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"Krebsstation" aus psychologischer Sicht

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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />

Peter Bieri, der Verfasser des wunderbaren Buches „Nachtzug nach Lissabon“ hat<br />

darüber 2011 in Graz drei Vorlesungen gehalten. Ein Aspekt ist: Was wäre ein<br />

selbstbestimmtes Leben?<br />

„Nach einer ersten Lesart ist (es) etwas Einfaches, Geradliniges …: Wir wollen in<br />

Einklang mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen leben. Wir<br />

möchten nicht, dass uns jemand vorschreibt, was wir zu denken, zu sagen und zu<br />

tun haben. Keine Bevormundung durch die Eltern, keine verschwiegene Tyrannei<br />

durch Lebensgefährten, keine Drohungen von Arbeitgebern und Vermietern, keine<br />

politische Unterdrückung. Niemand, der uns zu tun nötigt, was wir von uns <strong>aus</strong> nicht<br />

möchten. Keine äußere Tyrannei also und keine Erpressung, aber auch nicht<br />

Krankheit und Armut, die uns verbauen, was wir erleben und möchten.<br />

Das ist nicht mit dem Wunsch zu verwechseln, ohne Rücksicht auf andere die<br />

eigenen Interessen durchzusetzen. Zwar kann man – ganz formal betrachtet –<br />

Selbstbestimmung auch so lesen. Doch dann ist sie nicht das, was die meisten von<br />

uns im Auge haben: ein selbständiges Leben in einer Gemeinschaft, die durch<br />

rechtliche und moralische Regeln bestimmt ist – Regeln, die soziale Identitäten<br />

definieren, ohne die es ebenfalls keine Würde und kein Glück gibt. …“ 14<br />

Wir brauchen eine Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen. Aber damit ist nicht<br />

vorrangig die Unabhängigkeit von anderen, sondern der Einfluß auf meine Innenwelt<br />

gemeint – auf die Dimension meines Denkens, Wollens und Erlebens, <strong>aus</strong> denen<br />

meine Handlungen resultieren. 15 Man muß für sich selbst zum Thema werden, eine<br />

Distanz zum Erkennen und Verstehen einnehmen und dabei lernen, es wäre<br />

möglich, etwas anderes zu denken, zu fühlen, zu wollen. Bin ich zufrieden mit meiner<br />

gewohnten gedanklichen <strong>Sicht</strong>, wo kommt diese her. Bin ich wirklich zufrieden, wenn<br />

ich Muster meiner Herkunft – Neid, Kleinlichkeit, Angst, Haß – weiterschreibe? Nach<br />

was strebe ich, nach mehr Erfolg, Rampenlicht, Geld, Stille, Klostergärten,<br />

Zurückgezogenheit? 16 „Selbstbestimmung hat sehr viel damit zu tun, dass wir uns<br />

selbst verstehen.“ Wir müssen die Logik unseres weniger bewussten Lebens<br />

durchschauen. Innere Zwänge, Selbsttäuschungen stehen vermutlich der<br />

Selbstbestimmung im Wege. 17 Wir brauchen eine transparente seelische Identität,<br />

um in einem empathischen Sinne Autor und Subjekt unseres Lebens zu werden.<br />

Leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht – das<br />

fordert Bieri.<br />

Aber Wachheit und Genauigkeit sind nicht nur für Gedanken notwendig, sondern<br />

auch für Wünsche und Affekte. Oft ist es zunächst diffus und undurchsichtig. Wieso<br />

14<br />

Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? St. Pölten, Salzburg: Residenzverlag 2011, 5. Auflage 2012, S. 7f.<br />

15<br />

Ebd., S. 9.<br />

16<br />

Ebd., S. 12.<br />

17<br />

Ebd., S. 15.<br />

21

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