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"Krebsstation" aus psychologischer Sicht

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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />

1. Pawel Rusanow oder es ist leicht, ihn abzulehnen …<br />

Die Person mit der Solschenizyn das Buch eröffnet ist Pawel Nikolajewitsch<br />

Rusanow – er wird auf die Krebsstation Nr. 13 in der Provinz eingewiesen, da es<br />

keine Behandlungsmöglichkeiten in Moskau mehr für ihn gab. Er glaubt nicht, dass<br />

er Krebs hat, er will es nicht hören, er will unentwegt die Bestätigung, dass er keinen<br />

hat. Seine Geschwulst sitzt am Hals und wird täglich, fühlbar, spürbar, für alle sehbar<br />

größer. Die ganze Situation empfindet er als Zumutung. Er verkörpert zusammen mit<br />

seiner Frau, Kapitalina, die Ausgeburt eines Systems, das seine Aufsteiger im Chor<br />

einer vermeintlich konstruktiven Anpassung begünstigt hat – in einem System, das<br />

sich Kommunismus und Sozialismus nannte. Sie erhalten Privilegien, wissen wie<br />

man trotzdem rechtschaffen wirkt, deutlich macht, wie man auch nur einer unter<br />

ihresgleichen sei, sich an Recht und Gesetz hält und doch immer ein bisschen<br />

gleicher sein will.<br />

Was sehr offensichtlich hier geschieht, ist, dass im Roman ein Vergleich aufgemacht<br />

wird: Wie ist das, wenn auf einer Krebsstation alle gleich untergebracht werden, alle<br />

das Gleiche zu essen bekommen, die Toiletten für alle gleich schlimm, öffentlich und<br />

ohne diskrete Privatheit sind, alle eine Einheitskleidung tragen – Rusanow darf aber<br />

seinen nagelneuen Schlafanzug sehr wohl tragen – und es zwischen Herkunft und<br />

Rang keine Unterschiede gibt. Der kommunistische Gedanke, der letztlich nicht<br />

getragen hat und nicht tragen wird, wird hier von Solschenizyn Mitte der 60er Jahre<br />

zu Diskussion gestellt.<br />

Rusanow jammert: „Wenn ich wenigstens eine Einzeltoilette benützen könnte! Ich<br />

leide! Was für eine Toilette das hier ist! Keine Trennwände, alle sind offen!“ (Die<br />

Benutzung eines öffentlichen Bades und einer öffentlichen Toilette untergräbt<br />

unweigerlich die Autorität eines Funktionärs. An seinem Arbeitsplatz stand Rusanow<br />

eine Toilette zur Verfügung, die der Allgemeinheit nicht zugänglich war.) (160) 5 Seine<br />

Frau – sie ist der Inbegriff an mondäner, neureicher Schönheit, da scheint es<br />

zwischen Ost und West keinen Unterschied gegeben zu haben – will für ihn<br />

Privilegien erreichen: „Hören Sie, er ist gewohnt, umsorgt zu werden, und jetzt hat er<br />

diese schwere Krankheit. Kann man nicht eine ständige Schwester für ihn<br />

organisieren?“ (11) … „’Schwester, ich bitte Sie dennoch, Sie kennen Ihre Leute, Sie<br />

können alles leichter organisieren. Sprechen Sie mit einer Schwester oder einem<br />

Sanitäter, damit Pawel Nikolajewitsch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit<br />

entgegengebracht wird.’ Und schon öffnete sie ihr großes schwarzes Ridikül 6 und<br />

zog drei Fünfzig-Rubel-Scheine her<strong>aus</strong>. Der in einiger Entfernung stehende Sohn mit<br />

5 Solschenizyn, Alexander: Krebsstation. Reinbek b. Hamburg 1968, Taschenbuch 1971/ 1993, S. 160. Alle<br />

Zahlen (in Klammern gesetzt) im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe und geben die Seitenzahl<br />

des betreffenden Zitats bzw. der Paraphrasierung an.<br />

6 Andere Namen Pompadour, Réticule, Ridicule, Ridikül oder Handgelenksbeutel. Der kleine Beutel diente<br />

seit dem <strong>aus</strong>gehenden 18. Jahrhundert Damen der höheren Gesellschaft zur Aufbewahrung von kleinen<br />

Alltagsgegenständen, die man immer bei sich haben wollte. http://de.wikipedia.org/wiki/Pompadour_Handtasche<br />

5

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