einem Arbeiter- und Bauernstaat ging. Ich möchte lieber die Brücke zum<br />
nationalsozialistischen Regime schlagen, da ich Tochter von Eltern bin, die in der<br />
ersten Zwanzigerhälfte des letzten Jahrhunderts geboren, ihre Jugend- und jungen<br />
Erwachsenenjahre in der Zeit des Nationalsozialismus verbrachten. Mein Vater<br />
wurde im April 1942 mit 19 Jahren eingezogen und kämpfte im Mittelabschnitt der<br />
Ostfront 246. Infanterie-Division. Nach der Vernichtung der 246. Infanterie-Division<br />
im Juni 1944 bei Witebsk kam er in ein Strafbataillon, das die Bahn von Witebsk<br />
nach Dünaburg baute. Innerhalb von 8 Wochen waren im Sept. 1944 von 1.200<br />
Strafgefangenen noch 300 am Leben, die anderen verhungert oder totgeschlagen. Er<br />
wird krank infolge einer Vergiftung mit Mutterkorn, fast blind, gelähmt, eine russischjüdische<br />
Ärztin behandelt ihn, wiederholte Bluttransfusionen, russische<br />
Krankenschwestern halten ihn mit am Leben. Er kommt auf einen der ersten<br />
Rücktransporte. Mit unter einem Zentner, Hungerödemen, Wasserbauch ist er<br />
Anfang September 1945 zurückgekehrt, er wurde fast nicht erkannt in seinem Dorf.<br />
Wir haben uns nie jemals über seine Kriegserlebnisse, die Kämpfe, das Grauen<br />
wirklich unterhalten können. Er war nur Opfer in seiner Wahrnehmung, und nur das<br />
8
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
wollte er diskutiert und wahrgenommen sehen; aber eigentlich wollte und konnte er<br />
darüber gar nicht reden. Die Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der<br />
Wehrmacht 1941-1944“ geleitet von Hannes Heer vom Hamburger Institut für<br />
Sozialforschung 1996 hat er zutiefst abgelehnt als dass diese „nur Dreck auf die<br />
Wehrmacht werfe“. Dabei blieb es auch, als ich unter anderem in meiner<br />
Doktorarbeit ein Motto von Jan Philipp Reemstma – er unterhält das Hamburger<br />
Sozialforschungsinstitut – voranstellte: „Kein Verbrechen führt automatisch zum<br />
nächsten. Für jedes Handeln gibt es Freiheitsspielräume und die Dimension der<br />
Verantwortung. 7 “ – nun war ich es, die auf seine Generation Dreck warf, weil ich die<br />
Geschichte einer psychiatrischen Anstalt während des Nationalsozialismus<br />
aufarbeitete, wobei ich offen beide Seiten beschrieb: Das Schwierige, der<br />
Rassenideologie dienend, aber ebenso das Positive, das den Menschen Dienende.<br />
Und auch die Frage, was hätten wir getan, war nicht untergegangen.<br />
In den Dokumenten, die wir nach seinem Tod fanden, gab es einen Gefechtsbericht<br />
seines Vorgesetzten von einer Schlacht südlich von Bjeloj vom 25.11. – 9.12.1942. In<br />
diesem Dokument werden akribisch die Gefechtsbewegungen beschrieben. Obwohl<br />
es Tote und Verwundete auf beiden Seiten gegeben haben muß, ist die Sprache<br />
völlig neutral, sachlich beschreibend. Die Worte Tote, Opfer kommen nicht vor.<br />
Vielleicht erstaunt Sie das nicht, weil es eben ein Gefechtsbericht ist, aber ich habe<br />
das Dokument mehrmals ziemlich fassungslos gelesen. Die Aufreibung der<br />
Mittelfront im Osten gilt nach Stalingrad als einer der schwersten Schlachten. Wer<br />
das überlebte, wer russische Gefangenenlager überlebte, letztlich wegen<br />
jugendlichem Alter entnazifiziert wurde, scheint im Aufbaudeutschland nach<br />
wiedererlangter Gesundheit nur noch nach vorne geschaut zu haben. Man wollte<br />
vergessen.<br />
Was kümmert mich, wen ich getroffen, wen ich getötet habe, es war Krieg, es wurde<br />
allgemein gestorben. Und die anderen, die aktiv im Nazireich mitgemacht haben,<br />
denunziert, <strong>aus</strong>geliefert, gefoltert, gemordet, geschwiegen, Hitler und seinen<br />
Getreuen zur Macht verholfen haben, die SS und Gestapo angehörten, stellten sich<br />
in der Regel auch nicht einem offenen Gespräch: „Wir waren dabei, wie konnte es<br />
soweit mit mir, mit uns kommen?“ Die Mehrzahl suchte Rechtfertigungen und sei es<br />
der Verweis, ich war doch nur ein ganz kleines Licht, ich hatte doch nichts wirklich in<br />
diesem System zu melden.<br />
Ich habe an Hand dieser Dokumente auf einmal seine Geschichte auf einer anderen<br />
emotionalen Ebene verstanden. Als eine Generation erzogen, eher zu gehorchen,<br />
mit einem eigenen Willen nicht zu offensichtlich in Erscheinung zu treten, auch wenn<br />
man von starkem Temperament war, haben die Erlebnisse und Tatsache, nirgendwo<br />
7 Reemtsma, Jan Philipp, zitiert nach: Fritz Göttler, Im Profil – Jan Philipp Reemtsma, Laudator für Jürgen<br />
Habermas, den Friedenspreisträger, Süddeutsche Zeitung 13./14.10.2001, S. 4.<br />
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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Gefühle über dieses Grauen lassen zu können, außer vermutlich in sich selbst<br />
wegzuschließen, mit dieser Generation und ihren nach dem Kriege gegründeten<br />
Familien etwas gemacht.<br />
Nach der akribischen Forschung der letzten zwei Jahrzehnte belegen viele<br />
Dokumente, insbesondere Feldpostbriefe, „dass es vielfach ‚ganz gewöhnliche<br />
Deutsche’ gewesen waren, die ohne Zwang am Völkermord teilnahmen, den sie<br />
offensichtlich für richtig hielten; es waren Angehörige der Wehrmacht oder von<br />
Polizeibataillonen, die keineswegs als besonders fanatische Nazis galten. Wie aber<br />
lässt sich erklären, was uns heute unfassbar erscheint, dass ‚normale Deutsche’<br />
hilflose Menschen misshandelten und töteten, auch ohne gezwungen zu sein, oder<br />
dass Ärzte, die der Fürsorge für Kranke und Hilfslose durch Eid verpflichtet sind,<br />
Menschen als Versuchsobjekte missbrauchten und umbrachten? Was für eine<br />
falsche Moral oder verinnerlichte Ideologie brachte sie dazu? 8 “ Aber die meisten<br />
Menschen verdrängten, spalteten ab, wollten darüber nicht reden, warum sie<br />
mitgemacht haben. Jeder hatte für sich seine Rechtfertigungen und war zu kurz<br />
gekommen.<br />
Für mich ist es ein ähnlicher Mechanismus, der Rusanow zu seinem<br />
Denunziantentum und seinen Vorteilsnahmen getrieben hat. Es gibt Vorteile und<br />
gesellschaftliche Positionen, Hierarchien zu verteilen. Wir wollen nicht völlig gleich<br />
sein, wir wollen es gut haben, unsere Verwandten oder Freunde sollen es gut haben,<br />
vielleicht auch noch der Nachbar oder eben auch gerade nicht. Kultur und Religion,<br />
gesellschaftliche Ideologien zähmen und überformen unsere menschliche Natur, so<br />
dass wir meistens zivilisiert leben. Davon scheint aber regelhaft in immer neuen<br />
Kreisläufen an wandernden Orten dieser Welt nichts zu tragen. Schauen Sie auf<br />
Krisenherde dieser Welt. In Deutschland herrscht seit 67 Jahren Frieden. Frei von<br />
Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und ich will dazu die Angst<br />
benennen, wahrscheinlich die Angst vor dem Verlust wirtschaftlicher Privilegien, sind<br />
wir nicht. Ich war Jugendliche als Willy Brandt, der ja als Vaterlandsverräter<br />
genügend verunglimpft wurde, in einer Aufbruchszeit der Bundesrepublik für mehr<br />
Demokratie wagen eintrat, Bildungschancen erhöhen, Gleichheit vor dem Gesetz<br />
verbessern, Psychisch Kranke besser stellen, ihnen den gleichen Status, die<br />
gleichen Rechte verschaffen wie somatisch Kranke, Randgruppen integrieren usw.<br />
usw. – es ließe sich viel aufzählen <strong>aus</strong> jener Zeit.<br />
8 Mitscherlich-Nielsen, Margarete: Die Radikalität des Alters. Frankfurt: Fischer Verlag 2010, 7. Aufl. Aus<br />
dem Kapitel „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Medizin und Antisemitismus“, S. 43 – 61, hier S. 46.<br />
10
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Das hat unsere Werteskala <strong>aus</strong>gemacht und es prägt mich bis heute: soziale<br />
Gerechtigkeit, gleiche Menschenwürde, für Schwächere sich zumindest einsetzen,<br />
auf ein soziales Gefüge achten, so dass nicht die niedersten Instinkte in uns<br />
durchbrechen. Carola Stern, die große politische Journalistin hat es so formuliert,<br />
dass „wir nach menschlichen Verhältnissen streben (müssen), die die Menschen<br />
nicht in Versuchung bringen, sich gegen andere Menschen schäbig zu benehmen.“ 9<br />
Wirtschaftlich ging es in den 70er Jahren in der Bundesrepublik aufwärts. Durch<br />
Wachstum, Umverteilungen, Schuldenmachen war dieser Gleichheitsansatz – auch<br />
wenn wir nicht alle gleich waren, aber die Chancen sollten verbessert werden –<br />
leichter finanzierbar. Ist heute alles ganz anders? „Das ist ein weites Feld“ wie<br />
Fontane sagt, nicht alles, aber vieles. Ich lasse das so stehen, wir können nachher<br />
darüber weiterreden.<br />
Solschenizyn ist aber für meines Erachtens hoch anzurechnen, dass er Rusanow<br />
nicht blind und platt verunglimpft, er b e s c h r e i b t ihn und seine Mischpoke,<br />
deren Denke, das ständige Ringen um Privilegien, seine Nicht-Einsichtigkeit, auch<br />
seine wiederholten Gedanken, wen er vom Krankenh<strong>aus</strong>personal, von seinen<br />
Mitpatienten wie wo <strong>aus</strong>liefern kann, um sich wieder in das System gut einzutakten,<br />
einfach sehr präzise. Es bleibt uns überlassen, wo wir uns in Anteilen wieder<br />
erkennen. Neben diesen eher psychologisierenden und individualisierenden Blick auf<br />
die Rusanows will ich Heinrich Bölls gesellschaftlichen Blick benennen. Böll nimmt<br />
folgende Einordnung der Rusanows vor: „Auch den heftigsten Befürwortern einer<br />
‚besseren Zukunft sollte es nicht schwer fallen, zu erkennen, dass nicht die<br />
Schriftsteller, sondern die ‚Rusanows’ die Krebsgeschwulste der Gesellschaft sind.<br />
Eine solche Erkenntnis könnte den sozialistischen Realismus nur befreien und seine<br />
Literatur so ‚konkurrenzfähig’ wie es Solschenizyns Roman ist.“ 10<br />
2. Oleg Kostoglotow oder der Wille ein selbst bestimmtes Leben zu führen<br />
Die Aufnahmesituation von Oleg Kostoglotow gestaltete sich so, dass er<br />
heruntergekommen und völlig durchnässt sich auf den desinfizierten Teil des<br />
Vestibüls hinlegte. Auf die Frage: „Wer sind Sie, sagte er „Ein M E N S C H.’“ (60)<br />
Alles hatte er probiert, billige Hotels, überall war er herumgelaufen. Sein Körper<br />
schmerzte, er kroch auf allen Vieren, konnte sich kaum hochziehen, geschweige<br />
denn als er endlich stand, seinen Sack mit den wenigen Habseligkeiten<br />
hochnehmen. Am nächsten Morgen wird er auf dem Treppenabsatz untergebracht.<br />
Das sind die Verhältnisse 1955 – langsam arbeitet man sich hoch, in die Säle, in die<br />
Betten.<br />
9 Stern, Carola: Doppelleben. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 137. Das Zitat geht im Original so<br />
weiter: „(…) Das gilt auf andere Weise als zur Zeit des Kalten Krieges auch für unsere Gegenwart.“<br />
10 Solschenizyn, Alexander: Krebsstation. Reinbek b. Hamburg 1968, Taschenbuch 1971/ 1993, Vorwort, S. 7.<br />
11
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Er ist der Antipode Rusanows, das Alter-Ego von Solschenizyn. Mißtrauisch,<br />
vorsichtig, provozierend, feindselig, auf Autonomie bedacht und dann wieder von<br />
spielerischer Leichtfüßigkeit, einfach überzeugend.<br />
Was er vorher erlebt hat war Willkür – nicht wissen, was kommt. Die Ärzte wurden in<br />
seinem vorherigen Lager willkürlich abgezogen, ohne Vorinformation. Auch ihm<br />
drohte ’mal eben der Transport im Viehwaggon mit einem frisch operierten Bauch,<br />
die Fäden noch in ihm. Einer seiner Ärzte, der selbst ohne Vorwarnung<br />
abtransportiert wurde, konnte ihm noch zurufen, dass ein Abstrich in eine<br />
Pathologische Anatomie gegangen war. (70) Immer wieder muß er seinen Ärztinnen<br />
auf der Krebsstation Nr. 13 die Spielregeln seines Lebens vorher in den Lagern<br />
erklären. Die Mitgabe von pathologischen Befunden, medizinische Umsicht wie sie<br />
auf der Krebsstation 1955 gelebt werden, sind in den Haftlagern wie politischen und<br />
sonstigem vermeintlichen Fehlverhaltens nicht denkbar. Man lebte in einer anderen<br />
Art von Augenblick, keiner war sicher. Mit Schmerzen von seiner OP war er wieder<br />
zum Betongießen: „Und ich dachte dabei noch, dass ich zufrieden sein müsse.“ (71)<br />
Menschenwürde in einem solchen Lager – ein Fremdwort.<br />
Aber er hat anderes gelernt, was sich an verschiedensten Stellen des Romans als<br />
Lebensweisheiten, als Haltungen wieder findet. Schwester Soja entwindet er mit<br />
Überzeugungskraft ihr medizinisches Lehrbuch, weil er mehr über seine Erkrankung<br />
wissen, auf seine Behandlung Einfluß nehmen will. Mit einer jungenhaften,<br />
manchmal dreisten, manchmal brachialen Direktheit versucht er das zu bekommen,<br />
was er braucht, um seine Entscheidungen für die Zukunft sinnvoll zu untermauern.<br />
Nicht nur die Krankenschwester Soja, auch seine Ärztinnen reizt er – im doppelten<br />
Sinne.<br />
„Ich bin im Lager so frech geworden, Sojenka. Früher war ich nicht so. Überhaupt<br />
habe ich viele Eigenschaften, die nicht angeboren, sondern im Lager erworben sind.“<br />
„Aber Ihre Heiterkeit – die stammt nicht von dort?“ „Warum denn nicht? Ich bin heiter,<br />
weil ich an Verluste gewöhnt bin. Mir will es nicht in den Kopf, dass hier an<br />
Besuchstagen so viel geweint wird. Warum weinen sie denn? Hier wird keiner<br />
verschickt, keinem wird etwas beschlagnahmt“. (210)<br />
Einiges hat er von dem alten Ehepaar, den Kadmins – Verbannte wie Oleg – gelernt.<br />
Sie wussten die Dinge, wenn sie nur ein klein wenig besser waren als misslich,<br />
positiv zu deuten. Wichtig war für sie, dass sie zusammen bleiben konnten: „Ach,<br />
Oleg, wie gut leben wir jetzt! Wissen Sie, abgesehen von der Kindheit ist das die<br />
glücklichste Zeit meines Lebens!“ (so Jelena Alexandrowna, die Ehefrau des<br />
Frauenarztes Nikolaj Iwanowitsch Kadmin - JMB) „Sie hatte recht! – nicht der Grad<br />
des Wohlstandes bestimmt das Glück der Menschen, sondern die Beziehung der<br />
Herzen zueinander und unsere Einstellung zum Leben. Eines wie das andere liegt in<br />
12
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
unserer Macht, und das bedeutet: dass der Mensch immer glücklich sein kann, wenn<br />
er nur will, und dass niemand ihn daran hindern kann.“ (236)<br />
Es ist eben vieles, sicher nicht alles, aber vieles eine Frage der Perspektive.<br />
Oleg Kostoglotow und Pawel Rusanow geraten aneinander, da R. viel Angst hat und<br />
der forsche K. mit seinen kühnen Gedanken und Überlegungen über das Dasein eine<br />
Bedrohung für ihn darstellt. Die Krebsstation Nr. 13 ist eine besondere<br />
Gemeinschaft. Wenn am Samstag- und Sonntagabend Ruhe einkehrt, die Besuche<br />
fort sind, keine Behandlung an diesen Tagen erfolgt, dann können die Patienten<br />
einander etwas erzählen, Reden halten, zeigen, wer sie sind.<br />
K. führt oft das Wort: „Wenn wir hier nicht über den Tod sprechen, wo sollen wir es<br />
denn sonst tun?“ (127) R. will nichts vom Tod hören. Da konfrontiert ihn K. mit seinen<br />
eigenen Waffen: „Was hämmern wir den Menschen denn ihr Leben lang ein? – Du<br />
bist ein Teil des Kollektivs, du bist ein Teil des Kollektivs! Das ist richtig, solange sie<br />
leben. Aber wenn es ans Sterben geht, werden sie <strong>aus</strong> dem Kollektiv entlassen. Mag<br />
jeder Mensch zum Kollektiv gehören, sterben muß er allein. Und die Geschwulst<br />
befällt ihn allein, nicht das ganze Kollektiv.“ (127)<br />
Das sind schlichte Wahrheiten, die das Zurückgeworfensein des Menschen auf seine<br />
individuelle Existenz zeigen.<br />
Seine Wünsche sind auf Grund der Lagererfahrung, der Verbannung, dem Verlust<br />
seiner Verlobten andere: „Stark empfand er das plötzlich zurückgekehrte Leben, mit<br />
dem er noch vor zwei Wochen für immer abgeschlossen zu haben glaubte. Zwar<br />
versprach dieses Leben ihm nichts von dem, was die Menschen dieser Stadt für gut<br />
hielten und worum sie kämpften: weder eine Wohnung noch ein Vermögen, noch<br />
gesellschaftliches Ansehen oder Geld – dafür aber andere, eigene Freuden, die zu<br />
schätzen er nicht verlernt hatte: das Recht umherzugehen, ohne auf einen Befehl zu<br />
warten; das Recht auf Einsamkeit; das Recht, Sterne zu betrachten, die nicht von<br />
den Lampen der Lagerzone verdeckt wurden; das Recht, nachts das Licht<br />
<strong>aus</strong>zulöschen und im Dunkeln zu schlafen, Briefe in einen Postkasten zu werfen,<br />
sonntags <strong>aus</strong>zuruhen, im Fluß zu baden und vieles mehr.<br />
Und auch das Recht – sich mit Frauen zu unterhalten.<br />
All diese zahllosen, wunderbaren Rechte gab ihm die Genesung zurück.<br />
Und er stand da, rauchte und freute sich.“ (138)<br />
Als ich das las, kreisten meine Gedanken um eigene Unzufriedenheiten, die zwar mit<br />
dem Älterwerden weniger werden, es aber doch immer wieder gibt und um unsere<br />
Wohlstandsgesellschaft. Ich will mich hier nicht auf einen mahnenden Ton verlegen,<br />
sondern überlasse es Ihren eigenen Gedanken.<br />
13
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
3. Dr. Ljudmila Donzowa oder wie viel Recht auf Selbstbestimmung kann<br />
ich zugestehen, wenn ich selbst viel gebe?<br />
Dr. Ljudmila Donzowa ist die ärztliche Leiterin der Abteilung. Sie selbst Mitte 50,<br />
bildet drei junge Ärztinnen, Anfang 30 <strong>aus</strong>. „Es gab nichts, was sie für sich behalten,<br />
was sie nicht mitgeteilt hätte.“ Wera Hangart zeigt sich besonders geschickt und<br />
klüger als sie selbst, was die „Mama“ aufrichtig freut. Sie arbeitet 8 Jahre bei ihr:<br />
„und die ganze Kraft, über die sie jetzt verfügte, die Kraft, um Hilfe flehende<br />
Menschen dem Tod zu entreißen – diese ganze Kraft hatte Ludmilla ihr gegeben.“<br />
(55)<br />
Sie versucht ihre „drei Töchter“ so gut <strong>aus</strong>zubilden, anzuleiten wie sie einst von<br />
ihrem Chef – Dr. Oreschtschenkow – vor dem Krieg angeleitet worden war: „Hüten<br />
Sie sich vor dürrem Spezialistentum, Lidotschka“ …, „Mag die ganze Welt der<br />
Spezialisierung entgegentreiben, gehen Sie Ihren Weg weiter, befassen Sie sich mit<br />
Rö-diagnostik und auch mit Rö-Therapie. Und wenn Sie die letzte Ärztin dieses<br />
Schlages sind, halten Sie die Festung!“ (87) Sie schont sich nicht; sie verbrennt sich.<br />
Sie macht mehr röntgenologische Untersuchungen als sie soll. Wenn sie in Urlaub<br />
geht, ist ihr Immunsystem, sind die Leukozyten soweit runter wie sie es bei einem<br />
Kranken nie zulassen würde. Und auch nach dem Urlaub hat sich ihr Organismus<br />
nicht erholt. (87) Sie wird letztlich die Station als Krebskranke verlassen und zur<br />
Behandlung nach Moskau gehen.<br />
Ich fand es sehr interessant, dass Mitte der 50er Jahre die gleiche Situation<br />
herrschte wie heutzutage: Die Auseinandersetzung, ob eine postmoderne<br />
Gesellschaft vom Spezialistentum lebt oder breit <strong>aus</strong>gebildete Generalisten auf<br />
einzelnen Feldern notwendig sind. Ich persönlich denke, wir brauchen beides. Mein<br />
Eindruck ist, dass gute Generalisten in verschiedenen Feldern immer seltener<br />
anzutreffen sind und die vermeintlichen Spezialisten sich für vieles zu gut, nicht<br />
zuständig empfinden, was dazu führt, dass häufig Menschen dazwischen im Nichts<br />
versacken, weil Spezialisten nicht zupacken wollen, stattdessen auf ihre<br />
Spezialaufgaben und -einsätze warten.<br />
Rusanow und Kostoglotow bereiten Dr. Donzowa unterschiedliche Schwierigkeiten.<br />
Regeln, die Dr. Donzowa Pawel Rusanow erklärt, sind für ihn da umgangen zu<br />
werden. Er beschwert sich über seine Behandlung, die nicht schnell genug innerhalb<br />
von 18 Stunden erfolgt, aber er hat Angst vor der Behandlung und will dann die<br />
angebotene Spritzenbehandlung aufschieben, um 3 Tage. (50) Er beansprucht das<br />
Ärztetelefon, wenn es schon kein eigenes gibt, nichts stimmt für ihn. Und Krebs hat<br />
14
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
er ja auch nicht, er fordert die Diagnose: Lymphogranulomatose. 11 „Das heißt also:<br />
nicht Krebs!“ Nun wenn man so sehr Angst hat, dann ist das eben kein Krebs.<br />
Rusanow schaut nach Fehlern und Stil wie er behandelt wird im Unterschied zu den<br />
anderen.<br />
Ganz anders Oleg Kostoglotow. Er ringt mit Dr. Donzowa, er will wissen, wie viele<br />
Behandlungen er noch braucht, wann er entlassen werden kann. „Ihr Blick verlor jede<br />
Sympathie für ihren Klassenersten. Er war ein schwieriger Patient mit verstocktem,<br />
eigensinnigem Gesichts<strong>aus</strong>druck. ‚Aber ich beginne doch erst, Sie zu behandeln!’<br />
wies sie ihn zurecht. K. weiß, dass er nicht <strong>aus</strong>geheilt ist, verzichtet auf eine<br />
vollständige Heilung. D. „Was reden Sie da überhaupt. Sind Sie noch normal oder<br />
nicht?“(52) K. ist dankbar über den erträglichen Zustand, möchte eine Zeitlang darin<br />
verharren, in Frieden leben. Er weiß halt nicht, was er von der weiteren Behandlung<br />
zu erwarten hat. Dr. Donzowa: „Sie sind mit den Abwehrkräften Ihres Organismus<br />
auf alles vieren in unsere Klinik gekrochen gekommen! … Sie begreifen wohl gar<br />
nicht, womit Sie spielen? Ich werde mich nicht weiter mit Ihnen <strong>aus</strong>einandersetzen.“<br />
(53)“ Es deprimiert die Ärztin, dass ihr erfolgversprechendster Patient argwöhnisch<br />
ist, glaubt, dass sie ihn für Versuche mißbraucht. (56) Sie empfindet ihn als<br />
pedantischen, wissbegierigen Dickkopf; meist gibt es so einen auf 50 Patienten. Man<br />
muß ihnen ab und zu etwas erklären. Für ihn ist es Kampf: „Ich will Sie nur an mein<br />
Recht erinnern, über mein Leben so zu verfügen, wie ich will. Jeder Mensch hat doch<br />
das Recht, nach eigenem Ermessen über sein Leben zu bestimmen! Gestehen Sie<br />
mir dieses Recht zu?“ (72) … „Ich will aber nicht um jeden Preis gerettet werden. Es<br />
gibt nichts auf der Welt, wofür ich um jeden Preis zahlen würde!“ (74) Er hängt nicht<br />
so sehr am Leben, da er nie ein richtiges Leben gehabt hat und „auch in Zukunft<br />
keines haben (wird).“ (76) Neue Bestrahlungen – neues Leiden will er dafür nicht.<br />
Donzowa wird energisch, macht ihn zur Schnecke, droht ihn zu entlassen, gar nichts<br />
mehr für ihn zu tun. Sie wird ihn eigenhändig ihn die großen Listen in der Spalte<br />
Entlassung als „noch nicht gestorben“ eintragen. Als er klein bei gibt, fordert sie und<br />
„(d)ie Behandlung nicht nur geduldig, sondern freudig ertragen!“ Dann ist sie wieder<br />
zutiefst mitfühlend und menschlich: „Sagen Sie mir, was Sie fühlen. Was hat sich<br />
während der Behandlung hier verändert?“<br />
Frau Dr. Donzowa teilt nicht nur ihr Wissen mit den jungen Kolleginnen, gibt es<br />
weiter, sondern sie teilt ihr Leben mit den Patienten, sie grenzt sich nicht ab wie es<br />
heute so schön heißt … – eine Art und Weise wie meine Generation sich selbst<br />
erzogen hat, unsere Mütter damit zur Weisglut trieb, die häufig selbstaufopfernd<br />
waren, aber auch fordernd, vorhaltend, sehr wohl Erwartungen hatten. Auch Dr.<br />
11 Lymphogranulomatose ist eine Form des Lymphknotenkrebses und somit eine lebensbedrohliche<br />
Erkrankung. Die Primärlokalisation der Lymphogranulomatose kann im Hals, im Bereich des<br />
Brustmittelfelles (Mediastinum) oder im Bauchraum liegen.<br />
15
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Donzowa hat Erwartungen, die Kranken sollen ihr vertrauen, folgen – sie weiß, was<br />
für sie gut ist. Wir kennen das auch heute noch von Ärzten; es ist nicht für alle leicht<br />
mit informierten, oft ist es ja auch Halbwissen, mit mündigen, erwachsenen Patienten<br />
umzugehen, die nicht einfach ja und Amen sagen, vertrauen und mit sich machen<br />
lassen, was die Ärzte für sie richtig finden. Es kostet zumindest Zeit, manchmal auch<br />
viel Kraft. Beziehungs- und Überzeugungsarbeit ist nötig. Sie tut es schon, aber Oleg<br />
hat einen anderen Wertmaßstab. Etwas selbst bestimmte Zeit, ist schon soviel mehr<br />
als er zu hoffen wagte. Was weiß er, was die Behandlungen <strong>aus</strong> ihm machen<br />
werden. Und später kommen ja auch die Warnungen durch Schwester Soja, dass die<br />
Hormontherapie sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale <strong>aus</strong>prägen und die<br />
Libido hemmen könnte.<br />
Dr. Donzowa und ihre Kolleginnen arbeiten unter sehr schlechten Bedingungen auf<br />
Station 13. Im gleichen Raum finden Rö-diagnostik oder -therapie statt, andere<br />
schreiben Berichte, man ist nie ungestört. Die Luft ist schwanger von Rö-strahlung.<br />
Ärztinnen und Schwestern arbeiten unter den gleich schlechten Bedingungen. Aber<br />
sie ist eine Person, die ständig über ihre eigene Grenze geht. Glaube, Berufung, die<br />
Zwänge des Alltags, für jemanden wichtig sein, das Gefühl einer gewissen<br />
Unersetzlichkeit – ich weiß es nicht, ihre Motivation wird nicht deutlich. Ich finde das<br />
auch nicht weiter schlimm. Das Retten-Wollen entsteht einfach, die Not, die Zwänge,<br />
die vielen leidenden Menschen, das Wissen, dass sie die wenigsten heilen kann,<br />
dass sie nicht genug Mittel hat, dass die Wissenschaft noch nicht weit genug ist, aber<br />
dass sie trotzdem mit aller Macht die Kranken dem Tod entreißen will.<br />
Vielleicht ist es auch die Arbeit gegen die Anweisungen, die sie befolgen muß, denen<br />
sie zugestimmt hat. (53/54) Dr. Donzowa entlässt Kolja, bietet ihm eine Zeit zum<br />
Ausruhen zu H<strong>aus</strong>e an. Sie soll die hoffnungslosen Fälle aufgeben, damit sie nicht<br />
vor den anderen sterben, Stimmung und Statistik „versauen“. Sie findet es<br />
grundsätzlich richtig, dass Platz für neue, oft im Vestibül tagelang wartende<br />
Patienten geschaffen wird. Aber wenn man im Prinzip dafür ist, gibt es immer den<br />
Einzelfall, dem man die letzte Hoffnung nicht wegnehmen will. Es ist nicht nur Kolja,<br />
um dessen Zungen-, Kehlkopfkrebs sie kämpft. Es ist auch Sibgatow, der ewig<br />
Sterbende, dessen Rückgrat von Metastasen zerfressen ist. Draußen warten<br />
wahrscheinlich Kranke, die gen<strong>aus</strong>o der Hilfe bedürfen, vielleicht <strong>aus</strong>sichtsvoller<br />
sind, aber Donzowa kann Kolja nicht einfach r<strong>aus</strong>setzen ohne ihm zuzusichern, dass<br />
sie ihn wieder aufnehmen wird – nach all dem Behandeln, der menschlichen<br />
Bindung, die entstanden ist. (58) Aber die Menschen ahnen, was mit ihnen ist. Kolja,<br />
der Traktorist z.B., sammelt Schlafmittel und Schmerzbetäubungsmittel – „er wollte<br />
seine Rettung vorbereiten für den Tag, an dem ihn die Ärzte aufgeben.“<br />
16
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Kostoglotow, der so sicher ist, „dass ein Kranker alles über sein Leiden wissen<br />
soll(t)e“, dass Transparenz unabdingbar ist, (110), übersetzt Proschka, der als ein<br />
Hoffnungsloser entlassen wird, auch nicht, was er hat. Aber er macht einen<br />
Unterschied auf: Seine Prämisse gilt für lebenserfahrene Menschen wie ihn, aber<br />
nicht für Proschka, der wenig besitzt. (110) Es gibt eine Gnade des Nicht-Wissens,<br />
Aufklärung soll einhergehen mit dem Wissen-Wollen? Auch das ist eine aktuelle<br />
Frage unserer Zeit.<br />
4. Dr. Wera Hangart & Soja oder das Menschsein in einem solchen Kosmos<br />
Die jüngere, begabte Dr. Vera Hangart hat Kostoglotow aufgenommen. Als er seinen<br />
Sack nicht selbst hochnehmen konnte, packt sie zu, trägt ihn, ruht sich nicht auf<br />
ihrem Status <strong>aus</strong>. Es heißt „Sie nahm großen Anteil an ihm. Sie wünschte sich,<br />
strenger sein zu können, konnte es aber nicht: Sie hatte sich allzu schnell an diesen<br />
Kranken gewöhnt. Sie wünschte sich, erwachsener zu sein, aber irgend etwas in ihr<br />
war noch immer jungmädchenhaft.“(52) Ich finde das sympathisch.<br />
Sie ist verletzbar, empfindet angesichts der Machtkämpfe, die Kostoglotow auch mit<br />
ihr führt, Demütigung. Auch sie möchte Vertrauen für all ihre Menschlichkeit ernten,<br />
das ist nicht verwerflich. Aber der vom Lagerleben, der Unberechenbarkeit, der<br />
Denunziation geprägte Kostoglotow wirft ihr an den Kopf: „Warum sollte ich Ihnen<br />
trauen? Wir haben schließlich noch nicht <strong>aus</strong> demselben Napf gegessen!“ (62)<br />
Er will kein Blut mehr „abgezapft“ haben, er will auch kein fremdes Blut. Es ist ein<br />
Machtkampf, dass er nicht annimmt, was sie vorschlägt. Dann macht er es für sie<br />
persönlich, was sie auch verwirrt. Sie reagiert irritiert, gibt Persönliches preis, was sie<br />
nicht will – das normale Spiel zwischen Mann und Frau, auch in solch einer<br />
Ausnahmesituation wie der Krebsstation.<br />
Soja, die Krankenschwester und Medizinstudentin, ist unkomplizierter. Sie steht zu<br />
ihrem Verlangen und dem Spiel von Mann und Frau und Kostoglotow spielt mit oder<br />
spielt zuerst. „Alle Leidenschaften des Lebens kehrten in den gesundenden Körper<br />
zurück. Alle, alle!“ (155) „Alle leichtsinnigen, verworrenen, gar nicht erhabenen<br />
Wünsche wurden wieder lebendig, auch die Freude an den weichen Sesseln, an<br />
dem gemütlichen Zimmer – nach den t<strong>aus</strong>end Jahren ungeregelten,<br />
erbarmungslosen Lebens. Auch die Freude über Soja, nicht nur das Gefallen an<br />
ihrem Anblick, sondern die viel stärkere Freude, dass er sich nicht unbeteiligt,<br />
sondern ganz bewusst freute. Er, der noch vor einem halben Jahr sterben wollte!“<br />
Das ist gut, das gibt Hoffnung, das Leben bahnt sich den Weg. Es geht weiter.<br />
17
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
5. Letzte Fragen, wichtige Fragen oder keine endgültigen Antworten …<br />
Jefrem, der Wanderer mit der schlimmen Zunge hat wichtige Gedanken, die ich<br />
Ihnen nicht vorenthalten will. Er erinnert sich daran, wie die Alten – die oft ein ganzes<br />
Leben nicht einmal in eine Stadt gefahren waren – daheim an der Kama 12 gestorben<br />
waren. Ich musste an meine Oma väterlicherseits denken, die sicher nur ganz wenig<br />
von Deutschland gesehen hat. Jefrem sagt über die Alten: „Sie hatten sich nicht<br />
aufgebäumt, gewehrt, geprahlt, dass sie niemals sterben würden – sie alle hatten<br />
dem Tode ruhig entgegengesehen. Aber nicht nur, dass sie sich nicht wehrten, sie<br />
bereiteten sich in aller Stille und beizeiten auf den Tod vor, bestimmten, wer die<br />
Stute, wer das Fohlen, wer den Mantel, wer die Stiefel bekommen sollte. Und gingen<br />
dann, solcherart erleichtert, unbeschwert hinüber, so als würden sie nur in eine<br />
andere Hütte übersiedeln. Und keinem von ihnen hätte man mit dem Krebs Angst<br />
einjagen können. Und Krebs hatte auch keiner von ihnen gehabt.“ (93)<br />
Stellen Sie sich unsere Häuser vor, unseren Reichtum, unsere angesammelten<br />
Dinge. Ich kann manchmal nicht mehr das – entschuldigen Sie die Despektierlichkeit<br />
– Gequatsche vom Wachstum hören. Was sollen wir noch kaufen und verbrauchen.<br />
Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, dass junge Familien vieles brauchen, Wünsche<br />
haben, dass Kinder, Jugendliche Wünsche haben. Auch wenn ich bald zu den Alten<br />
gehöre, erinnere ich mich noch daran. Wer Häuser aufgelöst hat, in dem nur noch<br />
ein Elternteil lebte, für die als Kriegsgeneration das eigene H<strong>aus</strong> der große<br />
Lebenswunsch war, weiß wovon ich rede. Warum sollen und wollen wir weiter mit<br />
den Ressourcen dieser Erde so verschwenderisch, so mißbräuchlich umgehen, nur<br />
um eine Ideologie des Wachstums zu befriedigen, unseren Staatsh<strong>aus</strong>halt zu<br />
sanieren statt effektiv die Ausgaben sinnvoll zu begrenzen, zu sparen. Gehen Sie<br />
durch die Geschäfte mit offenen Augen, schauen Sie an, was lebensnotwendig ist,<br />
was vielleicht ganz nett ist und was effektiv überflüssig ist, bei aller<br />
Unterschiedlichkeit, die wir haben.<br />
Beeindruckt hat mich auch der Abschnitt über das Lernen, in Zeiten wo es nichts<br />
gibt, in denen nichts normal ist. (109) Kostoglotow hilft dem Jungen Djomka,<br />
Mathematik zu lernen. Man bringt einander bei, was man kann, man nutzt die<br />
wenigen Bücher, die einer mitbringt und in den Schnee werden Formeln<br />
geschrieben, um einander etwas zu erklären. Das hat mich gerührt, weil so deutlich<br />
wird, wie in der Not, in der Begrenztheit es einen erfinderischen Reichtum gibt. Die<br />
Dinge bekommen einen anderen Stellenwert. (110)<br />
12 Vermutlich handelt es sich um eine Landbezeichnung. Es handelt sich um Nebenflüsse der Wolga und Om.<br />
18
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Djomka ist der Junge mit dem kranken Bein, was amputiert werden muß. Djomka hat<br />
in einer älteren kranken Frau, Stefa, von der Frauenstation eine Vertraute gefunden:<br />
„Warum, fragt (er) jetzt Tante Stefa, warum behandelte das Schicksal die Menschen<br />
so ungerecht? Den einen gelingt alles auf Anhieb, und den anderen geht alles schief.<br />
Und dann heißt es noch, dass des Menschen Schicksal von ihm selbst abhänge.<br />
Nichts kann er dazu tun.“ „Von Gott hängt es ab“, besänftigte ihn Tante Stefa, „Gott<br />
kann alles sehen. Man muß sich nur fügen, Djomuschka.“ (114)<br />
Wer kriegt den Krebs, ist es Schicksal, verdient man es, kann man unter<br />
schwierigsten Bedingungen aufgewachsen oder weitergelebt mithalten mit den<br />
Normen von Erfolg, Leistung, Anpassung, Kreativität, Selbstmanagement? NLP, PSI,<br />
ZRM, Coaching – es gibt viele Methoden, um erfolgreicher zu sein. Dazu gehört nicht<br />
der Glaube sondern das Machen.<br />
Der von mir sehr geschätzte Kollege, der Theologe Frieder Burkhardt, sagte neulich<br />
in einer Predigt: Er verzichte auf weitere Diagnostik. Aber diese verspricht Erfolg,<br />
Weiterentwicklung, Entwicklung des Selbst, des Ichs. Ich lese Ihnen etwas <strong>aus</strong> der<br />
empirischen Persönlichkeitspsychologie des von mir ebenfalls geschätzten Professor<br />
Julius Kuhl vor.<br />
„Die Kommunikation zwischen dem Ich und dem Selbst 13 wird durch Gefühle<br />
gesteuert. Negative Gefühle (Angst, Sorge) aktivieren mehr das bewusste Ich (li<br />
Hirnhälfte). Positive Gefühle (Freude, Bejahung) aktivieren mehr das fühlende Selbst<br />
(re Hirnhälfte). Selbstberuhigung und Selbstmotivierung sind zwei wichtige<br />
Kompetenzen. Durch Selbstberuhigung regulieren wir negative Gefühle herab und<br />
lösen uns von Fixierungen und vom Grübeln. Gleichzeitig wird dadurch der Zugang<br />
zum Selbst gebahnt. Das Herstellen von positiven Gefühlen aktiviert das Selbst und<br />
die Selbstmotivierung. Wer in einer guten Stimmung ist, dem fällt es leicht zu<br />
handeln. Wichtig ist also, dass wir lernen, wie wir negative Gefühle herabregulieren<br />
und positive Gefühle herstellen können.“ „Wer einen guten Zugang zum Selbst hat,<br />
sein Leben intuitiv fühlend und nicht nur denkend lebt, hat die besten<br />
Vor<strong>aus</strong>setzungen für Krisenfestigkeit, Ressourcenorientierung, Selbstmotivierung<br />
und Selbstwachstum.“<br />
Das klingt gut, verspricht gute Handlungsfähigkeit in unserem modernen Leben,<br />
gestützt durch T<strong>aus</strong>ende von empirischen Daten. Ist Kosatoglotov in seinem Selbst,<br />
wenn er um Selbstbehauptung ringt, Soja und Wera als Frau wahrnimmt und ist<br />
Rusanow in seinem Ich, wenn er kleinkariert darüber nachdenkt, wie er wen, wann,<br />
wo <strong>aus</strong> dem Kosmos Krebsstation Nr. 13 denunzieren kann? Was helfen diese<br />
Erkenntnisse weiter?<br />
13 Selbst: Intuitive Verhaltenssteuerung, spontanes Handeln, autobiographisches Gedächtnis,<br />
Extensionsgedächtnis. Ppt-Präsentation über Julius Kuhls PSI-Theorie (Persönlichkeits-System-<br />
Interaktionen) von dem Logotherapeuten, Manfred Hillmann, Meppen.<br />
19
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Die Fragen gehen weiter, wovon und wofür leben die Menschen? (120) Asja, die<br />
Brustkrebskranke, geht noch leichtfertig über das hinweg, was anderen etwas wert<br />
ist. So mag Djomka ihr nicht zeigen, was ihm etwas bedeutet – seine Bücher. Für<br />
Asja ist es noch ganz klar: Wir leben „(f)ür die Liebe, natürlich.“ (121)<br />
Rusanow sagt: „Die Menschen leben von der Ideologie und den gesellschaftlichen<br />
Interessen.“ (99) Und Sibgatow – der Mensch mit dem zerfressenen Rückgrat – sagt:<br />
„Wo man daheim ist, fällt einem die Krankheit nicht so lästig. Daheim ist alles<br />
leichter.“ (98)<br />
Jefrem hingegen weiß, „dass es für ihn kein Ziel mehr (gibt). Dass er nichts mehr<br />
ändern (wird). Niemanden mehr überzeugen. Dass ihm nur noch wenig Zeit bl(eibt),<br />
mit sich selbst ins reine zu kommen.“ (108) Er mag diese Diskussionen nicht mehr<br />
führen, er nimmt sich zurück.<br />
Die knapp 60jährige chirurgische Oberärztin, Jewgenija Ustinowna, die ihr Leben<br />
lang resolut operiert hat, immer mit Blut und Fleisch umging, stellt fest, dass das ihre<br />
Berufung bis zum Ende sein wird: „Aber was sollte sie auch anderes tun, kein<br />
Mensch kann auf halben Weg sein bisheriges Leben aufgeben, um mit erneuerten<br />
Kräften etwas ganz anderes zu beginnen.“ (102)<br />
In unserer Zeit – also 50 Jahre nach Abfassung des Romans – reden wir anders: Es<br />
ist nie zu spät, packen wir’s an, erfüllen wir uns unsere heimlichen Träume. Wenn<br />
Sie mich fragen, weiß ich genau, an welchen Schaltern des Berufs, der Berufung ich<br />
mich in einem zweiten Anlauf anstellen werde: Musik oder Theater – deswegen<br />
stehe ich hier – oder Profiler bei der Kripo, der Mordkommission. Was es dann wird,<br />
wenn ich dran bin und anstehe an den Schaltern, das weiß ich halt nicht.<br />
Letztes Kapitel.<br />
6. Wie wollen wir leben?<br />
Durch den Tod meines Vaters, die Auflösung und Aufgabe meines Elternh<strong>aus</strong>es, die<br />
Zusammenarbeit mit meinen Kollegen des Innovationskollegs zum Stadtklima<br />
Potsdam (das Sozialklima umfassend), die Arbeit in meinem SILQUA-<br />
Forschungsprojekt, was auf den Umgang mit dem sog. demographischen Wandel<br />
zielt, stelle ich mir oft die Frage und sie ist gesellschaftlich und nicht nur persönlich<br />
gemeint: Wie wollen wir leben und wie sollten wir leben angesichts der Endlichkeit,<br />
angesichts, dass wir nichts von dem, was wir angehäuft haben, was unsere<br />
vermeintliche Identität <strong>aus</strong>macht, mitnehmen werden. Was ist wirklich wichtig, wenn<br />
wir in persönlich schwere psychische und gesundheitliche Krisen geraten, wenn wir<br />
z.B. Krebs bekommen? Und können wir das nicht schon vorher abstrahierend<br />
denken und danach in etwa leben?<br />
20
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Peter Bieri, der Verfasser des wunderbaren Buches „Nachtzug nach Lissabon“ hat<br />
darüber 2011 in Graz drei Vorlesungen gehalten. Ein Aspekt ist: Was wäre ein<br />
selbstbestimmtes Leben?<br />
„Nach einer ersten Lesart ist (es) etwas Einfaches, Geradliniges …: Wir wollen in<br />
Einklang mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen leben. Wir<br />
möchten nicht, dass uns jemand vorschreibt, was wir zu denken, zu sagen und zu<br />
tun haben. Keine Bevormundung durch die Eltern, keine verschwiegene Tyrannei<br />
durch Lebensgefährten, keine Drohungen von Arbeitgebern und Vermietern, keine<br />
politische Unterdrückung. Niemand, der uns zu tun nötigt, was wir von uns <strong>aus</strong> nicht<br />
möchten. Keine äußere Tyrannei also und keine Erpressung, aber auch nicht<br />
Krankheit und Armut, die uns verbauen, was wir erleben und möchten.<br />
Das ist nicht mit dem Wunsch zu verwechseln, ohne Rücksicht auf andere die<br />
eigenen Interessen durchzusetzen. Zwar kann man – ganz formal betrachtet –<br />
Selbstbestimmung auch so lesen. Doch dann ist sie nicht das, was die meisten von<br />
uns im Auge haben: ein selbständiges Leben in einer Gemeinschaft, die durch<br />
rechtliche und moralische Regeln bestimmt ist – Regeln, die soziale Identitäten<br />
definieren, ohne die es ebenfalls keine Würde und kein Glück gibt. …“ 14<br />
Wir brauchen eine Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen. Aber damit ist nicht<br />
vorrangig die Unabhängigkeit von anderen, sondern der Einfluß auf meine Innenwelt<br />
gemeint – auf die Dimension meines Denkens, Wollens und Erlebens, <strong>aus</strong> denen<br />
meine Handlungen resultieren. 15 Man muß für sich selbst zum Thema werden, eine<br />
Distanz zum Erkennen und Verstehen einnehmen und dabei lernen, es wäre<br />
möglich, etwas anderes zu denken, zu fühlen, zu wollen. Bin ich zufrieden mit meiner<br />
gewohnten gedanklichen <strong>Sicht</strong>, wo kommt diese her. Bin ich wirklich zufrieden, wenn<br />
ich Muster meiner Herkunft – Neid, Kleinlichkeit, Angst, Haß – weiterschreibe? Nach<br />
was strebe ich, nach mehr Erfolg, Rampenlicht, Geld, Stille, Klostergärten,<br />
Zurückgezogenheit? 16 „Selbstbestimmung hat sehr viel damit zu tun, dass wir uns<br />
selbst verstehen.“ Wir müssen die Logik unseres weniger bewussten Lebens<br />
durchschauen. Innere Zwänge, Selbsttäuschungen stehen vermutlich der<br />
Selbstbestimmung im Wege. 17 Wir brauchen eine transparente seelische Identität,<br />
um in einem empathischen Sinne Autor und Subjekt unseres Lebens zu werden.<br />
Leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht – das<br />
fordert Bieri.<br />
Aber Wachheit und Genauigkeit sind nicht nur für Gedanken notwendig, sondern<br />
auch für Wünsche und Affekte. Oft ist es zunächst diffus und undurchsichtig. Wieso<br />
14<br />
Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? St. Pölten, Salzburg: Residenzverlag 2011, 5. Auflage 2012, S. 7f.<br />
15<br />
Ebd., S. 9.<br />
16<br />
Ebd., S. 12.<br />
17<br />
Ebd., S. 15.<br />
21
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
kommt es zum Streit, wieso ist man brüskiert oder tut es selbst. Wieso lehnt man<br />
Fremde so sehr ab, so voller Leidenschaft, so dass es zu exzessiven Handlungen<br />
kommt. Der Prozeß der Klärung, hilft, dass nicht nur die Sprache des Erlebens<br />
differenzierter wird, sondern auch das Erleben selbst. Wir brauchen einen Zugang<br />
zum bewussten Erleben und einen Zugang zum Erschließen von unseren<br />
Unbewußten. Affekte belehren uns, was uns wichtig ist. Worauf es ankommt, ist sie<br />
zu kennen, sich selbst zu verstehen und sie nicht in uns als unklare Kräfte<br />
ohnmächtig toben zu lassen. Sie sind ein Teil unserer seelischen Identität. 18 Es geht<br />
Bieri um die eigene Stimme, um „Echtheit () … und Authentizität: darum, nicht das zu<br />
leben und zu sagen, was andere uns vorleben und vorsagen, sondern das, was der<br />
Logik der eigenen Biographie entspricht. …(Es geht um - JMB) die Aneignung des<br />
eigenen Denkens, Fühlens und Erinnerns; das wache Durchschauen und Abwehren<br />
von Manipulation, wie unauffällig auch immer; die Suche nach der eigenen Stimme:<br />
All das ist nicht so gegenwärtig und selbstverständlich, wie es sein sollte. Zu laut ist<br />
die Rhetorik von Erfolg von Erfolg und Misserfolg, von Sieg und Niederlage, von<br />
Wettbewerb und Ranglisten – …“ 19 Eine leisere, eine stillere Kultur wäre dafür<br />
notwendig, „in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu<br />
seiner eigenen Stimme zu finden.“ 20<br />
Und hier schließt sich der Bogen zur Krebsstation. Kostoglotow hat trotz Verbannung<br />
und Unterdrückung seine Stimme, seine Affekte nicht verloren, vielleicht hat er sie<br />
sogar in einer besonderen Art <strong>aus</strong>gebildet, und ist sich selbst auf der Krebsstation<br />
noch einmal besonders nahe gekommen, klar zu kriegen, was er will und braucht<br />
und dass auch die Ärztinnen, bei allem Wohlmeinen nicht über ihn bestimmen<br />
können. Durch die Gespräche, ein gewisses Anteilnehmen an den verschiedenen<br />
Schicksalen und Verläufen scheinen einige der Personen, die auf der Krebsstation<br />
sind, in dieser Bedrohung sich selbst näher zu kommen.<br />
Rusanow ist allerdings zu sehr vom schnellen, vermeintlich nichts kostenden Erfolg<br />
verführt worden. Er ist sich und seinen Strebungen, seinen Motiven fern. Er scheint<br />
leider wenig bis gar nichts <strong>aus</strong> der großen Krise für sein Leben mitzunehmen. So<br />
muß er noch warten auf das, was der großartige Bundespräsident der 70er Jahre,<br />
Gustav Heinemann so gesagt hat: „Nichts ist gleichgültig. Nichts geht verloren. Alles,<br />
was wir tun oder nicht tun, kann unendliche Perspektiven haben. Keine Flucht kann<br />
auf die Dauer gelingen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache.“ 21<br />
Vielen Dank.<br />
18 Ebd., S. 20.<br />
19 Ebd., S. 33 f.<br />
20 Ebd.<br />
21 Heinemann, Gustav W.: Nichts geht verloren – Ansprache bei der Feierstunde zur Woche der<br />
Brüderlichkeit, Köln, 8. März 1970, in: Joachim Braun, Der unbequeme Präsident, Karlsruhe 1972, S. 255 –<br />
257, hier S. 257.<br />
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