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"Krebsstation" aus psychologischer Sicht

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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />

Er ist der Antipode Rusanows, das Alter-Ego von Solschenizyn. Mißtrauisch,<br />

vorsichtig, provozierend, feindselig, auf Autonomie bedacht und dann wieder von<br />

spielerischer Leichtfüßigkeit, einfach überzeugend.<br />

Was er vorher erlebt hat war Willkür – nicht wissen, was kommt. Die Ärzte wurden in<br />

seinem vorherigen Lager willkürlich abgezogen, ohne Vorinformation. Auch ihm<br />

drohte ’mal eben der Transport im Viehwaggon mit einem frisch operierten Bauch,<br />

die Fäden noch in ihm. Einer seiner Ärzte, der selbst ohne Vorwarnung<br />

abtransportiert wurde, konnte ihm noch zurufen, dass ein Abstrich in eine<br />

Pathologische Anatomie gegangen war. (70) Immer wieder muß er seinen Ärztinnen<br />

auf der Krebsstation Nr. 13 die Spielregeln seines Lebens vorher in den Lagern<br />

erklären. Die Mitgabe von pathologischen Befunden, medizinische Umsicht wie sie<br />

auf der Krebsstation 1955 gelebt werden, sind in den Haftlagern wie politischen und<br />

sonstigem vermeintlichen Fehlverhaltens nicht denkbar. Man lebte in einer anderen<br />

Art von Augenblick, keiner war sicher. Mit Schmerzen von seiner OP war er wieder<br />

zum Betongießen: „Und ich dachte dabei noch, dass ich zufrieden sein müsse.“ (71)<br />

Menschenwürde in einem solchen Lager – ein Fremdwort.<br />

Aber er hat anderes gelernt, was sich an verschiedensten Stellen des Romans als<br />

Lebensweisheiten, als Haltungen wieder findet. Schwester Soja entwindet er mit<br />

Überzeugungskraft ihr medizinisches Lehrbuch, weil er mehr über seine Erkrankung<br />

wissen, auf seine Behandlung Einfluß nehmen will. Mit einer jungenhaften,<br />

manchmal dreisten, manchmal brachialen Direktheit versucht er das zu bekommen,<br />

was er braucht, um seine Entscheidungen für die Zukunft sinnvoll zu untermauern.<br />

Nicht nur die Krankenschwester Soja, auch seine Ärztinnen reizt er – im doppelten<br />

Sinne.<br />

„Ich bin im Lager so frech geworden, Sojenka. Früher war ich nicht so. Überhaupt<br />

habe ich viele Eigenschaften, die nicht angeboren, sondern im Lager erworben sind.“<br />

„Aber Ihre Heiterkeit – die stammt nicht von dort?“ „Warum denn nicht? Ich bin heiter,<br />

weil ich an Verluste gewöhnt bin. Mir will es nicht in den Kopf, dass hier an<br />

Besuchstagen so viel geweint wird. Warum weinen sie denn? Hier wird keiner<br />

verschickt, keinem wird etwas beschlagnahmt“. (210)<br />

Einiges hat er von dem alten Ehepaar, den Kadmins – Verbannte wie Oleg – gelernt.<br />

Sie wussten die Dinge, wenn sie nur ein klein wenig besser waren als misslich,<br />

positiv zu deuten. Wichtig war für sie, dass sie zusammen bleiben konnten: „Ach,<br />

Oleg, wie gut leben wir jetzt! Wissen Sie, abgesehen von der Kindheit ist das die<br />

glücklichste Zeit meines Lebens!“ (so Jelena Alexandrowna, die Ehefrau des<br />

Frauenarztes Nikolaj Iwanowitsch Kadmin - JMB) „Sie hatte recht! – nicht der Grad<br />

des Wohlstandes bestimmt das Glück der Menschen, sondern die Beziehung der<br />

Herzen zueinander und unsere Einstellung zum Leben. Eines wie das andere liegt in<br />

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